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Feenflügel sind eine köstliche Zwischenmahlzeit
M ein Dad saß am Esstisch, als ich nach Hause kam. Vor ihm war ein kleines Festmahl ausgebreitet: eine große Schüssel voll Kabeljaumousse, in Talg gebratene Rübenchips, eine Platte voll Tatar vom Rind, verschiedene Sorten Käse und ein Teller geröstetes Knochenmark mit Speck-und-Feigen-Marmelade.
»Riecht gut«, sagte ich und mein Magen knurrte laut.
Mein Dad hatte sich den Mund dermaßen mit Tatar vollgestopft, dass er nicht sprechen konnte, aber er wies auf den anderen Stuhl, vor dem bereits ein Teller auf mich wartete. Ich setzte mich und lud einen großen Löffel voll Knochenmark auf einen Rübenchip. Ich hatte seit dem Frühstück nicht mehr richtig gegessen. Na ja, wir hatten zwar auf der Rückfahrt von den Dells eine Pause eingelegt, aber drei Big Macs und zwanzig McNuggets halten nicht lange vor.
Nachdem ich genug gegessen hatte, um meinen wütenden Magen zu beruhigen, berichtete ich meinem Dad, wie die MFM verlaufen war und wie mit Stoney umgegangen wurde.
Er nickte mitfühlend.
»Das ist schon hart«, sagte er. »Aber offenbar hast du deine Sache gut gemacht.«
»Nein, hab ich eben nicht«, sagte ich. »Nicht, wenn ich das hier nicht in Ordnung bringe. Ich habe Stoney mein Wort gegeben, und das würde ich brechen, wenn wir ihn einsperren. Ich verstehe die Zwerge manchmal einfach nicht, Dad. Ich meine, wir behaupten, total aufgeklärt zu sein, ganz anders als die Elfen, die andere verurteilen und immer an ihr eigenes Wohl denken. Aber im nächsten Atemzug reden wir darüber, wie wild und dumm Felstrolle sind, obwohl kaum ein lebender Zwerg bisher jemals einem von ihnen begegnet ist. Meine Erfahrungen mit Stoney haben nicht die geringste Ähnlichkeit damit, was die alten Texte über Felstrolle sagen. Und da frag ich mich doch, wie sehr ich mich auf diese verstaubten alten Bücher aus Ur-Erde verlassen kann.«
Mein Dad schwieg für einen Moment und ich machte mich mal wieder auf einen unsinnigen Wortschwall gefasst. Aber dann nickte er langsam und biss in einen mit Kabeljaumousse beladenen Rübenchip.
»Alle werden missverstanden«, murmelte mein Dad mit vollem Mund. »Das habe ich immer schon gesagt.« Er unterbrach sich, um zu schlucken und an seinem Tee zu nippen. »Weißt du, ich glaube, wenn alle Wesen auf dieser Welt einander immer perfekt verstünden, würde so gut wie nie etwas Schlimmes passieren.«
Ich nickte. Ich hätte gern weitere Fragen gestellt. In diesen seltenen, kurzen lichten Momenten wurde mir wieder klar, wie klug mein alter Dad eigentlich war. Wie gütig und großzügig und nachdenklich. Dinge, die ich früher gar nicht richtig zu schätzen gewusst hatte. Ich sehnte mich verzweifelt nach seinem Rat, aber ich wagte nicht, ihn irgendetwas zu fragen. Seine bizarren Körnchen der Wahrheit waren anfangs eine witzige, wenn auch nervige Macke gewesen, aber neuerdings fand ich seine unvermittelten, sinnlosen Äußerungen eher beängstigend. Als wäre er gar nicht mehr mein Dad, wenn er so eine Episode durchmachte. Als wäre er keine echte Person mehr. Diese Episoden waren so unheimlich und verstörend wie das Auftauchen eines Schlafwandlers.
Aber ich musste es versuchen – vielleicht würde ihm das ja sogar helfen, gesund zu werden.
»Was soll ich denn jetzt machen, Dad?«, traute ich mich leise zu fragen.
Sofort wurden seine Augen glasig, wie neuerdings so oft, und mein Herz rutschte mir in die Hose.
»Kluge Worte der Weisheit suchst du«, sagte er düster. »Und ich werde gütigst mit diesem Körnchen der Wahrheit zu Diensten sein. Das Dasein ohne Freund noch Feind ist Friede. Aber was ist Friede ohne Sinn?«
Er legte eine Pause ein und schien zu warten, so als ob er wirklich eine Antwort auf diese pathetische Frage haben wollte.
»Äh, vielleicht …«
»Das ist Stierhornbrühe!« Er unterbrach mich und hob dabei dramatisch einen Finger. »Gekocht und gekocht und gekocht, bis nichts mehr übrig ist. Bis nur noch die Feenflügel bleiben. Die, nur so am Rande, eine wunderbare Zwischenmahlzeit sind. Wunderbar, wirklich! Oh! Schau nicht so entsetzt! Ich bin kein Biest, kein Barbar! Die wachsen nach. Ho-ho. Ich wette, das wusstest du nicht, was? Ha. Das wusstest du nicht. Aber es stimmt: Feen werfen alle paar Monate ihre Flügel ab. Aber wo war ich gerade? Ach ja, wie du am besten einen Barbegazi abhäuten kannst, ohne dich zu vergiften. Als Erstes brauchst du eine gelbe Lanze mit blauen Streifen und einen hölzernen Eimer, am besten aus Eiche. Dann musst du dich zu einem gefrorenen Tümpel begeben und …«
Ich schüttelte den Kopf und konnte einen Seufzer nicht unterdrücken.
Ich musste das hier in Ordnung bringen. Ich durfte nicht länger zusehen, wie sich sein Zustand immer weiter verschlechterte. Sowie ich das Stoney-Problem gelöst und sich die MFM-Situation beruhigt hatte, würde ich alles daransetzen, jeden letzten Rest Energie, um herauszufinden, was mit meinem Dad passiert war und wie ich es in Ordnung bringen könnte (wenn überhaupt). Ich konnte so nicht weitermachen. Zuzusehen, wie mein Dad zu einer leeren Hülle wurde, riss mich innerlich entzwei. Ich würde es tun, selbst wenn es bedeutete, zu den Elfen zu gehen und sie um Hilfe anzuflehen (da ihr Zaubertrank diesen Zustand ja ausgelöst hatte).
Aber das musste nun warten, für den Moment hatte ich dringlichere Probleme. Ich musste eine Möglichkeit finden, ein feierliches Versprechen zu halten, das ich einem neuen Freund gegeben hatte.
Ich stand auf, während mein Dad weiter auf niemand Bestimmtes einredete. Er sah mich nicht einmal mehr an. Er starrte durch das Zimmer auf eine leere Wand, während er Unsinn plapperte.
»Danke für das Essen, Dad«, murmelte ich.
Er achtete nicht auf mich, sondern redete einfach weiter, als ich ging. Eine Sache musste ich noch erledigen, ehe ich zu Stoneys Quartier zurückging, um Ari abzulösen. Mir war jetzt klar, dass ich das Problem an diesem Abend nicht mehr aus der Welt schaffen konnte. Dass Stoney zumindest für einen Tag ein Gefangener sein würde.
Aber ich würde ihn diesen Tag nicht allein im Kerker zubringen lassen.
Eagan öffnete in T-Shirt und Flanellhose die Tür und rieb sich die Augen.
»Greg«, sagte er verschlafen. »Ich habe gehört, es ist euch gelungen, den Felstroll ohne Zwischenfälle herzuschaffen. Ich wollte eigentlich rüberkommen und euch gratulieren, aber ich bin einfach zu müde. Man muss sehr viel lernen, wenn man dem Rat angehört.«
Er deutete hinter sich, wo Dutzende von Bänden, dick wie mein Kopf, auf seinem Schreibtisch und um sein Bett herum aufgetürmt waren.
»Was sind das alles für Bücher?«, fragte ich.
»Die Annalen des Rates«, sagte er müde. »Alle neuen Ratsangehörigen sollen innerhalb eines Monats, nachdem sie ihren Sitz eingenommen haben, die gesamte dokumentierte Geschichte des Rates lesen.«
Er seufzte.
»Oh, Mann«, sagte ich.
Ich hatte immer schon gern gelesen, aber diese Bücher waren so dick, dass sie zusammen vermutlich hundertmal mehr Seiten ergaben, als ich in meinem ganzen Leben bisher gelesen hatte. Vielleicht tausendmal mehr. (Und garantiert waren sie superlangweilig.)
»Ja«, sagte Eagan. »Aber ich schaff das schon.«
Er klang nicht gerade überzeugt.
»Jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen, weil ich dich belästige«, sagte ich.
»Nein, nein, kein Problem«, sagte er. »Komm rein.«
Er trat zur Seite und wies auf den Tisch. Der war dermaßen mit Rats-Annalen beladen, dass ich den Stuhl gegenüber gar nicht sehen konnte. Eagan wuchtete einen großen Bücherstapel auf den Boden und schuf damit eine Art Fenster, durch das ich hindurchschauen konnte. Er setzte sich mir gegenüber, und sein erschöpftes Gesicht war eingerahmt von einem Canyon aus vergilbten Büchern.
»Also, was ist los?«, fragte Eagan.
Ich war noch immer so geschockt davon, was mit meinem Dad passiert war, dass ich fast damit angefangen hätte. Ich wollte Eagan erzählen, dass ich einfach nicht mehr konnte, und ihn vielleicht sogar um seine Hilfe bitten. Denn wenn es überhaupt einen Zwerg gab, der vielleicht erfolgreich mit Elfen verhandeln könnte, um herauszufinden, was mit meinem Dad passiert war, dann Eagan (schließlich hatte die Mondzauber-Familie immer schon die erfolgreichsten Lobbyisten in der Geschichte der Zwerge hervorgebracht). Aber deshalb war ich heute Abend nicht hergekommen. Außerdem war er vielleicht nicht der richtige Adressat für eine Klage über einen »verrückten« Dad, schließlich war seiner gestorben und für immer fort. 8
Also erzählte ich, weshalb ich gekommen war, und schilderte meine Notlage, was Stoney betraf.
»Kannst du mir helfen?«, fragte ich schließlich.
»Na ja, ich kann es versuchen«, sagte Eagan, klang aber nicht gerade zuversichtlich. »Ich meine, ich bin das jüngste Ratsmitglied aller Zeiten. Und das neueste, deshalb muss ich mich viel mehr beweisen als alle anderen. Schon jetzt nimmt mich mindestens der halbe Rat wegen meines Alters nicht ernst. Aber ich werde tun, was ich kann, um mich morgen bei der MFM-Sitzung für Stoney einzusetzen.«
»Danke, Eagan«, sagte ich. »Das weiß ich wirklich zu schätzen.«
Und das tat ich. In Anbetracht der Tatsache, dass ihn ein Bergtroll zur Waise gemacht hatte, könnte ich Eagan wohl kaum Vorwürfe machen, wenn er einem anderen Troll seine Hilfe verweigerte – selbst wenn es sich um eine ganz andere Unterart handelte.
Ich musste zugeben, dass es ein Trost war, wenigstens ein paar Zwerge zu kennen (Eagan und Ari natürlich, und vermutlich auch Lake, Froggy und Glam), die die Geschichten von Ur-Erde nicht so ganz glaubten, nach denen Felstrolle dumme, blutrünstige Bestien waren. Das ließ mich hoffen, noch andere zu finden, die offen für neue Vorstellungen waren und sich auf ihre Erfahrungen verließen und nicht auf unbewiesene Behauptungen, die ihnen von ihren toten Vorfahren hinterlassen worden waren.
Wie zur Bestätigung sah Eagan mich an und sagte: »Was recht ist, muss recht bleiben, Greg.«
Ich nickte.
Genau deshalb saß Eagan trotz seines Alters jetzt im Rat. Er besaß mehr Integrität als jeder Mensch, Zwerg oder Elf, ob jung oder alt, der mir jemals begegnet war. In ethischen Fragen ging er keine Kompromisse ein, nicht einmal mit seinen eigenen Gefühlen. Aderlass hatte sich geirrt, als er behauptet hatte, der Sitz im Rat hätte mir zufallen müssen. Eagan war die perfekte Wahl – er sorgte dafür, dass ich ein besserer Zwerg werden wollte, und das war genau die Art von Person, die wir als Anführer brauchten.
Warum also hatte ich trotzdem nicht viel Hoffnung, dass er am nächsten Tag irgendeine Möglichkeit finden würde, um den Rat umzustimmen? Ich zwang mich zur Zuversicht, dass es ihm gelingen könnte. Denn versprochen ist versprochen. Und bei Zwergen sind Versprechen wirklich von Bedeutung. Wenn Eagan es also nicht schaffte, den Rat zu überzeugen, konnte ich nur noch versuchen, Stoney zu befreien und irgendeinen Zufluchtsort für ihn zu finden.
Was für ihn bestimmt kein gutes Ende nehmen würde.
Und für mich auch nicht.
Und für Chicago auch nicht.

8
Es war schon ein Wunder, dass ich in dieser Zeit überhaupt Schlaf fand, so schuldig, wie ich mich wegen des viel zu frühen Todes von Eagans Dad und Edwins Eltern und dazu meiner verlorenen Freundschaft zu Edwin fühlte. Aber, um ehrlich zu sein, wenn ich dann für einige Stunden einschlafen konnte, war es nicht gerade ein süßer Schlummer voller Träume von Rosinenkuchen und Regenbogen …