Kapitel 1
Der Weg zum Krieg

Die europäischen Imperien hatten das 19. Jahrhundert unterschiedlich gut überstanden, die meisten mehr schlecht als recht. Nur das einzige in dieser Zeit neu entstandene Imperium in Ostmitteleuropa – das Deutsche Reich – konnte die Jahrzehnte vor 1914 als Erfolg betrachten.

Die Landkarte Mittel- und Südosteuropas zeigt für das Jahr 1815 vier Großmächte: Preußen, Russland, Österreich und das Osmanische Reich. Wie sich bei Kriegsausbruch fast hundert Jahre später zeigt, waren die damaligen Grenzen verblüffend stabil. Deutschland grenzt auf polnischem Territorium an Russland. Österreich ist zu Österreich-Ungarn geworden, doch seine Nordgrenze hat sich nur minimal verändert, lediglich im Süden hat es sich mit der Annexion von Bosnien-Herzegowina im Jahr 1908 deutlich ausgedehnt. Die größten Veränderungen sind auf dem Balkan zu beobachten: Das Osmanische Reich hat sein europäisches Vorgelände verloren. Die Karte von 1914 zeigt mit Serbien, Montenegro, Griechenland, Bulgarien und dem ein Jahr zuvor entstandenen Albanien insgesamt sechs Nationalstaaten modernen Typs. Entlang ihrer Grenzen leben ethnische und religiöse Minderheiten, es gibt umstrittene Territorien und gegenseitige Ressentiments. Im Westen gelten die Balkanstaaten als rückständig, ihre Zivilisationsindikatoren – Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit, Alphabetisierung, Industrialisierung und Urbanisierung – liegen weit hinter den entsprechenden Werten etwa der Niederlande oder Dänemarks.

Von den Imperien hat nur eines mit vergleichbaren Schwierigkeiten zu kämpfen: Russland. Seit Langem ist es der größte Staat der Welt, es reicht von Lodz, dem „Manchester des Ostens“, bis zum Pazifik. Seit Langem gehört es auch dem exklusiven Club der Großmächte an. Gleichzeitig ringt es mit für die Mitglieder dieses Clubs ungewöhnlichen Problemen: Es gibt keine Schulpflicht, die Frage des Grundeigentums ist ungelöst, die Industrialisierung beschränkt sich auf Inseln im Zentrum, im Süden und im Westen des Landes. Auf dem Papier ist Russland eine Militärmacht, doch es unterliegt im Kampf mit einem Expeditionskorps der westlichen Großmächte auf eigenem Territorium (Krimkrieg 1854/56). In den Jahren 1904–05 wird es als erste europäische („weiße“) Großmacht von asiatischen („gelben“, das heißt japanischen) Truppen nicht nur besiegt, sondern gedemütigt. 1905 und 1906 erlebt das Land eine Revolution, die das Gebäude der Alleinherrschaft, das heißt der durch keine Verfassung eingeschränkten Macht des Zaren, in den Grundfesten erschüttert. Man weiß, das Problem beginnt an der Spitze – das Staatsoberhaupt ist alles andere als unfehlbar, muss sich aber vor niemandem verantworten –, doch der Krebs der Gleichgültigkeit, Korruption, Inkompetenz und Dummheit metastasiert in der gesamten Staatsverwaltung; erst nach dem verlorenen Krieg gegen Japan und der Niederschlagung der Revolution beginnt eine neue Phase intensiver innerer Reformen. Die gute Wirtschaftskonjunktur täuscht kaum jemanden darüber hinweg, dass der Staat ohnmächtig bleibt, das Parlament bloße Fassade ist und die sozialen Spannungen infolge der durch die Industrialisierung bewirkten Transformation eines Teils der ländlichen Gesellschaft in eine städtische zunehmen. Ebenso wächst das Nationalitätenproblem. Nur in einem vergleichsweise kleinen Teil Westrusslands eskalieren die Konflikte zwischen den bis dahin privilegierten Deutsch-Balten, den benachbarten Letten und Esten sowie Litauern, Juden und Ukrainern – nicht nur auf dem Balkan wird die nationale Idee an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zur Inspiration für Priester, Pastoren, Popen, Lehrer oder Referendare, die bis dahin als gefügiges Skelett des Imperiums galten; ganz zu schweigen vom polnischen Problem, das Russland sich mit der Ausdehnung bis an die Weichsel im Zuge der Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts eingehandelt hatte.

Ganz anders gestaltet sich die Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Das Reich ist – im Gegensatz zu Russland – Imperium und Nationalstaat zugleich. 90 Prozent der Bevölkerung sind Deutsche. Zwischen Ostpreußen und Badenern gibt es große Unterschiede, doch Königsberger und Freiburger sprechen eine Sprache, lesen dieselben Bücher und teilen ähnliche Werte. Sie sind Angehörige einer Nation, die für viele der Inbegriff der Modernität ist. Die deutschen Universitäten gelten als die besten Europas, ebenso die innovativsten Zweige der Industrie, etwa der chemischen, oder die ausgezeichnete Staats- und Kommunalverwaltung. Die Armee, schon immer als preußische Spezialität angesehen, hat ihre letzten Kriege durchweg gewonnen. Schlechter steht es um die Kolonien: Sie erwirtschaften Verluste, vor allem aber sind sie drittrangig, sie verschaffen ihrem Besitzer weder echtes Prestige noch Befriedigung. Die imperialen Ambitionen konzentrieren sich angesichts dessen eher auf den Südosten Europas als auf die Überseegebiete. Wichtigstes Projekt ist die Schaffung einer Eisenbahnverbindung nach Bagdad, die Deutschland die wirtschaftliche Expansion auf den Balkan und ins Osmanische Reich bis in den Nahen und Mittleren Osten ermöglichen würde.

In zweierlei Hinsicht ähneln sich Deutschland und Russland. In beiden Staaten erstarkt am Übergang zum 20. Jahrhundert der Nationalismus. Im Deutschen Reich manifestiert er sich in Armee, rechten Parteien, Gewerkschaften, Zeitungen und – vor allem – in der Person Wilhelms II. Der von ihm 1890 abberufene langjährige Reichskanzler Otto von Bismarck war in Europa als überaus geschickter und erfolgreicher Politiker gefürchtet. Seinen Nachfolgern fehlt dieses Charisma. Zudem befasst sich der Kaiser zunehmend selbst mit der Außenpolitik. Fast überall sorgt er als neurotischer Dilettant für Irritationen. Immer wieder provoziert er, beleidigt seine Umgebung und verursacht Krisen. In die Geschichte des modernen Europa geht er als unfähigster Monarch mit realer Wirkmacht ein. Der ab 1894 in Russland regierende Zar Nikolaus II. ist charakterlich das genaue Gegenteil seines Berliner Cousins: Seine Unfähigkeit resultiert aus Schwäche, der russische Nationalismus erblüht ohne größeres Zutun des Herrschers.

Zweitens faszinieren Russland und Deutschland durch ihre Hochkultur, vor allem durch Literatur und Musik, Deutschland zudem durch die bereits erwähnten Universitäten. Als vorbildlich gilt auch die bestens organisierte Vertretung der deutschen Arbeiterklasse: die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die bei den Wahlen 1912 mit fast 35 Prozent der Stimmen die größte Reichstagsfraktion stellt, das dichte Netz von Gewerkschaften, Bildungs- und Selbsthilfevereinen und die in Europa (das hieß damals: in der Welt) führenden linken Denker. Aber auch das Deutsche Reich – Russland ohnehin – besitzt längst nicht die soft power Großbritanniens oder Frankreichs, der deutsche Lebensstil ist kein nachahmenswertes Modell für andere Völker. Auch im Ersten Weltkrieg erkennen sich kultivierte Menschen – etwa der Bürgermeister einer besetzten Stadt und ihr neuer Kommandant – an ihren Französischkenntnissen.

Zusätzlich abstoßend wirken der sprichwörtliche deutsche Hochmut und die ebenso sprichwörtliche russische Rückständigkeit. Was die Nationalisten in beiden Ländern nur in ihrer Auffassung bestärkt, ihre Staaten würden von der Öffentlichkeit anderer Länder nicht gebührend geachtet.

Am kompliziertesten ist die Lage in Österreich-Ungarn. Die Donaumonarchie wird 1867 zum Doppelstaat mit einem gemeinsamen Herrscher (in Ungarn regiert Franz Joseph als König, im restlichen Teil als Kaiser), gemeinsamer Außenpolitik und Armee sowie (partiell) einem gemeinsamen Haushalt. Von den 48 Millionen Einwohnern der Doppelmonarchie stellen Deutsch-Österreicher und Ungarn gemeinsam weniger als die Hälfte (44 Prozent, die verschiedenen slawischen Nationen kommen insgesamt auf 47 Prozent). Die übrigen Nationen genießen theoretisch ein konstitutionell verbrieftes Recht auf Selbstbestimmung sowie auf ein eigenes Schul- und Kulturwesen; die Wirklichkeit sieht anders aus, im ungarischen Transleithanien schlechter als im österreichischen Cisleithanien. In den Parlamenten in Wien und Budapest verschlechtert sich die Stimmung: Konflikte eskalieren, Sitzungen werden vertagt, die Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament erweist sich als Fiktion. Die Linke fordert das allgemeine Wahlrecht, das in Cisleithanien 1907 für Männer eingeführt wird. Die Ungarn bleiben beim tradierten Wahlsystem, das die Staatsnation und die besitzenden Klassen – was mehr oder weniger auf dasselbe hinausläuft – begünstigt. Die deutschen Österreicher in Böhmen und Mähren fühlen sich mit der wachsenden tschechischen Nationalbewegung alleingelassen und blicken immer öfter auf das dynamische Deutsche Reich als potenziellen, im Grunde erträumten Beschützer.

Kakanien

Dort, in Kakanien, diesem seither untergegangenen, unverstandenen Staat, der in so vielem ohne Anerkennung vorbildlich gewesen ist, gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo. So oft man in der Fremde an dieses Land dachte, schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohlhabenden Straßen aus der Zeit der Fußmärsche und Extraposten, die es nach allen Richtungen wie Flüsse der Ordnung, wie Bänder aus heilem Soldatenzwillich durchzogen und die Länder mit dem papierweißen Arm der Verwaltung umschlangen. Und was für Länder! Gletscher und Meer, Karst und böhmische Kornfelder gab es dort, Nächte an der Adria, zirpend von Grillenunruhe, und slowakische Dörfer, wo der Rauch aus den Kaminen wie aus aufgestülpten Nasenlöchern stieg und das Dorf zwischen zwei kleinen Hügeln kauerte, als hätte die Erde ein wenig die Lippen geöffnet, um ihr Kind dazwischen zu wärmen. Natürlich rollten auf diesen Straßen auch Automobile; aber nicht zuviel Automobile! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft. Man hatte keinen Weltwirtschafts- und Weltmachtehrgeiz; man saß im Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie und Übersee hörte man an wie etwas noch gänzlich Unerprobtes und Fernes. Man entfaltete Luxus; aber beileibe nicht so überfeinert wie die Franzosen. Man trieb Sport; aber nicht so närrisch wie die Angelsachsen. Man gab Unsummen für das Heer aus; aber doch nur gerade so viel, daß man sicher die zweitschwächste der Großmächte blieb. Auch die Hauptstadt war um einiges kleiner als alle andern größten Städte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte sind. Und verwaltet wurde dieses Land in einer aufgeklärten, wenig fühlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden Weise von der besten Bürokratie Europas, der man nur einen Fehler nachsagen konnte: sie empfand Genie und geniale Unternehmungssucht an Privatpersonen, die nicht durch hohe Geburt oder einen Staatsauftrag dazu privilegiert waren, als vorlautes Benehmen und Anmaßung. Aber wer ließe sich gerne von Unbefugten dreinreden! Und in Kakanien wurde überdies immer nur ein Genie für einen Lümmel gehalten, aber niemals, wie es anderswo vorkam, schon der Lümmel für ein Genie.

Überhaupt, wie vieles Merkwürdige ließe sich über dieses versunkene Kakanien sagen! Es war zum Beispiel kaiserlich-königlich und war kaiserlich und königlich; eines der beiden Zeichen k. k. oder k. u. k. trug dort jede Sache und Person, aber es bedurfte trotzdem einer Geheimwissenschaft, um immer sicher unterscheiden zu können, welche Einrichtungen und Menschen k. k. und welche k. u. k. zu rufen waren. Es nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, daß Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger. Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagrafen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse. Solcher Geschehnisse gab es viele in diesem Staat, und zu ihnen gehörten auch jene nationalen Kämpfe, die mit Recht die Neugierde Europas auf sich zogen und heute ganz falsch dargestellt werden. Sie waren so heftig, daß ihretwegen die Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte und stillstand, aber in den Zwischenzeiten und Staatspausen kam man ausgezeichnet miteinander aus und tat, als ob nichts gewesen wäre. Und es war auch nichts Wirkliches gewesen. Es hatte sich bloß die Abneigung jedes Menschen gegen die Bestrebungen jedes andern Menschen, in der wir heute alle einig sind, in diesem Staat schon früh, und man kann sagen, zu einem sublimierten Zeremoniell ausgebildet, das noch große Folgen hätte haben können, wenn seine Entwicklung nicht durch eine Katastrophe vor der Zeit unterbrochen worden wäre.

Denn nicht nur die Abneigung gegen den Mitbürger war dort bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert, sondern es nahm auch das Mißtrauen gegen die eigene Person und deren Schicksal den Charakter tiefer Selbstgewißheit an. Man handelte in diesem Land – und mitunter bis zu den höchsten Graden der Leidenschaft und ihren Folgen – immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte. Unkundige Beobachter haben das für Liebenswürdigkeit oder gar für Schwäche des ihrer Meinung nach österreichischen Charakters gehalten. Aber das war falsch; und es ist immer falsch, die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geografischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte. Dieser, wie man zugeben muß, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders gefärbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andre Farbe und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darinsteht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt. Soweit das nun überhaupt allen Augen sichtbar werden kann, war es in Kakanien geschehen, und darin war Kakanien, ohne daß die Welt es schon wußte, der fortgeschrittenste Staat; es war der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, ständig im Gefühl der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz und von der großen Phantasie des Nichtgeschehenen oder doch nicht unwiderruflich Geschehenen wie von dem Hauch der Ozeane umspült, denen die Menschheit entstieg. Es ist passiert, sagte man dort, wenn andre Leute anderswo glaubten, es sei wunder was geschehen; das war ein eigenartiges, nirgendwo sonst im Deutschen oder einer andern Sprache vorkommendes Wort, in dessen Hauch Tatsachen und Schicksalsschläge so leicht wurden wie Flaumfedern und Gedanken. Ja, es war, trotz vielem, was dagegen spricht, Kakanien vielleicht doch ein Land für Genies; und wahrscheinlich ist es daran auch zugrunde gegangen.1

Die einzelnen Länder der Monarchie entwickeln sich unterschiedlich schnell. Beide Hauptstädte gehören zu den modernsten Städten Europas. In Budapest entsteht der erste U-Bahn-Abschnitt 1896, in Wien zwei Jahre später. Böhmen und Mähren können sich mit den am besten entwickelten Regionen Westeuropas messen, während Galizien und die Bukowina ihren östlichen bzw. südöstlichen Nachbarn näher als der Moderne waren.

Der unterschiedliche Entwicklungsstand der einzelnen Regionen hat aber nur geringen Einfluss auf die Stimmungen, die Loyalität gegenüber der Monarchie und das Nationalbewusstsein. In Österreich-Ungarn sind alle Volksgruppen mehr oder weniger unzufrieden. Die Bürger denken zunehmend in nationalen Kategorien und wollen nicht mehr in Gemeinschaft mit ihren anderssprachigen Nachbarn leben. Hannah Arendt wird später schreiben, es sei „dem völkischen Nationalismus eigen, darauf zu bestehen, dass das eigene Volk von ‚einer Welt von Feinden umgeben‘, in einer Situation des ‚einer gegen alle‘ sich befindet, und dass es infolgedessen nur einen Unterschied in der Welt gibt, der zählt, den Unterschied zwischen einem selbst und allen anderen“.2 Vorerst jedoch verläuft die Ethnisierung der Beziehungen innerhalb der Monarchie gewaltfrei, der Staat mag zwar weniger farbig als von Musil beschrieben funktionieren, verwaltet das Vielvölkerreich dennoch halbwegs erfolgreich. Sein Symbol ist Kaiser Franz Joseph I., seit 1867 auch König von Ungarn. Fast niemand erinnert sich an einen anderen Monarchen. Der Glaube an einen gerechten, aus der Ferne regierenden und weit über allen Konflikten und Auseinandersetzungen zwischen Politikern oder Studenten stehenden Herrscher macht Hoffnung: Wenn der Kaiser seit Jahrzehnten Frieden und eine gewisse Stabilität garantiert, dann wird die Monarchie wohl auch die zahlreichen Wirren und Krisen in der europäischen Politik am Beginn des 20. Jahrhunderts überstehen.

Imperien wären keine Imperien, wenn sie nicht nach Hegemonie strebten. Die geringsten Chancen in diesem Wettstreit hat Russland, das trotz immenser Fortschritte die schwächste Position behält. Im Fernen Osten hat es verloren, in Mittelasien kann es Großbritannien nicht mehr herausfordern. Sein schwächster Rivale ist das Osmanische Reich. Petersburg fördert die Zerstückelung des europäischen Vorgeländes der Osmanen. Es schließt Bündnisse mit den Balkanstaaten. Die wichtigste Rolle spielen die engen Beziehungen zu Bulgarien und Serbien, das 1903 aus dem österreichisch-ungarischen ins russische Lager wechselte und als Schutzmacht der Südslawen und der Orthodoxie die russische Balkanpolitik stützte.

Die Verbindung zwischen Petersburg und Belgrad irritiert die Politiker der Habsburgermonarchie in höchstem Maß. Erstens bedroht Serbien als Sachwalter einer Vereinigung der Südslawen die südlichen Grenzgebiete Österreich-Ungarns, wo Kroaten, Slowenen, Bosnier und Serben leben. Zweitens findet das Bündnis zwischen Belgrad und Petersburg seine Fortsetzung in der sogenannten Entente, dem Bündnis zwischen Russland, Frankreich und Großbritannien. Die k. u. k. Militärs sehen in den Beziehungen des Zarenreichs zu Serbien eine existenzielle Bedrohung für die Monarchie und drängen auf rasche Klärung der Situation: Der einflussreiche Stabschef Franz Conrad von Hötzendorf fordert ab 1906 einen Krieg gegen Serbien. Allein 1913, so die Zählung von Historikern, plädiert von Hötzendorf fünfundzwanzigmal für einen Angriff auf Belgrad. Im Mai 1914 erneuert er den Vorschlag. Der Kaiser und die Politik hören nicht auf den Feldmarschall. Vorerst.

Die Friedjung-Affäre

Als sich Österreich-Ungarn 1908 zur Annexion Bosniens und der Herzegowina entschloss, stand Europa am Rande eines Krieges. Zwar war die Region schon seit 1878 von k. u. k. Truppen besetzt, doch nach dem Übertritt Serbiens in die russische Einflusssphäre war die formelle Eingliederung der Provinz eine politische Manifestation. Russland betrachtete die Annexion als feindlichen Akt und Eingriff in seine Interessen auf dem Balkan. Letztlich lenkte das Zarenreich ein, doch die zuvor freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Großmächten waren dauerhaft getrübt. Unterdessen wuchs der Petersburger Einfluss in Belgrad, was wenige Jahre später zur Bildung einer antitürkischen Koalition führte.

Die formale Annexion einer Provinz, in der das österreichisch-ungarische Finanzministerium ohnehin seit mehr als drei Jahrzehnten eine souveräne Politik ausübte, hätte durchaus dezenter vollzogen werden können. Eine Eskalation der Lage lag aber im Interesse des k. u. k. Außenministers Alois Lexa von Aehrenthal, dem Hauptverantwortlichen für die sogenannte Bosnienkrise. Von Aehrenthal war entschiedener Befürworter einer aggressiven imperialen Politik. Zu seiner Überraschung fand die Annexion nicht die Zustimmung der westeuropäischen Öffentlichkeit. Daher hielt von Aehrenthal es für notwendig, diesen Schritt nachträglich zu legitimieren.

Sein Plan schien perfekt, doch er endete für Österreich-Ungarn in einer Blamage. 1909 stellte man ein gutes Dutzend serbischer Politiker aus Kroatien unter dem Vorwurf des Hochverrats vor Gericht, weil sie sich als serbische Agenten gegen die Monarchie verschworen haben sollen. Der Prozess sollte nicht nur Aehrenthals aggressive Politik rechtfertigen, er lag auch im Interesse der Ungarn, die die kroatische Autonomie abschaffen wollten. Allerdings waren die vorgelegten Beweise für den angeblichen Verrat höchst zweifelhaft. Der Brite Robert W. Seton-Watson, der die Verhandlung in Zagreb verfolgte, schrieb in einem Bericht für die „Morning Post“: „Der Prozess ist eine Parodie der Gerechtigkeit, inspiriert und geleitet von etwas, das man nach englischem Sprachgebrauch als Despotie bezeichnen muss.“3 In einem Brief an den späteren „Times“-Chefredakteur Henry Wickham Steed ergänzte er, die für diesen Schauprozess ausgewählten Richter machten den Eindruck, als kämen sie selbst frisch aus der Strafkolonie. Seton-Watson war nicht der Einzige, der so dachte, also gelangte Aehrenthal zu dem Schluss, es sei Zeit für neue Belastungsbeweise.

In diesem Moment betrat der in Mähren in einer jüdischen Familie zur Welt gekommene Historiker und Publizist Heinrich Friedjung die Bühne der großen Politik: Ein Pionier der politischen Zeitgeschichte, zugleich deutscher Nationalist.

Sein Ziel war es, zum Anführer der Deutsch-Österreicher zu werden. Mit Aehrenthal verbanden ihn gemeinsame politische Ansichten und eine mehrjährige Zusammenarbeit. Im Herbst 1909 veröffentlichte Friedjung in der liberalen „Neuen Freien Presse“ einen Artikel, der sich auf Dokumente berief, die angeblich der k. u. k. Botschaft in Belgrad zugespielt worden waren. Diese Papiere sollten belegen, dass Serbien einen bewaffneten Überfall auf die Donaumonarchie plane und Politiker der kroatisch-serbischen Koalition bezahle. Wie sich bald herausstellte, war das Material gefälscht. Ende 1909 verklagten mehrere kroatische Politiker Friedjung wegen Verleumdung. Im Wiener Reichsrat ließ Tomáš Garrigue Masaryk kein gutes Haar an den Machenschaften des Außenministers.

Die Affäre endete mit der Bloßstellung Friedjungs und der österreichisch-ungarischen Behörden. Psychologisch reichten die Folgen sehr viel weiter. Erstens geriet der Rechtsstaat, für den man Österreich-Ungarn bis dahin zu Recht gehalten hatte, unter dem Einfluss des Großmachtstrebens einiger Politiker ins Wanken. Zweitens trieb die hysterische Reaktion der Obrigkeit auf die bis dahin absolut loyale Zusammenarbeit serbischer, kroatischer und slowenischer Politiker innerhalb der Monarchie diese tatsächlich in die Arme Serbiens. Drittens stellte die Friedjung-Affäre Österreich-Ungarns Fähigkeit zur Befriedung der Konflikte zwischen den zerstrittenen Völkern Ostmitteleuropas und des Balkans infrage.

Der Dauerkonflikt zwischen Wien und Petersburg um Serbien hat ein Pendant im Norden. In Galizien regieren die Polen. Die überwältigende Mehrheit von ihnen fühlt sich der Monarchie verbunden, errichtet aber fleißig nationale Institutionen, hilft Emigranten aus dem Königreich Polen und organisiert die Jugend in paramilitärischen Verbänden. Anders die Ukrainer, damals meist Ruthenen genannt: Auch sie gründen Verbände und Institutionen, auch sie sind mehrheitlich prohabsburgisch, aber es gibt auch eine aktive prorussische („moskalophile“) Minderheit. Der Unterschied zwischen politisch aktiven Polen und Ukrainern besteht darin, dass die Polen eigene Behörden, Eliten und ein klares nationales Identitätsgefühl besitzen. Die Ukrainer organisieren sich von der Basis her, ihre Eliten sind schwach; manche ukrainische Intellektuelle glauben an die Entstehung einer der Monarchie verbundenen ukrainischen Nation, andere betrachten die Ruthenen als Teil der großen russischen Nation. Petersburg beschuldigt Wien der Unterstützung der Polen und der „nationalen“ Ukrainer, Wien wirft Petersburg vor, die „Moskalophilen“ aufzuwiegeln. Es gibt unzählige politische Prozesse und noch mehr Pressedebatten.

Serbien ist ungleich wichtiger als Galizien. Über das südliche Grenzgebiet Österreich-Ungarns berichtet die europäische Presse ab 1903 fast ununterbrochen, nicht nur Conrad von Hötzendorf sieht hier die Keimzelle eines künftigen Krieges. Es liegt auf der Hand, dass eine auf diese Region begrenzte Auseinandersetzung zwischen Wien und Belgrad nur eines – und die eindeutig am wenigsten bedrohliche – von mehreren denkbaren Szenarien wäre. Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich sind seit 1879 Verbündete. 1882 tritt Italien – ein unsicherer, unzuverlässiger Partner – der Allianz bei, die seitdem Dreibund heißt. Frankreich und Großbritannien legen 1904 ihre Kolonialstreitigkeiten bei (Entente cordiale), 1907 stößt (das bis dahin nur mit Frankreich verbündete) Russland, der Fürsprecher Serbiens, zu dem entstehenden Bündnis hinzu. Nach dem Scheitern in Fernost 1904–05 kann sich Petersburg eines ganz gewiss nicht leisten: eine Demütigung in den Augen Europas.

Jedes der Imperien ist anders auf einen Krieg vorbereitet. Russland, das seine Grenzen kennt, hat in den Vorjahren mit 30 Prozent seines Haushalts proportional am stärksten in seine Streitkräfte investiert. Innerhalb weniger Jahre sind die Militärausgaben um gut 40 Prozent angestiegen, das Budget der Kriegsmarine hat sich verdreifacht und liegt über dem deutschen; 1917 sollen die Bodenstreitkräfte dreimal so stark wie das Heer des westlichen Nachbarn sein.

Doch all das genügt nicht: Die Armee lehrt die Bauern nicht schreiben, sie errichtet keine effiziente Rüstungsindustrie und gleicht den strukturellen Rückstand des Zarenreichs nicht aus.

Seit Langem weiß man, dass im modernen Krieg die Eisenbahn eine entscheidende Rolle spielt. Im Oktober 1850, als in den österreichisch-preußischen Beziehungen eine Krise eintrat, transportierte das Habsburgerreich in nicht ganz vier Wochen 75.000 Soldaten und 8000 Pferde an seine Nordgrenze. Preußen gab nach. Sechzehn Jahre später brauchte es nur drei Wochen, um fast 200.000 Soldaten und 55.000 Pferde an die Front zu bringen. Diesmal verlor Österreich. Vier Jahre später vermochten die Franzosen ihr modernes Eisenbahnnetz nicht richtig zu nutzen: Am dreiundzwanzigsten Tag der Mobilmachung standen 270.000 Soldaten unter Waffen, während die Deutschen im selben Zeitraum 460.000 Mann mobilisieren konnten. Alle Generalstäbe studieren die Kriege der Jahre 1866 und 1870. Alle gelangen zur selben Schlussfolgerung: Ohne ein dichtes und leistungsfähiges Schienennetz ist in Zukunft kein Krieg mehr zu gewinnen.

In den darauffolgenden Jahrzehnten erweitert das Deutsche Reich sein Schienennetz mit aller Macht. Das Land Preußen wird zum größten Arbeitgeber Deutschlands; kurz vor Kriegsbeginn sind rund 700.000 Menschen bei der Bahn beschäftigt. Russland hat das dünnste Eisenbahnnetz. An der Grenze zu Österreich-Ungarn und Deutschland, also im Vergleich mit den Nachbarn, werden die Unterschiede deutlich: Auf einen Einwohner des Königreichs Polen kommen 25 Gleismeter, auf einen Galizier kommt das Doppelte und auf einen Bewohner der Ostprovinzen des Deutschen Reiches das Sechsfache.4 Auch Österreich-Ungarn ist weit von dem Rüstungsniveau entfernt, das die Armee seit Jahren fordert. Das Schienennetz an den Grenzen zu Serbien und Russland ist ausreichend. Doch auf eines ist die Monarchie nicht vorbereitet: Auf eine schnelle, maximale Anstrengung an beiden Fronten zugleich. Obwohl man weiß, dass Russland Serbien zu Hilfe kommen wird, ist dies das ungünstigste Szenario. In einem solchen Fall wäre Wien von Beginn der Kriegshandlungen zu einer engen Zusammenarbeit mit Berlin gezwungen – es kann keinen Zweifrontenkrieg führen, sofern Deutschland nicht einen Teil der russischen Kräfte bindet. Und nur das Deutsche Reich ist im Osten wirklich bereit für einen Krieg. Der Chef der Obersten Heeresleitung, Helmuth von Moltke, fürchtet allerdings, dass Deutschland seine Übermacht bald verlieren könnte. Gegenüber dem Außenminister plädiert er im Mai 1914 für einen Präventivkrieg – jetzt oder nie. „Später“ könnte seiner Auffassung nach „zu spät“ bedeuten. Nach dem Anlaufen des russischen Rüstungsprogramms würde Deutschland bis 1917 im Osten alle Trümpfe verlieren, die es nun noch erlauben, Russland als zweitrangigen Gegner zu betrachten.

Bis heute hält sich die Auffassung, die Entscheidungsträger in Uniform hätten komplett versagt. Tatsächlich versprechen viele von ihnen den Politikern und der Öffentlichkeit einen kurzen und siegreichen Krieg. Ob aus mangelnder Vorstellungskraft oder mangelnder Kompetenz, ist schwer zu sagen. In den Militärakademien lehrt man die Vorbereitung eines bewaffneten Konflikts an Beispielen aus dem 19. Jahrhundert; insofern kann man den späteren Stabsoffizieren schwerlich vorwerfen, dass sie in Kategorien des Krimkriegs oder des Preußisch-Französischen Kriegs von 1870 denken. Man baut weiterhin immer größere und dichter mit Artillerie bestückte Festungsanlagen, die sich 1914 im Osten wie im Westen gleichermaßen als untauglich erweisen. Am künftigen Nordabschnitt der Ostfront errichten die Russen mächtige Befestigungsanlagen in Ossowiec (Ossowitz), Modlin (Nowogeorgiewsk), Dęblin (Iwangorod) und Kowno. Die Deutschen befestigen mit hohem Aufwand die Vorstädte von Königsberg. Die Österreicher bauen die uneinnehmbare Festung Przemyśl, auch Krakau wird durch einen breiten Streifen von Forts und Bunkern gesichert.

Manche Generäle haben Bedenken, nicht nur wegen der Hunderttausenden Tonnen von Zement und Stahl, die zum Ausbau der Festungen benötigt werden. Die Armee verfügt über fantastische Mittel, den Feind zu töten; das schwere Maschinengewehr war nur das modernste. Doch der Feind verfügt über das gleiche Arsenal. Eine europäische Großmacht kann Millionen Reservisten zu den Waffen rufen; doch, weil die allgemeine Wehrpflicht überall eingeführt wurde, würden Millionen gegen Millionen stehen. Und schließlich: Jeder Staat hat mächtige Verbündete. Jeder.

Trotz dieser Zweifel schmieden die Generäle Pläne für den künftigen Krieg. Dass die Eisenbahn eine zentrale Rolle spielen wird, wissen alle, doch auf die Investitionen ins Gleisnetz haben sie nur begrenzten Einfluss. Also fordern sie überall mehr Geld und eine Verlängerung des Wehrdienstes. Im letzten großen Krieg, also im Konflikt zwischen Japan und Russland 1904–05, mangelte es den Russen (neben vielem anderen) an Artilleriemunition – sie waren auf Importe angewiesen, weil die heimischen Fabriken die wachsende Nachfrage nicht bedienen konnten. Die Generalstäbe kalkulieren also mit einem vielfach höheren Bedarf an Munition und lassen riesige Depots zu ihrer Aufbewahrung errichten. Österreich-Ungarn und Russland stationieren einen großen Teil ihrer Artillerie samt Munitionsvorräten in ihren Festungen. Als Deutschland 1915 ohne größere Anstrengung Kowno und Nowogeorgiewsk erobert, erbeutet es 3000 Geschütze und 2.000.000 Artilleriegranaten; die russische Rüstungsindustrie produziert im Jahr zuvor gerade einmal 285 Geschütze und 660.000 Granaten.5

Im Deutschen Reich bringt die Regierung im Sommer 1913 gegen den Widerstand der SPD, das heißt der größten Reichstagsfraktion, einen Gesetzesentwurf durchs Parlament, mit dem die Friedensstärke des Heeres von 754.000 auf 890.000 Soldaten (1,3 Prozent der Bevölkerung) heraufgesetzt wird. Ausländische Beobachter sehen sich in ihrer Sorge vor dem für Europa bedrohlichen „preußischen Militarismus“ bestätigt. Allerdings beträgt der Anteil der unter Waffen stehenden Männer in Frankreich zur selben Zeit 2,3 Prozent (in Russland und Österreich-Ungarn schwankt er zwischen 0,8 und 0,85 Prozent). Frankreich und Russland geben ca. fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für das Militär aus, Deutschland knapp vier Prozent, Österreich-Ungarn etwas mehr als drei Prozent.

Keiner der von den imperialen Generalstäben entwickelten Pläne überdauert die ersten Kampfwochen im August 1914. Denn kein General oder Feldmarschall will öffentlich zugeben, dass er Helmuth von Moltkes schon im Mai 1890 geäußerte Befürchtungen teilt. Der legendäre Architekt der schnellen und siegreichen Feldzüge gegen Österreich und Frankreich hatte mit seiner letzten Rede im Reichstag die Abgeordneten in Erstaunen versetzt:

Die Zeit der Kabinettskriege liegt hinter uns, – wir haben jetzt nur noch den Volkskrieg, und einen solchen mit allen seinen unabsehbaren Folgen heraufzubeschwören, dazu wird eine irgend besonnene Regierung sich sehr schwer entschließen. […] Meine Herren, wenn der Krieg, der jetzt schon mehr als zehn Jahre lang wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt, – wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und ist sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, gerüstet wie nie zuvor, gegen einander in den Kampf treten […]. Meine Herren, es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden, – und wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert.6

Helmuth von Moltke dem Älteren verzieh man angesichts seines Alters den Anflug von Pessimismus, der ganz und gar nicht dem Zeitgeist entsprach. Anderen hätte man solch defätistische Äußerungen nicht durchgehen lassen. Helmuth von Moltke der Jüngere hegt als Generalstabschef 1914 privat ähnliche Bedenken. Doch weder er noch seine Kollegen in den anderen Hauptstädten wagen es im Sommer dieses Jahres, den verbreiteten Glauben an einen kurzen siegreichen Krieg infrage zu stellen.

Das tun nur Minderheiten, darunter als größte die in der Zweiten Internationale zusammengeschlossenen sozialistischen Parteien. Es lohnt sich, dieser heute vergessenen Tradition Aufmerksamkeit zu schenken. Die Sozialisten fürchten den Krieg: Millionen von Arbeitern, die sich gegenseitig umbringen, damit Kapitalisten in Ledersesseln größeren Profit erzielen – das ist eine albtraumhafte Vorstellung. Auf zahlreichen Kongressen debattieren sie das Thema. Die Radikalen plädieren für einen allgemeinen internationalen Präventionsstreik in der Rüstungsindustrie; die Mehrheit hält den Vorschlag für wenig praktikabel und sinnlos, weil sie mit einem weltweiten spontanen Generalstreik rechnet, sobald das Gespenst des Krieges konkrete Gestalt annimmt. Im Juli 1914 stimmen die sozialistischen Abgeordneten aller westeuropäischen Staaten mit der jeweiligen Parlamentsmehrheit für den Krieg. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal siegt der Nationalismus über den marxistischen Traum von der internationalen Solidarität der Proletarier.

Eine andere Art von Pazifismus repräsentiert die als Gräfin Kinsky geborene Bertha von Suttner, die den Menschen, seine Würde und sein Leiden in den Mittelpunkt stellt. Das wichtigste Buch der Friedensnobelpreisträgerin von 1905 stammt aus dem Jahr 1899: Die Waffen nieder wird zum Bestseller im deutschsprachigen Raum und in zahlreiche andere Sprachen übersetzt. Der Roman erzählt die Geschichte einer Frau, die in den ständigen Konflikten zwischen den europäischen Großmächten (vom Krieg zwischen Österreich, Piemont und Frankreich 1859 bis zum Preußisch-Französischen Krieg 1870–1871) ihre Angehörigen verliert. Suttners Engagement für den Frieden manifestiert sich in der Teilnahme an internationalen Friedenskonferenzen, unter anderen in Den Haag 1899. Die viel gelesene Schriftstellerin leistet sicher mehr für die pazifistische Sache als der Initiator der Haager Konferenz, Zar Nikolaus II.

Auf ganz anderen Wegen gelangt der Warschauer Bankier Jan (auch Johann oder Iwan) von Bloch nach Den Haag. Er beginnt 1893 mit der Veröffentlichung der polnischsprachigen Artikelreihe Przyszla wojna, jej ekonomiczne przyczyny i skutki (Der zukünftige Krieg, seine ökonomischen Ursachen und Folgen). Innerhalb von fünf Jahren entsteht daraus das mehrbändige Werk Der Krieg, das 1898–1900 zuerst auf Russisch und später – teils in gekürzten Fassungen – auf Polnisch, Englisch, Französisch, Deutsch und Niederländisch erscheint.7 Bloch betreibt die Wissenschaft als Hobby, doch er kann es sich leisten, für sein Projekt ein Forscherteam zu engagieren. Er betrachtet den Krieg aus der Sicht eines aufgeklärten, um die Zukunft seines Kontinents besorgten Europäers. Die Rückkehr der Gewalt in die internationalen Beziehungen hält er für das absolute Böse, für eine elementare Bedrohung der Zivilisation des zu Ende gehenden Jahrhunderts. In recht langatmigen, mit Statistiken überladenen Ausführungen belegt Bloch auf 3000 Seiten, dass die von den Großmächten angehäuften Waffen ausreichen, um ganz Europa zu vernichten. Dass ein Krieg schon zu Beginn die europäische Wirtschaft ruinieren würde, erscheint aus dieser Perspektive weniger bedeutsam, ist aber für Blochs Bankierskollegen wichtig, die im Juli 1914 vergeblich vor der Apokalypse warnen.

Bloch betrachtet die Welt von Warschau aus. Er lebt in einer pulsierenden Stadt, die kurz davor steht, die Schallmauer von einer Million Einwohnern zu durchbrechen. Die frühneuzeitlichen Festungsanlagen sind längst abgetragen, aber – wie in vielen anderen Metropolen der Region – durch neue ersetzt worden. Diese Festungen sind schon bei Fertigstellung veraltet und hemmen die Stadtentwicklung. Besser lässt sich die Sinnlosigkeit des Wettrüstens kaum illustrieren.8 Zugleich lebt Bloch in einem Staat, in dem – wie fast überall in Europa – allgemeine Wehrpflicht gilt. Als einer von wenigen zieht er eine logische Schlussfolgerung: Ein Krieg zwischen den Imperien bringt nicht nur Hunderttausenden junger Männer den Tod, sondern ist auch für die betroffenen Gesellschaften und Volkswirtschaften eine nicht zu bewältigende Herausforderung. Im „zukünftigen Krieg“ wird es nur Verlierer geben: Die Entwicklung der Tötungstechnologie macht das Schlachtfeld zum Schauplatz von Massakern, aus denen kein moderner Staat als Sieger hervorgehen kann. Jede Seite kann bisher unvorstellbare Massen an Material und Menschen in die vermeintlich letzte Schlacht werfen. Der Krieg ruiniert – materiell, physisch, moralisch – Sieger und Besiegte gleichermaßen. Damit sind beide Kategorien in der Praxis obsolet.

Bloch ist an der Jahrhundertwende der bekannteste Vertreter einer kleinen Minderheit innerhalb der Großbourgeoisie (diese Bezeichnung trifft insofern zu, als er einer der reichsten Männer in Russland war), die den „zukünftigen Krieg“ zwischen den Großmächten als Katastrophe für alle Beteiligten betrachten. Die Siegeschancen hält er für gering, die Kosten für unermesslich. Die zeitgenössischen Militärtheoretiker weisen Blochs Thesen angewidert zurück. Sie wissen es besser. Ihre Verachtung für den Warschauer Bankier rührt wohl vor allem daher, dass es im Buch Der Krieg nicht allein um den Krieg geht; im Hintergrund steht der grundlegende Zweifel, ob zivilisierte Gesellschaften ihr Schicksal in die Hände des Militärs legen sollten. Diese Frage ertragen Generäle nicht, unabhängig von Uniform, Zeit und Ort.

Die Angriffsdoktrin

In den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs wurde auf beiden Seiten der Front überraschend Friedrich von Bernhardi zu einem der meistzitierten Schriftsteller. Der Kavalleriegeneral und Militärhistoriker führte zwar keine leichte Feder, doch er bediente exakt die Bedürfnisse des Augenblicks. Die Deutschen und ihre Verbündeten schöpften aus Bernhardis Werk die stärkende Überzeugung, dass sie in diesem Krieg eigentlich zum Siegen verurteilt seien. Ihre Gegner sahen in ihm ein Symbol des deutschen Chauvinismus und Militarismus. Nicht ohne Grund, wenn man etwa liest, was Bernhardi über die Auswirkungen des Rüstungswettlaufs auf die Vorkriegsgesellschaft des Deutschen Reichs schrieb: „Wir haben uns gewöhnt, die Waffenrüstung als eine schwere, unwillig getragene Last zu betrachten, und darüber vergessen, daß die Armee der Jungbrunnen ist, aus dem immer von neuem Kraft, Opfermut und Vaterlandsliebe unserem Volke zuströmen.“9 Trotz strenger Mahnungen an die vermeintlich allzu pazifistisch gesinnte deutsche Öffentlichkeit sah Bernhardi dem in seinen Augen unausweichlichen europäischen Konflikt optimistisch entgegen. Seine Zuversicht speiste sich aus dem Glauben an die überlegene Kriegsmoral der Deutschen, als wichtigsten Faktor des künftigen Sieges betrachtete er die Initiative (das „Prinzip des Handelns“).

Abgesehen vom großdeutschen Chauvinismus finden sich in Bernhardis Text freilich auch Ansichten, die nicht nur unter deutschen Strategen, sondern in allen europäischen Stäben verbreitet waren und die knapp formuliert lauteten: Geist ist wichtiger als Material, Angriff ist besser als Verteidigung. Bernhardis Siegeshoffnung gründete auf der durchaus nicht falschen Beobachtung, dass die bislang beste Umsetzung der beiden Maximen Preußen im Feldzug gegen Frankreich 1870/71 gelungen war. Auch die unmittelbare Vorkriegszeit lieferte den Befürwortern der Angriffsdoktrin neue Argumente. Im Russisch-Japanischen Krieg setzte der russische Oberbefehlshaber in der Mandschurei, General Alexei Nikolajewitsch Kuropatkin, auf eine defensive Strategie, die von deutschen Ausbildern geschulten Japaner hingegen auf permanente Offensive. Obwohl die russische Niederlage vielschichtige Gründe hatte, konzentrierten sich die Beobachter auf den Unterschied in der strategischen Ausrichtung. Auch Kuropatkin selbst bemühte bei der Suche nach einer Erklärung für sein Scheitern eine der damals gängigen Formeln:

Im jüngsten Krieg […] war unsere moralische Stärke geringer als die der Japaner; und eben diese Unterlegenheit, mehr als Fehler in der Führung, war die Ursache unserer Niederlagen […]. Der Mangel an Kampfgeist, an moralischer Begeisterung und an Heldenmut wirkte sich besonders auf unsere Durchhaltevermögen aus. In vielen Fällen fehlte uns im Kampf die Entschlossenheit, einen Gegner wie die Japaner zu besiegen.10

Die Militärstrategen blendeten völlig aus, welchen Preis der Sieger gezahlt hatte. Die Verluste der Japaner waren weitaus höher als die der besiegten Russen. Beide Seiten verfügten schon über moderne Artillerie und Maschinengewehre. Bei den ununterbrochenen Bajonettangriffen und zumal beim Sturm auf Port Artur starben daher die japanischen Infanteristen in Massen. Ihr Fanatismus begeisterte die Generalstäbler. Über die Verluste sah man hinweg, der zukünftige Krieg sollte ja schnell vorbei sein. 1911 übernahm Frankreich die auf permanente Offensive ausgerichtete Grandmaison-Doktrin. Sie sah als bevorzugte Taktik die Verlagerung der Kräfte möglichst nah an die feindliche Linie und massierte Bajonettangriffe vor. Die absehbar hohen Verluste fielen dabei weniger ins Gewicht als die erwartete positive Wirkung eines solchen Vorgehens auf die Moral der Armee.

1914 trafen Armeen aufeinander, die strategisch wie taktisch fast ausnahmslos auf Angriff eingestellt waren. Die einzige Lehre, die man aus den Kriegen der Jahre 1904–05 gezogen hatte, war diese: Der Angriff musste massenhaft erfolgen, um erfolgreich zu sein. Die Kosten dieser Doktrin sollten sich als makaber hoch erweisen.

Juli 1914

Mit der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand beginnt für die Imperien der Monat der Schande. Vier Wochen lang beraten ununterbrochen die Kabinette, Außenministerien und Generalstäbe verfassen im Gleichschritt Memoranden. In den Monarchien bespricht man sich mit den Herrschern. Im Hintergrund erscheinen hier und da einflussreiche Bankiers, Industrielle und Chefredakteure, mitunter Fraktionsvorsitzende. Die beiden ersten Gruppen spielen keine große Rolle, es geht nicht um Geld, sondern ums Prestige, um den Großmachtstatus. Auch Zeitungsherausgeber und Politiker außerhalb der Regierung haben de facto nicht viel zu sagen, doch sie werden gebraucht, um die Öffentlichkeit auf den Krieg einzustimmen.

In allen Staaten entscheiden Gruppen von einem bis mehreren Dutzend Männern, die meisten im mittleren Alter (wenngleich auch einige Ältere darunter sind). Der Kreis ist aufgrund der Jahreszeit reduziert. Wilhelm II. verbringt die entscheidenden Wochen auf seiner Jacht. Sein Kriegsminister General Erich von Falkenhayn erholt sich währenddessen auf einer Insel in der Nordsee. Helmuth von Moltke (der Jüngere) trifft am Tag des Attentats zur jährlichen Sommerfrische in Karlsbad ein. Der Tod des Erzherzogs beeindruckt ihn offensichtlich nicht. Erst aufgrund der Nachricht vom österreichisch-ungarischen Ultimatum an Serbien bricht er den Urlaub ab und kehrt am 25. Juli nach Berlin zurück. Die Deutschen sind keine Ausnahme: Serbiens Generalfeldmarschall Radomir Putnik hätte um ein Haar gar nicht am Krieg teilgenommen. Er verbringt den Sommer 1914 in einem Sanatorium im österreichischen Bad Gleichenberg. Auf der Heimreise wird er in Budapest von der ungarischen Gendarmerie festgenommen. Auf persönliche Anordnung Franz Josephs I. kommt er frei; die Verhaftung eines Feindes, der als Kurgast ins Land gekommen ist, passt offenbar nicht ins Weltbild des Kaisers.

Den anderen Entscheidungsträgern bleiben vergleichbare Aufregungen erspart. Langsam finden sie sich Ende des Monats in ihren Büros ein. Es kümmert sie wenig, dass die Börsenkurse gerade zum Sturzflug ansetzen. Bloch lebt nicht mehr, seine Kollegen in den Banken erleben die von ihm vorhergesagte Wirtschaftskatastrophe am eigenen Leib; bald werden auch die Kleinsparer betroffen sein. Obwohl die Zeitungen aufgeregt von Krieg schreiben, sind die Militärs nicht sonderlich präsent. Die Politiker – und mehr noch die Öffentlichkeit – glauben ihren Versprechen der letzten Jahre, dass ein Krieg sich schnell gewinnen lasse. Die Entscheider sind in der Regel erbärmlich informiert. Die grundlegenden Nachrichten liefern Pressedepeschen und diplomatische Berichte, das heißt Quellen, die oft einen veralteten Stand der Dinge berichten. Die französische Delegation mit Präsident und Premierminister, von der gleich noch die Rede sein wird, kehrt mit dem Schiff von ihrem Besuch in Russland zurück. Die Reise dauert sechs Tage. Die Deutschen stören erfolgreich die Kommunikation, der Austausch von Depeschen läuft in den entscheidenden Tagen der Krise noch langsamer als sonst. Das Telefon spielt eine untergeordnete Rolle, es dient vor allem für Inlandsgespräche; Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es noch keine gesicherten Verbindungen, doch auch sie hätten wohl kaum etwas geändert.

In diesem Spiel glauben nur wenige Teilnehmer, dass sie etwas zu verlieren hätten. Großbritannien hat allenfalls seine Position zu wahren, deren Stützen ohnehin nicht in Europa liegen. London wird erst durch die Provokationen Deutschlands, das seit gut zwanzig Jahren seine Sonderstellung infrage stellt, zur Intervention gezwungen. Dass die Deutschen eine mächtige Kriegsmarine aufbauen, ist seit Langem ein Streitpunkt – nichts stört die Beziehungen zwischen den beiden Ländern so sehr wie das größenwahnsinnige wilhelminische Projekt, Großbritannien auf See Konkurrenz zu machen. Während des Kriegs schlägt die deutsche Flotte eine große Schlacht gegen die Briten, die sie halb gewinnt, doch auch so sollte sie es nicht aus ihren Häfen an Nord- und Ostsee herausschaffen. Die deutsche Revolution von 1918 beginnt in den Basen der Kriegsmarine.

Das Deutsche Reich ist de facto die einzige Großmacht, die den europäischen Status quo infrage stellt. Historiker haben auf Tausenden von Seiten versucht, zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Sichtweisen in Übereinstimmung zu bringen. Einerseits entwickelt sich das Deutsche Reich seit Jahren weitaus dynamischer als Großbritannien. 1913 ist klar: Wenn der Frieden hält, wird sich seine Position als ökonomisch stärkster Staat festigen. Deutschland hat keine Aussicht auf territorialen Zuwachs, aber es braucht ihn auch nicht. Im Westen wäre er nur auf Kosten der Niederlande, Belgiens oder Frankreichs zu erreichen, was sich niemand vorstellen kann. Im Osten nur auf Kosten Russlands, was faktisch die Eingliederung von Millionen Polen ins Reich bedeuten würde. Das ist keine sonderlich verlockende Aussicht. Der liberale Abgeordnete Heinrich zu Schönaich-Carolath fragt 1914 im Reichstag: „Und was könnten wir von Rußland haben wollen? Etwa Warschau und Polen? Ich dächte, wir hätten genug davon.“11

Andererseits rasselt gerade das Deutsche Reich – und zwar unabhängig von der streitsüchtigen Persönlichkeit des Kaisers – am häufigsten und am lautesten mit dem Säbel. Damals und später findet man dafür unterschiedliche Erklärungen: Die „verspätete“ Nationsbildung der Deutschen (erst 1871); die Tradition des preußischen Militarismus; die Interessen des Großkapitals (eine absurde Annahme, denn Industrielle und Bankiers wissen auch ohne Kenntnis von Blochs Werk, dass ihnen der Friede mehr als der Krieg nutzt); den Wunsch, mit einem Schlag die vermeintlich wachsenden inneren Spannungen zu lösen; den Nationalismus. All dies spielt eine Rolle, erklärt aber nicht, warum Deutschland im Juli 1914 mehr als die anderen Großmächte eine konfrontative, aggressive Haltung einnimmt. Die Öffentlichkeit glaubt – mit Ausnahme der Sozialdemokraten, die sich der kriegsfreudigen Stimmung nur widerwillig anschließen –, Deutschland sei von einer feindlichen Koalition eingekreist. So scheinen sich etwa die deutschen Studenten noch bereitwilliger als ihre britischen Kommilitonen rekrutieren zu lassen, weil sie meinen, sie müssten als Hüter der einzig wahren europäischen Kultur das Vaterland gegen das Bündnis von barbarischem Osten und materialistischem Westen verteidigen.

Auch Briten, Franzosen und Russen fühlen sich moralisch überlegen: Die einen verteidigen Europa, die anderen ihre slawischen Brüder vor preußischem Militarismus und deutschem Hochmut. Ohne die freudige Erregung der Massen auf den Straßen, vor den Redaktionen und Kirchen, und ohne die Unterstützung der sozialistischen Parteien, die ihre Wähler aufrufen, in der ersten Reihe der Vaterlandsverteidiger mitzuschreiten, ist der schändliche Juli des Jahres 1914 kaum vorstellbar. Zugleich wissen wir, dass Millionen Bauern – in Mittel- und Südosteuropa stellen sie die große Bevölkerungsmehrheit – sich zwar gehorsam rekrutieren und an die Front schicken lassen, doch wenig Begeisterung zeigen. In Russland kommt es bei der Mobilisierung hier und da zu Unruhen, oft in Zusammenhang mit massenhaftem Alkoholkonsum. Maßloses Trinken gehörte zum Ritual der Einberufung, doch nun geht es für die jungen Männer nicht in die Kaserne, sondern an die Front. Das alles scheint vorerst unbedeutsam, ähnlich wie die Tatsache, dass nur in zwei Ländern die Parteien der Sozialistischen Internationale den von den europäischen Sozialisten propagierten Prinzipien treu bleiben und offen gegen den Krieg agitieren – die Bolschewiki und Menschewiki in Russland sowie ihre Genossen in Serbien.

Das kollektive Gedächtnis der westeuropäischen Gesellschaften bewahrt die Erinnerung an die fiebrigen, kriegshungrigen Menschenmengen in den Städten. Es kommt zu einer Rückkopplung: Die Massen lassen sich leicht aufbringen und die Politiker wie Journalisten, deren Kriegsrhetorik die Stimmung anheizt, sehen darin einen weiteren Beweis, dass sie im Einklang mit den Interessen und dem Willen des Volkes handeln. Der Schulterschluss der Nation angesichts der Gefahr, das Gefühl der moralischen Überlegenheit über den Feind und der Glaube an einen schnellen Sieg – der Sommer 1914 wirkt schön und erhaben.

Entschieden wird freilich in den Kabinetten, nicht auf der Straße. Und man liest diese Geschichte bis heute mit Verwunderung – selten ließen die europäischen Eliten einen solchen Mangel an Verstand erkennen. Am 28. Juni erschießt ein junger österreichisch-ungarischer Bürger serbischer Nationalität eher zufällig den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Gemahlin.

Franz Ferdinand von Österreich-Este

Der Neffe Franz Josephs I. war der seit Langem umstrittenste Thronfolger in Wien. Er war bekannt für sein Talent, Menschen zu kränken, für seine Apodiktik und seine Arroganz. Zum Thronfolger wurde er 1896 nach dem Tod seines Vaters, dem jüngeren Bruder des Kaisers. Er verfügte über eine solide militärische Ausbildung und über Erfahrung als Offizier. Er sah das Potenzial der modernen Militärtechnik und unterstützte die ähnlich denkenden Generalstäbler. Auf zahlreichen exotischen Reisen sammelte er unzählige Jagdtrophäen. Am tschechischen Sitz der Familie in Konopište ist bis heute eine kleine Auswahl der Überreste seiner schätzungsweise mehr als 250.000 Opfer zu sehen. Gegen den Willen des Hofes heiratete er die schöne Sophie Herzogin von Hohenberg, die als Person niederen Standes (alles ist relativ …) nicht zu offiziellen Feierlichkeiten eingeladen wurde; ihre Kinder wurden von der Thronfolge ausgeschlossen. Der Hof und große Teile des Establishments waren ihm verhasst.

Bis zu einem gewissen Grad aber trog der Schein. Franz Ferdinand war mehr als ein arroganter Großherzog, wie es sie in allen Herrscherfamilien zuhauf gab. Er sah den Zustand des Staates kritisch und hielt radikale Reformen für nötig. „Juden, Freimaurer, Sozialisten und Ungarn“12 waren für ihn Feinde der Monarchie. Die Ungarn, die ihre – theoretisch schwächere – Position in der Doppelmonarchie, in der keine Seite ohne die andere existieren konnte, rücksichtslos und effizient ausnutzten, betrachtete er als Schandfleck des Habsburgerreiches. Zudem hatte er eine originelle Idee zur Lösung der südslawischen Frage. Hierbei ging es um das seit 1903 verfeindete Serbien, das 1908 annektierte Bosnien-Herzegowina, die in Cisleithanien lebenden Slowenen sowie das zu Ungarn gehörende Königreich Kroatien. Serbien propagierte die Vereinigung der Brudervölker unter seiner Führung. Franz Ferdinand plädierte für die Schaffung eines südslawischen Königreichs als drittem Glied der Habsburgermonarchie. Die Ungarn wollten davon nichts wissen, ebenso wenig die Deutsch-Österreicher und auch Polen und Tschechen lehnten den Vorschlag ab, denn ihnen schwebte ein Modell vor, in dem sie die Rolle des dritten Gliedes einnehmen wollten. Der Thronfolger spann seine Pläne im schönen Wiener Belvedere ohne Rücksicht auf das zornige Murren fast der gesamten politischen Klasse Österreich-Ungarns. In Europa galt Franz Ferdinand als Anführer der Wiener „Falken“, zu Unrecht, denn er war gegen einen Präventivkrieg. Obwohl er insgesamt den zackigen Stabschef Conrad von Hötzendorf stützte – die zwei verband unter anderem der Glaube an die Armee als Stütze der Monarchie –, stritt er sich unentwegt mit ihm: Der Thronfolger hielt einen militärischen Konflikt für zu riskant.

Gegen alle Warnungen reiste er nach Sarajevo. Wir werden nie erfahren, ob am 28. Juni 1914 ein politischer Visionär starb oder ein Hochstapler.

Europa ist empört. Man weiß, dass es ohne den jahrelangen Konflikt zwischen Österreich und Serbien nicht zu diesem Attentat gekommen wäre. Deshalb ist man überzeugt, dass die Fäden des Komplotts in Belgrad zusammenlaufen. Zwar gibt es keine Beweise, doch mit der bereitwillig dargebrachten Sympathie, Solidarität und Anteilnahme Europas erhält Wien einen erstklassigen Vorwand, um endlich gegen die „Schweinehirten“ jenseits der Südgrenze vorzugehen.

Die österreichischen Militärs drängen auf Krieg. Problemlos erhalten sie uneingeschränkte Rückendeckung aus Berlin, wo Conrads Pendant von Moltke seit Langem auf seine Gelegenheit wartet. Niemand stört es, dass Deutschland und Österreich-Ungarn gegensätzliche Kriegspläne verfolgen. Berlin will sieben Achtel seines Heeres gegen Frankreich einsetzen, was eine Verletzung der Neutralität Luxemburgs und Belgiens einschließt. Erst nach der Überwindung des westlichen Nachbarn will es das Gros seiner Landstreitkräfte an die russische Front verlegen. Ein Krieg gegen Russland mit in den ersten Wochen geringer Unterstützung durch Deutschland ist keine verlockende Aussicht, doch Conrad mag das Risiko und verachtet die Russen (von den Serben ganz zu schweigen). In den Berliner Gesprächen eine Woche nach dem Attentat von Sarajevo sichert Deutschland Österreich-Ungarn für den Fall eines Angriffs auf Serbien volle Unterstützung zu.

In Wien dauert der komplizierte Entscheidungsprozess an. Der ungarische Premier Graf István Tisza fürchtet einen Angriff auf Serbien. Er argumentiert in Bezug auf die Serben ähnlich wie Prinz Schönaich-Carolath in Bezug auf Polen: Wozu braucht die Monarchie noch mehr Slawen? Nach einwöchiger Diskussion lässt er sich überzeugen. Die Geschichte ist bisweilen grausam: Der einzige mitteleuropäische Politiker, der sich für einige Tage erfolgreich gegen die Katastrophe stemmte, wird im Oktober 1918 von Attentätern als Kriegsverantwortlicher erschossen.

Nach Tiszas Kapitulation wartet Wien. Der französische Präsident und Premierminister halten sich zu einem Besuch in Russland auf und man will nicht handeln, solange die potenziellen Gegner sich unmittelbar, ohne Vermittlung von Telegrafen und Diplomaten, beraten können. Am 23. Juli reisen die Franzosen aus St. Petersburg ab. Am selben Tag stellt Wien Belgrad ein Ultimatum. Es ist bewusst so abgefasst, dass ein souveräner Staat es unmöglich akzeptieren kann. Es enthält unter anderem die Forderung nach der Beteiligung von k. u. k. Beamten an den Ermittlungen der serbischen Behörden zum Mord in Sarajevo sowie an der Bekämpfung von Bewegungen gegen die territoriale Einheit Österreich-Ungarns; in beiden Fällen geht es um offizielle Aktivitäten fremder Behörden auf serbischem Hoheitsgebiet, die sich gegen serbische Staatsbürger richten. Die Antwort erwartet Wien binnen 48 Stunden.

Am 25. Juli verpflichtet sich Belgrad zur Erfüllung fast aller Forderungen Wiens – mit Ausnahme der zwei genannten, die allzu offensichtlich dem Souveränitätsprinzip widersprechen. Mit seiner geschickten Antwort, die unter anderem die Einstellung der antihabsburgischen Propaganda und die Bestrafung der für das Attentat Verantwortlichen verspricht, verblüfft Serbien sogar Wilhelm II.: Belgrad habe sich öffentlich demütigen lassen, sodass es keinen Anlass gebe, einen Krieg zu beginnen, schreibt der Kaiser enttäuscht. Trotzdem nutzt Wien die Gelegenheit – zwei Bedingungen des Ultimatums wurden schließlich nicht erfüllt – und erklärt Serbien am 28. Juli den Krieg.

Im Lauf dieses Monats wurden Berlin und Wien oft gewarnt, Russland werde sich keinen erneuten Gesichtsverlust erlauben und Serbien zur Seite springen, der Automatismus des russisch-französischen Bündnisses werde greifen, auf Italien werde man sich nicht verlassen können, wohingegen Großbritannien wohl eher nicht tatenlos zusehen werde. Alles vergebens. Am 30. ruft Russland die Mobilmachung aus, einen Tag später Österreich-Ungarn und Belgien. Am 1. August folgen Deutschland und Frankreich. Deutschland erklärt Russland den Krieg. Tags darauf besetzt Deutschland Luxemburg und stellt Belgien ein Ultimatum. Am 3. August erklärt Deutschland Frankreich den Krieg und erhält ein Ultimatum Großbritanniens. Tags darauf greift Deutschland Belgien an und Großbritannien tritt in den Krieg ein. Am 6. August erklärt Österreich-Ungarn Russland den Krieg. Einen Tag später landen die ersten Einheiten des britischen Expeditionskorps in Frankreich, am 12. August greift die österreichisch-ungarische Armee Serbien an, drei Tage später marschieren die Russen in Ostpreußen ein. Montenegro hat sich schon früher Serbien angeschlossen; das Osmanische Reich tritt im Oktober als Verbündeter der Mittelmächte in den Krieg ein. Auf dem Balkan bleiben Bulgarien, Rumänien und Griechenland vorerst neutral.

* * *

Die Mitte und der Osten des Alten Kontinents wurden von verblendeten Großmächten in den Krieg gezogen. Am wenigsten gilt dies für Deutschland und die Deutschen. In Mittel- und Osteuropa war nur das Deutsche Reich Großmacht und moderner Nationalstaat, seine Politiker und Militärs dachten imperial und national. Dennoch waren sie ebenso verblendet wie alle anderen, indem sie sich und ihren Landsleuten einredeten, Deutschland sei von Feinden umgeben und nur ein großer Präventivschlag im Westen und Osten könne den sich zusammenziehenden Kordon der Nachbarn zerschlagen, bevor es zu spät sei. Österreich-Ungarn wollte eigentlich nur Serbien bestrafen, mit zunehmendem Kriegsfieber dann unschädlich machen. Russland zog einzig und allein in den Krieg, um seinen angekratzten Großmachtstatus zu retten. Keine der Großmächte verfolgte eines der traditionellen Kriegsziele – regionale Hegemonie, die Annexion strittiger Provinzen oder die Platzierung eines Verbündeten auf einem fremden Thron. Christopher Clark nennt die imperialen Entscheidungsträger treffend „Schlafwandler“.13

Einige Wochen nachdem der im Juli ausgelöste Dominoeffekt die europäische Ordnung schon unwiderruflich zerstört hatte, bezeichnete der russische Premierminister Sergei Witte den Krieg als schieren Wahnsinn: „Was können wir von ihm erwarten? Territorialen Zuwachs? Das Land seiner Hoheit des Zaren ist doch ohnehin schon groß genug …“14

Hätte auch nur einer der verantwortlichen Politiker im Sommer 1914 geahnt, in was er sein Land hineinführt – er hätte sicher nicht sein Scherflein zum Untergang des Europas des 19. Jahrhunderts und zur Welt der Imperien beigetragen.