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Glam kümmert sich um unerledigte Geschäfte
D iesmal erstarrte ich nicht.
Kurzol war zum Glück nicht gerade ein Schnellläufer. Als er auf uns zugetrampelt kam, hob er einen seiner Felsquader hoch, um ihn zu schleudern. Aber ich rief einen Zauber herbei, der mir im Unterricht und in anderen Gefahrensituationen ziemlich gut gelungen war.
Mehrere Baumwurzeln wuchsen plötzlich vor dem Felstroll aus dem Boden. Sie stellten ihm ein Bein und er kullerte den restlichen Hang hinunter. Aber jetzt rollten ein riesiger Felstroll und zwei große Felsquader auf uns zu, als ob wir die Kegel auf einer Kegelbahn wären.
Ein ziemlich typisches Ende für einen Zwerg, der nur versucht, sich nützlich zu machen.
»Weg!«, brüllte ich.
Wir ließen uns in unterschiedliche Richtungen in den Wald fallen. Kurzol und seine Quader knallten direkt hinter der Stelle, wo wir gestanden hatten, gegen eine Gruppe von schwarzen Tannen.
Ehe Kurzol sich davon erholt hatte, kam Lake aus dem Wald auf ihn zugerannt. Dabei schwenkte er in wilden Kreisen eine kleine Axt um seinen Kopf, ein Manöver, das unser Trainer Buck die Henkerswindmühle genannt hatte.
»Lake, nein!«, schrie Ari. »Regel eins!«
Aber es war zu spät.
Lakes kreisende Axt kollidierte mit dem Felstroll. Die Schneide rutschte von Kurzols Bauchpartie ab, ohne Schaden anzurichten. Er brüllte vor Wut los und schlug mit rascher Rückhand nach Lake – worauf der mindestens zehn Meter weit in den Wald flog.
»KURZOL IST FEHLBEZEICHNUNG!«, schrie der Felstroll und kam nun endgültig wieder auf die Beine.
Greggdroule, worauf wartest du noch?, fragte Aderlass. Zieh mich aus der Scheide und mach diesen Wilden nieder, ehe er deinen Freunden etwas tut!
Ich zwang mich dazu, Aderlass zu ignorieren, so schwer mir das auch fiel. Ich wollte mich diesmal nicht so leicht auf Gewaltanwendung einlassen. Wir mussten versuchen, dieses Dings zu beruhigen, statt es einfach umzubringen. Das waren wir Dunmor schuldig, weil er uns eine zweite Chance gegeben hatte.
Sei kein Narr, Greggdroule! Der bringt euch alle um!
Kurzol umfasste sein Gesicht und heulte noch immer vor Frustration. Dann fiel sein Blick auf mich. Er riss eine junge Weymouthskiefer aus dem Boden und schwenkte sie wie eine Fliegenklatsche, als er nun auf mich zukam.
»Aufhören!«, schrie ich. »Aufhören, Kurzol!«
»KEIN KURZOL!«, brüllte er und seine knirschende Stimme klang jetzt fast schrill. »KURZOL IST INADÄQUATE NOMENKLATUR!«
Ich wich seiner Baumkeule aus. Die Wurzeln krachten hinter mir in ein Gestrüpp, als ich nach rechts sprang. Was war nur los mit diesem Knaben? Was sollte das heißen, Kurzol inadäquate Nomenklatur?
Wen interessiert das? Bring das Ding mit meiner Schneide zu Fall und damit hat sichs. Dann haben wir vielleicht sogar noch Zeit für eine Pizza.
»Ich glaube, sein Name gefällt ihm nicht, Greg!«, rief Ari, packte mich am Hemd und half mir, einem weiteren wilden Schlag des Felstrolls mit der Baumkeule auszuweichen.
»Jetzt weiß ich wieder, wer du bist!«, schrie Glam, die mitten auf der Lichtung stand. »Komm her, Fluffy, lass uns die Sache zu Ende bringen!«
Sie ließ ihre beiden riesigen Breitschwerter fallen und winkte den Felstroll zu sich.
Das Mädel weiß, was Sache ist, sagte Aderlass aufgeregt. Die hätte ich mir lieber aussuchen sollen.
»Glam, nein!«, schrie Ari. »Regel eins, Leute. Regel eins!«
Kurzol grunzte, warf einen Blick auf seinen Baum und schleuderte ihn dann zur Seite. Offenbar wollte er Glams Herausforderung zum Zweikampf Zwergin gegen Troll ohne Waffen annehmen und rannte auf sie zu. Glam machte sich bereit und verwandelte ihre Fäuste in Glam-Smash-Felsbrocken.
Bei dem Anblick ihrer Felshände kam Kurzol rutschend zum Halt, verwirrt und überrascht.
»PLUTONISCH-MAGMATISCHES GESTEIN!«, sagte er (sogar seine erstaunte Stimme klang wie ein Schrei – offenbar kannten Trolle nur zwei Lautstärken: laut und ohrenbetäubend). Er zeigte auf Glams Hände: »EXTREMITÄTEN MUSKOVITHALTIGER GRANIT! ICH AUCH MITTELHANDKNOCHEN GRANIT?!«
Er ist abgelenkt, Greggdroule!, quiekte Aderlass. Erschlag die Bestie und wir bauen eine feine Burg aus seinem Kadaver. Mädchen natürlich nicht zugelassen.
»Nein, noch nicht«, zischte ich leise.
Obwohl ich wusste: Wenn Kurzol in den nächsten Sekunden wieder zur Besinnung kam und Glam tötete, wäre das meine Schuld.
Ja, das wäre es, stimmte Aderlass zu.
Glam wusste nicht so recht, wie sie sich dem verwirrten Felstroll gegenüber verhalten sollte, der jetzt nur noch ihre Hände anstarrte. Sie hob ihre Quaderfäuste und winkte ihn aufs Neue heran.
»Ja, du!«, sagte sie mit höhnischem Grinsen. »Mit denen hier werd ich dein Gesicht zu Matsch hauen, Fluffy! Zeig, was du kannst!«
»GRANIT-EXTREMITÄTEN HERGEBEN!«, brüllte Kurzol.
»Besorg dir doch selbst welche!«, sagte Glam. »Nix Kurzol-Smash. Das hier ist Glam-Smash!«
»KEIN KURZOOOOOL!«, kreischte er und hob seine gewaltige Trollfaust.
Glam war bereit und ging in Verteidigungshaltung, aber es half nichts. Kurzols Faust krachte gegen ihre Brust.
FLUMP!
Glam grunzte, als sie rückwärts in den Wald flog.
»Jetzt hört endlich alle auf, ihn Kurzol zu nennen!«, schrie Ari.
Als er den Namen hörte, der ihm offenbar verhasst war, wirbelte der Troll herum und starrte Ari wütend an, wobei die pechschwarzen Augen hinter den felsartigen Vorsprüngen seiner Stirn und seiner Augenbrauen kaum zu sehen waren.
»Du bist nicht Kurzol«, sagte sie eilig. »Das wissen wir.«
»KURZOL!«, wiederholte der Felstroll mit Donnerstimme. »KNECHTSCHAFTS-ALIAS!«
»Kurzol war dein … Sklavenname?«, fragte Ari. 6
»ELFEN KURZOL SCHANDNAMEN OKTROYIERT!«, war die zustimmende Antwort.
»Wie heißt du denn wirklich?«, fragte Ari und zeigte auf ihn und dann auf sich selbst. »Ich bin Ari.«
»STONEY«, sagte er.
»Stoney?«, fragte Ari und zeigte noch einmal auf ihn.
»STONEY!«, schrie er und zeigte auf seine Brust.
»Stoney, wir wollen nur mit dir reden«, sagte Ari.
»UNGESTATTET!«, schrie er. »BETRÜGER! STONEY EHRLICH, ANDERE SKRUPELLOS!«
So kommen wir doch nicht weiter, Greggdroule, sagte Aderlass flehend. Er klang verzweifelt, fast weinerlich. Hack ihm das Bein ab. Und dann das andere! Oh, wir könnten alle seine Glieder abschneiden und daraus ein Floß bauen!
Ari wollte gerade noch einen Versuch machen, aber es half nichts. Stoney (der ehemals als Kurzol bekannte Felstroll) war davon überzeugt, dass außer ihm alle logen. Und weil er wer weiß wie lang unter Elfen gelebt hatte, konnte ich ihm da keinen Vorwurf machen. Er bewegte sich drohend ein paar Schritte auf Ari zu.
»DEFRAUDANTEN!«, brüllte er.
Aber dann tauchte Froggy von nirgendwoher auf und versperrte ihm den Weg. Froggy war unbewaffnet. Er trug nicht einmal mehr seinen mit Wurfäxten bestückten Kampfgürtel. Stattdessen hielt er nur einen einzigen Felsbrocken in der Hand. Er war ungefähr so groß wie ein Golfball und glänzend schwarz.
Froggy sagte nichts, er bot Stoney einfach nur den Stein an.
»OBSIDIAN!«, sagte Stoney. »STONEY OFFERIEREN?«
Froggy nickte.
Stoney trat einen weiteren Schritt vor, dann streckte er vorsichtig seine Finger aus, die so groß waren wie Froggys Beine, und nahm mit geschicktem Griff den für ihn erbsengroßen Stein von Froggys ausgestreckter Hand. Er untersuchte den Stein sorgfältig, und sein Gesicht verzog sich zu einer seltsamen Miene, die bei einem Felstroll wahrscheinlich einem Lächeln entsprach.
Dann streckte er plötzlich beide Arme aus, zog Froggy an sich und hob ihn hoch. Er drückte ihn an seine Brust und wir schrien alle besorgt auf. Wenn Froggy nicht halbzwergische Knochen gehabt hätte, wäre er zerdrückt worden wie ein Pappbecher. Trotz der Knochen lief er rot an und sein unterdrücktes Keuchen verriet uns, dass er keine Luft bekam.
Stoney war dabei, Froggy totzuquetschen.
Greggdroule, hilf ihm!, schrie Aderlass.
Meine Hand fuhr instinktiv an seinen Griff. Sowie meine Finger das kalte Metall berührten, verspürte ich den überwältigenden Drang, die Axt hervorzuziehen und Stoney in zwei Teile zu hacken. Ich stellte mir vor, wie ich die Schneide auf den Troll zuschwang und damit mühelos die Luft zerschnitt.
Glam, die sich von dem heftigen Schlag gegen ihren Oberkörper erholt hatte, zog ebenfalls ihr Schwert, um Froggy zu Hilfe zu kommen.
»BETRÄCHTLICHE DANKBARKEIT!«, rief Stoney und drückte immer weiter.
Er wollte Froggy nichts antun, er umarmte ihn einfach nur dankbar – umarmte ihn allerdings zu Tode. Ich ließ Aderlass los (was ihn sehr kränkte) und mein Blutdurst verflog. Die Axt seufzte traurig.
»Okay, okay, Stoney!«, rief ich. »Du tust ihm weh!«
Stoney legte den Kopf schräg und sah mich an, als ob er kein Wort verstanden hätte, aber seine Umarmung lockerte sich, was sich an Froggys verzweifeltem, aber jetzt deutlich hörbarem Luftschnappen zeigte.
»KONTRÄR ZU STONEYS ZIELSETZUNG!«, sagte er und klang sehr besorgt.
»Wir wissen, dass du es nicht so gemeint hast«, sagte Ari. »Er nimmt deinen Dank an.«
»Du kannst ihn jetzt runterlassen«, sagte ich. »Alles ist gut.«
»Gib den edlen Burschen spornstracks frei!«, schrie Lake. »Wofern nicht deine Dankbarkeit das verfrühte Ableben des edlen Burschen mit sich führe!«
Stoney nickte und ließ Froggy endlich los.
Der fiel röchelnd zu Boden. Glam schob das Schwert in die Scheide.
»STONEY ORTSEIGENE SÄUGETIERE UMARMT!«, sagte der Felstroll mit trauriger Stimme. »GESTIKULATION EINGESTELLT. STONEY UMARMT – LEBENSKRAFT VERRINNT. REGIONALE WALDBEVÖLKERUNG VERABSCHEUT STONEY!«
»OMG, Leute«, sagte Ari (die offenbar insgeheim auch ein wandelndes Fremdwörterbuch war). »Er hat das Reh und die anderen Tiere nicht umgebracht, weil er grausam ist. Er wollte sie nur umarmen! Er hat keine Ahnung von seiner Stärke und hat die Tiere wortwörtlich zu Tode geknuddelt!«
»Hehe, sehr komisch«, sagte Glam.
»Nein!«, sagte Ari. »Es ist so traurig! Die armen Tiere. Und armer Stoney!«
Ich half Froggy auf die Füße, während Ari auf Stoney zuging.
»Du musst schrecklich einsam sein«, sagte sie und streckte die Hand aus, um den Arm des Felstrolls zu streicheln.
»STONEY ISOLIERT«, sagte der. »STONEY SCHENKT MAGMATISCHE MINERALIEN AUTOMOBIL. ÜBERANTWORTET WALDLANDKREATUREN AUTOMOBIL. AUTOMOBIL ENTFLIEHT.«
Ari übersetzte für uns, und dann sahen wir einander total geschockt (und vielleicht auch ein bisschen belustigt) an. Wir hatten ja gehört, dass er Autos mit toten Tieren und Steinen beworfen hatte. Er hatte dadurch gar keinen Schaden anrichten wollen. Es waren Geschenke. Er hatte versucht, sich mit den Leuten in den Autos anzufreunden.
»STONEY NICHT QUALIFIZIERT GEFÄHRTEN ZU AKQUIRIEREN!«
»Wir mögen dich, Stoney«, sagte Ari. »Stimmts, Leute?«
»Aber ja, klar doch«, sagte ich.
»He, Fluffy und ich könnten Ringkampf-Partner werden«, sagte Glam.
»Selbiger Edelmann wohlmöcht schon in einer Zwiewoch zu deinem trauten Kompagnon erwachsen«, fügte Lake hinzu.
»LÜGENPRESSE!«, sagte Stoney. »PROPAGANDA!«
»Wir sind nicht wie die Elfen, die dich gefangen gehalten haben«, sagte ich. »Wir lügen nicht … na ja, jedenfalls nicht so viel …«
»BEHAUPTUNGEN CAMOUFLIEREN LÜGEN, UM HILFSFALSCHHEITEN ZU FABRIZIEREN!«
»Komm mit uns«, sagte Ari. »Wir können dir ein besseres Leben bieten, als sie das getan haben.«
»STONEY VERWEIGERT EINKERKERUNG«, sagte er und seine ohnehin schon dröhnende Stimme wurde wieder lauter. »STONEY LEHNT JEGLICHE REPETITION DER MISERE AB!«
»Wir werden dich nicht gefangen halten, wie die Elfen das getan haben«, sagte ich.
»VERWEIGERUNG!«
»Wir haben Gestein in Chicago«, sagte Ari. »Jede Menge seltene Felsbrocken und Edelsteine.«
»DEREN GENAUE POSITION!«
Jetzt schien sein Interesse geweckt zu sein.
»Äh, äh, äh … im Field Museum«, sagte ich, denn mir fiel plötzlich ein Schulausflug ein, den die PISS im vergangenen Jahr dorthin unternommen hatte. »Die haben da eine ganze Ausstellung namens, äh …«
»Grainger Hall of Gems«, fügte Froggy hinzu.
»Da gehen wir mit dir hin«, sagte ich. »Diamanten, Rubine, Smaragde. Und andere seltene Gesteinsarten. Jede Menge! Wir gehen mit dir hin!«
»FIKTION!«, sagte Stoney. Dann machte er kehrt und trottete den Hang hinauf zu seinem Felsvorsprung. Ich wollte ihm gerade hinterherrufen, dass ich nicht gelogen hatte, aber dann ging mir auf, dass ich eben doch gelogen hatte. Nie im Leben würden wir einfach so mit einem Felstroll in ein Museum gehen können, ohne dass die Hölle los wäre.
»Du hast recht, das war gelogen«, sagte ich und lief hinter ihm her. »Aber das wollte ich nicht. Ich möchte wirklich mit dir hingehen, aber das geht eben nicht.«
»WARUM?«
»Weil … na ja …«
»STONEY PRÄSENZ UNAPPETITLICH«, sagte er, ohne stehen zu bleiben.
»Warte, bitte«, sagte ich und rannte jetzt, um es mit seinen riesigen Schritten aufnehmen zu können. »Das stimmt nicht … es ist nur kompliziert. Hör mal, ich weiß, wie dir zumute ist. Ich hatte lange Zeit nur einen Freund. Das dachte ich zumindest, aber dann stellte es sich heraus, dass er gar nicht mein Freund war. Also war ich jahrelang ebenso einsam wie du.«
Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um.
»LÜGE!«, sagte er.
»Nein!«, rief ich flehend. »Ich war wirklich … na ja, okay, ich hatte meinen Dad, aber der war nicht so oft da, wie ich mir das gewünscht hätte, und …«
Ich geriet ins Stottern, denn mir ging auf, dass er wieder recht hatte. Einsamkeit ist ein Gefühl in einem bestimmten Augenblick. Ob Edwin wirklich die ganze Zeit mein Freund gewesen war oder nicht, spielte keine Rolle. Ich hatte ihn für meinen Freund gehalten und mich deshalb niemals so einsam gefühlt, wie Stoney sich jetzt fühlen musste. Und ein Teil von mir wusste auch, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der Edwin und ich wirklich Freunde gewesen waren – egal, wie alles zwischen uns geendet hatte. Das geriet nach allem, was passiert war, leicht in Vergessenheit, aber dann hätte ich mich nur selbst belogen – und Stoney gleich mit.
Wer war dieses Wesen eigentlich? Ein wandelnder, sprechender Gesteinsentdecker?
»Okay, aber du bist nicht einsam, wenn du mit uns zurückkommst«, sagte ich. »Das ist nicht gelogen, und das weißt du. Denn wir werden alle bei dir sein. Außerdem verspreche ich dir, dass wir jeden Tag nach draußen gehen und Steine für dich sammeln. Vielleicht sind die nicht alle selten, aber wir werden unser Bestes tun.«
Stoney zögerte. Er stand noch immer nur auf halber Höhe des Berges, aber er schaute sich auch noch immer nicht nach mir um. Dann zuckte er mit einer seiner massigen Schultern.
»STONEY BESITZT SUFFIZIENTE MENGEN GEMEINES MAGMATISCHES GESTEIN«, sagte er. »STONEY BEGEHRT EXTRAORDINÄRES MINERAL!«
»Was für ein extraordinäres Mineral?«
»EHEMALIGER ELFISCHER BEZWINGER HAT BEZÜGLICH RÜCKKEHR DISKURS GEHALTEN«, sagte er und drehte sich endlich um. »SELTENSTES MINERAL. EINZELNES GEFÄHRDETES UNIKAT. VIOLETT SCHEINENDES MINERAL. ROT SCHIMMERNDES MINERAL. GRÜN GLITZERNDES MINERAL. ORANGE FUNKELNDES MINERAL. GEWALTIGE FARBTÖNE. LEUCHTKRAFT. NUR EINS. NUR EINS.«
»Wo ist es?«, fragte ich, obwohl ich nicht einmal die Hälfte dieser Rede verstanden hatte – die Mischung aus seiner hilflosen Grammatik und seinem umfassenden Wortschatz war wie ein Code, der erst geknackt werden musste. »Wir können dir bei der Suche helfen.«
»STONEY WEISEN«, sagte er. »LOKALITÄTSDIAGRAMM!«
Er zeigte auf seinen Kopf.
»Du hast dir eine Karte eingeprägt?«
Er nickte.
»Na, dann holen wir uns das Ding.«
»DISTANZ«, sagte Stoney. »ISOLIERT. STONEY STÜRZT SALINENGRAB!«
Salinengrab? Während ich noch zu ergründen versuchte, was genau er damit sagen wollte, drehte Stoney sich um und wollte weiter den Hang hochsteigen.
»Du willst die Wahrheit, Stoney?«, schrie ich hinter ihm her.
Er fuhr so schnell herum wie ein Hund, der gerade das Wort »Leckerli« gehört hat. 7
»WAHRHEIT!«, brüllte Stoney erregt.
»Hier ist die Wahrheit«, sagte ich mit fester Stimme und starrte in seine durch und durch schwarzen, leuchtenden Augen. »Andere wie wir werden herkommen, um dich zu vernichten. Das ist eine Tatsache. Es gefällt mir nicht und ich will es nicht, aber es wird passieren. Ich lüge dich nicht an. Komm mit uns, zurück nach Chicago, und gib uns eine Chance, dass wir wirklich deine Freunde werden. Ich werde alles tun, damit dir nichts passiert. Komm mit uns, hör dir an, was unsere Anführer zu sagen haben. Wenn du nach ein paar Tagen nicht mehr bei uns bleiben willst, dann verspreche ich dir – ich verspreche dir, dass wir dich gehen lassen. Zur Not werde ich dich eigenhändig befreien. Du hast mein Wort. Das ist die Wahrheit. Die einzige Wahrheit, die ich sicher weiß, ist das, was ich selbst tun werde.«
Ganz schön schmalzig, Greggdroule, sagte Aderlass. Das war ja mal Kitsch von höchster Qualität.
Ich achtete nicht auf die Axt, sondern starrte weiterhin Stoney an. Er erwiderte meinen Blick einige Sekunden lang. Dann ließ er sich auf ein Knie sinken und beugte sich vor, bis seine riesige, felsige Nase (die so groß war wie mein ganze Kopf) nur noch wenige Fingerbreit von meiner entfernt war. Ich gab mir alle Mühe, standhaft zu bleiben und nicht zurückzuweichen. Sein heißer Atem traf mit einem überraschend frischen, erdigen Nadelwaldduft mein Gesicht.
Ich hatte noch nie so einen Blick wie Stoneys gesehen.
Er zuckte nicht mit der Wimper. Und ohne Iris oder Weißes in den Augen (die einfach glänzende tiefschwarze Seen waren) wusste ich nicht, was sie ansahen oder wonach sie suchten. Sein Blick öffnete mich wie das Messer eines schlechten Chirurgen und suchte nach etwas, von dem er nicht sicher wusste, ob es vorhanden war.
Nein, sagte Aderlass. Er ist bloß ein blöder Troll. Genauso könntest du mit einem Krebs ein Wettstarren veranstalten.
Aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Stoney erschien mir zwar nicht gerade als jemand, mit dem man über die Feinheiten der Astrophysik diskutieren könnte. Aber er wirkte bei Weitem nicht so dumm, wie die alten Schriften von Ur-Erde behaupteten. Sein Wortschatz zum Beispiel übertraf vermutlich selbst den der intelligentesten Collegestudenten. Und dass er immer wieder auf der Frage beharrte, ob etwas die Wahrheit war, zeugte zumindest von großer emotionaler Intelligenz (wenn es vielleicht auch ein bisschen naiv war).
Endlich nickte der Felstroll und erhob sich zu seiner ganzen Größe.
»AKZEPTIERT«, sagte er. »STONEY INKLUDIERT!«
Er drängte sich an mir vorbei und ging zurück zu der Lichtung, wo meine Freunde stillschweigend feierten. Aber als ich ihm auf dem Pfad nach unten folgte, ging mir auf, dass es nur der erste Teil einer erfolgreichen MFM war, ihn zum Mitkommen zu überreden. Und vielleicht war es in diesem Fall sogar der einfachere Teil.
Wegen Regel zwei: Kein Aufsehen erregen.
Wie um alles in der Welt sollten wir einen vier mal drei Meter großen, tausend Pfund schweren, wandelnden, redenden Steinhaufen dreihundert Kilometer weit zurück nach Chicago bringen, mit nichts als einem kleinen Minibus und einem schwitzenden, Biskuitrollen fressenden Fahrer namens Boz – und das, ohne Aufsehen zu erregen?

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Ehrlich, ich hab keine Ahnung, wieso sie ihn verstehen konnte. Der Kerl war ein wandelndes Fremdwörterbuch!
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Oder auch wie derzeit ein Hund, der das Wort »Zwerg« gehört hat. Wie die vielen langsam verheilenden Bisswunden an meinen Knöcheln bewiesen, die allein aus den vergangenen Wochen stammten.