Kapitel 1
Das Hinterland oder Im Rücken der Front

Einem Fremden, der im vorletzten Kriegsjahr durch Wien, Belgrad, Berlin oder Bukarest spazierte, bot sich in all diesen Städten mehr oder minder dasselbe Bild: Männer in zu weiten Anzügen oder Uniformen und Frauen in Kleidern, die nach ihrem Maß vergangener Jahre geschneidert waren. Überall fielen ihm auch die Obst- und Gemüsebeete ins Auge, die selbst vor dem Schwarzenberg-Palais in Wien angelegt worden waren. Der Unterschied zwischen Hinterland und besetzten Gebieten: Im Hinterland gehörten die Minigärten den Stadtbewohnern, im besetzten Belgrad oder Bukarest waren sie teils im Besitz der Einwohner, teils gehörten sie den unweit stationierten Einheiten der Besatzer. Im „eigenen“ Hinterland war das Leben im Krieg keineswegs besser als in den besetzten Gebieten.

Die Mehrzahl der Zivilisten im Rücken der Ostfront wusste nicht, dass sie den Krieg im Hinterland verbrachten. In der Geschichtsschreibung ist der Begriff hingegen etabliert: Er bezeichnet die eigenen, nicht vom Feind besetzten Territorien von den an die Front grenzenden Gebieten bis zur gegenüberliegenden Staatsgrenze. Hinterland waren also sowohl Ostpreußen als auch Dalmatien, Thessaloniki, Krakau, Jassy und Prag sowie bis 1918 auch Kiew und Tallinn.

Der Kriegsbeginn verlief überall ähnlich: Menschenmassen vor den Zeitungsredaktionen, Bekanntgabe der Mobilmachung, Treuebekundungen gegenüber dem Kaiser, Sitzungen, Reden, Versammlungen und Resolutionen. Hier und da kam es zu spontanen oder organisierten Ausbrüchen von Hass gegen den Feind:

Banden zogen durch Berlin, um die fremdländischen Aufschriften auszurotten. ‚The Continental Bodega‘ strich das ‚The‘ vor ihrem Namen und galt nun als genuegend eingedeutscht. ‚Cafe Windsor‘ wurde kurz entschlossen ‚Kaffee Winzer‘. […] Die Englische Strasse in Charlottenburg wurde in Deutsche Strasse umgetauft.1

In anderen Orten ging den Patrioten nicht nur der Mut, sondern auch der Enthusiasmus ab, der einige Berliner ergriffen hatte. Den russischen Behörden gelang es anfangs nicht, die Warschauer zu begeistern. Der Journalist Czesław Jankowski notierte Ende Juli 1914:

Also formierte sich am Abend des 30. Juli in den Aleje Jerozolimskie ein Marsch und durch das Knattern der Straße und den sonstigen Lärm drang ein chorartiger Gesang, die Leute stürzten an die Fenster und auf die Balkone, sie bildeten auf den Trottoirs ein Spalier, um zu sehen, was denn dort zum Teufel los war. Es waren 200 vorwiegend russische Studenten auf dem Weg zu einer Kundgebung vor dem österreichischen Konsulat. […] Die Demonstranten, deren Zahl nach und nach auf gut tausend anwuchs (der „Warschawskij Dnjewnik“ zählte 5000 Personen), zogen vor den Bezirksstab, wo sie ein Porträt des Zaren bekamen, und weiter durch die Ulica Wierzbowa und Senatorska vor das serbische Konsulat. […] Insgesamt machte die Demonstration keinen großen Eindruck, vor allem wirkte sie wenig ernst. Hauptsache die Petersburger Agentur konnte nach ganz Russland telegrafieren, auch in Warschau habe eine patriotische Kundgebung stattgefunden.2

Gleichzeitig platzten die Bahnhöfe aus allen Nähten, aber keineswegs nur wegen der Militärtransporte: Urlauber kehrten plötzlich in ihre Heimat zurück, Ausländer aus verfeindeten Staaten verließen in Panik ihre bisherigen Wohnsitze, in den Grenzstädten tauchten die ersten Flüchtlinge auf. Auch in den Straßen wimmelte es von Menschen: Soldaten wurden verabschiedet, es regnete Blumen, die Rekruten erhielten Zigaretten und Süßigkeiten. Während der Verladung in die Züge spielte oft ein örtliches Orchester, doch auf den Bahnhöfen war weit mehr zu hören als Hymnen und Märsche:

„Der Zug fuhr um 14:15 Uhr los“, notierte der 20-jährige Rekrut Andor Kertész, später ein berühmter Fotograf. „Das Weinen und Abschiednehmen übertönte die Kapelle, die ja eigentlich Begeisterung in uns anfachen sollte […] Ich sah eine verzweifelt schreiende Mutter, die man gerade noch daran hindern konnte, der Bahn hinterherzurennen. Ein Hauptmann sprang vom Zug, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, um noch einmal zu seiner Frau zurückzukehren […] und er gab diesem unglücklichen Geschöpf, das ihn nicht ziehen lassen wollte, einen letzten Abschiedskuss.“3

Der Glaube an einen schnellen, siegreichen Krieg und eine rasche Rückkehr der Soldaten mischte sich mit Angst und Unsicherheit. Die Emotionen explodierten wie Petarden und hinterließen einen Rauch aus oft ganz gegensätzlichen Erinnerungen und Gefühlen. Ein Teenager erinnert sich an eine vom Anblick der zahlreichen Armeetrains auf dem Weg an die Front ausgelöste Diskussion im Zug von Wien nach Budapest:

Einige unserer Mitreisenden […] bemerkten meinen Eltern gegenüber, wie herzerfrischend sie die allgemeine Begeisterung empfangen; und ich weiß noch, wie ich darauf sagte, ich sähe eher Betrunkenheit statt Begeisterung.4

Schwarze Autos voller Gold

Der deutsche Pazifist Hellmut von Gerlach notierte während des Kriegs in seinem Tagebuch vor allem interessante Ereignisse, aber auch die absurdesten Propagandaparolen und -geschichten. Eine dieser Geschichten handelte von geheimnisvollen Autos, die angeblich im August 1914 durch Europa fuhren. Es hieß, sie seien randvoll mit französischem Gold beladen gewesen, das nach Russland gebracht werden sollte. Dieses Gerücht machte eine geradezu aberwitzige Karriere, es ging durch die gesamte deutsche Lokalpresse. Mit der Zeit wuchs das Ausmaß der geheimnisvollen Transporte. Erst war von zwölf Autos die Rede, dann von vierundzwanzig und schließlich von sechsunddreißig. Auf den Straßen patrouillierten eigene Polizeistreifen und Freiwillige. Als Urheber des Gerüchts nannte Gerlach den Präsidenten des Regierungsbezirks Düsseldorf (seinerzeit Francis Kruse). Selbst wenn die Geschichte einen wahren Kern gehabt hätte, so entzog sie sich bald jeglicher Kontrolle. Es kam zu grundlosen Verhaftungen oder gar zum Beschuss von Autos, deren Fahrer nicht auf Aufforderung anhielten. Gerlach zufolge dementierte die Regierung das Gerücht erst, als reisende Offiziere und Aristokraten zu Opfern des staatsbürgerlichen Übereifers wurden.5

Allerdings erwies sich auch in diesem Fall, dass sich Gerüchte leichter streuen als aufhalten lassen. Der zu seiner Einheit nach Przemysl eilende österreichische Reserveoffizier August Krasicki notierte in seinem Tagebuch folgende Beobachtung:

An der Auffahrt zur Landstraße nach Jaroslawl sah ich, dass Brücke und Landstraße von Soldaten umstellt waren, als Begründung sagte man mir, man habe eine vertrauliche Nachricht abgefangen, laut der die Franzosen Autos mit großen Geldsummen in Gold, mehr als zehn Millionen, nach Russland schickten. Die Automobile mit diesen Millionen würden sich durch ganz Europa schleichen, also sei der Befehl ergangen, alle Straßen nach Osten zu überwachen, um diese Millionen abzufangen. Das klang nach einem Aprilscherz, aber Befehl ist Befehl und sie kontrollierten mit aufgesetzten Bajonetten.6

Dass es sich mitnichten um einen Scherz handelte, erfuhr Helena Jablonska am eigenen Leib. Am 4. August fuhr sie mit ihrer Mutter nach Przemysl. Zum ersten Mal wurden die beiden in Olszanica angehalten:

Sie schreien den Chauffeur an, er sei durch Zäune und Felder geflohen, als er sich erklären will – darf er nicht sprechen, sonst wollen sie schießen. Ich versuche es. „Ruhe oder ich stoße zu“, schreit einer der Söldner und zielt mit dem Bajonett zwei Zoll unter meine Rippen. Mutter weint vor Angst. […] So stehen wir eine Stunde und zehn Minuten. […] Es zeigt sich, dass unsere Passierscheine wertlos sind gegen das Telegramm, demzufolge alle Autos angehalten werden müssen, weil angeblich zwei Frauen viele Millionen in Gold von Frankreich nach Russland transportieren sollen.7

Bei einem weiteren Zwangsstopp in Kroscienko warteten bereits andere Autos, deren Insassen gleichfalls des Transports von Gold und Silber verdächtigt wurden. Darunter waren auch Offiziere, die man jedoch freundlicher als die zwei Frauen behandelte:

Endlich lassen sie die Militärs fahren, uns halten sie fest, sogar ein paar Bonbons, die verdächtigt werden, Cholerabazillen zu enthalten [sic]. Schweres Silber?, fragt einer auf Französisch. Ich antworte. Sie sind so gut wie sicher, dass ich die Millionen schmuggle. Mutter kann nicht mehr, sie weint wie ein Kind und drängt, wir sollten umkehren. Umkehren ist verboten. Jetzt fragt er nach Bekanntschaften und Beziehungen in Sanok. […] Ich berufe mich auf Dr. Jaremkiewicz. In der Nacht lassen sie uns weiterfahren.8

Auf der anderen Seite der Karpaten wurde die ungarische Gendarmerie in Bereitschaft versetzt. In Trencín (damals Trencsén) fingen sie sogar den Wagen ab, der Franz Josephs I. Proklamation an die Polen von Wien nach Krakau bringen sollte. Nach der Durchsuchung durfte der Fahrer weiterfahren, doch schon nach wenigen Kilometern fiel er

einem braven Gendarmerieposten in die Hände, der sich nicht überzeugen ließ. Schon saß der freiwillige Automobilist unter starker Eskorte auf einer Bahnstation, um an das nächste Gericht abgeliefert zu werden, als zum Glück ein Aufmarschtransport durchkam, bei dem sich einige Offiziere befanden, die im vermeintlichen Spion und Goldtransporteur einen Kameraden der Reserve erkannten, der mit ihnen zusammen gedient hatte.9

In der Steiermark erschoss eine Streife irrtümlich eine Rotkreuzschwester, deren Wagen nicht schnell genug anhielt. „Dem Knecht ist Gewalt gegeben“, kommentierte ein verschreckter Wiener Intellektueller. „Das wird seine Natur nicht vertragen.“10

Schließlich dementierten auch die k. u. k. Behörden das Gerücht von den geheimnisvollen Transporten. Bald schon sollte das französische Gold ohnehin niemanden mehr interessieren. Mit Beginn der tatsächlichen Kampfhandlungen fanden Spionagewahn und kollektive Hysterie andere Ziele.

Das Gerücht von den französischen Autos zeigt höchst anschaulich, wie leicht und wie schnell sich derartige Geschichten verbreiteten. Die komplett aus den Fingern gesogene Meldung brauchte nicht Tage, sondern nur Stunden, um von der deutsch-französischen Grenze nach Ostgalizien und Oberungarn zu gelangen, wobei sie überall Verwirrung und Angst auslöste. Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal in diesem Krieg, dass die Verbreitungsgeschwindigkeit und die Reichweite von Informationen die Vorstellungskraft der Führung überstiegen.

Nach dem Abmarsch der Soldaten fanden die Zivilisten selten in den bisherigen Lebensrhythmus zurück. Am gründlichsten änderte sich die Situation in Serbien mit seinen 4,5 Millionen Einwohnern. Dort wurden in der letzten Juliwoche eine halbe Million Soldaten mobilisiert, im Herbst weitere 50.000, das heißt insgesamt mehr als zwölf Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: Polen rief Ende August 1939 eine Million Männer zu den Waffen, das heißt 3–3,5 Prozent. Bulgarien, Deutschland und Frankreich mobilisierten während des gesamten Ersten Weltkriegs ca. 20 Prozent, Österreich-Ungarn ungefähr ein Sechstel und Russland deutlich weniger als ein Zehntel der Bevölkerung. Zum Umfang der Mobilmachung kam in Serbien noch die spezifische Sozialstruktur. Fast 90 Prozent der Einwohner waren Bauern. Die Mobilisierung von mehr als einer halben Million Männern bedeutete in der Praxis, dass vielen Bauernhöfen mitten in der Erntezeit der Eigentümer, die zentrale Figur, abhandenkam. Seine Rolle übernahmen entweder der Vater (sofern dieser noch lebte und nicht selbst im wehrpflichtigen Alter war) oder – weit häufiger – die Ehefrau. Nicht nur in Serbien dominierten plötzlich in allen Lebensbereichen die Frauen; der Alltag im Hinterland änderte sein Geschlecht. Darauf werden wir noch zu sprechen kommen.

Kontrolle und Reglementierung

Mit Kriegsbeginn griff der Staat in viele Bereiche ein, in denen bis dahin kommunale Institutionen, Wirtschaftsbetriebe, Privatpersonen oder soziale Organisationen die bestimmenden Akteure waren. Aus Bekanntmachungen erfuhren die Untertanen über immer neue Einschränkungen ihrer Bürgerrechte. Die Regierungen führten Zensurmaßnahmen ein, setzten Versammlungs- und Meinungsfreiheit außer Kraft, beschränkten den Zugriff auf Spareinlagen, setzten die Rückzahlung von Verbindlichkeiten ein und hoben das Streikrecht auf. Mancherorts wurde die Prohibition eingeführt, in Grenzstädten eine Sperrstunde. In weiteren Schritten wurden die Reisefreiheit und die Eisenbahnnutzung eingeschränkt, öffentliche Gebäude für militärische Zwecke requiriert sowie bald auch Waren und Dienstleistungen jeder Art reglementiert. Ein Warschauer Journalist schreibt in der ersten Kriegswoche:

Etwas Großes kommt auf uns zu, ungeheuerlich grauenvoll und entsetzlich und doch unausweichlich und notwendig […]. Noch schweigen die Geschütze. Noch läuft die Mobilmachung, doch wir bemerken schon die zahlreichen Veränderungen, die dieser plötzliche und unerwartete Stillstand des Lebens mit sich bringt. Der moderne Industrialismus hat die ökonomische Seite unseres Daseins derart verkompliziert, derart alles miteinander verzahnt und verflochten, dass schon jetzt die Welt aus dem Gleis geraten ist und am Rand einer wirtschaftlichen Katastrophe steht.11

Der Verfasser dieser Worte erfasste schon im August 1914 das zentrale Problem des neuen Krieges, in dem das Streben nach maximaler Mobilisierung von Rekruten strukturell mit den Plänen zur Vervielfachung der Produktion kollidierte. In der nordböhmischen Metallindustrie schrumpfte die Anzahl der Facharbeiter binnen einem Monat um 60 Prozent; einige Monate später begannen die k. u. k. Behörden damit, für die Rüstungsindustrie unverzichtbare Arbeiter vom Armeedienst freizustellen, und schickten insgesamt 1,3 Millionen Männer in die Fabriken zurück. Ansonsten hätte Österreich-Ungarn die ersten drei Kriegsjahre wohl nicht überstanden.

Für große Veränderungen, die von der Bevölkerung als großes Chaos empfunden wurden, sorgten Anordnungen der kommunalen Behörden, die eigentlich dem Chaos vorbeugen sollten. Aus Königsberg, der mit 250.000-Einwohnern größten Stadt an der russischen Grenze, flohen in den letzten Augusttagen 12.000 Menschen nach Danzig. Gleichzeitig strömten große Flüchtlingsmassen aus den von Russland besetzten Kreisen an der östlichen Grenze in die ostpreußische Hauptstadt. Die städtischen Behörden verfügten die Einrichtung von 50.000 Übernachtungsplätzen für Flüchtlinge. Am meisten werden sich darüber die Kinder gefreut haben, denn am einfachsten ließen sich Schulen in Notquartiere umwandeln. Doch die Veränderungen in Königsberg waren sicher für jedermann spürbar. Ebenso in Lemberg, wo die Stadtverwaltung weniger ehrgeizige Verordnungen erlassen hatte und sich plötzlich mit einem enormen Zustrom konfrontiert sah: In der etwas mehr als 200.000 Einwohner zählenden Hauptstadt Galiziens mussten im August angeblich an die 100.000 Flüchtlinge versorgt werden. Im kleineren Wilna waren es ein Jahr später 50.000.

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Munitionsproduktion (1915).

Die Anordnungen zur Unterbringung von Flüchtlingen (in Königsberg waren es letztlich nicht ganz so viele wie anfangs gedacht) waren nur ein Vorgeschmack auf den Alltag in Kriegszeiten. Schon am 5. September – kurz vor Beginn der deutschen Gegenoffensive, die binnen einer Woche die Russen aus Ostpreußen zurückdrängen sollte – führte die Königsberger Stadtverwaltung zum ersten Mal seit undenklichen Zeiten amtliche Höchstpreise für 48 Lebensmittelprodukte ein. Es half nicht viel. In Königsberg wuchsen wie in anderen Städten des Hinterlands die Schlangen vor den Läden weiter an. Am 15. März 1915 wurden die ersten Lebensmittelkarten eingeführt: für Brot. Niemand hatte vorhersehen können, dass die Preise in diesem einen Jahr stärker steigen würden als in den 45 Jahren zuvor (seit der Reichsgründung 1871). Die Schüler hatten auch in den folgenden Jahren Grund zur Freude; der Unterricht fiel immer häufiger aus, denn im Sommer wurden die älteren Jungen als Erntehelfer aufs Land geschickt und im Winter blieben die Schulen wegen mangelnden Heizmaterials immer öfter geschlossen. In den Folgejahren waren die Bürger – vor allem die Bürgerinnen – von weiteren Maßnahmen betroffen. Dazu gehörten Kochkurse zur Zubereitung von Speisen aus Abfällen und Unkraut (in Deutschland und Österreich sprach man von „Wildgemüse“) und Sammelaktionen für bestimmte Sekundärrohstoffe. Gesammelt wurden insbesondere auch Metalle – aus den Wirtshäusern verschwanden bald die Zinkdeckel der Bierkrüge und sogar die Kupferrohre zu den Bierfässern, von den Wohnhäusern die Blitzableiter, von Kirchen und alten Gebäuden die Kupferdächer (über Letzteres schreiben wir ausführlicher im Teil Besatzung). Die Schüler wurden in all diese Aktionen eingespannt, sie halfen beim Sammeln von Altpapier, Laub, Brennnesseln, Gummi, Konservendosen, Kaffeesatz, Eicheln, Kastanien, Obstkernen und anderen Materialien, die angesichts der drohenden Nahrungskrise und des Mangels an Importrohstoffen plötzlich unentbehrlich waren. Sofern diese Sammlungen behördlich organisiert wurden, ging die eingangs erwähnte Umwandlung von Blumenbeeten, Rabatten und anderen öffentlichen Grünflächen zu Gemüsegärten von der Bevölkerung aus.

Der Gemüseanbau auf Grünflächen und die Sammelaktionen waren freilich allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Von Berlin bis Budapest kamen die Ministerialbeamten bei ihren Berechnungen immer zu demselben Ergebnis. Weil die einberufenen Bauern und Arbeiter als Produktionskräfte fehlten, der Rohstoffimport gestoppt war und die Dienstleistungen ausländischer Partner ausblieben, würde das bisherige Versorgungsniveau nicht mehr lange zu halten sein. Die logischen Schlussfolgerungen aus dieser Bestandsaufnahme lauteten: Nur der Staat könne die Krise bewältigen, die aus der drastischen und langfristigen Reduktion des Angebots resultiere, und die Hauptaufgabe bestehe darin, die von Monat zu Monat knapper werdenden Ressourcen vernünftig zu verteilen.

Ersatz

Es begann mit schlechten Ernten, in deren Folge Mehl für die Brotherstellung fehlte. Ab Dezember 1914 waren die Bäcker in der k. u. k. Monarchie verpflichtet, ihrem Teig verschiedene Zusätze beizugeben, u.a. Gerstenmehl, Kartoffelbrei, Kartoffel- und Maismehl. Einen Monat später tauchte im Deutschen Reich das sogenannte K-Brot auf, K wie Krieg oder Kartoffeln. Außer Kartoffelmehl wurden dem K-Brot mit der Zeit auch gemahlener Hafer, Gerste, Bohnen oder Erbsen beigemischt. Im Oktober 1916 verfügten die österreichisch-ungarischen Behörden, dass Weizen- oder Roggenmehl nicht mehr als 60 Prozent eines Backprodukts ausmachen durften; aufgestockt wurde das Gewicht durch die genannten Zutaten. Der Hunger, unter dem Österreich-Ungarn (vor allem Cisleithanien) 1916 litt, erreichte Deutschland etwas später, im Winter. Die Kartoffelernte sank von 122 Millionen Doppelzentnern (1913) auf 50 Millionen, die Getreideernte auf ca. 60 Prozent des Vorkriegsniveaus.

In der k. u. k. Monarchie wurden zwei fleischlose Tage eingeführt, außerdem ein „fettloser“ am Samstag. Die erste Regelung war klar: An fleischlosen Tagen durfte in Läden und Gastronomiebetrieben kein Fleisch und keine Wurst verkauft werden. Wesentlich komplexer war hingegen die vom Wiener Innenministerium im Oktober 1916 veröffentlichte Definition des „fettlosen“ Tages:

An den fettlosen Tagen ist es verboten, in zerlassenem Fett oder Öl gebratene Speisen (z.B. gebratene Schnitzel oder Brathähnchen) zu servieren; erlaubt sind hingegen Süßspeisen, zu deren Herstellung Fett verwendet wird, die aber fettfrei gebacken werden. Verboten ist es weiterhin, Fisch zu servieren, zu dessen Zubereitung Butter oder Öl verwendet wird. Erlaubt ist aber Fisch, der schon in der Fabrik mit Öl zubereitet wurde (z.B. Sardinen). Unzulässig ist es, an fettlosen Tagen Kartoffeln mit Fett oder Butter, Bratkartoffeln sowie Brot mit Butter zu servieren. Erlaubt sind schließlich Fleischspeisen wie Rostbraten oder Beefsteak, die im eigenen Fett gebraten werden. Verboten ist dagegen der Verkauf von gebratenem (gefülltem) Fleisch, das aus Innereien zubereitet wurde.12

Im Herbst 1916 aßen nur wenige Untertanen Franz Josephs I. Schnitzel (die wöchentliche Fleischration reichte für eines) oder Backhendl, von Roastbeef oder Beefsteak ganz zu schweigen. Echte Butter wurde ebenfalls zu einer Erinnerung aus der Vorkriegszeit. Vermutlich wollte das k. u. k. Innenministerium die Speisepläne der Armen wie auch der Reichen reglementieren; das Resultat fiel vermutlich aus wie immer.

Angesichts des allgemeinen Mangels wurde für fast alle Lebens- und Genussmittel vermehrt sogenannter Ersatz (das heißt Imitate fehlender Rohstoffe) eingeführt: Eicheln, Zichorien und Bucheckern ersetzten Kaffee; später mischte man sogar Rübenextrakt bei. Statt Tee gab es eine Mischung aus Gerste und Gras, diverse wilde Blüten sorgten für das Aroma. Weizenund Roggenmehl wurde mit gemahlenem Stroh versetzt. Als Butterersatz fungierte eine Mischung aus Milch, Zucker und Lebensmittelfarben. Wurst bestand hauptsächlich aus – bis dahin als ungenießbar geltenden – Resten von gemahlenen Fleischfasern und Tiersehnen, Wasser und pflanzlichen Zusätzen.

Österreich-Ungarn und vor allem Deutschland erwiesen sich 1916 als durch und durch moderne Zivilisationen. Die Chemiker produzierten nicht nur immer neue tödliche Kampfgase, sondern bestimmten auch zunehmend den Speiseplan ihrer Mituntertanen. Sie sorgten für Geschmäcker und Gerüche, die an die ursprünglichen Produkte erinnerten, und fügten den von Monat zu Monat schwindenden natürlichen Rohstoffen neue Erfindungen hinzu. Eine englische Fürstin, die im März 1916 in Berlin mit Grippe das Bett hüten musste, hielt sich wohl zu Recht für ein Opfer der „Ersatz illness“: „Jedermann fühlt sich elend wegen des Übermaßes an Chemie im Hotelessen. Ich glaube nicht, dass man die Deutschen aushungern kann; eher vergiften sie sich durch all diese Arten von Ersatzstoffen.“ Der Ersatz trat tatsächlich an die Stelle der Vorkriegswirklichkeit. Holger Herwig zufolge wurden allein im Deutschen Reich 11.000 Patente für diverse Arten von Ersatzprodukten angemeldet, darunter über 800 für Kriegswurst und über 500 für Kriegskaffee.13

Auf den wachsenden Mangel an fast allem (außer an patriotischer Dichtung) reagierten die Behörden mit immer neuen Einschränkungen, „Verbesserungen“, Geboten und Verboten. Das System der Reglementierung von Wirtschaft und Gesellschaft beschränkte sich natürlich nicht aufs Hinterland der Ostfront, sondern wurde auch im Westen praktiziert. Besonders effektiv war es in Großbritannien, wo die Sorge um die Gesundheit der unverzichtbaren Produktivkräfte für die Bürger segensreiche Folgen hatte: Trotz der Verluste an der Front stieg die durchschnittliche Lebenserwartung sowohl der Frauen als – noch überraschender – auch der Männer. Zugleich sanken die Säuglingssterblichkeit und die Fälle klassischer Unterschichtkrankheiten, die Kaufkraft der Löhne stieg, die Ernährung der ärmsten Schichten verbesserte sich.

Im Gegensatz zu den Mittelmächten war Großbritannien – ähnlich wie Frankreich – nicht von der Versorgung mit Lebensmitteln abgeschnitten, es bezog sie aus Nord- und Südamerika. Außerdem produzierte das Vereinigte Königreich, dessen Territorium vom Krieg unberührt blieb, 1918 mehr Lebensmittel als vor Kriegsbeginn, weshalb die Rationierung von Lebensmitteln erst 1918 begann. In Frankreich gab es mehr oder weniger schmerzliche Mängel, doch Lebensmittelkarten wurden erst 1917 eingeführt, bevor im Jahr darauf ein System allgemeiner Beschränkungen entstand.

Ganz anders war die Situation in Deutschland und Österreich-Ungarn. Die deutsche Landwirtschaft produzierte während des Kriegs ca. ein Drittel weniger als 1913. In der Donaumonarchie herrschte vor 1914 eine klare Arbeitsteilung: In Cisleithanien erntete man 72 kg Getreide pro Einwohner, in Transleithanien 203 kg. Ungarn lebte vom Export seiner Feldfrüchte in den österreichischen Teil des Imperiums. 1914 beschloss man, das Königreich Ungarn solle mit seinen Überschüssen die Armee ernähren. So kam es auch. Außerdem reduzierte die Budapester Regierung die Lieferungen nach Cisleithanien im ersten Kriegsjahr auf ein Sechstel; die restlichen Überschüsse verkaufte sie an Deutschland. Im Gegenzug erhielt sie Stahl und andere Rohstoffe für die heimische Rüstungsindustrie. Während der harten Verhandlungen schreckten weder Ungarn noch das Deutsche Reich vor Erpressungen zurück. Wie an der Front hatte Berlin die besseren Karten. Der Handel wurde in Reichsmark abgewickelt, deren Kurs langsamer fiel als der Kurs der Krone. Letztlich mussten Budapest und Wien Kredite aufnehmen, um die negative Zahlungsbilanz auszugleichen. Nicht ganz grundlos fühlte sich die Habsburgermonarchie zunehmend vom Bündnispartner ausgenutzt.14

Es war deshalb nicht verwunderlich, dass die Lebensmittelzufuhr aus Ungarn nach Cisleithanien mit der Zeit versiegte. Wegen der Kriegshandlungen entfiel auch der Binnenimport aus Galizien und der Bukowina. Das eigentliche Österreich, Böhmen und Mähren kämpften überdies mit einem Mangel an Düngemitteln und Pferden. 1917 soll die Getreideernte in Cisleithanien – nach vielleicht zu niedrig angesetzten Schätzungen – gerade einmal zwölf Prozent der Vorkriegserträge erreicht haben. Die Katastrophe traf insbesondere die Städte, die schon im Herbst 1914 mehrere Hunderttausend Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina aufgenommen hatten.

Der Mangel an Nahrungsmitteln wurde bald zum grundlegenden Problem. Im Herbst 1914 verzeichnete die Polizei in Wien die ersten Schlangen für Brot und Mehl; Milch und Kaffee wurden Anfang des Folgejahres knapp, Öl im Herbst 1915, Kaffee im März 1916, Zucker im April, Eier im Mai, Seife im Juli, Bier, Zigaretten, Zwetschgen und Kraut im September 1916. Mit der Zeit wurde es üblich, die Kinder zum Schlangestehen zu schicken. Die Väter waren an der Front, die Mütter – vor dem Krieg Arbeiterinnen in der Leichtindustrie oder Angestellte im Dienstleistungssektor – arbeiteten zwölf Stunden am Tag in den Rüstungsfabriken. Auf dem Schwarzmarkt, auf dem alles zu haben war, stiegen die Preise in dieser Zeit auf das Sechsfache des Vorkriegsniveaus. Als eine Tuberkuloseepidemie ausbrach, sprach man von der „Wiener Krankheit“. In Ungarn war die Lage etwas besser: Die Arbeitslöhne stiegen bis 1916 um etwa die Hälfte, die Lebensmittelpreise „nur“ um das Dreifache, die Kosten für den Lebensunterhalt einer fünfköpfigen Familie um etwas mehr als das Doppelte. Am stärksten stiegen hier die Preise für Kleidung – bis Anfang 1917 um mehr als das Zwölffache.

Die Karte

„So groß war die Furcht vor dem Unbekannten: der seit Anbeginn der Welt nie praktizierten Brotkarte“ – so kommentierte der ILUSTROWANY KURYER CODZIENNY (Illustrierter Tageskurier) eine Sensation: Über Nacht gab es in den Krakauer Bäckereien genug Backwaren.15 Die Geschichte war in der Tat ungewöhnlich. Im Herbst 1915 war in Krakau das Brot knapp geworden, die Schlangen vor den Bäckereien wuchsen. Die Menschen waren empört. Die Obrigkeit setzte rasch auf eine Lösung, die damals im ganzen vom Krieg erfassten Europa populär war: Lebensmittelkarten. Der ILUSTROWANY KURYER CODZIENNY hatte recht – nicht einmal die Ältesten erinnerten sich an etwas derart Merkwürdiges. Die Idee war einfach: Wenn etwas zur Mangelware wird, wird es teurer. Die Reichen können jeden Preis bezahlen, die Armen müssen hungern. In einer solchen Situation schreitet die Obrigkeit ein. Sie weist jedem die ihm zustehende Ration zu – in Krakau waren es fast ein Kilo Brot oder 700 Gramm Mehl pro Woche –, legt einen halbwegs bezahlbaren Preis fest und zwingt die Produzenten, die Ware zu diesem Preis und maximal im Umfang einer individuellen Ration zu verkaufen. Ein im Grunde gerechtes System. Das nicht vorhandene Angebot wird auf die Anzahl der Einwohner umgerechnet, jeder (oder wenigstens: jeder Arbeitende) kann seinen Anteil kaufen, denn der Preis ist deutlich niedriger als zuvor auf dem freien Markt. Die Praxis sieht natürlich anders aus, die Rationen unterscheiden sich je nach Arbeitsbelastung oder Alter – dennoch ist der Ansatz einer einigermaßen gleichen Verteilung keineswegs dumm oder nur theoretisch gerecht. Das Problem liegt darin, dass amtlich festgesetzte Preise einen Eingriff in den Markt bedeuten, der auf seine Art reagiert: Wenn ein Produzent dasselbe Produkt teurer verkaufen kann, wird er versuchen, einen möglichst großen Teil seiner Rohstoffe für die Produktion für den freien Markt zu nutzen. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Betrug an den Behörden und am „Karten“-Kunden, dem man die Ware vorenthält oder minderwertige Ware verkauft.

Fast jedes Kartensystem hat dieselben Begleiterscheinungen: Erstens werden mit der Zeit die Rohstoffe knapper, das Angebot sinkt, die Rationen werden immer kleiner und immer unsicherer. Es bilden sich wieder Schlangen – niemand weiß, wie lange die Rationen im konkreten Geschäft ausreichen, also stellen sich alle früh an, um später nicht mit leeren Händen auszugehen. Zweitens führt jede Rationierung zur Entstehung eines Schwarzmarkts, auf dem dasselbe Produkt (oder ein qualitativ besseres) halb- oder illegal zu einem deutlich höheren Preis, dafür aber ohne Schlangen und Mengenbeschränkung erhältlich ist. Drittens versucht die Obrigkeit die entstehenden Schlupflöcher durch immer detailliertere Vorschriften zu stopfen, die aber der – auf die Umgehung der Regeln und möglichst großen Profit ausgerichteten – menschlichen Erfindungsgabe immer einen Schritt hinterherhinken. In Wien bewegten sich Ämter, Produzenten, Zwischenhändler und Verkäufer gegen Kriegsende in einem Geflecht von 24 Bestimmungen zum Einkauf, Vertrieb und Verkauf von Mehl, 23 Bestimmungen betrafen Brot, 14 Milch, 13 Zucker und acht Alkohol.

Zwischen 1915 und 1918 erlebten alle Städte in Ostmittel- und Südosteuropa den Einbruch der Lieferungen, den Mangel an Lebensmitteln, die kurze Verbesserung der Lage nach Einführung von Bezugskarten, die Ausweitung des Kartensystems auf eine immer größere Anzahl von Produkten, das Aufblühen des Schwarzmarkts, auf dem die Preise in keinem Verhältnis mehr zu den Löhnen von Arbeitern und Angestellten standen, die Aggression gegen Bauern – und mehr noch gegen jüdische Zwischenhändler –, die für ein Ferkel ein Klavier bekommen konnten, und schließlich den Hunger, die Kälte und die Verelendung.

Lebensmittelkarten waren überall etwas Neues, Furchterregendes. In Krakau resultierte die Verbesserung der Versorgungslage nach ihrer Einführung im Herbst 1915 daraus, dass in der Woche zuvor die Menschen Brot gekauft hatten, wo es nur welches zu kaufen gab. Sie hatten Angst vor dem Neuen. Das Kartensystem erwies sich vorübergehend als Rettung, das rationierte Brot füllte die Regale der Bäckereien. Dann ging es wie überall und wie mit (fast) allem: Die Mehllieferungen schrumpften, ein Schwarzmarkt entstand. Die Menschen lernten, mit dem Kartensystem zu leben, aber in Wirklichkeit bogen sie es sich zurecht, indem sie die Kriegsbestimmungen umgingen oder brachen.

Im Deutschen Reich wurde ab dem 1. Februar 1915 ein Kartensystem eingeführt. Wie in Österreich-Ungarn landeten im Lauf dieses Jahres nach und nach alle wichtigeren Lebensmittel auf der Liste der rationierten Produkte; das System erlebte eine scheinbare Blüte. Im vergleichsweise gut versorgten Ungarn wurde erst Milch rationiert (November 1915), dann Brot (Januar 1916) und Seife (März 1917), ab April 1917 schließlich auch Kartoffeln. Auch hier erwies sich das Kartensystem immer wieder als löchrig und wirkungslos gegen die menschliche Schlitzohrigkeit und Umtriebigkeit. Die Beamten erließen immer neue Verordnungen, sie produzierten unzählige Erlasse und Vorschriften zum Verkauf, Kauf und Verzehr bestimmter Produkte. Maureen Healy schrieb über die Lage in Wien: „Die Versorgungskrise erinnerte an einen Tanz, in dem die Obrigkeit, die nicht in der Lage war, ein ausreichendes Angebot an Lebensmitteln zu gewährleisten, immer einen Schritt hinter der Bevölkerung zurückblieb, die sich nicht an die Regeln hielt und auf verbotenen Wegen versuchte, ihren Bedarf zu decken. ‚Regieren‘ wurde zum Synonym der Ohnmacht und der Verhängung leerer Dekrete.“16

Der Regulierungswahn war freilich keine Domäne der k. u. k. oder der deutschen Behörden. In einer von Wien weit entfernten Ostseestadt notierte ein zweifellos intelligenter und boshafter deutscher Beobachter zwei ähnliche Beispiele: „Der livländische Gouverneur setzt durch Straßenanschlag den Verkaufspreis für Zucker auf 19 Kopeken pro Pfund fest und bedroht Händler für Mehrforderung mit einer Geldstrafe bis 3000 Rubel. Infolge dieser Verordnung steigt der Zuckerpreis in Riga von 80 Kopeken auf 1 Rubel 50 Kopeken.“ Ebenso lakonisch klingt eine Notiz über die Versuche eines örtlichen Polizeimeisters, die Wirklichkeit zu reglementieren: „Über 1000 Dirnen hat er sistiert, zu hunderten Freudenhäuser und Branntweinfabriken aufgestöbert, mehr als 10.000 Protokolle über Alkoholhandel und Völlerei gesammelt, und muß am Jahresende erkennen, daß Riga noch nie so unmoralisch gelebt hat wie im Jahre 1916.“17

Das „Regieren“ erforderte auch eine vielfache Verstärkung der Kontrollen. Bevorzugtes Objekt professioneller und ehrenamtlicher Kontrolleure waren zunächst die Bäckereien; Bäcker galten als ebenso suspekt wie „Spekulanten“. Als sich dann der halb marktwirtschaftliche Teil des Lebensmittelhandels in großem Umfang von den Läden auf die Marktplätze verlagerte, sandten Staat und Lokalverwaltungen Tausende Kontrolleure zur Prüfung von Legalität, Redlichkeit und Hygiene aus. Ihren Handlungsspielraum belegt eine Meldung aus dem Lokalteil des Ilustrowany Kuryer Codzienny:

Einen so stürmischen Markttag wie gestern hat Krakau noch nicht gesehen. Seit sechs Uhr früh versammelten sich immer mehr Damen in Erwartung der Dorffrauen, die in kleiner Zahl eintrafen und nur Gänse, Hühner, Pilze und Obst mitbrachten, von zehn Frauen hatte allenfalls eine Eier und Butter dabei. Diese Frauen wurden von den Damen und Köchinnen regelrecht belagert. Der Tumult wuchs. Immer wieder waren der Marktinspektor Hr. Zagórski, die Marktgehilfen und die Militärpolizei zum Einschreiten gezwungen. Die Frauen sahen, wie groß die Nachfrage nach Butter war, und wollten sie nicht zum amtlichen Höchstpreis von 5,40 Kr. pro Kilogramm verkaufen. Die Verhandlungen ergaben bald einen Preis von 10 Kr. per Kilo und diesen Preis musste der Marktkommissar akzeptieren – andernfalls wären die Frauen vom Markt abgezogen und hätten ihre Butter in den Seitenstraßen zu noch höheren Preisen verkauft.18

Dieser besonders „stürmische“ Markttag ereignete sich im Oktober 1915 und der Krieg sollte noch drei Jahre andauern. Die meisten der „Damen und Köchinnen“ werden sich beim Zusammenbruch der Monarchie sicher mit einem nostalgischen Seufzer an die idyllischen Zustände des Jahres 1915 erinnert haben.

Von Einschränkungen, Kontrollen, Obergrenzen und Verboten waren natürlich keineswegs nur Lebensmittel betroffen. Den zweiten Platz auf der Liste der Mangelwaren belegte die Kohle, der Hauptenergieträger, auf den Stromkraftwerke und Industriebetriebe ebenso angewiesen waren wie Heizbetriebe und Privathaushalte. Darüber hinaus mangelte es an Gas, Erdöl, Baumwolle, Pa-pier – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Schon bald gab es Obergrenzen und Verbote für fast alles: Der Energieverbrauch, zumal in puncto Beleuchtung, wurde zunehmend restriktiv reglementiert. Die Folge waren unter anderem kürzere Öffnungszeiten von Läden, Theatern, Cafés und Kneipen sowie dunkle Straßen und Treppenhäuser. Schulen, Ämter und Theater blieben ungeheizt; in größeren Wohnungen wurde es später zur Regel, dass nur ein Ofen befeuert wurde, in den übrigen Räumen sank die Temperatur auf wenige Grad. Von den öffentlichen Dienstleistungen waren als Erstes der städtische Nahverkehr – Straßenbahnen – und die Bahn betroffen; Erstere kursierten immer seltener und auf immer kürzeren Strecken. Dann ersann man eine neue Sparmaßnahme: 1916 stellte die Straßenbahn in Wien um 21.00 Uhr den Betrieb ein. Der Baumbestand des Wienerwalds, der im Rahmen privater Raubzüge von den Wienern unbarmherzig abgeholzt wurde, fiel dem Brennstoffmangel zum Opfer.

Es fuhren immer weniger Züge, die zudem immer langsamer unterwegs waren. Im Juli 1915 dauerte die Fahrt von Krakau ins 77 km entfernte Dąbrowa Górnicza 6 Stunden und 16 Minuten. Schneller ging es bisweilen auf Strecken, die für die Armee wichtig und deshalb besser instand gehalten worden waren: Die wieder in Betrieb genommene Strecke Warschau–Brest (ca. 200 km) legte der Zug einige Monate lang in „nur“ 5,5–6 Stunden zurück. Infolge des Krieges erhielten auch Orte direkten Anschluss an die Hauptstädte der Mittelmächte, die weder vorher noch nachher dieses Privileg genossen. Vom Spätsommer 1915 an verkehrten etwa Züge auf der Linie Kowel–Wien. Die Schnellzüge zwischen Krakau und Wien waren nicht langsamer als in den 1980er Jahren, sie brauchten nur zehn Stunden. Von Warschau nach Berlin gelangte man in 13 Stunden.19 Es gab aber keine festen Regeln: Auf der für das Militär ebenso wichtigen Strecke Wien – Lemberg (je nach Streckenführung zwischen 600 und 700 km) benötigten die Züge mit den nach Galizien zurückkehrenden Flüchtlingen ein halbes Jahr nach der Wiedereroberung der Provinzhauptstadt ungefähr 48 Stunden. Seit dem Herbst mahnten die Zeitungen Bahnreisende, sie sollten sich warm genug kleiden, weil die Züge immer häufiger unbeheizt blieben. In Russland, das weit mehr unter der Transport- als unter der Nahrungsmittelkrise litt, wurden schon im Sommer 1915 Zugreisen zu einer Art Lotterie. Man wusste nie, wann und wohin man fahren konnte. Ungefähr um diese Zeit versuchte Eugeniusz Romer mit einigen litauischen Gutsbesitzern von Drissa (heute Werchnjadswinsk in Weißrussland) nach Witebsk zu gelangen. Die Fahrkartenschalter am Bahnhof waren geschlossen, es gab keine Informationen. Als nach einiger Zeit ein Zug einfuhr, fehlten die Passagierwaggons, stattdessen wurden Plätze auf der Ladefläche offener Güterwaggons angeboten. Auf der Strecke, die vor dem Krieg vier Stunden beanspruchte, sammelte der Zug eine Verspätung von 13 Stunden an. Doch selbst unter solch widrigen Bedingungen gelangt es dem Schaffner, die Fahrkarten zu kontrollieren und Fahrgästen, die es nicht geschafft hatten, vor der Abfahrt ein Ticket zu erwerben, eine Strafe aufzubrummen.20

Die Frauen

Der allgemeine, umfassende Mangel prägte den Alltag aller Menschen – Männer, Kinder und Frauen. Letztere mussten immer häufiger ihre berufliche Tätigkeit (fast immer schlechter bezahlt als die Arbeit der Männer) mit Schlangestehen, Hamsterfahrten aufs Land (oder umgekehrt in die Stadt, um Lebensmittel zu verkaufen), illegalem Handel (oft in Form von Tauschgeschäften) und später auch mit dem Diebstahl von Brennmaterial oder Gemüse vereinbaren. Die Situation der Arbeiterinnen verschlechterte sich, zumal in den großen Städten, von Monat zu Monat. Die Beschäftigte einer Munitionsfabrik in Berlin erinnert sich:

Hier wurden wir Frauen und Mädchen wie Tiere angetrieben. Neben dem Kohldampf regierten Schmutz, unsägliche Rohheit und barbarische Antreiberei. Arbeiterschutz gab es nicht oder, wo kleine Ansätze vorhanden waren, wurden sie illusorisch gemacht durch die wilde Arbeitshetze. Allein in einer Woche haben sich im Hülsenwerk an den Zugmaschinen drei Arbeiterinnen die Finger der rechten Hand vollständig abgestanzt. Das war aber nur die Ursache zu Brüllereien des Meisters; weder wurde das Arbeitstempo gemäßigt noch ein Schutz angebracht. […] Die Arbeitszeit: von sechs bis sechs Uhr, mit einer halben Stunde Mittagspause und einer Viertelstunde Frühstückspause. Eine Woche Tag- oder eine Woche Nachtschicht.21

Außerdem musste ja der Rest der Familie ernährt werden. Auch in dieser Hinsicht entsprachen die Bedingungen immer weniger der Vorkriegsnormalität. Der dänische Filmstar Asta Nielsen beobachtete 1916 in Berlin folgende Straßenszene:

Eines Tages sah ich ein klapperdürres Pferd auf der Straße tot umstürzen. Im Nu, als hätte man darauf gelauert, stürmten die Frauen, mit langen Küchenmessern bewaffnet, aus den umliegenden Häusern auf den Kadaver. Man schrie und schlug sich um die besten Stücke, das dampfende Blut spritzte ihnen über Gesicht und Kleider. Andere ausgehungerte Gestalten kamen vorüber und fingen in Näpfen und Tassen das warme Blut auf, von dem das Pflaster rot gefärbt war. Erst als das Pferd wie ein Skelett in der Wüste abgenagt dalag, zerstreute sich die Menge rasch, die eroberten Fleischklumpen ängstlich an die platten Brüste gepreßt.22

Je mehr Zeit man für das Schlangestehen aufwenden musste, desto unsicherer wurde das Resultat. Am 16. Februar 1915 kam es im westböhmischen Kraslice (Graslitz) zur vermutlich ersten Rebellion von „Schlangesteherinnen“. Trotzdem besserte sich die Versorgungslage in der Stadt nicht. Im März drohten die Frauen dem Landrat öffentlich und bewarfen seinen Amtssitz mit Steinen. Im genauso weit von der Front entfernten Triest brach am 20. April eine mehrtätige Hungerrevolte aus, in Wien gab es im Mai erstmals massenhafte Angriffe von Frauen auf Geschäfte. Im Oktober spielten sich in Berlin vergleichbare Szenen ab. Allein in Böhmen und Mähren verzeichnete man bis Jahresende 31 Demonstrationen gegen den Hunger. In den folgenden Jahren kam es immer öfter zu gewaltsamen Ausbrüchen. Den Höhepunkt erreichten sie unmittelbar vor Kriegsende. Anfang 1918 wurde Österreich-Ungarn von einer Welle von Streiks und Demonstrationen von Fabrikbelegschaften – die zu einem großen Teil aus Frauen bestanden – erschüttert. Gegen Ende des Jahres

strömten rund 30.000 Menschen in die Landgemeinden im Norden von Wien, um bei den Bauern Kartoffeln zu kaufen. Doch die Bauern wollten nicht verkaufen, sie verwiesen darauf, dass die Regierung derartige Verkäufe verboten habe. Daraufhin zog die hauptsächlich aus Frauen und Kindern bestehende Menge in die Felder, um sich zu nehmen, was ihnen die Bauern verweigerten. Uniformierte Soldaten auf Heimaturlaub versuchten, die Frauen und Kinder vor Angriffen der Bauern und der Polizei zu schützen. Schließlich wurde die Menge mithilfe der Armee und einiger Gendarmerieeinheiten zerstreut.23

In Russland zeitigten andere Ursachen ähnliche Folgen. Bis 1916 blieb die Lebensmittelversorgung auf einem recht akzeptablen Niveau. Das war vor allem in Frontnähe zu spüren, wo sich die Bevölkerung der Gefahr von Armut und Hunger bewusst war. Der Reichtum des Zarenreichs kontrastierte mit der Sparpolitik der Mittelmächte. Cezary Jellenta notierte um die Jahreswende 1914/15: „Wir merken heute mehr denn je, dass Russland uns nährt und sättigt, dass es ein unerschöpflicher Speicher ist.“24 Russlands Problem lag an anderer Stelle. Seit Kriegsbeginn verschärften sich die Transport- und Brennstoffkrise. In der Folge verteuerten sich auch die Lebensmittel, obwohl sie in ausreichender Menge vorhanden waren. Der Transport in die Städte funktionierte nicht. Schon im März 1915 kam es in Moskau zu Unruhen. Frauen belagerten den Hauptmarkt, bis die Verkäufer die Kartoffelpreise senkten. Ein Jahr später gab es am selben Ort regelmäßig Tumulte, bei denen Verkäufer und intervenierende Polizisten tätlich angegriffen wurden.25 1916 erfasste die Krise alle größeren Städte des Imperiums, das Land wurde von einer Welle sogenannter Weiberrevolten überrollt.26

Parallel zur amtlichen Verwaltung von Hunger, Energie und Transport bemühte sich der Staat um die Mobilisierung der Arbeitskräfte. Im Deutschen Reich und in der k. u. k. Monarchie wurde schon zu Kriegsbeginn der Sonntag zum Arbeitstag erklärt (vorerst nur in kriegswichtigen Industriebetrieben), die Frauen mussten auch nachts und an Feiertagen zur Arbeit erscheinen. In Russland wurde die Nachtarbeit für Frauen und auch für Kinder legalisiert. Überall wurden die Schichtzeiten verlängert: Die 85-Stunden-Woche war bald ebenso normal wie eine tägliche Arbeitszeit von 11 Stunden.

In der Stadt übernahmen die Frauen meist nicht die bisherigen Arbeitsplätze ihrer Ehemänner, sondern die Stellen anderer an die Front geschickter Männer: Sie wurden Verkäuferinnen, Kellnerinnen und Schaffnerinnen, sie übernahmen scharenweise Beamtenposten in der Kommunalverwaltung (in geringerem Ausmaß auch im Rücken der Armee) – überall dort, wo es nach der Einberufung an Arbeitskräften fehlte. Die Beschäftigungszahlen stiegen auch in einigen „typisch“ weiblichen Berufen. Ein unmittelbar mit dem Krieg verbundenes Berufsfeld war die Krankenpflege. Viele öffentliche Gebäude in der Etappe wurden in provisorische Krankenhäuser umgewandelt, von denen jedes nicht nur Ärzte und medizinisches Fachpersonal, sondern auch Hilfskräfte für die Krankenpflege benötigte. In Serbien erfreuten sich britische Krankenschwestern, die den Verbündeten aufopferungsvoll Hilfe leisteten, der größten Achtung der zivilen und militärischen Führung. Fernab der Front weckten Krankenschwestern eher gemischte Gefühle. Im belagerten Przemyśl beschuldigte man sie der Prostitution. Aus dem Mund der uns schon bekannten bissigen Kommentatorin Helena Seifert-Jabłońska ist dieser Vorwurf mit großer Vorsicht zu genießen. Andere Zeitzeugen äußerten sich freilich ähnlich. Ein in Przemyśl stationierter ungarischer Arzt notierte:

[…] man rekrutiert Teenagerinnen als Krankenschwestern, an manchen Stellen bis zu 50! Sie bekommen 120 Kronen im Monat und kostenlose Verpflegung. Das ergibt 17.000 Kronen pro Monat! Mit wenigen Ausnahmen sind sie komplett untauglich. Ihre Hauptaufgabe ist es, das Begehren der Herren Offiziere und – es ist beschämend, das sagen zu müssen – auch einiger Ärzte zu befriedigen.27

Mit der Entfernung zur Front wuchs die Abneigung gegen die selbstständigen jungen Frauen, die aufgrund ihres Berufs ständigen Kontakt zu Soldaten und Ärzten hatten. Eugeniusz Romer schildert empört eine zünftige Feier, die der Leiter des Militärkrankenhauses in Polozk, Dr. Iwanowski, im November 1915 ausrichtete:

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Frisch ausgebildete russische Krankenschwestern (Herbst 1916).

In den Fluren und leeren Krankenzimmern, die entweder völlig dunkel oder von einigen wenigen Lampen mit grünen Schirmen beleuchtet waren, lagen paarweise Offiziere und Schwestern und, weil das Orchester eine Mazurka spielte, tanzte ein fröhlicher Oberst mit einer Schwester durch die Gänge; das gefiel einigen anderen und umgehend wurde einer der großen Krankensäle zu einer Art Ballsaal umfunktioniert; Betten wurden zur Seite geschoben, übereinandergestapelt, manche auch in den Gang geschoben, und in diesem halbdunklen Saal tanzten nun unter lautem Lachen und trivialen Scherzen die barmherzigen Schwestern mit den Offizieren. Ich erstarrte bei diesem Anblick. Obwohl […] der Ruf der Schwesterchen allseits bekannt ist, wollte es mir nicht in den Kopf, dass sich etwas Derartiges in Anwesenheit höherer Militärs und der vermeintlich seriösen Leiterinnen der Einrichtung abspielen konnte. […] Die schwerer Verwundeten sollen jemanden geschickt haben, der um Ruhe bat, doch er erntete nur Empörung über derlei Launen und Unverschämtheit. Der Oberarzt selbst schwang das Tanzbein und war sehr zufrieden über die gelungene Festivität, die, wie er sagte, den Geist der Krieger stärke.28

Obwohl sicher nicht alle Klagen über das unmoralische Verhalten von Krankenschwestern aus den Fingern gesogen waren, erfüllten viele von ihnen wohl eine Placebofunktion. Die allenthalben sichtbare Veränderung in der Stellung der Frauen resultierte aus den strategischen Bedürfnissen des Staates. Die Empörung über die Präsenz von Frauen in bisher Männern vorbehaltenen Berufen musste zurückgehalten werden, weil diese patriotisch legitimiert war. Die „Moralisten“ kühlten ihr Mütchen daher dort, wo sie es konnten.

In Preußen, dem größten Bundesstaat des Deutschen Reiches, sank die Anzahl der in der Produktion beschäftigten Männer um ein Viertel, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene eingerechnet. Die Anzahl der Fließbandarbeiterinnen stieg um drei Viertel. Für die gleiche Arbeit erhielten Frauen ein Drittel oder sogar die Hälfte weniger Lohn als Männer. In Hannover konnten Frauen 1916 für ein Tagesgehalt weniger als ein halbes Hähnchen kaufen. Wenn man den Berichten männlicher Lokaljournalisten glauben darf, machten die Frauen ihre Sache mehr als gut:

In den heutigen Kriegszeiten ist alles möglich und eigentlich vermag uns kaum noch etwas zu überraschen. Noch vor einigen Jahren wäre eine Frau auf dem Kutschbock in Krakau eine Sensation gewesen, sie hätte Spott, bissige Kommentare und Scherze ertragen müssen. Heute sehen wir angesichts des Mangels an männlicher Arbeitskraft in fast allen Berufen Frauen, die sich – wie man zugeben muss – untadelig bewähren, die solide und vor allem ergiebig arbeiten. An Schaffnerinnen in den Straßenbahnen haben wir uns längst gewöhnt, in den Büros sitzen derzeit fast mehr Frauen als Männer und selbst in den Fabriken, bei den schwersten Tätigkeiten, findet man junge Fräuleins und Frauen, die mit großem Eifer und großer Energie arbeiten.29

In Krakau, wo es kaum Rüstungsbetriebe gab, standen relativ wenige Frauen am Fließband; die meisten arbeiteten in einer lokalen Tabakfabrik. In die imperialen Zentren von Petersburg (Petrograd) und Moskau bis Wien und das Ruhrgebiet strömten sie zu Hunderttausenden. Wenn sie nicht in der jeweiligen Stadt wohnten, spotteten die Unterkünfte mitunter jeglicher Vorstellung von Hygiene: doppelt belegte Strohsäcke (wenn eine Frau arbeitete, schlief die andere), das Fehlen von Seife, Duschen und Toiletten waren ebenso an der Tagesordnung wie Läuse.

In der Metallindustrie des böhmischen Kreises Pilsen, wo mit den Škoda-Werken der größte Industriebetrieb Österreich-Ungarns seinen Sitz hatte, stieg der Anteil der Frauen unter den Beschäftigten von 2,4 Prozent bei Kriegsbeginn auf 20 Prozent im Jahr 1916. Paradoxerweise genossen sie gewisse Privilegien: Das österreichische Gesetz über Kriegsleistungen aus dem Jahr 1912 sah drakonische Strafen für mögliche Arbeiterproteste vor, doch es galt nur für Männer; der Gesetzgeber hatte sich nicht vorstellen können, dass in der Rüstungsindustrie Frauen arbeiten würden. Und eben hier, an der Drehbank oder am fordschen Fließband, entstanden für die Zeitgenossen schockierende Bilder: Eva glich sich äußerlich an Adam an. Weil es in den Fabriken immer wieder zu Unfällen kam, zwang man die Frauen, männliche Arbeitskleidung zu tragen (einschließlich der bis dahin nur von Feministinnen genutzten Hosen) und ihre Frisuren unter einem Tuch oder einer anderen Bedeckung zu verbergen. Weil die Brüste infolge der permanenten Unterernährung schrumpften, waren Frauen und Männer in Arbeitsmontur kaum noch zu unterscheiden.30 Ob das auch für die Frauen vom Land galt, kann bezweifelt werden. Sie mussten weder die Arbeitsanzüge der Schwerindustrie tragen noch litten sie Hunger.

Doch auch in der Provinz führte die Emanzipation der Frauen zu einer nicht minder grundlegenden Veränderung der Verhältnisse. Wincenty Witos schrieb:

[…] das Dorf entvölkerte sich auf unerhörte Weise. Es gab kaum ein Haus, aus dem nicht wenigstens ein Familienmitglied in den Krieg zog. Nicht selten wurden Vater und Sohn, mitunter auch mehrere Söhne eingezogen, womit die Höfe in der Obhut der Alten, Frauen und Kinder verblieben. Es war eine Zeit schwerer Prüfungen. Die Landfrauen, beladen mit häuslichen Pflichten, hatten sich nie mit Pferden, Fuhrwerken, Pflügen und Säen befasst, das war Sache der Männer gewesen. Manche von ihnen wussten nicht nur nicht, wie man ein Pferd anspannt, sondern liefen ängstlich vor ihm weg. Die harte Notwendigkeit aber tat das Ihre und so erfolgte auch hier fast unerwartet der Wandel. Die auf den Höfen zurückgelassenen Frauen weinten und klagten, sie suchten, wo möglich, Hilfe und Fürsorge, doch als das alles nichts half, machten sie sich selbst an die Arbeit, wobei sie oft große Schwierigkeiten zu überwinden hatten, aber unerhörte Willenskraft und Ausdauer bewiesen. Ich sah mehrmals, wie ein Pflug eine Frau umstieß, die sich weder mit ihm noch mit dem harten, vernachlässigten Boden zu helfen wusste. Gezeichnet, verschwitzt und verdreckt ließen sie sich durch nichts abschrecken und kamen schließlich kaum schlechter zurecht als die Männer. Dank ihrer oft übermenschlichen Arbeit konnten viele Höfe vor dem völligen Verfall gerettet werden.31

Sowohl die in Industrie, im Dienstleistungsgewerbe, Verkehrswesen oder am Schreibtisch arbeitende Stadtfrau als auch die tüchtige Bäuerin wurden in den ersten Kriegsjahren zu einem ebenso festen Bestandteil der Alltagswirklichkeit des Hinterlandes wie die um Lebensmittel für ihre Kinder schlangestehende Mutter. Auch in den besetzten Gebieten gab es sie zu Millionen.

Ecaterina Teodoroiu

Die drei Imperien, deren Armeen bereits seit dem Sommer 1914 Ostmitteleuropa systematisch niedertrampelten, waren Bollwerke des gesellschaftlichen Konservativismus. Die überkommene Geschlechterordnung gehörte ebenso zu ihren Grundfesten wie die Institution der Monarchie. Niemand bezweifelte, dass der Krieg eine Sphäre sei, zu der Frauen keinen Zutritt haben sollten, eine mögliche Wehrpflicht für Frauen hielt man allenfalls für einen schlechten Scherz. Für einen der wenigen deutschen Publizisten, die diese Frage ernsthaft erörterten, war die Menstruation ein „störender“ Faktor in disziplinarischer Hinsicht, denn auf sie seien „viele Fälle von Ungehorsam, Gereiztheit und Verstimmung, die zum Konflikt mit Vorgesetzten usw. führen können“, zurückzuführen; zudem litten viele Frauen unter „Aufregungszuständen“ und „Menstrualpsychosen“.32

Die Realität war vielschichtiger als die Ideologie. Vor allem in der russischen Armee und zumal in Kosakenregimentern kam es vor, dass Frauen in männlicher Verkleidung nicht nur als Rekruten dienten, sondern auch Offiziersgrade erwarben. Nach der Februarrevolution von 1917 wurden sogar einige rein weibliche Sturmtrupps geschaffen. Deutschland und Österreich-Ungarn zeigten sich in der Frage des Frauenwehrdienstes zurückhaltender. Erst die gigantischen Verluste zwangen beide Staaten, auch auf diesen Bevölkerungsteil zurückzugreifen. Ab Ende 1916 wurden uniformierte Frauen als Hilfskräfte hinter der Front, als Büroangestellte, Technikerinnen, Telefonistinnen und Telegrafistinnen eingesetzt. Selbst ernannte Moralapostel empörten sich zwar über die angebliche Libertinage der sogenannten Etappenhelferinnen, doch ohne ihre Hilfe hätten die Generalstäbe nicht Tausende männliche Kanzlisten und andere Angestellte an die Front schicken können.

Die kleineren Teilnehmer am Krieg im Osten hatten von Anfang an eine liberalere Einstellung zur Kriegsbeteiligung von Frauen. Österreich-Ungarn lieferte ihnen diesbezüglich ausgezeichnete Vorbilder. Während man in der deutschsprachigen Presse noch verbissen über Hilfsdienst von Frauen diskutierte, wurde ihre Präsenz in den polnischen und ukrainischen Freiwilligenregimentern toleriert, teils rühmte man sich ihrer sogar. Die Ukrainerinnen Olena Stepanivna und Sofija Haletschko kommandierten Untereinheiten der Sitscher Schützen, die Polin Wanda Gertz zeichnete sich in den Kämpfen der Legionen am Styr und am Stochod aus. In der serbischen Armee verdiente sich die Britin Flora Sandes den Hauptmannsrang. In Bulgarien wurden die Infanterierekrutinnen Donka Bogdanowa und Donka Uschlinowa zu Berühmtheiten. Die Propagandisten vervielfältigten Fotos der beiden mit Schilderungen ihrer Heldentaten. Keine dieser tapferen Frauen wurde aber zum Gegenstand eines nationalen Kults.)

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Eine bulgarische Propagandapostkarte zeigt die Obergefreite Donka Bogdanowa aus dem 60. Infanterieregiment, eine Veteranin der Kämpfe in Makedonien, der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs.

Anders die junge Rumänin Ecaterina Teodoroiu. Wie die polnischen und ukrainischen Soldatinnen war sie vor dem Krieg Pfadfinderin gewesen. 1916 meldete sie sich freiwillig zum Dienst in einem Feldlazarett, doch auf die Nachricht vom Tod ihrer beiden Brüder bat sie darum, in deren Bataillon versetzt zu werden. Nach einigen Wochen geriet sie in deutsche Gefangenschaft, aus der sie floh. Dann wurde sie verwundet. Nach ihrer Genesung kehrte sie an die Front zurück und nahm an der Schlacht von Mărăşeşti teil, bei der rumänische Einheiten gegen deutsche und österreichisch-ungarische Truppen kämpften. Dort wurde sie zum Unterleutnant befördert. Sie fiel bei Kämpfen unmittelbar im Anschluss an diese für die Rumänen siegreiche Schlacht. Fast umgehend wurde sie zur – bis heute kultisch verehrten – Nationalheldin. Teodoroiu ist Hauptfigur zahlreicher Gedichte, Romane und eines Spielfilms, mehrere Denkmäler erinnern an sie und in ihrer Heimatstadt Târgu Jiu errichtete man ein monumentales Grabmal mit der Inschrift „Fecioara eroina“ (Jungfrau und Heldin).

Die Jungfräulichkeit der rumänischen Heldin ist natürlich eine Anknüpfung an Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orleans. Ob Ecaterina Teodoroiu wirklich als Jungfrau starb, ist unbekannt. Die amerikanische Historikerin Maria Bucur schreibt, es handele sich eher um eine Frage der Symbolik: die Hervorhebung einer Nationalheldin aus der Masse der Frauen und ihre Eingliederung ins nationale Pantheon. Diesem Zweck diente auch die permanente Betonung von Teodoroius männlichen Charaktereigenschaften. In einer Erklärung der rumänischen Armee hieß es etwa: „Ecaterina Teodoroiu war den tapfersten Verteidigern des Vaterlands ebenbürtig, die sie insofern noch übertraf, als sie die Kraft besaß, ihre weibliche Schwäche zu überwinden. Sie hat bewiesen, dass sie in Körper und Geist ein echter Mann war.“33 Einerseits äußert sich hier die höchste Anerkennung für Teodoroius Heldenmut, andererseits bezeugt die Erklärung die Geringschätzung des Schicksals anderer, gewöhnlicher Frauen.

Einen Bereich der Verwaltung des permanenten Mangels überließ der Staat gern und konsequent den Kommunen und zivilgesellschaftlichen Organisationen: die Sozialfürsorge. Es entstanden unzählige Gesellschaften und Vereine, die Nachtasyle, Suppenküchen und Teestuben einrichteten oder Arbeitslose, Kinder und Flüchtlinge mit Lebensmitteln unterstützten. Enormen Anteil daran hatten ehrenamtliche Frauenorganisationen. Im Deutschen Reich wurde schon am 4. August 1914 der Nationale Frauendienst gegründet. Die deutschen Frauen wollten den Bedürftigsten ein Dach über dem Kopf, einen Teller Suppe oder eine Tasse Tee gewährleisten. Der Frauendienst übernahm auch strukturelle Aufgaben: Er vermittelte bei der Anwerbung von Freiwilligen für die Landarbeit, half Flüchtlingen bei der Anmietung von Wohnungen und er betrieb Häuser für Wöchnerinnen und Kindergärten. Der Vaterländische Frauenverein wiederum kümmerte sich um durchreisende Soldaten und unterhielt sanitäre Einrichtungen und Suppenküchen an Bahnhöfen.

In der Habsburgermonarchie waren Frauenorganisationen auf ähnliche Weise aktiv. Im ersten Jahr nach ihrer Gründung im Frühjahr 1915 organisierte etwa die polnische Frauenliga des Obersten Nationalkomitees in Galizien mehr als 12.000 Frauen in über 100 Regionalverbänden. Die Stadtverbände zählten mehrere Hundert Mitglieder und hatten Zweigstellen in der Umgebung. Wie viele andere Organisationen auf dem Gebiet der k. u. k. Monarchie diente sie nur Angehörigen der eigenen Volksgruppe. Ihre Besonderheit bestand darin, dass sich ihr Hilfsangebot vor allem an einen – zahlenmäßig nicht besonders starken – Teil dieser Volksgruppe richtete: an die Legionäre, die als Freiwillige für die polnische Unabhängigkeit kämpften.

Ethnisierung

Das Beispiel der galizischen Frauenliga verweist auf eine in unterschiedlicher Form und Intensität im gesamten Hinterland zu beobachtende Erscheinung, die von Historikern als Ethnisierung bezeichnet wird. Vor dem Krieg musste man nicht der Mehrheitsethnie angehören, um loyaler Untertan des Königs oder Zaren zu sein, die Nationalität war für soziale Stellung und Berufsaussichten nicht von Belang. Ein Ukrainer konnte sich als Angestellter der k. u. k. Eisenbahn ebenso auf seinen Lohn verlassen wie ein Kroate. Ein polnischer Bauer in Preußen erhielt für sein Getreide ebenso viel wie sein deutscher Nachbar, ein lettischer Arbeiter in Riga verdiente dasselbe wie der Jude an der Werkbank nebenan. Der Krieg der Imperien, den beide Seiten von Beginn an als historischen Kampf zwischen Deutschtum und Slawentum darstellten, löste rasch eine Lawine von Veränderungen aus, die alle bis 1914 geltenden Regeln unter sich begrub.

Die Mechanismen waren überall anders, die Resultate ähnlich. Ins wirtschaftlich blühende Triest waren um die Jahrhundertwende massenweise Slowenen aus den umliegenden Dörfern gekommen. Trotzdem stellten die Italiener weiter die klare Mehrheit der 230.000 Einwohner. Die im Frühjahr 1915 wachsenden Spannungen zwischen Italien und Österreich-Ungarn führten zum Exodus nicht nur italienischer Staatsbürger, sondern auch der führenden Repräsentanten der einheimischen Italiener, Untertanen Franz Josephs I. Am 22. Mai erklärte Rom der k. u. k. Monarchie den Krieg. Am Nachmittag dieses Tages verhinderte die Triester Polizei nur mit Mühe einen Angriff auf das italienische Konsulat. Am Abend attackierte die Menge alles Italienische – Zeitungsredaktionen, Vereinssitze, Läden und Cafés. Am nächsten Tag wurde anstelle des bisherigen Triester Stadtrats ein Kommissar eingesetzt, die Polizei begann mit massenhaften Festnahmen und Internierungen. Italienische Vereine und Verbände wurden verboten, Beamte italienischer Nationalität scharenweise entlassen. Parallel dazu löste die Obrigkeit die kommunalen Selbstverwaltungsorgane der umliegenden Gemeinden auf und änderte Straßennamen, die an die Idee des italienischen Nationalstaats erinnerten. Das gründlich von Eliten und sichtbaren Symbolen des Feindes gesäuberte, anscheinend entitalianisierte Triest wurde damit zu einer weiteren habsburgischen Stadt im Rücken der Front.

Ähnlich entwickelte sich die Situation am anderen Ende Mitteleuropas. Die Deutschen hatten in den russischen Ostseeprovinzen eine sehr viel exponiertere Stellung als die Italiener in Istrien. Nicht, weil es in absoluten Zahlen oder proportional an der Ostsee mehr Deutsche gegeben hätte als Italiener an der österreichischen Adriaküste. Die Deutschen im Baltikum waren bis in die 1880er Jahre nicht nur treue, sondern auch privilegierte Untertanen des Zaren, sie besetzten wichtige Posten in den Petersburger Ministerien und übten faktisch die Macht in den Küstengouvernements aus. In den folgenden fünfundzwanzig Jahren verloren sie viel von ihrem Einfluss, doch im Sommer 1914 bekundeten sie wie alle anderen Untertanen ihre Treue zum Zaren. Doch die Welle des russischen Nationalismus erreichte rasch auch die Ostsee. Schon im Herbst untersagten die Behörden den Gebrauch der deutschen Sprache an öffentlichen Orten. Kontrolliert wurde das Verbot weniger von der Polizei als von den Nachbarn, die bei Zuwiderhandlung bereitwillig Anzeige erstatteten. „Das Spitzeltum als Nebenberuf blüht auf “, notierte im November ein Rigaer Deutscher resigniert.

Das Verbot der deutschen Sprache auf der Straße und in den Parks, bei Versammlungen, in Ämtern, Anwaltskanzleien und vor Gericht war nur ein Teil der Russifizierungskampagne, an die sich die Deutschen als „Zeit des Maulkorbs“ erinnerten: Schulen (manche unterrichteten auf Russisch weiter) und Bibliotheken wurden geschlossen. Der Deutsche Club wurde aufgelöst, die Post verweigerte die Annahme von Briefen in deutscher Sprache und untersagte den Gebrauch des Deutschen an ihren Telefonen, deutschsprachige Geschäftsnamen verschwanden. Letzte Zuflucht der Deutschen war die Kirche, das heißt die lutherische Gemeinde. Zu den Sonntagsgottesdiensten kamen nun mehr Gläubige als vor dem Krieg; sie beteten sicher nicht nur für ihre Söhne und Brüder, die in russischen Uniformen an der Front starben, sondern auch für ein baldiges Ende der „russischen Zeiten“, die sie zu Ausländern auf dem eigenen Grund und Boden machten.

Mit dem Machtverlust der Deutsch-Balten korrespondierte die soziale Degradierung der Juden, die an vielen Orten zu beobachten war. Die Juden wurden überall (auch in Großbritannien und Frankreich) zum Symbol für die Entartungen des Krieges: kriminellen Profit, Verweigerung des Diensts für das Vaterland oder den Missbrauch des Sozialsystems. In Riga spiegelte sich ihre Sonderstellung im Bußgeldkatalog, den die Polizei offensichtlich auch als willkommene zusätzliche Einkommensquelle nutzte. Ein Zeitgenosse notierte die Geldbußen für „ungenügenden Lichtabschluss“, das heißt nicht ordnungsgemäß verdunkelte Fenster: „Die Bestrafung dafür wird völkisch abgestuft. Juden haben 100–200 Rubel zu zahlen bzw. erhalten einen Monat Gefängnisarrest. Für Deutsche wird die Buße auf die Hälfte, für Letten und Russen auf ein Viertel des jüdischen Maßes herabgesetzt.“34

Riga war ein ebenso anschauliches Beispiel für die Ethnisierung wie Wilna, Tschernowitz, Wien oder Triest, es hatte aber auch seine Besonderheiten: Im Oktober 1915 wurden drei lettische Freiwillige (Schützen) feierlich zu Grabe getragen – die ersten Helden, die gleichzeitig für das imperiale und das nationale Vaterland gefallen waren. Die Zeremonie unterstrich die Nationalität der Soldaten: Die Letten waren sowohl für den Zaren als auch für ihr Land gestorben; wäre Letzteres nicht wichtiger gewesen, hätte man sie nicht getrennt von ihren russischen Waffenbrüdern bestattet. Exakt zur selben Zeit entstand in Polen eine Idee, die sich formal am deutschen Gedenken für die im Krieg von 1870 Gefallenen orientierte:

In jeder Pfarrkirche soll nach ausländischem Vorbild eine Marmortafel angebracht werden. Auf ihr sollen an erster Stelle die Namen aller Legionäre genannt werden, die im Krieg fielen oder ihren Verwundungen erlagen […]. Nach den Legionären werden alle anderen polnischen Soldaten aufgelistet, die aus dem jeweiligen Ort stammen und im Armeedienst fielen oder ihren Verwundungen erlagen.35

Auch auf polnischem Boden ging die Ethnisierung über den Stand von Herbst 1915 hinaus. Wie die lettischen Freiwilligen waren auch die Legionäre als Helden plötzlich wichtiger als ihre Landsleute, die in anderen Einheiten kämpften und ausschließlich für Nikolaus II. oder Franz Joseph I. starben. Das Zurechtschnitzen des symbolischen Raums der nationalen Gemeinschaft konnte unterschiedliche Formen annehmen; die Stigmatisierung von Nationalitäten war ebenso klar wie die Sakralisierung ihrer opfermutigsten Angehörigen.

Wenden wir uns noch einmal kurz den Deutsch-Balten zu. Ihr Schicksal war insofern untypisch, weil sie bereits in den ersten Kriegsmonaten zu suspekten Individuen wurden. Die Behörden nutzten den Ausbruch des Konflikts zur Verwirklichung schon lange existierender Pläne. Ansatzweise ähnlich war die Situation der Armenier im nordöstlichen Teil des Osmanischen Reichs, deren Aussiedelung im Frühjahr 1915 begann. Auch dort ging es um die Abschiebung einer unerwünschten Minderheit, ansonsten waren die Umstände aber völlig andere: Ein Teil der Armenier hatte sich im April am antiosmanischen Aufstand in Van beteiligt, der den Behörden den Vorwand für den Start der Deportationen lieferte. Die Deutsch-Balten wurden diskriminiert, doch nur selten wurde dabei Gewalt ausgeübt, und wenn, dann war sie – wie auch immer – rechtlich legitimiert (etwa durch ein Gerichtsurteil gegen vermeintliche Spitzel oder Spekulanten). Die Armenier wurden massenhaft ermordet und die Zwangsmärsche durch ganz Anatolien ans andere Ende des Osmanischen Reichs bis zum heutigen Syrien hatten noch schlimmere Folgen. Die Schätzungen zur Anzahl der Opfer von Kämpfen, Exekutionen, Hunger, Wassermangel, Krankheiten und Erschöpfung schwanken zwischen 500.000 und einer Million. Je nachdem, ob man der osmanischen Regierung eine Absicht zur systematischen Ermordung der Armenier unterstellt oder die Vernichtung eines großen Teils dieser Volksgruppe gleichsam als Nebenwirkung einer durch den Krieg motivierten ethnischen Säuberung betrachtet, bezeichnet man das Massaker an den Armeniern als Völkermord oder als Kriegsverbrechen. Der nach dem Zweiten Weltkrieg ins Völker- und Strafrecht eingeführte Begriff des Völkermords verdankt sich zu großen Teilen den Reaktionen der Öffentlichkeit auf die schon während des Ersten Weltkriegs nach Europa und in die USA gelangenden Nachrichten von den Ereignissen in Anatolien.

Das Massaker an den Armeniern

Während sich in den Balkan-Vilajets des Osmanischen Reichs der ethnische Konflikt zuspitzte und die IMRO ein neues Kapitel in der Geschichte des politischen Terrors aufschlug, verfolgten auch die Armenier das makedonische Beispiel mit größter Aufmerksamkeit. Die im nordöstlichen Randgebiet der Türkei lebende Minderheit erkannte nicht zu Unrecht Parallelen zwischen sich und den Bulgaren oder auch Serben. Auch die Armenier waren orthodoxe Christen, auch sie rechneten mit der Unterstützung Russlands, auch sie lebten in einer ethnisch fremden Umgebung. Schon Ende des 19. Jahrhunderts waren die Vilajets, in denen sie lebten, Schauplätze ununterbrochener Kämpfe, Pogrome und Scharmützel bewaffneter Milizen. Die Hauptkonfliktlinie verlief zwischen der auf armenischem Gebiet dominierenden sozialdemokratischen Partei Daschnak und den regionalen Kurdenstämmen. Russland und das Osmanische Reich unterstützten mal die Kurden, mal die Armenier. Die jungtürkische Revolution beruhigte die Lage nicht, allenfalls änderten sich die lokalen Bündniskonstellationen. Die Daschnaken, die anfangs mit den Jungtürken sympathisierten, standen gegen die von kurdischen Stämmen unterstützten osmanischen „Konterrevolutionäre“. 1913 halfen armenische Milizen den jungtürkischen Regierungstruppen bei der Niederschlagung einer Kurdenrebellion. Das Zarenreich heizte den schwelenden ethnischen Konflikt an. Während der Balkankriege wurde das türkische Armenien mit russischen Waffenlieferungen geradezu überschüttet. Bei Ausbruch des Russisch-Türkischen Kriegs war die gesamte Region bereits ein Pulverfass.

Türken wie Russen rechneten mit der Unterstützung der Minderheiten auf der jeweils anderen Seite der Grenze. Das Osmanische Reich unterstützte die Irredenta der Moslems im Kaukasus, Russland organisierte eine armenische Legion mit einigen Tausend Freiwilligen osmanischer Staatsangehörigkeit und versuchte die Kontrolle über die armenische Untergrundbewegung in Anatolien zu gewinnen. Auf beiden Seiten kam es schon 1914 zu Massakern an der Zivilbevölkerung – der muslimischen in Russland und der christlichen im Osmanischen Reich. Ende des Jahres entschloss sich Enver Pascha zur Offensive gegen Sarikamis. Die Idee erwies sich als ebenso fatal wie die zur selben Zeit durchgeführte österreichisch-ungarische Offensive in den Karpaten. Ganze türkische Regimenter erfroren im ungewöhnlich strengen Winter im Hochgebirge. Die Soldaten, die bis zu den russischen Stellungen vordrangen, waren nicht mehr in der Lage, effektiv zu kämpfen. Die Türken mussten sich zurückziehen. Zum Frühjahrsbeginn stand eine russische Offensive zu erwarten.

Noch vor dem Beginn dieser Offensive brachen in den von Armeniern bewohnten Städten in der Osttürkei bewaffnete Aufstände aus, der größte in der Stadt Van. Dort verteidigten sich die Bewohner mehr als einen Monat lang gegen die Angriffe der osmanischen Armee, bevor russische Truppen unter General Nikolai Judenitsch die Stadt Ende Mai befreite. Zu diesem Zeitpunkt war Van schon eine monoethnische Stadt, die verbliebene Bevölkerung bestand aus ansässigen Armeniern und armenischen Flüchtlingen aus den umliegenden Dörfern. Die muslimischen Einwohner waren entweder ums Leben gekommen oder vertrieben worden. Nach zwei Monaten russischer Besatzung drang im August 1915 die türkische Gegenoffensive nach Van vor. Die Mehrheit der armenischen Einwohner floh in Panik aus der Stadt, wer blieb, fiel der Vergeltung zum Opfer.

Der Aufstand von Van veranlasste die türkische Regierung zu schnellem und radikalem Handeln. Ende April 1915 beschloss man die Internierung armenischer Politiker und Beamter, einen Monat später verfügte Talât Pascha die Aussiedlung der Armenier aus den Provinzen, in denen es Aufstände gegeben hatte, und damit nicht nur aus dem Frontgebiet, sondern auch aus Zentralanatolien. Bis heute ist umstritten, ob Talât von Anfang an einen Genozid plante. Doch selbst wenn nicht, hatte die „Evakuierung“ in Richtung Syrien schreckliche Folgen. Schon während des Kriegs berichtete die Presse der Entente-Staaten über das Leid der armenischen Bevölkerung:

Viele Menschen wurden gezwungen, zu Fuß loszumarschieren, ohne Geld und nur mit dem, was sie in ihren Häusern zusammenraffen und auf dem Rücken tragen konnten. Diese Personen waren bald so schwach, dass sie zurückfielen und bajonettiert und in den Fluss geworfen wurden. Ihre Leichen trieben hinab ins Meer oder blieben im seichten Wasser an Steinen hängen, wo sie zehn oder zwölf Tage liegen blieben und verwesten.

Die hungrigen und ausgemergelten Armenier fielen Überfällen von kurdischen Stämmen, Gendarmen und gewöhnlichen Banditen zum Opfer. Ihren Besitz übernahmen die muslimischen Nachbarn, oft ebenfalls kürzlich eingetroffene „Repatrianten“, die aus ihren Balkan-Dörfern vertrieben worden waren. Junge und gesunde „Evakuierte“, zumal Frauen, wurden als Ware betrachtet: „Die Karawanen der Frauen und Kinder werden in jeder Stadt und jedem Dorf, durch das sie ziehen, vor Regierungsgebäuden ausgestellt, damit die Moslems auswählen können.“ Mit zunehmender Dauer der Aktion wurde klar, dass auf die „Evakuierten“ am Ende des Weges der Tod wartete:

Es waren nur wenige Männer darunter, weil die meisten unterwegs getötet worden waren. Alle erzählten dieselbe Geschichte: Dass sie von Kurden überfallen und ausgeraubt wurden. Die meisten von ihnen wurden wieder und wieder überfallen und sehr viele von ihnen, vor allem Männer, wurden getötet. Auch Frauen und Kinder wurden getötet. Viele starben unterwegs an Krankheit und Erschöpfung und an jedem Tag, den sie hier verbrachten, gab es neue Todesfälle.36

Die meisten Opfer verhungerten oder verdursteten. Jüngste Schätzungen sprechen von insgesamt 660.000 Menschen.37 Ihr Schicksal war der europäischen Öffentlichkeit durchaus bekannt. Die angeführten Schilderungen erschienen in der westeuropäischen Presse und in Broschüren mit hohen Auflagen, sie wurden auch von führenden Politikern zitiert. Selbst im Deutschen Reich, einem Verbündeten der Hohen Pforte, protestierte Karl Liebknecht im Reichstag gegen die Auslöschung der Armenier. Die Schuld an dem Massaker tragen natürlich die Entscheidungsträger – die Angehörigen des jungtürkischen Regimes, die lokalen Gouverneure, vor allem aber Talât Pascha. Ende 1918 wurde dies unter dem Druck der westeuropäischen Besatzungsmächte offiziell durch das türkische Parlament bestätigt, türkische Gerichte verurteilten die Haupttäter. Weitaus komplexer ist die Frage nach der politischen Verantwortung. Vielleicht wurden die Armenier Opfer der Schwäche zweier taumelnder Imperien: Russlands, das sie zur Rebellion ermutigte, sie aber nicht wirksam unterstützten konnte, und der Türkei, die ihre Misserfolge an der Front mit dem vermeintlichen Verrat ihrer christlichen Staatsbürger rechtfertigen wollte.

Der zum Tod verurteilte Talât floh aus dem Land, wurde aber 1921 im Berliner Exil von einem armenischen Studenten ermordet. Der Täter, dessen Identität zweifellos feststand, wurde nach gerade einmal zweitägigem Prozess freigesprochen. Das Gericht war der Auffassung, er sei während der Tat nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewesen. Tatsächlich ging es in diesem Prozess von Anfang an um Talâts Verbrechen und der Verteidigung gelang es – unter Mitwirkung des lebendig reagierenden Publikums –, den Mord als Akt der Gerechtigkeit darzustellen.

Für die damaligen Opfer spielte die rechtliche Einordnung keine Rolle. Für die heutigen Armenier und Türken ist sie eine Schlüsselfrage. In unserem Kontext genügt die Feststellung, dass erstens diese Form der Ethnisierung vor dem Hintergrund des gesamten Kriegs einen Sonderfall darstellt; mit Ausnahme Russlands nach 1917 gab es nirgendwo ein vergleichbares Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Zweitens wurde es nicht auf besetztem Gebiet, sondern im Rücken der eigenen Front und an eigenen Staatsbürgern begangen.

Sehr viel sanftere Formen der Ethnisierung resultierten aus den großen Migrationsbewegungen, Massenfluchten und Deportationen. Im August 1915 lockte der Ilustrowany Kuryer Codzienny die Leser mit der Schlagzeile „Der Krieg erschuf den polnischen Kleinhandel“. Die Zeitung verschwieg die Ursache – die Massenflucht der Juden vor der russischen Armee –, doch insgesamt erklärte sie die Vervielfachung der Anzahl polnischer Geschäfte halbwegs korrekt: Nach der Flucht der bisherigen Ladeninhaber „hungerten ganze Viertel, weil es nirgends etwas zu kaufen gab. Doch Not macht erfinderisch. Frauen, deren Männer an der Front waren, brotlose Professoren, Bankiers, brotlose Handwerker und Bauern stürzten sich in die Gründung von Geschäften.“38 Die Perspektiven dieser „echten Pioniere des polnischen Handels“ waren vorerst vage, fehlender Kredit konnte sich schnell als tödlich erweisen. Kleinunternehmen in anderen Provinzen wird es während des Kriegs ähnlich gegangen sein. Trotzdem waren Christen oder Christinnen als Verkäufer oder Ladenbesitzer in Gegenden, wo der Dienstleistungssektor bis dahin von Juden dominiert wurde, etwas Neues.

Militärverwaltung und Selbstverwaltung

An der russischen Front wurden zahlreiche große Städte – von Lodz, Riga und Königsberg über Warschau bis Krakau, Lemberg und Tschernowitz – für einige oder mehrere Monate zum unmittelbaren Hinterland der Front. Hier waren die Einschränkungen jeglicher Freiheiten, Requisitionen, Kontrollen und Verbote besonders umfangreich. Es wurde kompliziert, den eigenen Wohnort zu verlassen: Der Bahnverkehr kam zum Erliegen, andere Transportmittel waren kaum zu finden und außerdem erforderten Reisen eine Menge zusätzlicher Dokumente, deren Ausstellung von der gnädigen (und sicher seltenen) Genehmigung der Behörden abhing.

Vor Ort wurde alles dem Militär untergeordnet. Der zivilisatorische Rückschritt war unübersehbar – in manchen Städten hinter der Front wurde aus Sicherheitsgründen sogar das Telefonnetz stillgelegt. Der Mangel an Gas und Kohle verursachte Produktionsausfälle in den örtlichen Fabriken. Die Straßenbahnen fuhren immer seltener oder überhaupt nicht mehr, leuchtende Straßenlaternen wurden mit der Zeit zur positiven Ausnahmeerscheinung im Bild der ersterbenden Stadt.

Mit den zivilisatorischen sanken die kulturellen Standards, gesunder Menschenverstand und Anstand galten nichts mehr. Es kursierten Gerüchte über als Nonnen verkleidete Spione oder über Juden, die durch ihr Gebet der feindlichen Luftwaffe Angriffsziele zeigten – als Rothaarige und damit notorische Lügner waren sie ohnehin des Staatsverrats verdächtig, weil sie eine eigene Sprache benutzten. Nicht nur an den Fronten im Osten wurde krankhaftes Misstrauen zur akzeptierten Norm. In Frankreich und Deutschland herrschte ein ähnliches Klima des Argwohns, wie etwa die Verbreitung des albernen Gerüchts über die heimlichen Goldtransporte von Frankreich nach Russland zeigt. Und sicher fänden sich auch in Westeuropa Äquivalente zur 1915 von der Militärverwaltung in Riga erlassenen Anordnung, alle Tauben zu töten. Als Beweis – sofern man dem Chronisten Glauben schenkt – waren der Polizei die abgeschnittenen Köpfe der Vögel abzuliefern.39

Ein nationenübergreifendes Kriterium zur Klassifizierung der Erfahrungen der Menschen im Hinterland war die Entfernung von den Kampfplätzen. Die k. u. k. Verwaltung unterteilte das Territorium in drei Zonen. Die erste Zone umfasste die Gebiete in unmittelbarer Frontnähe, die allein dem Militär unterstanden. In der Etappe war die Militärführung staatlichen und kommunalen Behörden übergeordnet. In der Friedenszone blieben Behörden und Verwaltung in zivilen Händen, führten aber die Bestimmungen des Kriegsrechts aus. In Österreich-Ungarn, wo die Selbstbestimmung auf gutem europäischen Niveau war, wurde die Verwaltung unter den Bedingungen der Mangelwirtschaft für die kommunalen Behörden zur unlösbaren Aufgabe. Die Bürger, die gewohnt waren, ihre Angelegenheiten auf kommunaler – und nicht staatlicher – Ebene zu regeln, warfen ihren Gemeindevertretern Unfähigkeit, bösen Willen und mangelnde Empathie vor. Der Bürgermeister von Wien klagte 1916 nicht ohne Grund, dass die Gemeindeverwaltung noch nie für die Lebensmittelversorgung zuständig gewesen sei:

Es ist merkwürdig, im Frieden hat niemand von mir verlangt, ich soll ihm Kartoffeln beschaffen. Niemanden [sic!] ist es eingefallen, ich soll Mehl oder Fleisch herbeischaffen; es bestand auch nie eine gesetzliche Verpflichtung dazu seitens der Gemeinde. […] Eine Pflicht der Gemeinde, für Lebensmittel zu sorgen, ist weder im Statut noch in sonst einem Gesetze begründet.40

Zwischen dem Hammer der hungernden Bürger und dem Amboss der Staatsmacht, der die Bedürfnisse der Front meist wichtiger als die Verpflegung der Zivilisten waren, konnte die Kommunalverwaltung nur verlieren. Was aus Sicht der wütenden Bittsteller freilich keine Rolle spielte.

Anders gestalteten sich die Verhältnisse in Russland. In Gestalt der Semstwos strebten die städtische und ländliche Selbstverwaltung schon lange nach einer Repräsentation auf Staatsebene. Angesichts der Kriegsherausforderungen erlaubte Petersburg schon im August die Gründung des Allrussischen Semstwobundes zur Fürsorge für kranke und verwundete Soldaten und des Allrussischen Stadtbundes, die ein knappes Jahr darauf ein gemeinsames Komitee gründeten (Semgor). Damit wurde plötzlich die Selbstverwaltung zur tragenden Institution des Zarenreichs; naturgemäß verwandelte sie sich schnell in ein Forum für die Kritik an der staatlichen Administration. Zugleich entzog der Zar schon im Juli 1914 die westlichen Gouvernements in Europa der Zivilverwaltung und unterstellte das Gebiet westlich der Linie St. Petersburg–Smolensk–Dnjepr dem Militär (dessen Oberbefehlshaber er ab 1915 war). Bei Kriegsausbruch regierte die Armee damit theoretisch auf einem Gebiet, das größer als Deutschland und Österreich-Ungarn zusammen war. Die Praxis gestaltete sich unterschiedlich. In den weiten, oft schwer zugänglichen ländlichen Gebieten fehlten der Armee die Mittel zur Herrschaftsausübung, sodass das Leben eher in den alten Bahnen weiterlief. In den Städten wiederum war das Militär in Zeiten explodierender Arbeitslosigkeit, allgemeinen Mangels und großer Flüchtlingsströme mit der Verwaltung überfordert.

Eine gewisse Rolle spielte sicher auch der Wunsch, sich die Loyalität der nicht russischsprachigen Untertanen zu sichern, denen die zaristischen Behörden bis dahin selbst die Illusion einer Selbstverwaltung verweigert hatten. Und so legitimierte in Warschau (der beliebteste Stadtpräsident im 19. Jahrhundert, Sokrates Starynkiewicz, war General und ausschließlich seinem russischen Vorgesetzten gegenüber verantwortlich gewesen) der Generalgouverneur innerhalb von 48 Stunden das am 1. August 1914 gegründete Bürgerkomitee (Komitet Obywatelski), das rasch zu einer Art polnischer Stadtverwaltung wurde. Es übernahm von den Staatsbehörden unter anderem die Verteilung von Lebensmitteln und die Sozialfürsorge im weitesten Sinne, es engagierte sich in der Arbeitsvermittlung und in der Gesundheitsfürsorge. Die Übertragung dieser Kompetenzen an die „Staatsbürger“, das heißt an die Zivilgesellschaft, war eine Sensation, doch längst noch nicht alles: Parallel zu den acht männlichen Sektionen des Komitees entstanden auch acht weibliche Abteilungen mit mehr oder weniger denselben Aufgaben, die zusätzlich für die Kinder- und Jugendfürsorge (von Kinderkrippen über Horte und Schulen bis hin zu Ausbildungswerkstätten) verantwortlich waren. Die Ehefrauen und Töchter ehrbarer „Staatsbürger“ betraten den öffentlichen Raum, vorerst zwar noch in klassischen weiblichen Domänen, doch schon als organisierte, eigenständige Gruppe.

Das Modell des Bürgerkomitees, das vor allem aus russischen Quellen finanziert wurde (Regierungszuschüsse machten in den Jahren 1914/15 fast 70 Prozent des Haushaltes aus, weitere 17 Prozent stammten aus Mitteln des Petersburger Komitees der Großfürstin Tatjana41), ist aus einem weiteren Grund interessant. Anfang 1915 umfasste die Organisation das gesamte Königreich Polen, es existierten über 550 Abteilungen, die vom Zentralen Bürgerkomitee in Warschau koordiniert wurden. Allein in der Hauptstadt wurden monatlich drei Millionen Mittagessen ausgegeben.42 Das bedeutete, dass die russische Staatsmacht die heikelsten Kompetenzbereiche in ihrem Hinterland an die polnischen Eliten abtrat, denen es bis 1914 jeden Ansatz von Selbstbestimmung verweigert hatte. Unter anderen politischen Umständen war eine ähnliche Erscheinung in Böhmen und Mähren zu beobachten, wo bereits Strukturen der Selbstbestimmung existierten. Auch hier übertrug der Staat bereitwillig einen Teil seiner bisherigen Kompetenzen an die mehrheitlich von Tschechen dominierte regionale Selbstverwaltung.

Selbstverwaltung und gesellschaftliche Organisationen kämpften überall mit ähnlichen Schwierigkeiten. Dazu zählten der Hunger, das Problem der zumindest oberflächlichen Integration von Flüchtlingen, die wachsende Armut, der Verfall der Infrastruktur und die schwindende gesellschaftliche Disziplin. Eine Hauptursache dieser Schwierigkeiten war die Arbeitslosigkeit. Auf dem Land machte sie sich wegen des Exodus der Rekruten und dem daraus resultierenden Arbeitskräftemangel allenfalls sanft, oft aber gar nicht bemerkbar. In den Städten, zumal den modernen Industriezentren, war das Bild differenzierter. Einerseits wuchs in allen Imperien während des Kriegs die Rüstungsproduktion um ein Vielfaches, auch in Bergbau und Hüttenwesen stiegen die Beschäftigtenzahlen (wenn auch nicht unbedingt die Produktion). Am effizientesten war auf kurze Sicht der russische Staat: Russland produzierte 1916 zigfach mehr Waffen als 1913. Während der ersten beiden Kriegsjahre stieg die Industrieproduktion um 17 Prozent. Bis Ende 1916 wuchs die Beschäftigung in der Metallindustrie um 66 Prozent und in der Chemieindustrie um 14 Prozent. Deutschland hingegen verzeichnete schon 1915 einen Rückgang der Produktion auf vier Fünftel des Vorkriegsniveaus, in Österreich-Ungarn war es ähnlich.

Der Niedergang der Städte

Nahezu alle nicht kriegsrelevanten Industriezweige erlebten ab 1914 einen Rückgang von vielerorts katastrophalem Ausmaß. Dabei spielten unmittelbare Kriegsereignisse wie Bombardierungen oder Gefechte (die meisten Städte waren wie gesagt offen) die geringste Rolle. Die mittelbaren Auswirkungen reichten aus: Ganz wie Bloch prophezeit hatte, schnitt der Krieg, auch wenn er weit entfernt war, die zivile Produktion von Rohstoffen und Exportmärkten ab, rief die Arbeiter und Meister an die Front und zerstörte das Fundament – den Binnen- und Finanzmarkt.

Lodz erlebte die Katastrophe der – wie man heute sagt – Deindustrialisierung schon in den ersten Kriegsmonaten. Als mächtiger Industriestandort verfügte die Stadt über ansehnliche Rohstoffvorräte. Ab August wurden die Geschäfte in bar abgewickelt, zu Recht glaubten weder Produzenten noch Zwischenhändler noch an Kredite. Nach einigen Monaten kam das von Rohstoffen, Kapital- und Absatzmärkten abgeschnittene „Manchester des Ostens“ zum Stillstand, die Textilfabriken schlossen ihre Tore. Die Einheimischen hielten es für eine vorübergehende Ausnahmesituation. Während der Kämpfe um Lodz gelangte fünf Wochen lang (angeblich) kein einziger Lebensmitteltransport in die Stadt. In den Krankenhäusern und Lazaretten lagen je nach Quelle 35.000–50.000 Verwundete. Eher zufällig – obwohl die unmittelbar Geschädigten sicher einen kausalen Zusammenhang sahen – fiel der endgültige Zusammenbruch der Stadt fast genau mit dem Einmarsch deutscher Truppen Anfang Dezember 1914 zusammen. Zugleich schnellte Ende 1914 die Anzahl der Arbeitslosen in die Höhe. Ein halbes Jahr später sollte sie den Stand von 250.000 Männern und Frauen erreichen.

Lodz litt lange unter den Kriegsfolgen. Die Einwohnerzahl des Jahres 1913 erreichte die Stadt erst wieder gut fünfzehn Jahre später. In anderen Städten verlief das Industriesterben langsamer, doch die Auswirkungen waren nicht minder katastrophal. Im Industriebezirk Warschau arbeiteten beim Einmarsch der deutschen Truppen im Vergleich nur noch halb so viele Arbeiter wie ein Jahr zuvor. Der Zugang zum Rigaer Hafen wurde schon im Oktober 1914 vermint und mit dem Hafen verlor die Stadt einen wichtigen Arbeitgeber. Ein Jahr später war die Anzahl der Industriebeschäftigten um ein Drittel gesunken. Die wahre Katastrophe ereignete sich im Sommer 1915, als die wichtigsten Produktionsmittel wie auch die Arbeiter aus der Stadt abtransportiert wurden.

Den anderen Ostseestädten erging es kaum besser. Im vom Krieg kaum bedrohten Königsberg sank der Seehandel 1917 im Import auf zwölf und im Export auf fünf Prozent des Vorkriegsniveaus. Das preußische Elbing, das sich zu keinem Zeitpunkt in Frontnähe befand, wurde 1915 von einem einzigen beladenen Hochseefrachter angelaufen (1913 fertigte der Hafen 93 Schiffe ab). Der wirtschaftliche Niedergang beeinflusste die Löhne und den Lebensstandard selbst in Regionen, in denen relativ viele Fabriken kriegswichtige Güter produzierten: In Böhmen und Mähren betrugen die Reallöhne der Arbeiter schon 1915 nur noch ca. drei Fünftel des Vorkriegsniveaus.

Einen Lichtblick in der Misere der ostmitteleuropäischen Städte boten bis 1917 die Industriezentren des Großfürstentums Finnland. Dort war die Arbeitslosigkeit im Sommer 1914 nur zeitweilig angestiegen. Finnland war führend im Einwerben von staatlichen Aufträgen zur Herstellung von Waffen und strategischen Produkten. Das Land nutzte seine geografische Lage. Es lag ausreichend entfernt von der Front und zugleich in unmittelbarer Nachbarschaft zur nimmersatten Hauptstadt des Zarenreichs, Sankt Petersburg, das bald in Petrograd umbenannt werden sollte. Der Wert der ins russische Kernland gelieferten Waren stieg 1915 um mehr als das Zweifache und 1916 noch einmal um 100 Prozent. Neben der Waffenproduktion exportierte Finnland Waren nach Schweden. Auch die traditionellen Zweige der finnischen Industrie prosperierten. Bis 1917 wurden so gut wie alle russischen Zeitungen auf Papier aus Finnland gedruckt. Der wirtschaftliche Zusammenbruch erfolgte erst mit der Ankündigung der Unabhängigkeit.43

Die Bewohner des Hinterlandes erlebten ständig neue Überraschungen. Die erste waren die Scharen von – mit Ausnahme des Deutschen Reichs meist ethnisch fremden – Flüchtlingen, die als Mitbürger Kost und Logis forderten. Weitere Spannungen resultierten aus der Verschlechterung der Beschäftigungslage an den bisherigen Arbeitsplätzen, dem Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung und der wachsenden Zukunftsungewissheit. Unerwartet kamen auch die ebenfalls realen Konflikte im eigenen Haus: Die bisher gehorsame Dienerschaft begann plötzlich zu klagen und Ansprüche zu stellen. Heimlich wurden Anzeigen gegen die Arbeitgeber geschrieben; inwieweit es sich um ein allgemeines Phänomen handelte und ob dabei eher persönliche Motive oder der Klassenkampf ausschlaggebend waren, werden wir nie erfahren. Jedenfalls hatte die Blüte des Denunziantentums keinesfalls nur – wie im schon erwähnten Riga – ethnische Gründe. Die Polizei nutzte ohnehin wohl lieber die traditionellen Informationsquellen wie Hauswarte oder deren Frauen, die glaubwürdiger als Anzeigen von Bediensteten oder Nachbarn waren. Diese wurden mit der Zeit zu einer wahren Plage für die Verwaltung, die mit dem Abarbeiten schlicht nicht mehr hinterherkam. Im Kurjer Lwowski erschien im Juni 1915, fünf Tage nach der Rückholung Lembergs in den Schoß der k. u. k. Monarchie, als es vor allem um die Loyalität der Ukrainer ging, die Paraphrase eines Befehls, in dem Erzherzog Friedrich mahnte, es sei

1. […] unbedingt falsch, jeden Ruthenen für einen Verräter zu halten.

2. Ebenso ungerechtfertigt ist es, alle Verhafteten für Verräter zu halten, denn viele von ihnen wurden aufgrund von falschen Beschuldigungen verhaftet.

3. Die falschen Beschuldigungen werden aufhören, wenn mit dem Verhafteten auch (sofern dies möglich ist) der Beschuldigende festgenommen wird.44

Wir wissen nicht, ob das Denunziantentum auf dem Land ebenso blühte wie in den Städten.

Wandel auf dem Land: vom Bauern zum Herrn

Zugleich offenbarten sich weitere Unterschiede zwischen Stadt und Land, die zumindest für die Dauer des Kriegs die zivilisatorische Überlegenheit der Ersteren aufhoben. Die Preise für Lebensmittel stiegen schneller als alle anderen. „Heutzutage ist der Bauer Gott […], nie ging es uns so gut wie in diesem Krieg“, verkündete in einem böhmischen Wirtshaus eine Bäuerin, während sie demonstrativ ein gebratenes Huhn und Weißbrot auspackte.45 Der bereits zitierte Krakauer Feuilletonist notierte ein anderes, die böhmische Wirtshausszene ergänzendes Bild:

Wenn man morgens in die Stadt geht, sieht man in fast allen Straßen Bauernfuhrwerke mit Milch und Gemüse, die fast ausnahmslos von Frauen gelenkt werden. Selbst auf den Böcken der speziellen Flachwagen, die Milch von den Gutshöfen und größeren Gehöften der Umgebung in die Stadt bringen, sitzen mit der Peitsche in der Hand die Frauen der Stallknechte, die zum Armeedienst eingezogen wurden. Geht man an Markttagen über die für den Aufenthalt der Hiesigen vorgesehenen Plätze, sieht man nur hier und da Buben oder ältere Bauern; alles wird von den Frauen gelenkt, die ihr Geschäft schon ausgezeichnet beherrschen.46

Der Einzug der Bäuerinnen in die Stadt war ein Symptom des parallelen Aufstiegs des Dorfs und der Frauen. Immer häufiger sah man sie „mit einer Zigarette im Mund“47, damals ein Beleg für die Gleichberechtigung. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Übernahme einer aktiven, öffentlich sichtbaren Berufsrolle durch die Frauen den Widerstand der Zeitgenossen hervorgerufen hätte. Gegen die plötzliche Überlegenheit des Dorfs über die Stadt hingegen regte sich zahlreicher Protest. Das Gespenst der satten Dörfler, die zu Spottpreisen Möbel, Klaviere und andere bürgerliche Accessoires kauften, ging im gesamten Hinterland um. Der Gast einer Teestunde an der einstigen deutsch-russischen Grenze räsonierte: „[…] während wir Intelligenzler allesamt auf den Hund kommen, wird der Bauer zum Herrn. Wer trinkt heute Sekt? Der Bauer. Wer raucht teure Zigarren? Der Bauer. Kürzlich las ich sogar, dass eine Dörflerin ihren Mann, der in Warschau im Krankenhaus gestorben war, mit großem Pomp begraben ließ.“ Die Intelligenzler trauten ihren Augen und Ohren nicht, doch als fortschrittliche Geister betrachteten sie den materiellen Aufstieg des Dorfes nicht nur als Spiegelbild des eigenen Abstiegs, sondern als gutes Zeichen für die Zukunft:

Dass die polnische Bauernschaft reicher wird, ist keine Plage, die der Zukunft unsers Landes schaden würde. Der Wohlstand wird unsere Bauern nämlich kulturell und wirtschaftlich emporheben. […] Schlimmer ist die städtische Spekulation, die wie ein bösartiger Krebs den sozialen Organismus unserer Großstädte zerfrisst, zur allgemeinen Demoralisierung beiträgt und die Schicht jener städtischen Angestellten plagt, deren Einkommen exakt durch Monatslöhne bestimmt wird, also etwa Lehrer, Beamter, Angestellte in Industrie und Handel usw.48

In solchen Äußerungen schwang viel Sympathie für das Volk mit, doch verbarg sich dahinter auch ein gewisses politisches Kalkül. Der Prozess der Ethnisierung verlangte, dass man in den unteren sozialen Schichten ein Nationalbewusstsein weckte. Der Konflikt zwischen Stadt und Land nutzte den Nationalaktivisten nur, wenn eines von beiden ethnisch fremd war. Niemand wollte etwa Spannungen zwischen böhmischen Bauern und böhmischen Stadtbürgern schüren. Das war der politische Hintergrund der vor allem auf böhmischem Boden aktiven Initiativen zur Annäherung von Stadt- und Landbevölkerung: Bildungsaktionen für Dorfleute, organisierte Ausflüge nach Prag und in andere größere Städte, Ferienlager für Landkinder.

Umgekehrt beweisen diese Anstrengungen zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Stadt und Land, dass es ein Problem gab und dass die Frustration der hungernden Städter nicht einfach mit ethnischen Kategorien erklärt werden kann. In Wien herrschte eine vergleichbare Stimmung: Die Bewohner der Hauptstadt sahen die Verantwortung für den Hunger bei der vermeintlich unfähigen Stadtverwaltung, den in der Stadt kasernierten Flüchtlingen aus Galizien und der Bukowina, den verräterischen Ungarn, die keine Lebensmittel mehr lieferten, sowie – keineswegs zuletzt – bei den niederösterreichischen Landsleuten aus dem Umland, die sich ihre Produkte immer teurer bezahlen ließen. Am meisten hassten sie freilich die Spekulanten aus ihrer Nachbarschaft.

Die dörflichen Regionen im Hinterland litten vergleichsweise wenig unter dem Krieg, was nicht heißt, dass es den Landarbeitern nun besser gegangen wäre. Den lebensmittelproduzierenden Bauern hingegen ersetzten wohl überall Markt- und Schwarzmarktgewinne die durch Ernteausfälle verursachten Verluste. Joseph Held konstatiert, auf dem ungarischen Land habe man erst 1917 wütendes Murren vernehmen können, insgesamt aber habe man die „Fassade der Normalität“ bis zum Kriegsende aufrechterhalten.49 Ähnlich – was noch mehr überrascht – bewerten Historiker die Stimmung im russischen ländlichen Raum. Bis 1917 seien die Mühen (aber auch die Freuden) des Alltags für die Bauern wichtiger gewesen als der Krieg: Ernten, Hochzeiten und die Feldarbeit hätten für die Bauern selbst im Revolutionsjahr größere Bedeutung gehabt als das jenseits ihrer Lebenswelt ablaufende Kriegsgeschehen.50 Dies mag auf den ersten Blick paradox anmuten, doch scheint die damals in einer Zeitung zu lesende Erklärung der wachsenden Gegensätze zwischen Stadt und Land nicht ganz falsch: Fleisch und Fett „GIBT ES AUF DEM LAND GENUG“, doch die Bauern wollten nicht verkaufen. Man müsse den „Polnischen Verband der Rinder- und Schweinehändler“ einschalten, Mittler, deren Gesichter und Namen den Bauern bekannt waren, man müsse „die Psychologie des polnischen Bauern ansprechen, der keine Einschränkung und keinen Zwang erträgt und der lieber an seinen früheren Abnehmer verkauft (wenngleich nun illegal) als einem amtlichen Agenten, der mit Unterschriften ausgestattet ist und in Begleitung eines Gendarmen agiert“.51 Aus dieser Bewertung spricht einiger Optimismus, eine leicht gezwungene nationale Solidarität und vielleicht sogar eine gewisse Idealisierung des Landlebens, doch sie verweist auf den schwächsten Punkt des Versorgungssystems in Kriegszeiten: Der Zwang ersetzte schnell und brutal einen Markt, auf dem das Vertrauen in den Geschäftspartner die Grundlage des Handels bildete.

Abgesehen von den Gegenden, die unter Besatzung gerieten, überstand das mittel- und südosteuropäische Dorf die Jahre 1914–16 offensichtlich einigermaßen ruhig. Gewalttätige Ausbrüche gab es erst im Jahr der russischen Revolutionen, wiewohl nicht unbedingt als deren unmittelbare Folge. Die Folgen der Ethnisierung bleiben so gut wie unsichtbar – abgesehen von der Stigmatisierung der Juden, die aber eher in den Städten und Kleinstädten stattfand. Und natürlich abgesehen von den ideologischen Deklarationen nationalbewusster Intelligenzler. Auf dem Land sind keine ethnisch bedingten Trennlinien zu erkennen. Die böhmische Bäuerin im Wirtshaus versetzte ihre Landsleute in Rage. Die Wiener fühlten sich von den Ungarn betrogen, doch nicht minderen Groll hegten sie gegen die Bauern aus der Umgebung. Die slowakischen Bauern erhoben sich nicht gegen den König in Budapest, die lettischen Bauern taten sich in der zaristischen Armee hervor. Die Ruthenen/Ukrainer wurden von den jeweiligen Militärbehörden verfolgt, nicht von ihren Nachbarn. Die polnischen Bauern in den Ostprovinzen des Deutschen Reichs oder in Galizien dachten nicht daran, sich anders zu verhalten als ihre Nachbarn. Am wenigsten wissen wir über die böhmischen und mährischen Bauern, doch auch hier siegte die Nationalität erst sehr viel später über die staatsbürgerliche Loyalität.