VIER
Im Gegensatz zum unergründlichen Spock hatte Leonard viele Leidenschaften. Unter anderem faszinierte ihn der Künstler Vincent van Gogh. Er schrieb und spielte ein Einpersonenstück mit dem Titel Vincent, das auf den Briefen zwischen Vincent und seinem Bruder Theo basierte. Der Schauspieler Jean-Michel Richaud, der die Rolle von Leonard übernahm und das Stück nach Frankreich holte, verbrachte viel Zeit mit ihm, um über van Gogh zu sprechen. Wie Richaud mir erzählte, war »Leonard begeistert von van Goghs kompromissloser Haltung gegenüber der Arbeit. Zu van Goghs Zeiten setzten die Menschen Kunst und Handel gleich, ganz ähnlich wie heute. Wir sprachen über das Ringen zwischen Kunst und Kommerz. Leonard freute sich über seinen Erfolg und nutzte ihn, um die Künste zu unterstützen. Aber wir sprachen auch ausführlich darüber, dass Vincent gesagt hatte: ›…[J]e mehr ich darüber nachdenke, umso stärker fühle ich, daß es nichts gibt, was wirklich künstlerischer wäre, als die Menschen zu lieben.‹3 Unterm Strich handelte dieses Stück von Liebe, nicht von der verrückten Person, die Vincent für alle war. Es ging um Liebe zur Kunst, zu seinem Bruder, um die Liebe zur Wahrheit. Aus meiner Sicht war dies der Punkt, an dem Leonard und Vincent sich berührten – beide suchten die Wahrheit in der Kunst.«
Über Freundschaft sagte van Gogh: »Gute Freunde sind wahre Kostbarkeiten im Leben. Manchmal kennen sie uns besser als wir selbst. Wohlwollend, aber ehrlich, sind sie da, um uns Rat und Unterstützung zu geben, um mit uns zu lachen und zu weinen. Ihre Gegenwart erinnert uns daran, dass wir nie wirklich allein sind.«
Mein eigenes Leben verlief ständig in einem derartigen Tempo und ist gewöhnlich so dicht gedrängt mit Menschen, dass ich mir selten Zeit nehme und darüber nachdenke, warum ich so viele wunderbare Bekanntschaften hatte, aber so wenige echte Freunde. Es muss irgendeine Macke von mir sein. Anfang 2015 wurde ich in schmerzlicher Weise daran erinnert, als ich an einer achttägigen Motorradtour quer durchs Land teilnahm, von Chicago nach Los Angeles. Es war eine anstrengende Tour bei teils außerordentlicher Hitze, und ich fiel zweimal in Ohnmacht. Unter den Fahrern gab es zwei Brüderpaare. Carl und Kevin gehörten zu den Organisatoren der Fahrt, ihr Altersabstand betrug vier Jahre. Kevin hatte seinen Bruder zum Mitfahren aufgefordert, damit sie wenigstens eine gewisse Zeit miteinander verbringen konnten, denn dazu hatten sie sonst selten Gelegenheit. Etwa auf der Hälfte der Reise musste Carl uns wegen anderweitiger Verpflichtungen verlassen. Als er aufbrach, umarmten sich die beiden Brüder unter Tränen. Erwachsene Männer in den Fünfzigern, die weinten, weil ihnen so wenig Zeit füreinander blieb. Ihre gegenseitige Zuneigung beeindruckte mich tief.
Die anderen beiden Brüder, noch ein Kevin und sein Bruder Brian, waren dreizehn Monate auseinander. Sie fuhren Seite an Seite, hatten einander sehr gern, stützten sich und bezeichneten sich gegenseitig als beste Freunde. Sie stritten sich auch. An einem Abend hätten sie sich wohl beinahe erwürgt, aber am nächsten Morgen war alles wieder gut. Sie lieben sich und sind beste Freunde. Das ist etwas sehr Seltenes, Beneidenswertes und meiner Meinung nach etwas überaus Wertvolles, wenn es einem geschenkt wird. Eine Zeit lang hatte ich das mit Leonard, und ich habe es verloren.
Wir begannen unsere Reise gewiss nicht als enge Freunde, eher waren wir Kollegen wie die anderen Mitwirkenden. Wir fühlten uns gegenseitig auf den Zahn, lernten unsere professionellen Stärken und Schwächen kennen und gaben beruflich unser Bestes. Zuerst entwickelte sich die Freundschaft im Drehbuch, denn die Beziehung zwischen Kirk und Spock hielt die Serie zusammen. In fast jeder Szene waren wir beide auf dem Bildschirm zu sehen. Leonard beschrieb das Verhältnis zwischen diesen beiden Charakteren als »große Brüderlichkeit. Spock war ungeheuer loyal und wusste das Talent und die Führungsqualitäten von Kirk zu schätzen. Mit völliger Hingabe sorgte er dafür, dass alles, was Kirk brauchte, erledigt wurde.«
Umgekehrt verließ Kirk sich ausnahmslos auf Spocks Rat, wusste er doch, dass dieser nie durch irgendwelche Hintergedanken oder emotionale Bedenken belastet war. Aber er verließ sich auch auf ihn, wenn es darum ging, die Bürde der Führungsposition zu teilen. Mit Ausnahme von McCoy musste Kirk aufgrund seiner Stellung dem Rest der Besatzung gegenüber reserviert bleiben. Wenn es dafür kein Ventil gibt, kann das ein einsamer Job sein, aber dieses Ventil stellte Spock für Kirk dar.
Von der ersten Szene an war mir klar, dass Leonard ein guter Schauspieler war, der sich sehr für seine Rolle einsetzte. Er gab uns einen lebendigen, atmenden Charakter, mit dem wir arbeiten konnten, statt uns gegen ein Comic-Klischee anspielen zu lassen. Die Tatsache, dass er diesen spitzohrigen Außerirdischen so ernst nahm, zwang uns Übrige, mit unseren eigenen Rollen genauso umzugehen.
Diese Professionalität zeigte so gut wie jeder der Mitwirkenden. Gene Roddenberry hatte eine begabte, erfahrene Truppe zusammengestellt. Jeder erschien morgens pünktlich und gut vorbereitet am Set, wir erledigten unsere Arbeit und gingen am Ende des Arbeitstags wieder unserer Wege. Auch wenn es gleich die übliche Kameradschaft gab, entwickelten sich keine Freundschaften.
Selbst nachdem der Pilot fertiggestellt war und die NBC ihn eingekauft hatte, gab es keine Erfolgsgarantie. Die Mehrheit der Fernsehprogramme scheitert schnell. Schauspieler leben immer am Rand des Scheiterns. Jede Spielzeit endet, jede Serie läuft irgendwann nicht mehr. Zumindest glaubten wir das alle. Irgendwann scheitert man auf irgendeiner Ebene, es ist nur die Frage, wie lange es sich aufschieben lässt.
Dorothy Fontana erinnert sich an den ersten Hinweis auf den Erfolg der Serie: Am Morgen nach der Ausstrahlung der ersten Folge klingelte um neun Uhr ihr Telefon. Eine markante Stimme sagte: »Hier ist Leslie Nielsen.« Leslie Nielsen hatte eine Hauptrolle in dem klassischen Science-Fiction-Film Alarm im Weltall gehabt. Als Fontana erklärte, Gene Roddenberry sei noch nicht im Büro, sagte Nielsen: »Ich wollte ihm nur sagen, dass ich die Sendung gestern Abend gesehen habe und an eine große Zukunft der Serie glaube.« Und dann kam die Post. In der ersten Woche war es ein Sack voller Briefe. Die Zuschauer schrieben, dass sie die Sendung toll fanden, und baten um Autogrammkarten. In der zweiten Woche waren es drei Säcke voller Post. Das war interessant. Und dann begann die große Flut, die genau genommen bis heute anhält. Wir hatten damals nicht den blassesten Schimmer, was wir da erschufen, und kämpften jedes Mal um eine weitere Woche, eine weitere Staffel.
Gene Roddenberry war mit der ersten Folge nicht zufrieden gewesen. Er erzählte gern, sein Vater sei nach ihrer Ausstrahlung hinausgegangen und habe sich in der Nachbarschaft dafür entschuldigt. Eine Woche später aß Roddenberry jedoch in einem Restaurant in der Nähe des Studios zu Mittag und hörte, wie andere Gäste angeregt über die Sendung vom Vorabend diskutierten. Zum ersten Mal bekam er mit, wie über eine seiner Sendungen gesprochen wurde. Deshalb dachte er: Vielleicht ist es doch etwas Besonderes.
Mich überraschte, dass nicht Captain James T. Kirk die meiste Aufmerksamkeit und Fanpost bekam, sondern Mr. Spock. Das war lange bevor Leonard und ich Freunde geworden waren, und ich hatte es ehrlich gesagt weder erwartet, noch war ich besonders begeistert davon. Ich erhielt die höchste Gage, ich wurde hinausgeschickt, um für die Serie zu werben, ich hatte den meisten Text, das Schicksal meiner Rollenfigur trug die Handlung, ich bekam das Mädchen und rettete das Schiff. Der natürliche Lauf der Dinge wäre gewesen, dass Kirk im Mittelpunkt des Interesses stand, nicht irgendein Außerirdischer mit seltsamen Ohren. Aber die spektakuläre darstellerische Leistung von Leonard faszinierte alle von Anfang an. Mr.-Spock-Fanklubs wurden gegründet. In Zeitungen und Magazinen wurden lange Artikel über diesen ungewöhnlichen neuen Charakter publiziert. Roddenberry bekam eine Mitteilung vom Network, in der vorgeschlagen wurde, Spock in jede Geschichte einzubinden. Meine Zukunft schien auf dem Spiel zu stehen. Einige Wochen lang war ich also ziemlich eifersüchtig. Es beunruhigte mich so sehr, dass ich zu Roddenberry ging, um mit ihm darüber zu sprechen. Gene verkörperte in diesem Fall die Stimme der Vernunft. »Haben Sie keine Angst vor anderen beliebten und begabten Menschen in Ihrem Umfeld«, sagte er. »Sie können Ihr Spiel nur verbessern. Je mehr Sie mit diesen Leuten arbeiten, desto besser wird die Serie.« Mit anderen Worten: Je beliebter Spock wurde, desto besser für alle – auch für mich. Also gewöhnte ich mich an diese reizende Tatsache.
Dadurch, dass Leonard alle Möglichkeiten von Spock auslotete, entwickelte sich die Figur immer weiter. Diese Aufgabe war wesentlich komplexer als gewöhnlich, denn Spock hatte keine wiedererkennbaren Eigenschaften. Dies war ein brandneuer Charakter in der amerikanischen Kultur, und Leonard setzte diesbezüglich Maßstäbe. Es gab kein traditionelles Richtig oder Falsch. Das Publikum würde ihm rückmelden, was funktionierte. Also gab Leonard sich große Mühe, Spock zu schützen. »Die Figuren sind abhängig von dem Wohlwollen der Schauspieler«, erklärte er einmal. »Bei Spock hatte ich das Gefühl besonders stark, weil er so leicht zu überzeichnen oder zu veralbern gewesen wäre. Man hätte es mit ihm nicht so genau nehmen können, und das musste ich verhindern.«
Spock zum Leben zu erwecken war vermutlich die größte Herausforderung in Leonards beruflicher Laufbahn. Er gab zu, dass er sich Sorgen machte, seine Anerkennung als Schauspieler zu verspielen. Zuerst fürchtete er, die ganze Serie sei eine dumme Idee gewesen und er würde für alle Zeiten »der mit den Teufelsohren« sein, der einen Außerirdischen auf einem Raumschiff gespielt hatte. Im Grunde behielt er damit recht, und in weniger kompetenten Händen wäre das eine sehr überkandidelte, sehr peinliche Angelegenheit für uns alle geworden.
Doch das geschah nicht, und einer der Gründe ist sicherlich, dass wir alle die Serie ernst nahmen. Wir wussten, dass unsere Zuschauer sie nur so ernst nehmen würden, wie wir es taten. Um an den wahren Spock heranzukommen, erklärte Leonard einmal in einem Interview, ging er »stufenweise durch den Prozess der Verinnerlichung. Zeitweise musste ich mich daran erinnern, denn das entsprach nicht meiner Natur. Im Gegenteil, durch meine Schauspielausbildung hatte ich gelernt, Emotionen und Gesten zu nutzen, meine Stimme zu modulieren, verschiedene Stimmlagen zu gebrauchen, damit es interessanter klingt. Und Leidenschaft zu zeigen. Ich habe immer gern leidenschaftliche Charaktere gespielt, das war also eine ziemlich große Veränderung für mich. Das war ich überhaupt nicht. Ich wurde erst dazu.«
Vielleicht hatte Roddenberry mehr gewusst, als wir ahnten, als er mir die Rolle des Kirk gab, denn wie sich herausstellte, harmonierten Leonards und meine unterschiedlichen Herangehensweisen perfekt. Leonard erklärte es später einmal besser, als ich es könnte: »Shatner war die personifizierte Energie. Ein Energiebündel, ständig Ausschau haltend, nach etwas grabend, suchend, was mir einen Raum gab, um als Spock zu existieren. Sehr viel mehr als Jeff Hunter, bei allem Respekt. Jeff Hunter spielte Captain Pike als bedächtige, introvertierte Person. In gemeinsamen Szenen mit ihm neigte ich dazu, mich dynamischer zu verhalten. Bill Shatner stellte die ganze Energie bereit, die man für die Szene brauchte, was mir ermöglichte, reflexiver und zurückhaltender zu agieren. Die Tatsache, dass Shatner in dieser Weise auftrat, half mir, so denke ich, sehr bei der Entwicklung von Spocks Charakter.«
Mit der Zeit fühlte Leonard sich zunehmend wohler in seiner Rolle und entwickelte einen ausgeprägten Beschützerinstinkt in Bezug auf Spock. Nicht nur Spock zu spielen, auch ihn zu schreiben, muss eine große Herausforderung gewesen sein. Der Kern großer Dramatik ist der Ausdruck von Gefühlen. Wie schwierig muss es also für die Autoren gewesen sein, eine Figur zu erschaffen, deren auffälligster Charakterzug war, dass sie keine Emotionen zeigte! »Emotionen waren tabu«, erinnerte sich Dorothy Fontana – oder D.C. Fontana, wie sie dann genannt wurde. Sie selbst schrieb mehrere Folgen von Star Trek und unterstützte die anderen Autoren während der ganzen Laufzeit. Sie wusste, wie schwierig es war, etwas für diese Rolle zu schreiben. »Doch da Spock halb menschlich war, gab es Momente, in denen er etwas von seiner Menschlichkeit zeigen musste. Wir ließen ein wenig durchsickern.« Eine Methode, die mehrere Male von den Autoren benutzt wurde, war irgendeine Form von Gedankenkontrolle, die der Feind anwandte, um Spock zu Gefühlsäußerungen zu zwingen – einmal war es sogar Liebe. Solange der Text logisch war, genoss Leonard es ganz klar, diesen Charakter zu erkunden. Und obwohl Leonard meinte, den Autoren mit seinen zahlreichen Anmerkungen zum Skript im Nacken gesessen zu haben und sehr kritisch gewesen zu sein, hat niemand, mit dem ich sprach, das so in Erinnerung. Dorothy Fontana nicht, und auch ich erinnere mich an keine Situation – bis zum Dreh der Filme –, in der er übermäßig beschützerisch aufgetreten wäre.
Nur einmal während der Arbeiten an der Originalserie gab es ein echtes Problem. Der Chefautor der Serie war Gene Coon. Er war derjenige, der die Klingonen erfunden hatte, eine Spezies irrationaler Krieger, die an nichts als Eroberung glaubten und alles und jeden vernichteten, das oder der ihnen in die Quere kam. Die Klingonen waren der ideale Feind. Im Lauf der ersten Staffel bekamen wir ein Skript, in dem Spock etwas tat, das er noch nie zuvor getan hatte. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber aus Leonards Sicht passte es überhaupt nicht zu dem Charakter, den er entwickelt hatte. Wie immer in seiner Laufbahn hatte er sich auf Feinheiten konzentriert, die andere übersehen hätten. Also ging er zu Coon ins Büro, um die Sache zu besprechen.
Coon steckte mitten in der Arbeit am nächsten Skript. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war ein Schauspieler, der ein großes Aufheben um ein Detail machte, das niemand sonst bemerken würde. Leonard erklärte ihm, warum die Szene nicht funktionierte. Anscheinend hörte Coon aufmerksam zu und sagte dann: »Machen Sie es einfach!«
»Das kann ich nicht«, sagte Leonard, seinen Spock verteidigend.
»Dieses Gespräch ist vorbei«, erklärte Coon kurz angebunden.
Als Leonard ans Set zurückkam, war sein Agent am Telefon und teilte ihm mit, er sei beurlaubt worden. In Leonards Erinnerung lief der Vorfall so ab: »Natürlich konnte es unmöglich damit enden, dass man mir sagte, ich bräuchte nicht mehr zur Arbeit erscheinen. Dies war eine Maschine, und wenn man ein Rädchen entfernt, läuft nichts mehr. In meiner Arroganz sagte ich also zu meinem Agenten: ›Fragen Sie, ob ich den Arbeitstag noch zu Ende führen soll oder ob ich sofort gehen kann.‹«
Der nächste Anruf kam von Roddenberry, der die Beurlaubung rasch aufhob und alle in sein Büro kommen ließ. Leonard hatte großen Respekt vor Coon – wie wir alle –, aber Spock in Schutz zu nehmen war ihm wesentlich wichtiger. Coon nahm die geforderten Änderungen vor, und Leonard kehrte zurück an die Arbeit.
Leonard vertrat hartnäckig die Meinung, die Mythologie, die wir erschufen, müsse in sich konsistent und exakt sein. In Star Trek VI: Das unentdeckte Land zum Beispiel gab es eine Szene, in der Kirk und Spock mit den Klingonen zu Abend essen. In dem Skript von Autor und Regisseur Nick Meyer hatte Spock einen Satz, in dem es hieß, die Föderation und die Klingonen lägen seit einer bestimmten Zeit im Krieg miteinander. Leonard war sich nicht sicher, ob der Zeitraum stimmte, und fragte bei unserem Hausexperten Richard Arnold nach, der bestätigte, dass es in der genannten Zeit keinen Krieg gegeben hatte. Der Satz wurde daraufhin geändert. Solche Details waren Leonard wichtig. Einmal, bei der Arbeit an der Westernserie The Tall Man, nahm er kurz vor Drehbeginn seinen Ehering ab und legte ihn in einen Safe für Wertsachen. Als jemand nach dem Grund fragte, erklärte er, zu jener Zeit hätten Männer keine Eheringe getragen. Wer wusste so etwas schon? Wer nahm sich die Zeit, dies herauszufinden? Leonard. Er stürzte sich jedes Mal so tief in die Erschaffung einer Figur – und seine ganze Mühe lohnte sich, als er endlich die Gelegenheit bekam, einen echten Charakter mit Leben zu füllen.
Einmal erklärte er mir: »Niemand außer mir sorgt auf diese Weise für Stimmigkeit und Kontinuität. Als die Autoren mir den Text gaben: ›Im Mondschein auf Vulkan …‹, war es meine Aufgabe, sie daran zu erinnern, dass Spock drei Folgen zuvor erwähnt hatte, dass Vulkan keine Monde habe.«
Die meisten Eigenheiten, die man am stärksten mit Spock verband, besonders der Vulkanische Nackengriff und der Vulkanische Gruß, waren ganz allein Leonards Erfindung. In einer unserer ersten Folgen teilt sich Kirks Persönlichkeit in Gut und Böse, und der böse Kirk ist kurz davor, den guten Kirk umzubringen. Im Drehbuch stand, Spock solle sich von hinten an den bösen Kirk anschleichen und ihn mit dem Griff seines Phasers k. o. schlagen. Das war eine typische Bösewichtaktion, wie Leonard sie schon oft gespielt hatte. Aber während ich laut Skript ständig boxe, mich herumwälze, springe, prügele, Köpfe gegeneinanderdonnere und ins Gesicht geschlagen werde, sollte Spock zum ersten Mal körperliche Gewalt anwenden. Leonard fühlte sich nicht wohl damit. Sich zu prügeln und jemandem eins überzuziehen erschien ihm irgendwie zu primitiv für Spocks hoch entwickelte Persönlichkeit, zu sehr zwanzigstes Jahrhundert. Er schlug dem Regisseur also vor, Spock könne über irgendeine besondere Fähigkeit verfügen, seine Feinde ohne größere körperliche Anstrengung außer Gefecht zu setzen. Der Regisseur war offen für diesen Vorschlag. Leonard und ich setzten uns zusammen, und er erläuterte mir, was er sich überlegt hatte: Er würde mir in den Trapezmuskel kneifen, und ich solle zu Boden sinken. Ich habe keine Ahnung, woher er diesen Einfall hatte, aber ich war professioneller Schauspieler, ich konnte hinfallen. Und es passte perfekt zu Spock: Als Mitglied einer fortschrittlichen Zivilisation wüsste er selbstverständlich, wo die lebenswichtigen Nerven verlaufen, und besäße die körperliche Kraft, diesen Vorteil zu nutzen und einen Feind lahmzulegen. Wir spielten die Szene: Spock schlich sich an den bösen Kirk heran, kniff ihn in den Trapezmuskel, ich ließ mich zu Boden fallen, und der Vulkanische Nackengriff war geboren.
Für Interessenten, die solche Einzelheiten zählen: Die Fans der Serie sahen die Anwendung des Vulkanischen Nackengriffs vierunddreißigmal. Ich frage mich, wie viele Kids den echten Schmerz eines Vulkanischen Nackenzwickers zu spüren bekommen haben.
Der Vulkanische Gruß wird mittlerweile auf der ganzen Welt erkannt. Dabei hält man die rechte Hand hoch, kleiner Finger und Ringfinger werden von Zeige- und Mittelfinger abgespreizt, sodass sie ein modifiziertes Victory-V bilden. Der Gruß wurde für die erste Folge unserer zweiten Staffel erfunden. Leonard kannte Spock inzwischen sehr gut. In dieser Folge muss Spock nach Vulkan zurückkehren, um eine Ehe einzugehen, die arrangiert wurde, als er noch ein Kind war. Kehrt er nicht zurück, stirbt er. Diese Folge wurde von dem großen Science-Fiction-Autor Theodore Sturgeon geschrieben. Darin sehen wir Spock zum ersten Mal auf Vulkan unter den Vertretern seiner Spezies. Im Drehbuch wird er von der Frau begrüßt, die die Hochzeitszeremonie leiten wird. Leonard regte an, es solle irgendeine Form eines angemessenen vulkanischen Grußes geben. Die vulkanische Version eines Händedrucks, eines Kusses, eines Nickens, einer Verbeugung oder eines militärischen Saluts. Als der Regisseur zustimmte, musste Leonard sich etwas ausdenken. Das war gar nicht so einfach. Es sollte anders sein als jede traditionelle Art zu grüßen, durfte aber auf keinen Fall albern wirken. Wie so häufig griff Leonard auf der Suche danach auf seine eigenen Erfahrungen zurück.
Da gab es eine Geste, die er zum ersten Mal im Alter von acht Jahren gesehen hatte, als er mit seinem Großvater, seinem Vater und seinem Bruder die Schul an der North Russell Street besuchte, eine orthodoxe Synagoge. Sie war ihm seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen. In der jüdisch-orthodoxen Tradition betritt während der Segnung die Schechinah, was ganz grob gesagt das weibliche Gegenstück zu Gott ist, den Altarraum, um die Gemeinde zu segnen. Die Schechinah ist so mächtig, dass schon ihre Betrachtung schwere oder sogar tödliche Verletzungen hervorrufen kann. Die Gottesdienstbesucher benutzen also diese Geste, in der ihre Finger die Form des hebräischen Buchstaben Schin bilden, um ihre Augen zu schützen. »Ich durfte eigentlich nicht hinsehen«, erinnerte Leonard sich, »aber ich spürte, dass etwas Wichtiges geschah. Also blinzelte ich heimlich durch die Finger.« Diese Geste hatte ihn immer fasziniert. »Lange wusste ich nicht, was sie bedeutete«, sagte er, »aber sie erschien mir magisch, und ich lernte, wie man sie macht. Ich hatte keinen Grund dazu, es reizte mich einfach.« Er verwendete die Geste nicht nur als Grundlage für den traditionellen Vulkanischen Gruß in dieser Folge, sondern veröffentlichte viele Jahre später unter dem Titel Shekhina auch ein kontroverses Buch mit Bildern von glamourösen nackten Frauen, die religiöse Symbole tragen.
Die Geste setzte sich sofort durch. Fans der Serie grüßten ihn damit auf der Straße – ohne zu wissen, dass es ein Segen war. Die Geste erfordert eine gewisse Fingerfertigkeit. Nicht jedem gelingt es, manche unserer Schauspieler hatten Probleme damit. Sie mussten ihre Finger mit der anderen Hand an die richtige Stelle biegen und hielten den Gruß dann in die Kamera. Außer mir bereitete er zum Beispiel Zachary Quinto Schwierigkeiten, der Jahre später den jungen Spock in dem Kinofilm von 2009 spielte. Während sie für den Film warben, gestand er Leonard: »Ich musste eine Weile üben, bis meine Hände den Gruß ausführen konnten. Es fiel mir nicht besonders leicht, deshalb wickelte ich ein Gummiband um meinen Ringfinger und den kleinen Finger, wenn ich durch Los Angeles fuhr, und machte in den Monaten vor dem Dreh Übungen.«
Leonard war es, der diese Elemente erfand, aber unsere Autoren reagierten klug genug, sie als wesentliche Bestandteile der Figur zu erkennen und sie in die weiteren Skripte zu integrieren. Ich habe oft gesagt, dass niemand mit hochgezogenen Augenbrauen mehr bewirken konnte als Spock, aber Spock besaß natürlich auch die merkwürdigsten Augenbrauen. Leonard hatte offenbar die Angewohnheit, eine Augenbraue zu heben, um seine Besorgnis zu unterstreichen, eine Bemerkung oder Handlung infrage zu stellen. Es ist keine besonders ungewöhnliche Geste. Vielleicht hatte er sie auch schon vorher benutzt, nur hatte er damals nicht diese auffälligen Augenbrauen und wurde nicht in Nahaufnahmen gezeigt. Er tat es also einmal unwillkürlich in einer Szene, und in der darauffolgenden Woche hieß es in einer Regieanweisung: Spock hebt eine Augenbraue. Es wurde zu einem weiteren charakteristischen Merkmal. Die Autoren liebten es, und Leonard musste in fast jeder Folge die Augenbrauen heben, bis er protestierte.
Auch mehrere Sätze von Spock sind Allgemeingut geworden, aber keiner von ihnen ist so bekannt wie die vier Worte, die mit dem Vulkanischen Gruß gesprochen werden und die eine so tiefe Bedeutung haben: »Live long and prosper.«, auf Deutsch: »Lebe lang und in Frieden.« Theodore Sturgeon hat sie für dieselbe Folge geschrieben, und sie sind bekannt unter der Abkürzung LLAP – so beendete Leonard alle seine Tweets.
Mit Spock assoziierte man auch die unnachahmliche Aussprache des Wortes »faszinierend« mit der kleinen Pause nach der ersten Silbe, was häufig von einer gehobenen Augenbraue untermalt wurde. Besonders war nicht das Wort selbst, sondern die Art, wie er es formulierte. Das verriet auch viel über sein schauspielerisches Talent. Es ist ein einfaches Wort, wir alle wissen, was es bedeutet, und es gibt vermutlich tausend verschiedene Möglichkeiten, es auszusprechen. Aber es so zu sagen, dass es den Kern der Figur rüberbringt, kann sehr schwierig sein.
Das Wort wurde benutzt, um laut Leonard etwas Unerwartetes zu beschreiben, in den meisten Fällen etwas noch nie Gesehenes. Es war genau genommen ein wunderbares Wort, um das Vordringen in neue Welten zu beschreiben, die nicht immer den Regeln der Naturwissenschaften oder – für Spock besonders wichtig – der Logik gehorchten. Leonard behauptete immer, ein Regisseur sei für seine Aussprache des Wortes verantwortlich. In einer unserer frühen Folgen, »Pokerspiele«, waren wir alle auf der Brücke um einen Computerbildschirm versammelt. Spocks Reaktion auf das, was wir uns ansahen, war dieses eine Wort, »faszinierend«, aber es wirkte irgendwie lahm. Es vermittelte nicht die Ehrfurcht wie vom Regisseur Joe Sargent gewünscht. Also sagte er zu Leonard: »Sei anders! Sei der Wissenschaftler! Betrachte es eher als Kuriosum, nicht als Bedrohung.« Leonard probierte es auf verschiedene Weisen, bis er es genau richtig traf, den distanzierten Tonfall der Anerkennung für etwas Erstaunliches, das sein Wissen oder seine Erwartungen übertraf. Wie er später über diesen Moment sagte: »Ein großer Teil von Spocks Charakter wurde in diesem Augenblick geboren.«
Ich brauchte eine Weile, bis ich voll und ganz begriffen hatte, wie weit Leonards Engagement für Spock reichte, und das führte zu unserem ersten richtigen Streit – nicht dem einzigen, aber dem ersten. Es geschah während der ersten Staffel, wir tasteten uns quasi alle noch vor. Zu dem Zeitpunkt stand die komplette Besetzung: zusätzlich zu Leonard, Majel Barrett und mir war DeForest Kelley an Bord gekommen, um Dr. »Pille« McCoy zu spielen, James Doohans Chefingenieur Scotty sorgte dafür, dass das Schiff zuverlässig lief, unsere Kommunikationsoffizierin war Leutnant Nyota Uhura, dargestellt von Nichelle Nichols. Unser Waffenexperte Leutnant Hikaru Sulu wurde gespielt von George Takei, und Walter Koenig verkörperte unsere Reverenz vor dem herrschenden Kalten Krieg, den Navigator mit dem russischen Akzent, Pavel Chekov. Wir lernten jede Woche mehr über uns und wie wir am besten zusammenarbeiten konnten. Während wir zu einem Team geformt wurden, waren wir zugleich Individuen, die ihre Karriere vorantreiben wollten, es gab also die üblichen Rivalitäten. »Ein ständiger Kampf, sich einzubringen«, so beschrieb Leonard es, »Wege zu finden, aus einem Beitrag das Beste zu machen.« Es war nicht anders als bei anderen Produktionen. »Eine Familie«, sagte er, »in der jeder seine Stellung verteidigt. Wieso kriegt er das ganze köstliche Essen und ich die Reste? Wieso hat sie heiße Kartoffeln auf dem Teller und ich kalte?«
Obwohl ich mich an die Popularität von Spock gewöhnte, hielten Leonard und ich in diesen ersten Monaten eine respektvolle Distanz zueinander. Wir waren immer freundlich, immer höflich und in jedem Fall absolut professionell. Es wäre aber eine Lüge, wenn ich behaupten würde, dass sich damals bereits eine Freundschaft zwischen uns entwickelte. Wir hatten ein gutes kollegiales Verhältnis, geprägt von gegenseitiger Achtung. Eine der frühen Folgen von Star Trek hieß »Horta rettet ihre Kinder«. Es ist noch heute die Lieblingsfolge vieler Fans. Die Geschichte beginnt damit, dass die Enterprise einen anderen Planeten besucht, auf dem Bergleute von einer fremdartigen Kreatur getötet werden, die tief unter der Erde lebt und unter dem Namen Horta bekannt ist. Sie kann nicht mit Menschen kommunizieren. Um ihre Motive zu verstehen, muss Spock also mit ihr »geistig verschmelzen«, eine Technik, die es einem Vulkanier erlaubt, seinen Geist mit dem eines anderen Lebewesens zu verbinden. Dies gilt als schwieriges, gefährliches und sehr qualvolles Verfahren, in dem der Vulkanier den intensiven Schmerz des Verschmelzungspartners am eigenen Leib verspürt. Spock erträgt die Schmerzen, um herauszufinden, dass dieses ansonsten harmlose Wesen das Letzte seiner Art ist und schlicht und einfach seine Eier vor den Bergleuten schützen wollte. Mit diesem Wissen kann Kirk ein friedliches Verhältnis zwischen den Menschen und der Horta aufbauen.
Es war ein tolles Drehbuch, aber es enthielt keinen Hinweis darauf, wie das Verschmelzen vonstattengehen sollte, Leonard musste sich also etwas ausdenken. Ich stellte mir vor, dass es so etwas wie ein Radiosignal wäre, dass unsichtbare Wellen zwischen den zwei Wesen hin und her liefen. Aber ich sehe noch gut vor mir, wie Leonard auf meine Frage, was er vorhabe, mir Daumen und Zeigefinger auf die Stirn legte und erklärte: »So machen wir es.« Es war eher Kabel als WLAN, eher eine körperliche als eine geistige Verbindung.
Beim Dreh wurde ich informiert, dass mein Vater beim Golfen in Florida plötzlich an einem massiven Herzinfarkt gestorben sei. Ich war am Boden zerstört, körperlich und geistig völlig erschüttert. Ich musste so schnell wie möglich nach Florida, aber innerhalb der nächsten Stunden gab es keinen Flug. Wir befanden uns mitten in einer Szene, und ich sah ein, dass ich unbedingt weiterarbeiten musste. Nur wenn ich ein anderer wurde, entkam ich meinem Schmerz, so erschien es mir. Also schlüpfte ich in die Rolle von James T. Kirk – das war ich auch meinen Kollegen schuldig.
Es waren die schwierigsten Momente, die ich je am Set erlebt hatte. Ich versuchte, alles außer meiner Rolle auszublenden, aber ich hatte nur begrenzten Zugang dazu. Bei der Probe am Morgen hatte ich meinen Text gekonnt – ich war Profi und immer vorbereitet –, aber als wir nachmittags die Arbeit wieder aufnahmen, stolperte ich und hatte große Schwierigkeiten, mich an den Text zu erinnern. Jahre später, als Leonard und ich darüber sprachen, glaubte ich, damals völlig ruhig geblieben zu sein. Seine Erinnerung war jedoch anders. Er sagte, ich sei wie benommen gewesen und hätte unentwegt wiederholt: »Versprechen nicht gehalten. Versprechen nicht gehalten. Vorhaben, die er noch erledigen wollte.«
Während ich echten Schmerz empfand, spielte Leonard Schmerzen, die durch das geistige Verschmelzen hervorgerufen wurden. Er ging auf alle viere, legte die Hände auf die Horta und rief: »Schmerz, Schmerz, Schmerz …« Es ist eine heikle Szene, die leicht lächerlich hätte wirken können. Leonard hatte Spock mittlerweile jedoch genügend Glaubwürdigkeit verliehen, und sie gelang ihm.
In dieser Szene muss Kirk auf Spocks Schmerzen reagieren. Ich kam einige Tage später, nach der Beerdigung meines Vaters, wieder ans Set. Das Erste, was wir filmten, waren Close-ups meiner Reaktion. Die gesamte Besetzung verhielt sich sehr mitfühlend angesichts meines Verlusts, und es war ein harter Tag für uns alle. Die Atmosphäre am Set war angespannt, und ich wollte den anderen irgendwie zeigen, dass es mir okay ging. Während ich mich auf meine Szenen vorbereitete, sah ich mir das Material an, wie Spock mit der Horta verschmilzt, und Leonard war so liebenswürdig, mir seine Unterstützung anzubieten. »Zeig mir, was du getan hast!«, bat ich ihn.
»Also, ich bin hier rübergegangen, habe die Hände auf die Horta gelegt und ›Schmerz, Schmerz, Schmerz …‹ gerufen.«
Da ich die Aufnahmen gesehen hatte, wusste ich, dass es wesentlich emotionaler gewesen war. Ich bat ihn, mir genau zu zeigen, wie er es gemacht hatte.
Leonard ließ sich auf allen vieren nieder, schloss die Augen und spielte die Szene, um mir eine Vorlage zu geben, auf die ich reagieren konnte. Er hetzte nicht einfach nur hindurch, sondern durchlebte die Gefühle. Er schrie aus tiefster Seele »Schmerz, Schmerz, Schmerz …«.
Statt Respekt vor seinem Einsatz zu zeigen, nutzte ich die Gelegenheit für einen billigen Scherz. Ich rief: »Hat jemand ein Aspirin für den Kerl?« Ich wartete auf einen Lacher, doch der kam nicht. Leonard war wütend, ungeheuer wütend. Ich las es in seinem Gesicht. Er dachte, ich hätte ihn bloß um die Vorführung gebeten, um ihn lächerlich zu machen, um ihn vor allen anderen am Set durch den Kakao zu ziehen. Wir lernten uns gerade erst näher kennen, und ich hatte das Reservoir an Toleranz längst noch nicht aufgefüllt, das mir solch einen dummen Fehler erlaubt hätte. Verärgert stolzierte Leonard vom Set. Später konfrontierte er mich damit und sagte, er wolle nichts mit mir zu tun haben, ich sei ein richtiges Arschloch. Meine Entschuldigung wirkte fadenscheinig. Mindestens eine Woche lang sprach er kein Wort mit mir, sofern es nicht im Drehbuch stand.
Als wir diese Episode drehten, hatte Leonard den Charakter seiner Rolle also bereits etabliert. In der letzten Szene, nachdem wir den Frieden in jener Welt gesichert haben, sagt Kirk zu Spock, er werde immer menschlicher. Spock denkt darüber nach, wälzt den Gedanken im Kopf hin und her, prüft ihn und sagt dann: »Captain, ich verstehe nicht, warum Sie mich damit beleidigen!«
Spock wurde letztendlich zum Archetypen für eine unemotionale Person. Jahrzehnte später, als die Kolumnistin Maureen Dowd von der New York Times unterstreichen wollte, dass sie Barack Obama für leidenschaftslos und distanziert hielt, bezeichnete sie ihn als Spock. Spocks Mangel an Emotionen wurde ein zentrales Thema der Serie. Ein großer Anteil an dem Humor darin entsprang den ständigen Streitereien zwischen dem sehr menschlichen Pille McCoy und Spock. In einer Folge kommentiert Spock zum Beispiel: »Er erinnert mich an jemanden aus meiner Kindheit.«
Darauf antwortet Pille überrascht: »Oh, Spock, ich wusste nicht, dass Sie eine Kindheit hatten!«
In einer anderen Folge erklärt McCoy ihm: »Wir Mediziner brächten ohne Logik nicht viel zuwege.«
Diesmal tut Spock verblüfft und sagt trocken: »Ist das wahr, Doktor? Darauf wäre ich nie im Leben gekommen. Ich hatte eher den Eindruck, Ihre Methode heißt Versuch und Irrtum.«
Einer der bittersten Momente in der Originalserie ereignet sich am Ende der Folge »Falsche Paradiese« der ersten Staffel. Nachdem er Sporen mit aphrodisierender Wirkung ausgesetzt wurde, kann Spock seine Liebe zu Leila Kalomi ausdrücken, einer Frau, der er einige Jahre zuvor auf der Erde begegnet war. Als die Wirkung der Sporen nachlässt, verschwindet auch seine Fähigkeit zu fühlen wieder. »Ich bleibe der, der ich war, Leila«, erklärt er ihr auf seine logische Art. »Und wenn das schlimmste Fegefeuer hier ausbräche, ich müsste damit leben, ob ich wollte oder nicht.«
Als sie sich die Tränen wegwischt, fragt Leila, obwohl sie die Antwort schon kennt: »Wenn ich dir jetzt sage, dass ich dich immer noch liebe …?«
Am Ende der Folge hat die Mannschaft die Ordnung auf dem Planeten wiederhergestellt, und die Enterprise bereitet sich auf das Verlassen dieser Galaxie vor. Spock ist ungewöhnlich still, deshalb sagt Kirk schließlich: »Sie haben nicht viel erzählt über Ihre Erlebnisse auf Omicron, Mister Spock.«
Und Spock antwortet unbewegt: »Ich habe nicht viel zu berichten, Captain, nur eines: dass ich zum ersten Mal im Leben glücklich war.«
Wer kein Schauspieler ist, weiß das Talent kaum zu würdigen, das für die Entwicklung jenes rätselhaften Jay Gatsby des 23. Jahrhunderts vonnöten war, der später auch von anderen Schauspielern interpretiert wurde. In weniger fähigen Händen wäre das möglicherweise eine sehr eindimensionale Rolle geworden, aber Leonard vermochte für diesen Charakter ein lebendiges Innenleben zu erschaffen. Der wahre Test für einen Schauspieler ist natürlich die Reaktion der Zuschauer auf den Charakter, den er verkörpert. Fühlen und fiebern sie mit ihm? Oder lachen sie über ihn und ist ihnen sein Schicksal gleichgültig? Es war schon überraschend, wie viele Menschen etwas an einem hageren, mürrischen Mann mit komischen Ohren fanden, statt an dem heldenhaften Captain, der ganz eindeutig ein äußerst tugendhafter Mann war. Ich weiß es nicht sicher, vermute aber, dass Spocks Schwierigkeiten beim Einfügen in die Besatzung viele Menschen an ihre eigenen Probleme erinnerten. Ich weiß noch, dass ein junges Mädchen während der ersten Staffel über eine Fanzeitschrift an Spock schrieb: »Ich weiß, dass Sie halb Vulkanier, halb Mensch sind und darunter gelitten haben. Meine Mutter ist schwarz und mein Vater weiß, und man hat mir gesagt, dass ich deshalb ein Mischling bin … Die Schwarzen mögen mich nicht, weil ich nicht aussehe wie sie, und die weißen Kinder mögen mich nicht, weil ich auch nicht aussehe wie sie. Ich werde wohl nie richtige Freunde haben.«
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob Leonard die Antwort selbst schrieb oder jemand aus der Marketingabteilung, aber wenn ich sie lese, höre ich seine beruhigende Stimme, und so, wie ich ihn kenne und sein Mitgefühl für andere über die Jahre beobachtet habe, bin ich eigentlich überzeugt, dass die Antwort von ihm stammt. Darin füllt er einige Lücken über Spocks Hintergrund und die Kindheit, die ihn zu dem gemacht hat, der er ist. Als er auf Vulkan als Mischling aufwuchs, war Spock »sehr einsam, und niemand verstand ihn. Spock war todunglücklich, weil er nicht besonders beliebt war. Aber es war nur das Bedürfnis, beliebt zu sein, das ihn unglücklich machte … Es erfordert sehr viel Mut, sich nicht mehr um Beliebtheit zu scheren und stattdessen seinen eigenen Weg zu gehen …
In jedem von uns gibt es eine leise Stimme, die uns sagt, wenn wir nicht ehrlich zu uns selbst sind. Wir sollten auf diese Stimme hören … Spock hat gelernt, sich zu schützen und nicht durch Vorurteile kleinkriegen zu lassen. Das gelang ihm, indem er sich wirklich selbst kennenlernte und genau wusste, wie viel er wert war. Er stellte fest, dass er jedem, der ihn schlechtmachen wollte, gleichgestellt war – gleich auf seine eigene Art.
Das kannst Du auch schaffen, indem Du Dir den Unterschied zwischen Beliebtheit und wahrer Größe klarmachst … Spock sagte sich: ›Okay, ich bin kein Vulkanier, deshalb wollen die Vulkanier mich nicht. Mein Blut ist nicht rot wie das der Menschen, sondern grün. Und meine Ohren – na ja, es ist ziemlich offensichtlich, dass ich nicht nur ein Mensch bin. Also wollen die mich auch nicht. Ich muss selbst zurechtkommen und mich nicht darum kümmern, was die anderen über mich denken, die mich gar nicht richtig kennen.‹
Spock beschloss, seinen persönlichen Wert und seine Einzigartigkeit als Maßstab zu nehmen. Von nun an würde er immer das tun, womit er sich im Reinen mit sich selbst fühlte … Er sagte zu sich: ›Ich werde mich zu einem so hervorragenden, intelligenten und genialen Wesen entwickeln, dass ich jedes Problem verstehe und jede Krise bewältige. Ich werde meine Fähigkeiten und meine Karriere so gut meistern, dass es immer einen Ort für mich gibt.‹ … Und genau das tat er.«
3 Fritz Erpel (Hrsg.): Vincent van Gogh. Sämtliche Briefe, Bd. 4, übersetzt von Eva Schumann, Zürich 1965, S. 165