Kapitel 3
Die zivilisatorische Mission

Die Soldaten und Offiziere, die 1914 im Dienst der Imperien in den Krieg zogen, hatten gewisse Vorstellungen vom Feind und den Gebieten, in denen sie kämpfen sollten. Meist wussten sie wenig Konkretes über die Eigenheiten Galiziens, Serbien, Kongresspolens, Ostpreußens, Litauens oder Weißrusslands, kamen aber mit bestimmten Erwartungen und vorgefertigten Meinungen, die sich teils in ganz konkreten Bildern manifestierten. Bald nach dem Krieg erhielten diese nur lose mit der Realität verknüpften, aber beständigen Denkschablonen den Namen Stereotype. Walter Lippmann, Journalist und Berater des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, prägte diesen Begriff aufgrund einer Analyse der US-Presse in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Ostfront und zumal der deutsche und österreichische Blick auf die Region hätten ihm womöglich noch interessanteres Material geliefert.

Stereotype sind keineswegs nur kulturgeschichtlich relevant. Während des Kriegs beeinflussten sie das Verhalten der Besatzer oder sogar die Politik der Imperien in den besetzten Gebieten. Das galt insbesondere für Deutsche und Österreicher, in geringerem Maße indes für Russen, Bulgaren oder Türken. Ein krasses Beispiel für die Macht von Stereotypen war der Spionagewahn; die Verfolgung von Juden oder ukrainischen Bauern war weit mehr durch Vorurteile als durch konkrete Fakten motiviert. Doch dies war nur ein Aspekt einer umfassenderen Problematik. Das Stereotyp des Ostens war ebenso vielschichtig wie tief verwurzelt. Und selten wurde es durch objektives Wissen über die Region und die dort lebenden Menschen infrage gestellt. Viele Teilnehmer der Feldzüge im Osten und Südosten waren im Grunde völlig unwissend. Józef Piłsudski bemerkte bereits in den ersten Kriegswochen, dass seine österreichischen Kameraden glaubten, sie träfen im Königreich Polen auf eine primitive, ihnen feindlich gesinnte russischsprachige und orthodoxe Bevölkerung. Alle Versuche, ihnen klarzumachen, dass diese Befürchtungen nicht den Tatsachen entsprächen (schon gar nicht für die Regionen um Kielce und Sandomierz, die das Ziel der österreichisch-ungarischen Armee waren), schlugen fehl.1 Woher kamen diese Vorstellungen?

Halbasien

Im deutschen Denken existierte der Osten als einheitliches Ganzes. Eines der bekanntesten landes- und völkerkundlichen Werke in deutscher Sprache, August Wilhelm Grubes kurz vor dem Krieg in 21. Auflage erschienene Geographische Charakterbilder, charakterisierte ihn so:

Die große Einheit und Einförmigkeit des Volkes wird aber mächtig getragen und zusammengehalten von der Einförmigkeit des Landes, von der weit ausgedehnten unterschiedslosen Fläche, auf welcher kein Teil sich absondern kann, und alles – Mensch und Pflanze, Tier und Boden, Wind und Wetter – eine und dieselbe Uniform trägt.2

Diese Monotonie überdeckte alle Unterschiede zwischen einzelnen Völkern und Landschaften. Die polnischen Gebiete waren für den deutschen Geografen ebenso eintönig wie das gesamte Russland:

„In einer Quadratmeile hat man das ganze polnische Reich gesehen.“ Diese bekannte Redensart hat insofern Recht, als in der ganzen Welt kein Land gleichfarbiger und einförmiger in Sitte, Dialekt und Lebensweise seiner Bewohner wie in Bodenbildung, Kultur und Fruchtbarkeit ist, als Polen. Die Bürger von Slupce gleichen denen von Terespol dergestalt, daß man die Terespoler nach Slupce und die Slupcer nach Terespol setzen könnte, ohne irgend eine Veränderung zu bemerken. Noch auffallender ist die Einförmigkeit des Bauernstandes: wie es dem Einen im Glück, Unglück, in Arbeit und Genuß, in Besitzthum und Verpflichtung geht, so geht es Allen – leider aber Allen schlecht. Sobald man von deutscher Erde, also nicht durch das Großherzogthum Posen oder Galizien, den Fuß über die deutsche Grenze setzt, sieht man augenblicklich, daß man in eine andere Welt gerathen ist.3

Wohl nichts illustriert den Funktionsmechanismus des Stereotyps besser als die Hartnäckigkeit, mit der sich die Vorstellung vom endlosen und monotonen Raum unter deutschen oder österreichisch-ungarischen Soldaten hielt, die während des Kriegs – anders als Grube – den Osten von Nahem kennenlernten. Ob in den Sümpfen Polesiens, den Wäldern um Bolimów, der litauischen Seenlandschaft oder in den Karpaten – überall sahen die Beobachter eine „endlose Weite“. Ihre Briefe, Tagebücher und Erinnerungen belegen die Überlegenheit des Stereotyps über die Wahrnehmung. Nach einigen Wochen in Kongresspolen seufzte Harry Graf Kessler: „Es gibt Nichts im eben besten Sinne formloseres, geschichtsloses, platteres als Radom, Tomaszów, Ostrowiec, Zwolen, Kielce, alle diese kleinen polnischen Kreisstädte mit ihrem Gewimmel von Juden und Einheimischen u. den Ententeichen, die als Pflaster gelten.“4 Der monotone Raum blieb den Ankömmlingen aber nicht gleichgültig. Sie verliehen ihm menschliche Züge, meist negative. Wie Charlotte Heymel schreibt, erscheint die Landschaft Osteuropas in den Frontberichten deutscher Soldaten als ein weiterer Gegner, so als trüge sie wirklich die grüne Uniform der zaristischen Armee.5

Zusammen mit der Monotonie entdeckte man im Osten ein anscheinend schwer damit zu vereinbarendes Phänomen: das Chaos. Abgerundet wurde das finstere Bild der Region durch die Isolation von der Geschichte sowie durch das Fehlen von Tradition und Zivilisation. Diese Züge traten immer dann besonders deutlich hervor, wenn – wie Grube schrieb – der Beobachter aus dem deutschen Kulturkreis stammte und vor diesem Hintergrund bewertete, was er sah. Aus dieser Perspektive verstärkten sich die Kontraste. Und auch hier reproduzieren die Schilderungen der Kriegsteilnehmer bis ins Detail das zuvor durch wissenschaftliche, populärwissenschaftliche und nicht zuletzt literarische Werke geformte Bild des Ostens. Ende des 19. Jahrhunderts schrieb der (in Podolien geborene) liberale österreichische Schriftsteller und Journalist Karl Emil Franzos über Halbasien, einen Raum, der nicht mehr Europa und noch nicht Orient sei:

Wer zum Beispiel den Eilzug von Wien nach Jassy benützt, kommt zweimal durch halbasiatisches, zweimal durch europäisches Gebiet. Von Wien bis Dziedzitz Europa, von Dziedzitz bis Sniatyn Halbasien, von Sniatyn bis Suczawa Europa, von Suczawa bis zum Pontus oder zum Ural Halbasien, tiefes Halbasien, wo Alles Morast ist, nicht blos die Heerstraßen im Herbste. In diesem Morast gedeiht keine Kunst mehr und keine Wissenschaft, vor Allem aber kein weißes Tischtuch mehr und kein gewaschenes Gesicht.6

Besondere Abneigung empfand Franzos gegen Galizien und die Polen. Zivilisatorische Verspätung, Aberglauben, Armut und Korruption ergaben das Bild einer Rückständigkeit, die nur durch deutsche „Kulturarbeit“ und die Befreiung der Polen vom Einfluss der lokalen Herrscher überwunden werden könne.7

Kessler kannte Galizien nicht, doch schon am Tag des Überschreitens der deutsch-russischen Grenze zwischen Neudeck (heute Świerklaniec im Kreis Tarnogóra) und Nowa Wieś sah er sich imstande, Franzos’ Vorstellungen von „Halbasien“ zu bestätigen:

Sofort wurde die Chaussee löcherig, die Chausseebäume hörten auf, die Häuser in den Dörfern, meistens aus Holz und hellblau angestrichen, schienen niedriger und ärmlicher als bei uns. Frauen in bunten Kopftüchern aber barfuss standen vor den Türen oder stiegen in den Pfützen vor den Häusern mit blossen Beinen herum. Am Wege viele Kreuze und Kapellchen. Bald wird das kultivierte Land seltener, Haide mit einzelnen Waldparzellen dehnt sich rechts und links kahl und öde aus. […] Die polnische u. die jüdische Bevölkerung vegetieren hier in einem gemeinsamen Schmutz; sonst sind sie einander im Innersten fremd.8

Kesslers letzte Beobachtung bringt eine neue Erkenntnis: Die Menschen im Osten sind doch verschieden und die Juden mehr als eine folkloristische Randerscheinung. Auf die Bedeutung dieser Entdeckung kommen wir noch zu sprechen.

Zur selben Zeit betrat auch General Max von Gallwitz auf der Verfolgung der aus Ostpreußen fliehenden Rennenkampf-Armee Feindesland:

Im Auto bis zum Zollhause, dann zu Pferde. Die Unsrigen, welche meist noch nicht an den östlichen Grenzpfählen gestanden, waren starr. Bis hierhin vortreffliche Chaussee, dann löcherige Landstraße; Vegetation und Ackerfrucht dürftig, Häuser elend, die Menschen ärmlich und schmutzig! Hier fängt Halbasien an.9

Man kann natürlich mit Recht einwenden, dass Gallwitz und Kessler lediglich beschrieben, was sie sahen. Der katastrophale Zustand der Straßen, der Schmutz und die Armut der Dörfer rechtfertigten jedoch nicht die Annahme, Chaos und Rückständigkeit seien die zentralen Merkmale Ostmitteleuropas. Dies aber war die häufigste Schlussfolgerung deutscher und österreichischer Beobachter. Larry Wolff schreibt dazu, auf der geistigen Landkarte der Westeuropäer habe Osteuropa eine Zwischenstellung eingenommen. Weder ganz Europa noch ganz Asien habe es weder zu den vollständig zivilisierten noch zu den völlig barbarischen Regionen gehört. Diese Unbestimmtheit zwischen zwei bekannten Größen sei sein Hauptmerkmal gewesen.10 Hubert Orlowski verweist auf ein vor allem in der Zeit der beschleunigten Industrialisierung bedeutsames Motiv des deutschen Polen-Stereotyps: Für das geeinte, siegreiche und sich nicht mehr nur in Europa ausbreitende Deutschland sei der östliche Nachbar zwar nicht mehr sonderlich interessant gewesen, habe aber dennoch eine wichtige Rolle gespielt, nämlich als „Zerrspiegel der Modernisierung“ oder als „Schatz der Modernisierungsdefizite“, das heißt als lehrreiches Beispiel für das traurige Schicksal, das den Deutschen aus eigenem Verdienst erspart blieb.11 Auch in Wolffs und Orlowskis Darstellungen findet sich somit ein Verständnis von Polen oder ganz Osteuropa als unabgeschlossenes, ungestaltes, amorphes Projekt.

Der Mangel an Stabilität und Ordnung charakterisierte angeblich nicht nur die Natur und die materielle Kultur der Region, sondern auch ihre ethnische Struktur. In einem Bericht der deutschen Kommandantur in Mariampol manifestierte sich diese Problematik in der Frage nach der Abstammung dreier Personen, die jeweils den Namen Schmidt trugen – in polnischer, deutscher und russischer Fassung:

[…] wir stellen mit Betrübnis fest, daß sie sich alle drei recht weit von ihrem Volkstum entfernt haben. Denn der bewußte Herr Schmidt, der obendrein den Taufnamen Heinrich führt, bekennt sich als eingefleischer Nationalpole, Herr Kowalski als Stockrusse, und der anscheinend moskowititsche Herr Kusnjetzow als echter Deutscher. Und nicht besser steht es um das Glaubensbekenntnis der drei: der Pole Schmidt ist römisch-katholisch, der Russe mit dem polnischen Namen Kowalski orthodox, während Herr Kusnjetzow trotz seines russischen Namens zur evangelischen Gemeinde gehört.12

Diese Geschichte ist zu schön, um ganz wahr zu sein. Der deutsche Beamte in Mariampol verfolgte mit seinem Bericht eindeutig eine didaktische Absicht, er wollte die Empfänger überzeugen, dass sich die ethnischen, religiösen und infolgedessen auch die politischen Verhältnisse vor Ort nicht in den bisherigen Kategorien erfassen ließen. Weil er die Denkweise seiner Vorgesetzten kannte, zügelte er seine Fantasie und ersparte ihnen Informationen etwa über die „Hiesigen“ oder die Litauer. Hinter der didaktischen Anekdote verbargen sich tiefschürfende Fragen: Worin bestand die Andersartigkeit des Ostens? Gab es eine Kraft, die dem Chaos Struktur geben konnte? Welche Rolle sollte Deutschland dort spielen? Die Antworten auf diese Fragen waren keineswegs eindeutig, wie auch die Einstellungen und Motive der Menschen variierten, die sie formulierten.

Schon vor Kriegsausbruch hatten in Deutschland nationalistische Stimmen eine Expansion nach Osten gefordert. Dabei ging es nicht um politische Vorherrschaft, sondern um Lebensraum für den deutschen Bevölkerungsüberhang. Diese Nationalisten und ihre Organisation, der Alldeutsche Verband, wurden während des Kriegs zunehmend populär. Die bis dahin elitäre Vereinigung verdoppelte ihre Mitgliederzahl auf ca. 50.000. Die Alldeutschen entwarfen die Vision einer neuen deutschen Kolonisation, die wie im Mittelalter den Charakter Ostmitteleuropas grundlegend verändern sollte. Gemäß dem Ideal des gesunden, von den Gebrechen der Moderne freien Lebens und im Einklang mit urgermanischen Traditionen (was immer man sich darunter auch vorstellte) dachte man vor allem an ländliche Ansiedelungen. Die Reichsbehörden wurden mit Plänen für immer weiter reichende Annexionen überhäuft. Die maßvolleren betrafen einen breiten Streifen entlang der deutschen Ostgrenzen. Doch mit den ersten Erfolgen an der Front wuchs der Appetit der daheimgebliebenen Imperialisten. Der bekannte Nationalist Friedrich Waterstrad schrieb kurz vor seinem Tod in einer Denkschrift an die Regierung:

Die Selbsterhaltung unseres Volkstums und die dazu notwendige Beschaffung eines leistungsfähigen Bauernstandes, alles das sind Lebensfragen für uns, die auch anscheinend harten und rücksichtslosen Eingriff in die Volksrechte der eroberten Gebiete durchaus rechtfertigen. Wir, die wir zu Unrecht von allen Seiten angefeindet werden, müssen uns endlich und für immer frei machen von weltbürgerlichem Rechtsgefühl und alles und jedes Handeln einstellen auf die Erhaltung unserer Volkskraft.13

Die Erfolge der deutschen Wehrmacht im Osten versetzten die Annexionisten in einen wahren Rausch. Unmittelbar nach dem Sieg bei Gorlice-Tarnów forderte Friedrich von Schwerin, Regierungspräsident im Regierungsbezirk Frankfurt an der Oder, die Kolonisierung Kurlands, der Region Kaunas und der Region Suwałki. Einige Monate später unternahm sein Kollege, der Berliner Professor Max Sering, eine Studienreise an die Ostsee. Seine Vorschläge gingen noch weiter: Das Deutsche Reich solle sich alles Land von der ostpreußischen Grenze bis Finnland einverleiben.

Die Alldeutschen waren lautstark, aber politisch nicht sonderlich einflussreich. Die Regierung betrachtete ihre Forderungen mit Skepsis, kühnere Denkschriften wurden von der Zensur zurückgehalten. Es gelang ihnen also nicht, die öffentliche Debatte zu bestimmen. Außerdem warnten Fachleute vor den praktischen Problemen einer territorialen Expansion. Der Leipziger Geograf und ehemalige Rektor der Universität Breslau, Josef Partsch, konterte die allzu kühnen Pläne Waterstrads und ähnlicher Autoren:

Von einer irgendwie beträchtlichen Verschiebung der deutschen Ostgrenze sollten auch die kühnsten Optimisten nicht träumen. […] Wir dürfen nie vergessen, daß der Anschluß ansehnlicher mit fremdem Volkstum erfüllter Landschaften keine Kräftigung des Reichs bedeuten, sondern — nach Bismarcks treffendem Wort — nur „die zentrifugalen Elemente im eigenen Gebiete“ stärken könnte.14

Die Liberalen hielten es für unmöglich, Millionen neuer, überwiegend slawischer Reichsbürger zu germanisieren. Ihr führender Kopf während des Kriegs, Friedrich Naumann, sagte: „Wie schön wäre es für uns, die Tschechen zu Deutschen zu machen, wenn es ginge! Aber es geht einfach nicht.“15 Die Antwort der Alldeutschen auf diese Zweifel bestand in dem Vorschlag, das Germanisierungsproblem zu umgehen. Es ging letztlich um Territorialgewinne, nicht um Bevölkerungszuwachs. Die Bewohner des Ostens, denen man nicht zutraute, dass sie je zu Deutschen werden könnten, sollten ausgesiedelt und durch Siedler aus dem Deutschen Reich ersetzt werden. Diese Lösung wiederum schien den Liberalen nicht praktikabel. Umsiedlungen von solch gigantischem Ausmaß konnten sie sich immer noch nicht vorstellen, auch die bisherigen Erfahrungen mit der deutschen Kolonisierung in Großpolen sprachen eindeutig dagegen. Denn allem Chauvinismus zum Trotz stimmten die Deutschen, die bereits in den zur Kolonisierung bestimmten Gebieten lebten, hartnäckig mit den Füßen gegen eine germanische Besiedlung des Ostens. Längst nicht alle, die zum „Ausharren in der Bastion des Deutschtums“ aufriefen, wollten persönlich an diesem Projekt mitwirken. Der Krieg verstärkte dieses Phänomen noch. Als Waterstrad seine Denkschrift verfasste, hausten Hunderttausende Flüchtlinge aus Ostpreußen in Behelfsunterkünften im Westen Deutschlands, wo trotz aller Ermunterungen zur Rückkehr und zum Aushalten im „Grenzland“ viele von ihnen auch blieben.

Mitteleuropa

Als 1915 die wichtigste Publikation zu den Zielen des laufenden Kriegs erschien, war die Idee einer Föderation in Mitteleuropa im deutschen politischen Denken nicht mehr neu. In unterschiedlicher Form existierte sie bereits in liberalen Schriften aus dem Vormärz. Den deutschen Patrioten, die von einer Einigung des Landes träumten, erschien eine auf Freiwilligkeit basierende Föderation eine vergleichsweise einfache und – vor allem – friedliche Lösung. Schon damals spielte in entsprechenden Projekten die Frage der wirtschaftlichen Expansion eine wichtige Rolle. Auch in Friedrich Naumanns Mitteleuropa nimmt sie eine zentrale Position ein. Das Buch wurde einer der größten Bestseller des Ersten Weltkriegs; von der ersten Auflage 1915 bis zur Kapitulation Deutschlands wurden fast 200.000 Exemplare verkauft.

Als evangelischer Pfarrer und linksliberaler Politiker lehnte Naumann die schon zu Beginn des Kriegs zahlreich propagierten Annexionspläne ab. In Mitteleuropa stellte er ihnen die Idee eines freiwilligen Bundes der Staaten Ostmitteleuropas entgegen (in späteren Auflagen fügte er Bulgarien hinzu), der sich auf zwei Säulen stützen sollte: Kulturgemeinschaft und Wirtschaftsinteressen. Er hielt den geschichtlichen Moment, in dem die Deutschen die slawischen Nachbarn hätten germanisieren können, für unwiederbringlich vergangen. Die deutsche Kultur aber spielte in der gesamten Region noch immer eine dominierende Rolle, Deutsch war die Lingua franca der verschiedenen Volksgruppen. Wichtiger noch, die Länder und Völker Ostmitteleuropas bildeten einen gewachsenen Wirtschaftsraum. Mit der Schaffung einer Zollund Wirtschaftsgemeinschaft zwischen dem Reich und Österreich-Ungarn würde ein Zentrum entstehen, dem sich die umliegenden Staaten auf organische Weise anschließen würden. In diesem Kontext sprach Naumann vom „mitteleuropäischen Wirtschaftsvolk“. Dank der Idee von Mitteleuropa könnte Deutschland endlich zum ebenbürtigen Partner des British Empire, der USA sowie Russlands werden.

Während des Kriegs versuchte Naumann nicht nur die deutsche Öffentlichkeit, sondern auch die übrigen Einwohner des künftigen Bundesstaates zu erreichen. Zu diesem Zweck bereiste er die von den Mittelmächten kontrollierten Gebiete. Im März 1917 kam Naumann nach Polen, wo er einige Tage in Lodz verbrachte und mit Vertretern der polnischen und jüdischen Bevölkerung sprach. Das Ergebnis dieses Aufenthalts war die Broschüre Was wird aus Polen? (Berlin 1917), in der Naumann die übertriebenen Requisitionen der Besatzer in Polen kritisierte. Naumanns Anhänger sahen in seinem Projekt die einzige Chance, den von Russland unterjochten Völkern Ostmitteleuropas zu einer unabhängigen Existenz zu verhelfen.16

Als unüberwindliches Hindernis für die Verwirklichung von Naumanns Programm erwies sich die chaotische deutsche Politik in der Region, die sich etwa in verschiedenen Aussagen des Chefs der deutschen Presseverwaltung in den besetzten polnischen, litauischen und weißrussischen Gebieten aus dem Jahr 1918 widerspiegelt:

So argumentierte Cleinow etwa im Februar 1918, die Errichtung eines „Walls“ gegen Russland liege im Interesse nicht nur Deutschlands, sondern auch seiner Nachbarn; im März erklärte er, die Polen seien eine Belastung […] für die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland; im Juni, also bereits nach der Ankündigung der Annexion Livlands und Kurlands, empfahl er, man solle das Königreich Polen so behandeln, als befinde es sich noch immer in russischem Besitz.17

Die Unentschlossenheit Berlins in der Frage, ob man den ehrgeizigen Plan eines mitteleuropäischen Staatenbundes umsetzen, so viele Gebiete wie nur möglich annektieren oder doch zur alten monarchischen Politik zurückkehren und sich wieder mit Russland arrangieren solle, nahm dem Projekt die Seriosität und damit jede Aussicht auf Verwirklichung.

Nach dem Krieg sah die Geschichtswissenschaft in Naumanns Entwurf eine Variante des deutschen Imperialismus. Während des Kriegs war kaum jemand dieser Ansicht. Naumann stieß im Gegenteil auf entschiedenen Widerspruch deutscher Chauvinisten, die ihm vorwarfen, er ziele auf eine Verwässerung der nationalen Identität im Bund mit anderen, natürlich minderwertigen Völkern. Auch nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich die Idee der wirtschaftlichen Kooperation autonomer politischer Gebilde in der Region nicht gegen das nationalistische Programm des Kampfs um „Lebensraum“ durchsetzen. Nun galten die Völker Ostmitteleuropas nicht mehr als politische Partner, sondern vor allem als Hindernis auf dem Weg zu deutscher Größe.

Da sich der von den deutschen Nationalisten angestrebte massenhafte Bevölkerungsaustausch als unrealistisch erwies, diskutierte man andere Optionen der Art und des Zwecks der deutschen Präsenz im Osten. In diesem Kontext entstand das Projekt der zivilisatorischen Unterwerfung im Gefolge der militärischen Triumphe. Es gründete auf der Überzeugung, „Halbasien“ ließe sich Europa angleichen und zur deutschen Einflusssphäre machen. Die Anhänger dieser Idee teilten in vielen Punkten die kritische Sicht des Ostens, doch sie zogen daraus andere Schlüsse als die Alldeutschen. Sie wollten die Region samt ihren Bewohnern verändern, aber nicht in deutsches Siedlungsgebiet verwandeln. In diesem Sinn begriffen deutsche und österreichisch-ungarische Politiker die gesamte Besatzungspolitik und insbesondere alle Zugeständnisse an die unterworfenen Völker. Die Vision der „Europäisierung“ des Ostens verlor bis zum Kriegsende nicht an Reiz. Noch einige Monate vor der deutschen Kapitulation sagte Friedrich Naumann im Reichstags in einer Debatte über den „Brotfrieden“ mit der Ukraine:

Wenn früher der geistvolle Kulturhistoriker Viktor v. Hehn einmal sagte, die Elbe sei die Grenze zwischen Europa und Asien, so ist der Akt, den wir jetzt vor uns sehen, der Versuch, diese von Hehn bezeichnete Grenze ostwärts zu rücken bis auf die Linie vom Weißen Meer nach dem Schwarzen Meer.18

Paradoxerweise sollte das Projekt der deutschen und österreichisch-ungarischen zivilisatorischen Mission im Osten von demselben militärischen und zivilen Apparat realisiert werden, dem auch die wirtschaftliche Ausbeutung der eroberten Gebiete und die Disziplinierung ihrer Bevölkerungen unterlag. Die strategische Idee der Modernisierung und Verwestlichung Ostmitteleuropas wurde also zu einem – oft den kurzfristigen Zielen zuwiderlaufenden – Anhängsel der Besatzungspolitik.

Der Balkan

Viele Befunde zum stereotypen Bild des Ostens lassen sich auch auf die deutsche und österreichische Wahrnehmung des Balkans übertragen – vor dem Krieg ebenso wie in Erinnerungen, Tagebüchern und Briefen aus der Kriegszeit. Hier wie dort entdeckten Deutsche und Österreicher Schmutz, ethnisches Durcheinander und Armut. Lag der Osten auf halbem Weg zwischen Europa und Asien, so bildete der Balkan ein „widerliches Gemisch“ aus europäischen und orientalischen Kulturen und Rassen.19 Der zivilisatorische Rückstand war ähnlich groß. Ein österreichisch-ungarischer Soldat schrieb: „Die serbischen Straßen – […] es gibt nichts Jämmerlicheres auf der Welt, sie sind die stichhältigsten Zeugen für das, was dieses Volk Kultur heißt; so schlecht, so entsetzlich, so unsolid, oberflächlich, unehrlich.“20 Sein deutscher Kamerad, ein Teilnehmer des Rumänienfeldzugs, schilderte ähnliche Eindrücke:

Wer wie ich wenige Tage später das mächtige Grenzgebirge […] überschritten und drüben in der wallachischen Tiefebene die fürchterliche Unkultur der Rumänen […] gefunden hat, kann sich nur wundern über den Wahnsinn, der dieses elende Volk trieb, seine schmutzigen Hände nach dem von der Natur durch eine gewaltige Mauer von ihm getrennten Lande auszustecken.21

Gleichwohl unterschieden sich die Darstellungen des Balkans und Ostmitteleuropas. Erstens existierten im Südosten des Kontinents Nationalstaaten, die allerdings in Wien oder Berlin niemand ernst nahm. Man betrachtete sie als Operettenstaaten, die einander in gewisser Weise ähnelten. Helmuth von Moltke der Jüngere, Chef der Obersten Heeresleitung, meinte es sicher ernst, als er im August 1914 seinem österreichischen Kollegen riet: „Lassen Sie doch die Bulgaren gegen Serbien los und lassen Sie das Pack sich untereinander totschlagen!“22 Zweitens konnte man von den bergigen Territorien der Halbinsel nicht sagen, sie seien monoton. Im Gegenteil, die Landschaft war hier ebenso vielfältig wie die ethnische Struktur. Drittens bestätigte, erklärte und verfestigte der durch den Mangel an Zivilisation und Kultur bewirkte Schock die tiefe Abscheu gegen die vermeintlich grausamen und treulosen, aggressiven und hinterlistigen, verdorbenen und abergläubischen Menschen des Balkans. Eine zusätzliche Rechtfertigung bezog das europäische Gefühl der zivilisatorischen Überlegenheit aus einem vierten Punkt: Die Serben und wenig später die Rumänen waren Gegner der Mittelmächte. Dieser Umstand bewirkte, dass man sie nicht nur – wie die Juden, Polen, Weißrussen, Litauer oder Ukrainer – verachtete, sondern vielmehr hasste. Schließlich waren die balkanischen „Banditen“ und notorischen „Königsmörder“ verantwortlich für den Mord an Franz Ferdinand und für den Krieg. Anfangs betrachtete Wien den Krieg unter dem Motto „Serbien muss sterbien“ als Strafexpedition. Das änderte sich erst mit der Abreibung, die die serbischen „Schweinehirten“ den Invasoren 1914 verpassten.

Dennoch wurde das Projekt der zivilisatorischen Mission Deutschlands und Österreichs auch in Bezug auf den Balkan diskutiert. Anders als in Polen oder Weißrussland konnte man hier auf jahrzehntelange Erfahrung zurückgreifen. Seit 1878 befanden sich Bosnien und die Herzegowina unter österreichisch-ungarischer Besatzung und Verwaltung. 1908 wurde die Provinz formell von der k. u. k. Monarchie annektiert. Die quasikoloniale Politik Wiens gegenüber Sarajevo bestimmte die Richtung der späteren Bemühungen um kulturelle Europäisierung und politische Dominanz auf dem Balkan. Die Oberhoheit über die Zivilverwaltung der Provinz hatte der Reichsfinanzminister. Dieses Amt übernahm 1882 der ungarische Aristokrat Bénjamin von Kállay, der das liberale Programm der friedlichen Unterwerfung des Balkans umriss:

Die Menschen zufriedenstellen, Gerechtigkeit herstellen, die Landwirtschaft modernisieren, einfache und preiswerte Verkehrsverbindungen schaffen, den Bildungsstand erhöhen, uralten Traditionen wiederbeleben und durch neue Ideen auffrischen und reinigen – das ist mein Verwaltungsideal. […] Österreich ist ein großes westliches Imperium, das dazu ausersehen wurde, den Völkern des Orients die Zivilisation zu bringen.23

Die Botschaft war jedem halbwegs intelligenten Leser klar. Die k. u. k. Monarchie wollte die Rolle einer Kolonialmacht übernehmen. Ihre seit den Teilungen Polens währende zivilisatorische Mission in Galizien war in den Augen der Liberalen in einem Fiasko geendet.24 Nun also rückte Bosnien in die Position Afrikas, ähnlich wie später die von Deutschland und Österreich-Ungarn besetzten russischen Provinzen. Die während des Kriegs von den beiden Imperien geführte Mission war gleichsam das regionale Äquivalent zur „Bürde des weißen Mannes“, der politischen Dominanz im Namen von Zivilisation und Fortschritt, im Namen der Erweiterung der Grenzen der westeuropäischen Zivilisation. In den bekanntesten Umsetzungen dieses Projekts – Ober Ost und Serbien – kam ein diesen Prinzipien widersprechendes Element hinzu: die tiefe Abneigung der Militärs gegen die konstitutionelle Monarchie, den Parlamentarismus und letztlich gegen die gesamte politische Moderne nach 1848. In den besetzten Gebieten war die Generalität der Politik de facto keine Rechenschaft schuldig, ihr drohten keine Untersuchungen von Reichsrat oder Reichstag und sie konnte auf die Ansichten von Sozialisten und Pazifisten pfeifen. So ließen sich die Vorstellungen von einer idealen europäischen Ordnung frei verwirklichen; nötigenfalls gab man den lokalen Eliten das Recht auf Selbstverwaltung oder beratende Funktionen und verbesserte – im Interesse von Herrschern und Untertanen – die Infrastruktur. Die Gefahr, dass sich das paternalistische Modernisierungsprojekt in eine moderne Demokratie verwandeln könnte, schien vorerst ebenso abstrakt wie in Afrika.

Neue Regierungen

Die eroberten Gebiete gehörten allerdings nicht afrikanischen Stämmen, sondern europäischen Monarchen. Die westliche Öffentlichkeit akzeptierte zwar nur widerstrebend, dass man junge Staaten wie Serbien oder Rumänien ernst nehmen musste, doch bezüglich des russischen Imperiums gab es keine derartigen Vorbehalte. Um den Wechsel des Herrschers zu begründen, musste man beweisen, dass der bisherige Monarch seine Pflichten gegenüber der Bevölkerung nicht erfüllt hatte. Die Journalisten, Publizisten, Politiker und Propagandisten der Mittelmächte übertrafen sich daher darin, die Regierungen und politischen Eliten Russlands, Serbiens und Rumäniens für die zivilisatorischen Mängel in ihren einstigen Provinzen zu kritisieren. So bemerkte die DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT maliziös, während die russischen Behörden die Menschen in Warschau mit immer neuen orthodoxen Kirchen „beglückt“ habe, kümmerten die Deutschen sich um ihr weltliches Wohl, indem sie Krankenhäuser mit Infektionsabteilungen einrichteten oder engmaschige epidemiologische Untersuchungen von Prostituierten einführten.25 Die DEUTSCHE WARSCHAUER ZEITUNG berichtete stolz, die den Polen von den Russen jahrzehntelang verwehrte Selbstverwaltung sei ihnen von den Deutschen in der siebten Besatzungswoche ohne Weiteres gewährt worden.26 In einem Bericht über die ersten beiden Amtsjahre des Generalgouverneurs in Warschau hieß es: „Die deutsche Verwaltung hat unter den Aufgaben, die dem nationalen Wohle des Landes dienen sollen, auch Kulturaufgaben in Angriff genommen, die von den Russen ein Jahrhundert lang nahezu vernachlässigt worden sind.“27

Die deutschen und österreichischen Verfasser griffen gern zu ironischen Formulierungen. Serben, Russen und Rumänen nannte man spöttisch „Kulturträger“, die eigenen zivilisatorischen Leistungen bezeichnete man in Anspielung auf französische oder britische Propagandaschlagworte als „Hunnenwerk“. In einer Reportage aus dem besetzten serbischen Smederevo schildert Wilhelm Hegeler die Arbeit bayerischer Pioniere, die mit aus Brest und Valenciennes stammendem Gerät zerstörte Wasserleitungen instand setzten. Der Unteroffizier, der ihm die provisorischen Installationen zeigte, habe ihm lächelnd erklärt: „Unser barbarisches Vorgehen in Frankreich und Rußland setzen wir hier fort, indem wir Semendria mit einer vernünftigen Wasserleitung versehen.“28 Über die österreichische Mission auf dem Balkan schrieb ein Kollege Hegelers hingegen in vollem Ernst:

Während den in der Fremde stehenden Resten des serbischen Heeres, das als seiner Erde beraubter Anteus kraftlos geworden ist, von Paris und London Schauermärchen über unseres Schreckensherrschaft in Serbien zugeflüstert werden, geht die österreichisch-ungarische Militärverwaltung erfolgreich ihrem Ziel entgegen: Auf allen Gebieten des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens nicht nur einen friedlichen Zustand zu schaffen, wie ihn Serbien seit vier Jahren nicht genossen hat, sondern mehr als dieses, – das Land in jeder Beziehung in die mitteleuropäische Kulturgemeinschaft aufzunehmen.29

Der Gipfel der Kritik der zivilisatorischen Unzulänglichkeit bestand darin, die Gegner im Osten symbolisch aus Europa auszuschließen. Dieses rhetorische Verfahren galt meist Russland. Dahinter steckte eine simple Logik. Wenn man die von den Russen eroberten Gebiete als „Halbasien“ bezeichnete, musste weiter östlich das echte Asien liegen. In deutschsprachigen Publikationen interpretierte man den Krieg gegen Russland als Verteidigung der westlichen Zivilisation gegen das östliche Barbarentum, dessen Vorhut die Kosaken – die „Hunnen unserer Zeit“ – bildeten.30 Der protestantische Theologe Reinhold Seeberg formulierte es so:

Kultur wird [in Russland] mit schweren Kosakenstiefeln zu Boden getreten, Freiheit und höhere innerliche Moral mit der Knute zerschlagen. Barbarismus droht jedem Lande, das Rußland an sich bringt. Wir kämpfen dort im Osten gegen die Barbarei für die Kultur, und ein Mann wie Hindenburg steht auf der Wacht für die Kultur Europas und für die Kultur Deutschlands gegenüber russischer Barbarei.31

Bald schon fand man aber, dass die Gleichsetzung von Russen und Kosaken die asiatische Natur und Herkunft der Letzteren nicht deutlich genug unterstrich. Deutsche und österreichisch-ungarische Autoren (und in ihrem Gefolge polnische, ukrainische, litauische und jüdische Publizisten) schrieben daher von „Tataren“, „Skythen“, „Mongolen“ und „Baschkiren“. Charakteristisch für die Russen war angeblich die „östliche“ Apathie, für ihre Herrschaft der „östliche“ Despotismus. Einmal aus Europa verdrängt, sollten sie nicht wieder dorthin zurückkehren.

Sein volles propagandistisches Potenzial entfaltete das zivilisatorische Projekt im Osten vor allem dort, wo die Armeen der Mittelmächte als Befreier auftreten konnten, also insbesondere in den polnischen Gebieten und in Litauen. Dort adressierte die Besatzungsverwaltung die bis dahin durch das zaristische Regime unterdrückten patriotischen Gefühle von Polen und Litauern sowie auch Juden und Weißrussen. Vor allem in größeren Städten wie Wilna und Warschau kam es zu einer sichtbaren Belebung des „nationalen Lebens“. Warschau verfiel nach dem Einmarsch der Deutschen in einen wahren Rausch nationaler Festivitäten. Als antirussische Manifestationen waren sie willkommen; gleichwohl blieben sie potenziell gefährlich, weil sie leicht in antideutsche Kundgebungen hätten umschlagen können. Beflissene Journalisten waren bemüht, eine Brücke zwischen Patriotismus und Loyalität gegenüber der neuen Besatzungsmacht zu schlagen. Leopold von Bayern – der Kommandeur der Armee, die im August 1915 in die ehemalige Hauptstadt des Königreichs Polen einmarschiert war – erwies sich plötzlich als Nachkomme Johanns III. Sobieski. Die Abstammung des Wittelsbachers wurde nicht angezweifelt, doch die Deutschen wussten, dass dies allein zur Legitimierung ihrer Herrschaft nicht ausreichen würde. Geschickt hielten sie die Stimmung hoch, indem sie die Gründung einer polnischen Universität und eines Polytechnikums erlaubten oder in Straßennamen Russen durch Polen ersetzten (so wurde die nach dem russischen General und Unterdrücker des Januaraufstands von 1863/64 benannte Berg-Straße zur Traugutt-Straße – in Erinnerung an den letzten Anführer dieses Aufstands). Bei dieser Gelegenheit wurden auch die Namen russischer oder russifizierter Orte entfernt: Die Erywańska-Straße wurde zur Kredytowa-Straße, die Nowoaleksandryjska-Straße zur Puławska-Straße (eine logische Folge der Rückbenennung von Puławy) usw. Der Galizier August Krasicki, der die Stadt einige Monate nach dem Beginn der deutschen Besatzung besuchte, notierte:

Die Schilder an den Geschäften sind ausschließlich polnisch, nur selten sieht man an hohen Mauern noch ein russisches, an den Lampen [sic] mit den Hausnummern sind die russischen Straßennamen verdeckt, es blieben nur die Straßenschilder an den Kreuzungen. Nur auf Polnisch sind die neu benannten: Allee des 3. Mai (die Verlängerung der Jerozolimskie-Allee bis zur Poniatowski-Brücke), Warecki-Platz, Stanisław-Małachowski-Straße.32

Es verschwanden auch die russischen Denkmäler, freilich nicht alle sofort. Im monarchischen Europa war man zurückhaltend mit der Zerstörung von Monumenten, die an gekrönte Häupter und imperiale Armeen erinnerten. Anfangs wurden die Denkmäler eher evakuiert als zerstört. In Wilna demontierten die abrückenden Russen die Denkmäler Katharinas der Großen, Murawjows und Puschkins (dieses Ereignis diente dem deutschen Dichter und Dramatiker Herbert Eulenberg als Ausgangspunkt zu einer Miniatur über sich gegenseitig vom Sockel stoßende Denkmäler33). Nach der Abdankung Nikolaus II. legte man die Zurückhaltung ab. 1917 „fiel“ der Großteil der noch existierenden zaristischen Denkmäler in der ehemaligen Gouvernementshauptstadt; die restlichen wurden in der Zwischenkriegszeit entfernt.

In den von russischen Herrschaftssymbolen befreiten Stadträumen erblühte das von der deutschen Obrigkeit konzessionierte kulturelle und politische Leben. Während seines Aufenthalts in Warschau sah August Krasicki im Sommer-theater

[…] das Stück Medal 3-go Maja [Die Medaille des 3. Mai] von Kozłowski, eine Satire auf die Warschauer Verhältnisse vor 25 Jahren unter den Moskowitern. Figuren sind Lew Juchtin (Apuchtin), der Kurator Iwan Tulio (Jankulio) sowie Professor Ochorowicz und Eusapia Palladino. Alle ähneln den realen Vorbildern. Ein solches Stück wäre vor einem Jahr undenkbar gewesen, daher wurde jede Anklage oder Kritik der russischen Herrschaft mit tosendem Beifall quittiert.34

Tatsächlich waren die ersten Reaktionen der Einwohner auf die neue Nationalitätenpolitik positiv. Die Warschauer Gesellschaft begrüßte die Eröffnung der Universität und des Polytechnikums im November 1915. An beiden Hochschulen trat das Polnische an die Stelle des Russischen. Zum ersten Mal in der Geschichte wurden Frauen nicht diskriminiert, sondern erhielten dieselben Rechte wie Männer. All diese Veränderungen passten hervorragend zu den deutschen Vorstellungen von ihrer zivilisatorischen Mission. Zugleich war die Eröffnung der beiden Hochschulen eine heikle, weil im Alltag hochpolitische Sache. Ab dem 23. September galten in Warschau ein Demonstrations- und Versammlungsverbot. Man konnte sich leicht vorstellen, dass die neuen Milieus – Hunderte, später Tausende Studenten, das heißt junge, halbwegs gebildete, oft energische und noch öfter patriotische Menschen – dem öffentlichen Leben ein neues, aus Sicht der Besatzer unnötiges Element hinzufügen würden. Beide Seiten waren sich der Risiken bewusst. Als daher der Referent für polnische Angelegenheiten und amtliche Kurator beider Hochschulen, Graf Bogdan von Hutten-Czapski, dem Generalgouverneur Hans von Beseler die designierten Rektoren von Universität und Polytechnikum vorstellte, versicherten diese laut dem offiziellen Kommuniqué, die entstehenden Hochschulen wollten allein „der Wissenschaft dienen“35. Der Generalgouverneur tat, als glaube er das.

Die Information über diese Audienz erschien am selben Tag wie die amtliche Bekanntmachung über die Requisition aller Pelzmäntel in Warschau. Hutten-Czapski glaubte dennoch, die Deutschen hätten ihr Propagandaziel erreicht:

Die Eröffnung der beiden Hochschulen ging keineswegs spurlos an der polnischen Öffentlichkeit vorbei […] Unter russischer Herrschaft wäre das nicht zu denken gewesen, da wurden höchstens nur Versprechen gemacht.36

Kurz darauf wurde im Haus der masowischen Fürsten in der Warschauer Altstadt eine Ausstellung von Erinnerungsstücken an den Novemberaufstand eröffnet, die auch Gouverneur Beseler in Gesellschaft von Offizieren besuchte. Den Höhepunkt erreichte die deutsch-polnische Zusammenarbeit nach rund einem Jahr. Am 5. November wurde offiziell die Schaffung eines polnischen Staates angekündigt. Der Rahmen der Feierlichkeit, während der die recht vage Bekanntmachung verlesen wurde, belegte sowohl den Großmut als auch die Stärke des Besatzers:

Das Wetter spielte mit, der Tag war schön wie selten zu dieser Jahreszeit. Die ganze Stadt war mit Nationalflaggen geschmückt. Im Schlosshof und vor dem Schloss machten sich die Studenten von Universität und Polytechnikum, die Schüler der Mittelschulen sowie ganze Heerscharen von Verbänden und Organisationen bereit. […] In der großen Säulenhalle hatten sich rund 600 geladene Gäste versammelt. Den Kordon hielten die Legionäre. Beseler verlas inmitten des gesamten Armeestabs und anderer Würdenträger die Proklamation, die von Hr. Hutten-Czapski anschließend auf Polnisch wiederholt und außerdem vom Schlossbalkon verlesen wurde. In diesem Moment zog man am Schloss polnische Flaggen neben den deutschen auf. Der mächtige Ruf aus Tausenden Kehlen: „Es lebe das unabhängige Polen!“ erscholl im Saal, im Hof und auf dem Schlossplatz.37

Die Nationalitätenpolitik der Mittelmächte beschränkte sich keineswegs auf die von ihnen besetzten Gebiete. Von 1916 an nahm eine vom deutschen Außenministerium finanzierte Aktion zur Unterstützung des Unabhängigkeitsstrebens der nichtrussischen Völker im Zarenreich Fahrt auf. Im Juni trafen sich Aktivisten aus Polen, der Ukraine, Estland, Lettland, Litauen, Kalmückien, Kasachstan, Kirgisien, Georgien, Tatarstan, Aserbaidschan und Dagestan sowie Deutsch-Balten zu einer Konferenz in Lausanne in der neutralen Schweiz. Ihre gemeinsame Erklärung, in der Russland wegen Missachtung der Rechte der nichtrussischen Volksgruppen verurteilt wurde, war an US-Präsident Wilson persönlich gerichtet. Der auch in Skandinavien verbreitete Text stieß auf ein reges Echo und brachte die Staaten der Entente in eine missliche Lage. Die von den Konferenzteilnehmern vorgebrachten Anklagen waren begründet und der Verdacht, dass hinter all dem eine deutsche Intrige stecke, wurde offiziell erst nach Kriegsende bestätigt.38

Nicht nur in Deutschland und Österreich-Ungarn verbanden auch die jüdischen Gemeinden große Hoffnungen mit dem Krieg gegen Russland. Das Zarenreich galt nicht unbegründet als Hort des europäischen Antisemitismus, während die deutsche und die k. u. k. Regierung bei Kriegsbeginn jegliche antisemitische Propaganda in ihren Ländern im Keim erstickt hatten. Für politisch aktive Juden ergab sich daraus die logische Schlussfolgerung, der Weltkrieg sei vor allem ein Kampf gegen Russland. Kein Wunder also, dass die jüdischen Organisationen im Deutschen Reich und in der Donaumonarchie der Parole „Gott strafe England“ eher reserviert gegenüberstanden und sie gegen eine andere austauschten: „Rache für Kischinau“ (wo 1903 die russische Obrigkeit eines der größten Pogrome der Geschichte angestiftet hatte). Die jüdischen Soldaten der Mittelmächte zogen in den Osten, um ihre Glaubensbrüder vor Verfolgung zu schützen, aber auch, um sie zu zivilisieren und die schmutzigen Chalatträger an das Ideal des aufgeklärten deutschen Judentums heranzuführen. Die jüdische Frage fügte sich – wiewohl unter anderen Bedingungen – ebenso gut ins Programm der zivilisatorischen Mission wie die polnische, ukrainische oder litauische.

In den vormals russischen Gebieten konnten die Mittelmächte ohne große Schwierigkeiten als Befreier auftreten und diese Rolle mindestens so lange spielen, solange die wirtschaftliche Ausbeutung der besetzten Länder sie nicht die letzten Sympathien kostete. Anders war es in Serbien und Rumänien. Hier wäre das Spiel mit dem heimischen Nationalismus zu gefährlich gewesen: Sowohl die serbische als auch die rumänische Armee waren zwar geschlagen und aus dem Land vertrieben, hatten aber nicht kapituliert. Deshalb versuchten die österreichisch-ungarischen und deutschen Besatzer auf dem Balkan jegliches Nationalgefühl zu unterdrücken und die Solidarität der sozialen Gruppen zu zerschlagen. Für das mit dem Krieg verbundene Leid machten sie die Regierenden und die Eliten verantwortlich. Sie wandten sich direkt ans „Volk“, dem sie versicherten, es sei „tausendmal besser […] als seine Führer“39. Da die lokalen Eliten versagt hatten, musste das Imperium die Rolle des Schutzherrn übernehmen. Charakteristisch für diese Haltung ist ein Satz aus einem offiziellen Bericht des Militärgouvernements in Belgrad: „Möge diese Arbeit Oesterreich-Ungarns Wehrmacht zum ewigen Ruhme, dem autochtonen Volke jedoch zum bleibenden Wohle gereichen.“40 Zumindest eine Zeit lang konnte es scheinen, als sei dieses Manöver geglückt. Auf dem rumänischen Land übernahmen die deutschen Soldaten so glatt die Rolle der neuen Herren, dass bis zum Sommer 1918 größere Unruhen ausblieben. In Serbien, vor allem aber in Montenegro, formierte sich früher bewaffneter Widerstand, doch die Gründe dafür lagen eher in der Verschlechterung der Versorgungslage als in der Politik.

Wissenschaftliche Eroberungen

Ein Instrument der „Okzidentalisierung“ Ostmitteleuropas und des Balkans waren die Wissenschaften, allen voran Ethnografie, Anthropologie und Geografie. Die Einwohner der besetzten Gebiete (und auch des balkanischen Verbündeten Rumänien) waren für die Eroberer ein interessanter Forschungsgegenstand. Gelegenheiten zur Erkundung der lokalen Eigentümlichkeiten gab es zuhauf. Während des Kriegs stieg die Anzahl der Deutschen und Österreicher, die diese bis dahin exotischen Gegenden persönlich kennenlernten, sprunghaft an. Meist kamen sie als Soldaten:

Tausende von Deutschen haben ja durch den Krieg den Balkan kennen gelernt. Durch Schnee und Schlamm haben unsere Feldgrauen den serbisch-mazedonischen Feldzug mitgemacht. Dann kamen deutsche Ärzte, Schwestern und Krankenpfleger über Rumänien nach Bulgarien. Deutsche Telegraphenund Eisenbahntruppen leisteten dem Verbündeten ein gewaltiges Maß wertvoller Hilfsarbeit und kamen in jeden Winkel des schönen Landes. Dann wieder hatten deutsche Truppen teil an der Abwehr der Sarrail-Offensive im Süden und an dem Siegeszug durch die Dobrudscha gen Norden. Deutsche Flieger schützten in der Luft die Hauptstadt gegen französische Bomben, sicherten Varna gegen feindliche Angriffe zur See. Deutsche Zeppeline überquerten, aus Ungarn kommend, den ganzen Balkan. Auch eine Anzahl deutscher Reichstagsabgeordneter endlich fand Gelegenheit zu genußreichen Fahrten kreuz und quer durch bulgarische Lande.41

Unter den Teilnehmern der Feldzüge auf dem Balkan mangelte es nicht an Menschen mit Interesse an der dortigen Natur, Bevölkerung und Kultur. Von 1915 an wurden mit den militärischen Erfolgen der Mittelmächte immer größere Teile Ostmitteleuropas und des Balkans zum Objekt ethnografischer, geografischer und anthropologischer Forschungen. Wissenschaftler und Amateurfotografen suchten insbesondere nach „typischen“ Bildern von Einheimischen in lokalen Trachten. Außerdem sammelten sie alle möglichen Artefakte. In einigen Fällen schaltete sich der Staat ein. Die bulgarische Regierung finanzierte zwei Expeditionen zur Erforschung der Geografie und der Bevölkerung der Dobrudscha und Makedoniens. In letztgenannter Provinz waren auch deutsche Forscher der Makedonischen Landeskommission (Malako) aktiv. Die Österreicher wiederum unternahmen zoologische und ethnografische Reisen durch Serbien und Montenegro. Die Ergebnisse dieser Aktivitäten wurden bereits während des Kriegs in deutschen und österreichischen Verlagen publiziert – als Beleg für die zivilisatorischen Verdienste der Besatzer. Allerdings waren die Ethnologen in Uniform nur in einigen Ausnahmefällen die ersten Erforscher einer bis dahin unbekannten Kultur.

Handbuch von Polen

Ein knappes Jahr nach der Einnahme Warschaus durch deutsche Truppen setzte Gouverneur Beseler die Landeskundliche Kommission ein. Sie bestand ausschließlich aus deutschen Wissenschaftlern, ihr erster Vorsitzender war der Geograf Max Friederichsen. Im ersten Jahr ihrer Tätigkeit konzentrierte man sich auf das Sammeln von Material: Zeitschriften und Bücher zur Geografie und Ethnografie der polnischen Gebiete, Fotos, Landkarten, Bodenproben und Mineralien. Von 1917 an erschienen die Ergebnisse der Kommission in gedruckter Form. Oberste Priorität hatte für den Gouverneur ein monumentales Kollektivwerk mit dem gewichtigen Titel Handbuch von Polen. Er betrachtete es nicht nur als wissenschaftliche Arbeit, sondern auch als politischen Akt, als Symbol für die Überlegenheit der deutschen Regierung über das Zarenregime. Im Geleitwort schrieb er:

Die Arbeit sollte außer dem wissenschaftlich praktischen Ergebnis auch Zeugnis davon ablegen, daß die deutsche Verwaltung eines im Kriege eroberten und besetzten Landes neben ihren militärischen, politischen und Verwaltungsaufgaben auch die Gelegenheit zur Lösung wissenschaftlicher, durch die Zustände des Landes bedingter oder angeregter Arbeiten zu erfassen gewußt hat.

So möge denn das Buch zum rechten Verständnis wahren deutschen Geistes beitragen.42

Josef Partsch schlug in seiner lobenden Rezension des Handbuchs in der

So eröffnet der gehaltvolle Band dem Wissensdrang und Unternehmungsgeist reiche Quellen unschätzbarer Belehrung; er ist nicht nur für das deutsche Volk, sondern auch für die gebildete Bevölkerung Polens eine gewichtige Gabe, wie sie noch kein Volk seinen Befreiern aus hoffnungsloser Knechtschaft zu danken hatte.43

Die Reaktionen polnischer Spezialisten entsprachen diesen Erwartungen mitnichten. Der mit zweijähriger Verspätung erschienene Jahrgang 1917 des Sachmagazins KOSMOS enthielt umfangreiche und mit deutschen Zusammenfassungen versehene Besprechungen aller Artikel des Handbuchs. Die Urteile waren vernichtend. Ein zentraler Vorwurf betraf das Unwissen nicht nur polnischer, sondern auch ausländischer Verfasser von Arbeiten über die polnischen Gebiete. Im Handbuch wurden ausschließlich Deutsche zitiert. Einen Eindruck vom Ton der Rezensionen vermittelt eine Passage aus Jan Stanisław Bystrońs Ausführungen zum ethnografischen Teil des Werks:

In den Wäldern hausen böse Göttinnen, Mittagsfrauen, Feen und Werwölfe; über ihnen herrscht der Waldgeist. Was für eine seltsame Natur, die sich nichts ohne Hierarchie und obendrein noch eine fremde vorstellen kann, denn der Waldgeist ist wahrhaftig von der Abstammung her Russe. […] Der Aufsatz eines achtjährigen Hans in der Volksschule in „Hohensalza“ oder einem anderen urdeutschen Ort zum Thema „Das Erntefest bei den Wasserpolen“ läse sich wohl kaum anders.44

Für die harschen Reaktionen gab es mindestens zwei Gründe. Erstens sprach aus ihnen gekränkter Ehrgeiz. Nicht zu Unrecht betrachteten die polnischen Gelehrten die über ihre Köpfe hinweg geäußerten Befunde zu Polen als Symptom einer imperialistischen Haltung. Die fachlichen Mängel der Artikel boten ihnen Anlass zu einer spektakulären Abrechnung mit den von der eigenen Überlegenheit überzeugten deutschen Wissenschaftlern, die eigentlich Amateure waren. Zweitens war die polnische Kritik politisch motiviert. Die Autoren des Handbuchs schrieben ausschließlich über Kongresspolen, das von den polnischen Ostgebieten zusätzlich durch eine natürliche Grenze getrennt sei. Außerdem betrachteten sie die Region als nach allen Seiten hin offenes Durchgangsgebiet ohne besondere Merkmale, das dazu bestimmt sei, in ein deutsches Mitteleuropa integriert zu werden. Diese Sicht entsprach zweifellos der damaligen Politik des Deutschen Reichs. Der Hauptvorwurf der polnischen Rezensenten richtete sich daher gegen die politische Instrumentalisierung der Wissenschaft. Bystroń kritisierte in seiner Besprechung die „Regionalgymnastik“, wie er Arved Schultz’ Versuch nannte, ethnografische Gruppen mit bestehenden politischen Grenzen zu korrelieren:

Ähnlich wie die „westliche Gruppe“ die Polen unter preußischer Herrschaft als Gruppe isolieren soll, die deutlich verschieden ist und keinerlei Tendenzen zeigt, sich mit dem polnischen Kern im Königreich zu vereinen, so entspricht die Einteilung in eine nördliche und eine südliche Gruppe mehr oder weniger den Grenzen der deutschen und österreichischen Besatzung. Ob diese Einteilung ebenfalls gewisse „vollendete Tatsachen“ legitimieren soll oder ob er nur eine gewisse geistige Ohnmacht und Unfähigkeit belegt, ethnische Verhältnisse anders zu betrachten als durch das Prisma der Staatspolitik, vermag ich nicht zu sagen.45

Das Handbuch von Polen zeigt exemplarisch für die deutschen und österreichisch-ungarischen Aktivitäten in Kultur und Wissenschaft, woran das Projekt der Zivilisierung des Ostens krankte. Man setzte sich hohe Ziele, doch den Akteuren, die sie verwirklichen sollten, fehlte die fachliche Kompetenz. Ihre politische Beschränktheit und nicht selten nationalistischen Einstellungen verärgerten zudem jene, von denen man Dankbarkeit erwartete: die intellektuellen Eliten Ostmitteleuropas. In diesem Teil Europas war es für eine Kolonisierung schon zu spät.

Die Anerkennung für die deutschen und österreichischen ethnografischen Forschungen während des Kriegs schwindet, sobald man sich die konkreten wissenschaftlichen Ergebnisse anschaut. Die meisten Arbeiten basieren nicht auf soliden Forschungen (für die der Krieg keine Zeit ließ), sondern erinnern eher an Reiseberichte. Insofern verwundert es nicht, dass die Autoren selten über die stereotypen Bilder des Ostens und des Balkans hinausgingen. Ein Extrembeispiel war Montenegro. Das arme, rückständige, bergige Land mit seiner kriegerischen Bevölkerung weckte Interesse und Abscheu zugleich. Die mythologisierte Gestalt des balkanischen Bergbewohners als geborener Krieger und lebendes Relikt der Stammesordnung faszinierte die Autoren ebenso wie die „gesunden“ patriarchalischen Verhältnisse, die sich in einem besonders niedrigen Sozialstatus der Frau manifestierten.46 Die Anthropologen suchten nach besonderen Rassemerkmalen, die für die montenegrinische Lebensweise verantwortlich seien. Sie nahmen an, dass ein Volk, das sich ständig im Kampf befand, über besonders wertvolles Erbgut verfügen müsse. Freilich ging das Interesse nicht immer mit Sympathie und Empathie einher. Dieselben Anthropologen, Ethnografen und Geografen rühmten die Erfolge der Monarchie bei der Zivilisierung des wilden und ungastlichen Landes, denen sie mitunter größere Aufmerksamkeit als dem eigentlichen Thema ihrer Arbeiten schenkten. Einer der renommiertesten Wissenschaftler, die während des Kriegs das österreichischungarische Besatzungsgebiet besuchten, der Wiener Geograf und Anthropologe Eugen Oberhummer, konzentrierte sich in seinem Bericht für die Zeitschrift der k. u. k. Geographischen Gesellschaft vor allem auf die größte Infrastrukturmaßnahme: die Errichtung einer über den Berg Lovćen führenden Seilbahn zum Gütertransport zwischen dem österreichisch-ungarischen Hafen Kotor und Cetinje.47

Auch die Expeditionen nach Makedonien, dem Lieblingsziel von Wissenschaftlern der Mittelmächte, brachten keine bahnbrechenden Entdeckungen. Die Beobachtungen vor Ort bestätigten die bestehende Auffassung: Die Zivilisation war noch nicht in der Region angekommen. Der deutsche Zoologe Franz Dorflein schrieb über Skopje: „Nur die von den deutschen Truppen errichteten oder ausgebauten Häuser machten einen erträglichen Eindruck.“48 In anthropologischer Hinsicht weckten die kriegerischen, halbwilden albanischen Bergbewohner ein gewisses Interesse. Die deutschen Forscher vermuteten nämlich eine entfernte Rassenverwandtschaft mit den Bayern. Ansonsten dominierten in der Provinz rassische „Mischtypen“, die nicht zu entwirren und überdies – wie der gesamte Osten – von einer dicken Schmutzschicht bedeckt waren:

In den Straßen von Prilep tummelten sich spielende Kinder, die man hätte mit deutschen Kindern verwechseln können, mit ihren noch dazu sonnengebleichten, flachsfarbenen Haaren und leuchtend blauen Augen. Auf die Dauer war eine solche Verwechslung allerdings nicht möglich; denn so verlumpte, verschmutzte, verwahrloste Kinder gab es in Deutschland nirgends.49

Mit Kriegsende ließ das Interesse deutscher und österreichischer Wissenschaftler für die Ethnografie Ostmitteleuropas und des Balkans schlagartig nach. Dies ist wohl das sicherste Indiz dafür, dass die entsprechenden Forschungen konjunkturell bedingt waren. Die Beschreibung der Nationalitäten, Kulturen und sogar der Natur der fremden Länder diente vor allem der Affirmation der zivilisatorischen Leistung der Besatzer. Der zivilisatorische Wandel interessierte die Forscher mehr als die Gegebenheiten vor Ort.

Die fünf Minuten Bulgariens

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte keiner der Balkanstaaten in Europa eine gute Presse. Schon während des Kriegs der bulgarisch-serbisch-griechisch-montenegrinischen Koalition gegen das Osmanische Reich waren Informationen über Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung an die Öffentlichkeit gelangt. Wenig später veröffentlichte eine Kommission der Carnegie-Stiftung für den internationalen Frieden einen ausführlichen Bericht, der alle kämpfenden Parteien gleichermaßen belastete. Derartige Meldungen fügten sich sehr gut in das stereotype Bild des wilden, für „primitive Wortwechsel und urwüchsige Arten der Konfliktlösung“50 bekannten Balkans. Das weltweit mit Empörung aufgenommene Attentat von Sarajevo verschlechterte, sofern das überhaupt möglich war, das Image der Region zusätzlich. Es war also wenig erstaunlich, dass die österreichisch-ungarische „Strafexpedition“ gegen Serbien auf dieses Stereotyp zurückgriff und den Gegner als gewöhnlichen Kriminellen und nicht als Rivalen behandelte. Erst als 1915 Bulgarien an der Seite der Mittelmächte in den Krieg eintrat, änderte sich die Situation grundlegend, weil sich die Bewertung der Völker und Staaten Südosteuropas verkomplizierte.

In den Jahren 1915–18 stieg das Interesse an dem balkanischen Verbündeten in den mitteleuropäischen Monarchien stark an. An die Stelle der früheren Geringschätzung trat die Bewunderung für die Tapferkeit der bulgarischen Soldaten, für die Dynamik des jungen Staates und nicht zuletzt für den Nationalcharakter der Bulgaren:

Der Charakter des Bulgaren wird durchweg gelobt. Seine hervorstechenden Eigenschaften sind Schlichtheit, Nüchternheit, Sparsamkeit, Vaterlandsliebe und Gefälligkeit, selbst Opferwilligkeit […]. Es zeichnet den Bulgaren ferner Arbeitsfreudigkeit und Strebsamkeit, verbunden mit großer Ausdauer, aus. Schließlich fällt an ihm noch ein starkes Bedürfnis nach Bildung auf. Vom Temperament ist er ernst und beharrlich, aber für die hohen Aufgaben, die seines Volkes warten, sehr begeistert.51

Diese Ansammlung von Vorzügen passte nicht zum stereotypen Bild des balkanischen Wilden. Deshalb musste man die Bulgaren von den weniger edlen Nachbarn, zumal Serben und Montenegrinern, abgrenzen:

Unter den verschiedenen Völkern der Balkanhalbinsel nehmen die Bulgaren entschieden den ersten Rang ein, denn es dürfte wohl kein zweites geben, das durch seine Tapferkeit, Vaterlandsliebe und Intelligenz und sein Streben nach Höherem sich so vorteilhaft vor den anderen auszeichnet wie gerade das Volk der Bulgaren. […] Mit Recht verdient es dieses Volk des europäischen Orients, daß es mehr als bisher in den Gesichtskreis der Abendländer gerückt wird, daß wir uns mehr und eingehender mit ihm beschäftigen, es kennen und verstehen lernen, um auf solchem gegenseitigen Verstehen die Bundesfreundschaft weiter zu pflegen.52

Das intensive Interesse am Bündnispartner blieb nicht auf die wohlwollende Betrachtung der Kultur und der Sitten beschränkt, sondern bezog auch eine dem Auge verborgene Sphäre ein: das Innere des menschlichen Körpers. Eine logische Konsequenz aus der These, dass die Bulgaren auf dem Balkan eine in fast jeder Hinsicht positive Ausnahme seien, war der Wunsch, ihnen unter die Haut zu schauen, ihre ethnische und rassische Herkunft neu zu erforschen. Die „Preußen des Balkans“, wie sie in deutschsprachigen Publikationen genannt wurden, unterschieden sich angeblich von den slawischen Bewohnern der Halbinsel, wenngleich die Verfechter dieser These in den Details uneins waren. Im Einklang mit dem historischen Wissen nahm man eine Verbindung zu den asiatischen Protobulgaren an. Diesen Faktor betonte bezeichnenderweise der Budapester Orientalist Adolf Strausz.53 Er verwies auf Ähnlichkeiten zwischen den fleißigen bulgarischen Bauern und ihren ungarischen Verwandten (die sich ebenfalls auf die Abstammung von Wolganomaden beriefen). Kühner argumentierten einige deutsche Anthropologen, die in den Bulgaren die ursprünglichen thrakischen Bewohner der Balkanhalbinsel zu erkennen glaubten. Einige besonders originelle deutsche und bulgarische Forscher sahen in den Bulgaren Nachfahren der germanischen Goten. Gantscho Tzenoff, das Enfant terrible der bulgarischen Archäologie, vertrat in einigen während des Kriegs in Deutschland publizierten Arbeiten die These, dass Thraker, Goten, Illyrer, Makedonier und selbst Hunnen (also so gut wie alle Völker, die im Laufe der Geschichte auf dem Gebiet des heutigen Bulgarien ansässig waren) eine einzige, mit den Bulgaren identische Volksgruppe darstellten.54 Die dergestalt durch Beobachtungen und physiognomische Messungen vermeintlich bestätigte Verwandtschaft des balkanischen Verbündeten mit den Germanen erleichterte den Kriegspublizisten die Arbeit sehr. Nachfahren der Goten durfte man weder Schmutz noch Barbarei nachsagen.

Sofia nutzte die Gunst der Stunde zur Umsetzung seiner Expansionspläne. Ein nicht geringer Teil der dem Verbündeten gewidmeten deutschen und österreichisch-ungarischen Publikationen befasste sich nämlich mit den „natürlichen“ Grenzen des Landes. Ganze Scharen von Ethnografen befassten sich etwa mit Makedonien und wiesen nach, dass dort ausschließlich Bulgaren lebten. Die bulgarischen Ambitionen reichten jedoch sehr viel weiter. Das im Januar 1916 vom Parlament in Sofia festgelegte Kriegsziel bestand in der Vereinigung aller Bulgaren – auch jener, die sich noch nicht als solche empfanden – in den Grenzen einer Monarchie. Der territoriale Zuschnitt des Staates wurde durch die drei Farben der Nationalflagge symbolisiert: Schwarz stand für das Schwarze Meer, Weiß für die Ägäis und blau für die Adria. Weder das Deutsche Reich noch die Donaumonarchie unterstützten die Annexionspläne ihres Verbündeten. Die in Kriegspublikationen erklärte Freundschaft kränkelte auch an der Basis, wo in den Schützengräben deutsche und bulgarische Soldaten aufeinandertrafen. Die an die Saloniki-Front entsandten Offiziere berichteten in Briefen in die Heimat voller Abscheu von den Gräueltaten der Bulgaren. Von Nahem betrachtet, entsprachen die „Preußen des Balkans“ nicht ganz dem von der Propaganda verbreiteten Bild. Selbst während gemeinsamer Gelage fühlte sich mancher Ankömmling aus dem Reich unsicher, wenn die bulgarischen Gastgeber eines der populärsten Soldatenlieder aus dem Zweiten Balkankrieg anstimmten: „Unsere Verbündeten, die Verbrecher“.55

Bildung und Hygiene

Der Status der aufgeklärten Kolonialmacht, den Deutschland und Österreich-Ungarn in den besetzten Gebieten für sich beanspruchten, zwang sie geradezu zur Aufnahme von Bildungs- und Erziehungsaktivitäten im weitesten Sinne. Tatsächlich gründete man Universitäten und Schulen. Das zaristische Imperium kannte keine Schulpflicht; an vielen Orten markierte die Besatzung demzufolge einen Wendepunkt, einen Aufbruch hin zu (west)europäischen Standards. In Warschau führte das Bürgerkomitee am Tag der Einrichtung des Generalgouvernements, das heißt 18 Tage nach der Einnahme der Stadt durch die Deutschen, die allgemeine Schulpflicht ein.

In den von Russland und Rumänien eroberten Gebieten wurde in der jeweiligen Volkssprache und in Deutsch unterrichtet, die Lehrer waren oft Einheimische. Man verlangte von ihnen, dass sie rasch Deutsch lernten und dem neuen Monarchen die Treue schworen, ließ ihnen ansonsten aber weitgehend freie Hand. Die Gründung von Lehrerseminaren für Frauen sorgte zwar für Empörung unter örtlichen Konservativen, doch diese Art von Protest gegen den sozialen und kulturellen Fortschritt bereitete den Besatzern kaum Sorgen. Anders verhielt es sich mit der österreichisch-ungarischen Bildungspolitik in Serbien. Die Österreicher hielten die existierenden staatlichen Schulen für Brutstätten des Nationalismus. Deshalb mussten sie ihre Tätigkeit einstellen, man tauschte die Lehrkörper aus und führte völlig neue Lehrpläne ein. Nur in Ausnahmefällen wurden die früheren serbischen Lehrer wieder in den Schuldienst aufgenommen, allerdings keine Frauen, denn Conrad von Hötzendorf hielt sie für besonders fanatische serbische Chauvinistinnen.56 Die Österreicher verbannten auch das Kyrillische aus den Schulen. Die neuen Lehrer waren oft Soldaten, deren Kompetenz sich auf die Kenntnis der Landessprache beschränkte. Dieses Personal konnte natürlich keine Bildung auf angemessenem Niveau gewährleisten. Einen positiven Einfluss der österreichischen Bildungspolitik auf die serbische Zivilbevölkerung entdeckte man in einem anderen Bereich. Die Schüler wie überhaupt die ganze Gesellschaft sollten sich die „mitteleuropäischen Werte“ aneignen: Fleiß, Ordnung, Sauberkeit, Zuverlässigkeit. Ein darauf ausgerichtetes Programm konnten die in die Schulen abkommandierten Unteroffiziere der Reserve sicherrealisieren.

Die Erziehung der neuen Untertanen erfolgte nicht nur in der Schule. Die österreichischen Propagandisten priesen etwa die Erfolge bei der Einführung neuer Formen der intensiven Landwirtschaft:

Der serbische Bauer, dem ein großes Quantum orientalischer Trägheit im Blut sitzt, sieht sich plötzlich durch Beispiel und sanften Druck gezwungen, sein Land tüchtig zu bearbeiten und nicht nur darauf zu warten, daß sich das Vieh auf der Weise sattfrißt und daß die Sonne Kukuruz und Pflaumen reift. Und staunend gesteht er ein, daß auf weiten Landstrichen nie soviel Boden bebaut worden ist, als in diesem Jahr.57

Deutsche und Österreicher beuteten den besetzten ländlichen Raum energisch aus. Gleichzeitig versuchten sie, die Qualität von Ackerbau und Viehzucht zu steigern. Ein Beispiel waren die Bemühungen der k. u. k. Verwaltung in den ihr unterstellten Teilen des Königreichs Polen. Einerseits verschlechterte sich mit jedem Monat die Versorgung mit Nahrungsmitteln, zumal mit Fleisch. Andererseits taten die Behörden einiges, um den einheimischen Viehzüchtern zu helfen. 1916 ließ man Zuchtbullen, Medikamente und Veterinäre aus Deutschland kommen. Fleischmärkte, Wochenmärkte, Schlachtung und Bestattung der Kadaver – alle Etappen der Fleischproduktion und des Handels wurden von den Sanitärbehörden kontrolliert. Dabei betonte die Verwaltung, alle Maßnahmen seien zum Nutzen der einheimischen Bevölkerung, während Informationen und Gerüchte über Lebensmittelexporte nach Deutschland und Österreich-Ungarn unterdrückt wurden.

Das Gebiet, auf dem die Leistungen der Besatzer besonders sichtbar waren und das die Propaganda von der zivilisatorischen Mission im Osten am liebsten thematisierte, war die Hygiene. Laut Vejas Gabriel Liulevicus wurde „die Reinigung“ zum „eindringlichsten Symbol“ der deutschen Herrschaft, während „der Schmutz“ die zaristische Herrschaft symbolisiert habe.58 Friedrich Wallisch schrieb: „Reinlichkeit und Ordnung, wie sie selbst nach Aussage unserer ärgsten Gegner Belgrad nie gekannt hat, beherrscht das Stadtbild […].“59 Derartige Aussagen waren nicht bloß Propaganda. Auch Beobachter, die Deutschen und Österreichern alles andere als wohlgesinnt waren, räumten ein, dass sie das Problem ernsthaft angingen. Erzbischof Kakowski erwähnt eine typische Maßnahme der Besatzungsbehörden:

Erfolgreich, pedantisch bekämpfte man Infektionskrankheiten. Reisende in Eisenbahnzügen mussten eine „Entlausungs“-Karte vorweisen. Ich selbst, oh Wunder, besaß eine solche Karte, das Amt hatte sie mir zugesandt. Ohne Entlausungskarte wurde niemand in den Bahnwaggon gelassen.60

Gewöhnliche Fahrgäste erhielten die Entlausungskarten nicht vom Amt. Das System war durchdacht und effizient. Man nutzte unter anderem Entlausungsstationen, die vor 1914 in deutschen Hafenstädten Auswanderern auf dem Weg in die USA gedient hatten. Insgesamt waren im Hinterland der Ostfront 18 Stationen für Soldaten, Arbeiter und sonstige Bahnreisende in Betrieb. Pro Tag konnten 45.000 Personen behandelt werden.

In allen Gebieten unter deutscher und österreichisch-ungarischer Besatzung wurden Schutzimpfungen eingeführt und epidemiologische Labors eingerichtet. Die k. u. k. Behörden in Serbien rühmten sich vor allem ihrer Erfolge im Kampf gegen den Flecktyphus, der kurz zuvor noch serbische Soldaten und österreichisch-ungarische Kriegsgefangene dezimiert hatte. Jede Gemeinde war verpflichtet, in einem gesonderten Gebäude eine epidemiologische Krankenstation einzurichten. Vor den Türen standen Wachen und die in den Stationen beschäftigten Ärzte (die aus Österreich-Ungarn kamen) waren in ständigem Kontakt mit der Zentrale in Belgrad. In Kongresspolen nutzten die deutschen Militärs die Hilfe von Rabbinern, die ihre Gläubigen zur Hygiene aufforderten. Man griff auch zu härteren Methoden. Die Impfaktionen, vor allem auf dem Land, waren ebenso verpflichtend wie die Entlausungsaktionen. Nicht selten nutzten Ärzte die Gelegenheit der Entlausung (und den militärischen Beistand), um die Patienten in einem zu impfen.

Der deutsche Kampf gegen das Fleckfieber

Dr. Gottfried Frey (1871–1952) wurde in Schwetz (heute Świecie) geboren. Vor dem Krieg war er Kreisarzt in Oberschlesien und wohl deswegen wurde er 1915 zum Leiter der Medizinalverwaltung im Generalgouvernement Warschau berufen. Seine Hauptaufgabe sah Frey in der Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Besatzungsgebiet.

Besonders gefährlich erschien ihm das Fleckfieber (Typhus exanthematicus), das seit der Jahrhundertwende gefürchteter war als die Cholera. Frey bezeichnete es rückblickend als eine der größten Bedrohungen für die preußischen Grenzprovinzen, die Besatzungstruppen und die Einheiten an der Front. Man habe außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen müssen, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren, doch dank des Einsatzes aller verfügbaren Mittel der deutschen Epidemiebekämpfung sei es gelungen, die Gefahr weitgehend einzudämmen.

Im Deutschen Reich existierte das Fleckfieber vor Kriegsbeginn nur in der Erinnerung, die letzte Epidemie in Westpreußen datierte auf das Jahr 1881. Als unter den Soldaten an der Ostfront im Herbst 1914 Läuse auftauchten, waren die Ärzte zunächst ratlos. Bald entwickelten sie aber eine Methode zur Entlausung der soldatischen Kleidung durch Dampf. Ein größeres Problem waren die Zivilisten. Im frierenden und hungernden Lodz brach im Dezember 1915 eine Fleckfieberepidemie aus, die Dr. Frey und seine Kollegen zu radikalen Schritten veranlasste. Zur systematischen Entlausung befallener Viertel wurden sogenannte Entlausungskolonnen eingerichtet, die ganze Stadtteile durchkämmten und Häuser und Menschen untersuchten. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Juden: Die von ihnen bewohnten Teile der Stadt wurden amtlich zu Typhus-„Straßen“ oder gar - „Bezirken“ erklärt.

Als wichtigster Krankheitsüberträger galt die Kleiderlaus. Das Fleckfieber stand bald im Ruf einer „Judenkrankheit“, die durch den für diese Gruppe angeblich charakteristischen Schmutz verursacht werde. Dr. Frey und seine Kollegen unterschieden säuberlich zwischen jüdischem und christlichem Schmutz, zwischen jüdischen und polnischen Läusen:

Auch unsere Beobachtung aus der abgelaufenen Epidemie [in Lodz 1915/16], trotz dem sehr reichlichen Vorkommen von Kopfläusen in der polnischen Bevölkerung, spricht dagegen, daß die Kopflaus der Träger des Fleckfieberkeims ist. Kleiderläuse fand man nur bei Personen derjenigen Bevölkerungsschichten, die auf besonders niedriger Kulturstufe stehen. Das aber sind im Verwaltungsgebiete im allgemeinen die Juden und nicht die polnische Bevölkerung.

Dr. Frey entrüstete sich über den Widerstand der jüdischen Gemeinde, die den Entlausungskolonnen ablehnend gegenüberstand, die Anforderungen der Moderne nicht begriff und die getrennte Behandlung von Kranken und Gesunden hartnäckig sabotierte. Vom 1. Juli 1916 bis zum 1. Oktober 1918 entlausten die Deutschen 3,25 Millionen Menschen und über 480.000 Wohnungen. Allerdings ohne große Wirkung, denn die Hälfte der Fleckfieberfälle in der kurzen Geschichte des Generalgouvernements Warschau wurden im Winter 1917/18 verzeichnet.

Zur gleichen Zeit hielten die Österreicher das Fleckfieber für eine endemische Krankheit in der Bevölkerung des von ihnen besetzten Teils des Königreichs Polen. Für große sanitäre Aktionen fehlten ihnen die Mittel, also desinfizierten sie nicht Straßen und Stadtviertel, sondern einzelne Häuser und Wohnungen. Kranke wurden grundsätzlich nicht isoliert, sondern nach Möglichkeit durchgehend medizinisch betreut. Die Resultate waren nicht schlechter als Dr. Freys Ergebnisse.

Kein Besatzer vermochte auch die Tuberkulose zu besiegen, die mehr Opfer forderte als das Fleckfieber oder die Ruhr. Zum wichtigsten Feind wurde sie aber erst nach Kriegsende und nach dem Abflauen der Spanischen Grippe.61

Wie die Krankheitsstatistiken aller von den Mittelmächten besetzten Gebiete zeigen, waren neben der endemischen Tuberkulose das Fleckfieber und in den letzten Kriegsjahren die Grippe die größten Bedrohungen. Eine Ausnahme bildeten Makedonien und Rumänien, wo die Malaria wütete, doch auch dort war das Fleckfieber gefährlich. Die damaligen Statistiken, Diskussionen von Ärzten und Hygienikern oder Presseartikel vermitteln freilich den Eindruck, als habe eine ganz andere Epidemie den Besatzungsmächten die meisten Sorgen bereitet: Geschlechtskrankheiten. Syphilis und Gonorrhö wurden zu weiteren Feinden, die es auf dem Siegeszug nach Osten zu bezwingen galt.

Die Beobachter, die mit tiefer Abscheu den für die Region typischen Schmutz schilderten, waren zugleich sehr erstaunt über die Attraktivität der einheimischen Frauen: „Geschlechtskrankheiten sind unter den Zigeunern weit verbreitet und so unwahrscheinlich es klingt, nicht wenige unserer Soldaten, ja Offiziere haben sich in diesem Viertel [der ‚Zigeunerstadt‘ von Skopje] böse Infektionen geholt.“62 Offenbar waren auch die wissenschaftlichen Unternehmungen zur ethnografischen, zoologischen und geografischen Erforschung der Region nicht vor dieser Gefahr gefeit: „Eine Zigeunerin, welche zur Zeit der Besetzung eine gewisse Rolle als Dirne spielte, wurde viel photographiert und ist in manchem Album aus Makedonien als Typus der Zigeunerin abgebildet.“63

Der Kampf gegen Geschlechtskrankheiten beschäftigte die Besatzer nicht nur in Makedonien. Im ganzen besetzten Osten wurde er oft, wie sich an zahlreichen Beispielen zeigen ließe, zum Sinnbild der neu eingeführten Hygiene. Die besetzten Gebiete in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan waren nach allgemeiner Auffassung der Eroberer nicht nur hygienisch, sondern auch moralisch unrein, weshalb man gerade hier besondere Vorsicht walten lassen musste. Andererseits erforderten Gonorrhö und Syphilis eine Hospitalisierung, hinderten die betroffenen Soldaten also für einige Zeit am Dienst an der Front. Geschlechtskrankheiten waren daher nicht nur ein Problem der Infizierten, sondern auch des Staates. Außerdem – darauf verwiesen als Erstes die im Deutschen Reich einflussreichen Anhänger der eugenischen Bewegung – verkehrten die in den besetzten Gebieten infizierten Soldaten während Heimaturlauben mit ihren Gattinnen, wodurch sie Krankheiten verbreiteten und das Gespenst der damals panisch gefürchteten rassischen Degeneration heraufbeschworen. Hinzu kam, dass die Erkrankung zu Unfruchtbarkeit führte – ein weiterer schwerer Schlag für die künftige Wehrfähigkeit des Staates. All diese Umstände führten zu einer spezifisch verzerrten Wahrnehmung und trugen dazu bei, dass Hygiene und Gesundheitsfürsorge mit der Verhinderung von Geschlechtskrankheiten gleichgesetzt wurden. Der zugrunde liegende Mechanismus zeigt sich exemplarisch in Rudolf Lennhoffs Bericht von einem deutschen Ärztekongress 1916 in Warschau:

In Warschau selbst ist mit Entschiedenheit der Kampf gegen die Ansteckungsmöglichkeiten aufgenommen worden. Daß in einer solch großen östlichen Stadt, in der neben der Neigung zu dem Beruf eine stellenweise grenzenlose Armut große Mengen von Mädchen in die Prostitution treibt, die Ansteckungsmöglichkeiten groß sein müssen, leuchtet ohne weiteres ein. Zumal irgendeine sanitäre Überwachung und Fürsorge vordem unbekannt waren. Deshalb mußte zunächst eine Sittenpolizei eingerichtet werden zur Feststellung der Prostituierten, Erkennung, Absonderung und Behandlung der Erkrankten.64

Die deutschen Besatzungsbehörden gingen tatsächlich mit großem Elan ans Werk. Rasch gelangten sie zu dem Ergebnis, dass es in Warschau weit mehr als 10.000 mit Syphilis infizierte Prostituierte und sich gelegentlich prostituierende Frauen gab. Nach Berechnungen von Experten hatte jede von ihnen in kurzer Zeit drei bis zehn Männer infiziert. Zur Verhinderung weiterer Infektionen setzte man auf zwei grundverschiedene Strategien. Den deutschen Soldaten versuchte man durch sanfte Argumentation beizubringen, dass Onanie hygienischer als Gelegenheitssex sei. An diejenigen, die sich davon nicht überzeugen ließen, verteilte die Armee Präservative. Sie durften auch Bordelle für Soldaten oder Offiziere besuchen (während des Kriegs wurde in der deutschen Presse über die Zweckmäßigkeit dieser Lösung diskutiert; gegen alle moralischen Bedenken überwog die Auffassung, dass man den Militärs dieses Privileg nicht nehmen dürfe). Die Frauen in den sogenannten Puffs unterstanden natürlich ständiger Kontrolle und medizinischer Betreuung. Die Verbündeten kommentierten diese Praxis mitunter mit bissigen Worten:

Für den deutschen Soldaten ist der Beischlaf selbst mit dem Verlassen der Wohnung der zeitweiligen Geliebten nicht abgeschlossen: Er muss noch Vornamen, Nachnamen und Adresse der Partnerin notieren, um im Falle einer Infektion dies alles der Führung melden zu können.65

Ganz anders erging es den Frauen, die man der Prostitution verdächtigte. Sie wurden auf der Straße oder sogar in ihren Häusern verhaftet, selbst wenn unklar war, ob die betroffene Person sich tatsächlich prostituierte. Oft kam es zu Irrtümern, auch infolge falscher Anschuldigungen seitens der Nachbarn. Es liegt auf der Hand, wie schwer es den unter dem Vorwurf der Unzucht von der Sittenpolizei festgenommenen Frauen fiel, ihren Ruf wiederherzustellen. Das deutsche Vorgehen war so streng, dass sogar Gerüchte über die Erschießung von Prostituierten kursierten, die keine schnelle Genesung erwarten ließen.66

Unterdessen war das Problem der Prostitution zwar weitverbreitet, aber nicht immer so leicht zu fassen, wie deutsche und österreichisch-ungarische Hygieniker meinten. In den Erinnerungen von Soldaten finden sich zahlreiche Erwähnungen flüchtiger Liebschaften oder sogar längerer Beziehungen, vor allem an Orten, wo die Front länger stehen blieb oder wohin sie nach kurzer Zeit zurückkehrte. In der Gegend um Kowel, so Składkowski, bemühten sich die Legionäre um Quartiere in denselben Bauernhäusern, in denen sie zuvor untergebracht waren, um die früheren Bekanntschaften aufzufrischen.67 Während der Abwehrkämpfe in den Vorkarpaten betrachteten die Goralinnen den Sex mit polnischen Soldaten der k. u. k. Armee als patriotische Pflicht. In denselben Erinnerungen ist aber auch die Rede von Bäuerinnen und Bürgerinnen, die sich gegen Geld oder Lebensmittel prostituierten. Nicht selten waren dies die sogenannten Reservistinnen, also Ehefrauen mobilisierter Soldaten der russischen Armee, denen die Mittel zum Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder fehlten. Der Legionsarzt, der manchen Fall von peinlicher Erkrankung zu behandeln hatte, hinterfragte den Topos der romantischen Soldatenliebe:

Und nun sollte man von „Liebesabenteuern“ im Krieg erzählen?! […] Das war gut, als die Ulanen wie 1830 schöne Revers trugen und fünfzig oder hundert von ihnen in ein Dorf kamen. Jetzt sind wir im Marsch, schmutzig, verlaust und müde, und wenn wir in ein Dorf kommen, dann zwei- oder dreitausend von uns auf einmal! Welche Abenteuer will man suchen, wenn sich zwanzig Mann in eine Kate zwängen?!68

In größerem Ausmaß gab es Prostitution demnach vor allem in größeren Städten. Dort hatten die Besatzer auch die meisten Möglichkeiten, wirksam dagegen vorzugehen. Die Warschauerinnen waren dabei keineswegs die ersten Opfer des Kampfs gegen Syphilis und Gonorrhö. Die entsprechenden Maßnahmen wurden aus Brüssel übernommen, wo schon früher eine Sittenpolizei eingerichtet worden war. Wenige Monate später führten die österreichisch-ungarischen Besatzungsbehörden in Belgrad ähnliche Methoden ein. In keiner dieser Städte agierten die Polizisten sonderlich höflich. Verdächtige Frauen wurden verhaftet und anschließend gruppenweise in deutsche oder österreichisch-ungarische Krankenhäuser gebracht, wo sie vor den Augen der übrigen Festgenommenen von Armeeärzten untersucht wurden. Kranke und „Zweifelsfälle“ wurden zwangshospitalisiert. Es gab auch Fälle, in denen bereits genesene Patientinnen in den Krankenhäusern festgehalten wurden, um dort Hilfsdienste zu leisten. Alle in deutschen Militärkrankenhäusern von einer Geschlechtskrankheit geheilten Frauen wurden als Prostituierte registriert. Die sozialen Folgen dieser Praxis waren problematisch, zumal bei Minderjährigen. Manchen Frauen gelang es nicht, den behördlich attestierten Makel abzulegen – aus Prostituierten „von Amts wegen“ wurden nicht selten echte Prostituierte.

Die Reaktionen der Gesellschaften in den besetzten Gebieten waren gespalten. Teile der Öffentlichkeit übernahmen die moralisierende Rhetorik der deutschen und österreichisch-ungarischen Behörden, in der die betroffenen Frauen nicht als Krankheitsopfer erschienen, sondern als Gefahr für die Soldaten und ihre Familien. In Belgrad teilten nicht nur die dortigen proösterreichischen Eliten diesen Standpunkt, sondern auch Feministinnen mit Kontakten zu der in Zagreb erscheinenden kroatischen Zeitschrift ŽENSKI SVIJET. Es kursierten Gerüchte, denen zufolge Unzucht treibende Serbinnen zur Strafe tätowiert werden sollten, um ihren moralischen Fall dauerhaft zu dokumentieren.69 In Warschau übernahmen die Ärzte und Hygieniker der Polnischen Gesellschaft zum Kampf gegen Unzucht und Geschlechtskrankheiten (Polskie Towarzystwo Walki z Nierządem i Chorobami Wenerycznymi) die deutsche Sichtweise. Ihr Sprecher Leon Wernic sagte 1916 während einer Sitzung der Polnischen Gesellschaft für Sozialmedizin (Polskie Towarzystwo Medycyny Społecznej): „Die Liebe zum Vaterland erfordert […] neue Maßnahmen im Kampf gegen die durch Geschlechtserkrankungen verursachte Entvölkerung und Entartung der Rasse.“70 Gleichzeitig entstanden in Warschau aber auch Initiativen zum Schutz der Rechte betroffener Frauen. Die Liga für Gleichberechtigung (Liga Równouprawnienia) setzte sich für die Verhafteten ein und erreichte, dass fast tausend Frauen aus dem Prostituiertenregister gestrichen wurden. Alfred Sokołowski, ein Warschauer Arzt und Redakteur der GAZETA LEKARSKA, zeigte auf, wie das Problem der Prostitution und der epidemischen Verbreitung von Geschlechtskrankheiten langfristig gelöst werden könne:

Man muss die Erziehung der Frau dahingehend ändern, dass sie vor allem auf eine unabhängige ökonomische Existenz vorbereitet wird. Hier würden Berufsschulen für Frauen den größten Dienst erweisen.71

Unter den Bedingungen der allgemeinen Mobilisierung, der ökonomischen Ausbeutung und der Armut waren die Besatzungsbehörden natürlich nicht imstande, Sokołowskis Ratschlägen zu folgen. Und es ist fraglich, ob sie dies unter günstigeren Umständen getan hätten. Für einen solchen Strategiewechsel im Kampf gegen Geschlechtskrankheiten hätten sie das Stereotyp vom schmutzigen und gefährlichen Osten überwinden müssen. Dies aber war in ihren Augen der Ursprung aller Gefahren für Gesundheit und Moral – und nicht etwa die militärische Präsenz der Mittelmächte oder die soziale Benachteiligung der Frauen. Der Krieg sollte ja die Fackel der Zivilisation nach „Halbasien“ tragen. Weder Deutsche noch Österreicher hätten je zugegeben, dass manche zivilisatorischen Defizite in der Region erst mit ihrem Erscheinen auftraten.

* * *

In der Geschichtsschreibung werden die Intention und der Erfolg der deutschen und österreichisch-ungarischen zivilisatorischen Mission unterschiedlich bewertet. In der Zwischenkriegszeit und bis in die 1960er Jahre hinein entsprachen die Lager mehr oder weniger der Nationalität der Forscher. Deutsche und österreichische Autoren nahmen das Programm der Modernisierung der wilden Territorien Osteuropas und des Balkans ernst. Alle anderen übergingen es oder betrachteten es als Propagandatrick mit der einzigen Funktion, das Misstrauen der von den Besatzern unbarmherzig ausgebeuteten Bevölkerungen der Region einzuschläfern. Ab den 1960er Jahren änderte sich das Bild, die Anzahl der Verteidiger der zivilisatorischen Mission der Mittelmächte schrumpfte rapide. Die Bewertungen der Besatzung glichen sich auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs aneinander an. Auch heute tendieren die meisten Historiker angesichts des überaus negativ konnotierten deutschen Stereotyps vom Osten zu einer kritischen Bewertung des gesamten Projekts, umso mehr, als die autoritären Praktiken und die oft rassistische Sprache der deutschen Besatzer eindeutige Assoziationen zum Dritten Reich wecken. In neueren Arbeiten zu diesem Thema bildet die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs einen zentralen Bezugspunkt. So schreibt der amerikanische Historiker Vejas Gabriel Liulevicius in seinem Buch über die Ober-Ost-Diktatur in Litauen und Weißrussland:

Die Ostfronterlebnisse von 1914 bis 1918 bildeten den unerläßlichen kulturellen und psychologischen Hintergrund für das, was sich später in diesem blutigen 20. Jahrhundert noch ereignen sollte; sie formten die dafür nötige Einstellung.72

Kurz gesagt: Deutsche und Österreicher wussten vorab, dass sie im Osten „Halbasien“ begegnen würden. Die dort gesammelten Erfahrungen bestärkten sie nur in dieser Überzeugung und radikalisierten ihre Haltung zu diesen Gebieten und den dort lebenden Menschen. Sie waren ihnen gegenüber von Anfang an negativ eingestellt und legten in den Jahren ihrer Herrschaft im Osten alle moralischen Skrupel ab. Gut ein Jahrzehnt später bezahlten die Bewohner Ostmitteleuropas und des Balkans dafür einen hohen Preis.

Ist ein solch strenges Urteil gerechtfertigt? Hinsichtlich gewisser Individuen und einiger zunehmend aktiven nationalistischen Gruppierungen – ja. In Bezug auf die gesamte Unternehmung, von der hier die Rede war – nein. Vor allem muss man die Intentionen des Projekts der zivilisatorischen Eroberung berücksichtigen. Wie der britische Medizinhistoriker Paul Weindling schreibt, neigten die österreichisch-ungarischen und deutschen Militärärzte „zum Moralisieren und in ihrer Hygienemission spielten Moral und sogar Religion eine weitaus größere Rolle als die Rasse.“73 Zumindest zu Beginn des Marschs gen Osten glaubten viele Teilnehmer an die liberale Utopie einer Erweiterung des europäischen Kulturraums. Dazu gehörten die Wiederbelebung der Kulturen und des politischen Lebens dernichtrussischen Völker des zaristischen Imperiums,die wissenschaftliche Erforschung der eroberten Gebiete sowie die Förderung von Bildung und Hygiene in den Bevölkerungen. Die Zentralmächte versuchten natürlich, diese Aktivitäten propagandistisch auszuschlachten, doch das annulliert nicht die Tatsache, dass die deutsche und österreichisch-ungarische Präsenz im Osten neben den nationalistischen, imperialistischen und rassistischen auch eine liberale Komponente besaß. Entscheidend ist der Moment, in dem das liberale Projekt scheitert und der Glaube an seine Verwirklichung durch die Überzeugung ersetzt wird, der Osten ließe sich nur durch Gewalt bezähmen. Dies erst ebnet den Weg zur massenhaften Vernichtung und Deportation der Einheimischen. Danach wird der Osten neu gemessen und gewogen – als mehr oder weniger menschenleere Tabula rasa, bereit zur Kolonisierung durch die zivilisierten Menschen des Westens. Derartige Gedanken waren den deutschen und österreichisch-ungarischen Militärs im Ersten Weltkrieg fremd.