Nach über 50 Millionen Jahren erreichte die Talfahrt des Weltklimas allmählich ihren Tiefpunkt.
Alles war an seinem Platz.
Ganz im Süden hielt die Zirkumpolarströmung Antarktika in permanenter Eisstarre gefangen. Weit im Norden hatten die zusammenrückenden Kontinente den Arktischen Ozean in seiner eigenen Art von Kältehölle eingekesselt. Doch es sollte noch schlimmer kommen.
Der Todesstoß kam aus dem All. Diesmal nicht als Einschlag wie der, mit dem die Herrschaft der Dinosaurier ein solch dramatisches Ende gefunden hatte. Er kam in Form winziger, fast unmerklicher Veränderungen in der Art und Weise, wie die Erde um die Sonne kreiste. Derartige Veränderungen hatte es schon immer gegeben, doch ihre Auswirkungen auf die Bewohner des Planeten waren stets zu gering gewesen, um von größerer Bedeutung zu sein. Doch das sollte sich nun ändern.
Die Umlaufbahn der Erde um die Sonne ist nicht völlig rund, sondern leicht elliptisch. Wäre sie kreisrund, würde die Erde immer im selben Abstand zur Sonne bleiben. Da die Bahn aber ellipsenförmig ist, ändert sich die Distanz im Laufe des Jahres: Mal ist die Erde näher an der Sonne, mal etwas weiter weg. Diese Abweichung von der perfekten Kreisbahn nennt man Exzentrizität, und ihr Grund liegt in den wechselseitigen Gravitationskräften zwischen der Erde und anderen Himmelskörpern bei deren Umläufen um die Sonne.
Bei ihrer dichtesten Annäherung ist die Erde 147 Millionen Kilometer von der Sonne entfernt, am fernsten Punkt sind es 152 Millionen Kilometer. In kosmischen Maßstäben ist das zu vernachlässigen. Hin und wieder jedoch wird diese Erdbahn exzentrischer – sie dehnt sich wie ein Gummiband –, sodass unser Planet der Sonne bis zu 129 Millionen Kilometer nahe kommt und bis zu 187 Millionen Kilometer weit ins All driftet. Es ist, als würde die Erdumlaufbahn langsam »atmen«. Jeder dieser Atemzüge dauert 100000 Jahre. Je weiter diese Bahn gedehnt wird, desto extremer wird das Klima, da die Erde dem Glutofen Sonne nun viel näher kommt und sich weiter von ihr fortwagt, hinaus in die eisige Dunkelheit des Alls.
Zugleich taumelt die Neigung der Erdachse in Bezug auf ihre Rotationsebene zur Sonne hin und her.
Folgen der geneigten Erdachse sind unter anderem der Wechsel der Jahreszeiten und die Unterteilung des Planeten in gürtelförmige Klimazonen. Während des Nordsommers ist der Nordpol deshalb der Sonne in einem Winkel von 23,5 Grad zur Senkrechten zugeneigt. Dies bedeutet, dass alle Regionen nördlich des Breitenkreises auf 66,5 Grad[270] – sprich des Polarkreises – durchgängig von der Sonne beschienen werden. Umgekehrt herrscht im sogenannten Nordwinter, wenn die Nordhalbkugel von der Sonne weggekippt ist, in der Arktis durchgängig völlige Dunkelheit. Auf der Südhalbkugel und am Polarkreis auf 66,5 Grad Süd ist es genau entgegengesetzt. Die Wendekreise des Krebses und des Steinbocks auf 23,5 Grad nördlicher beziehungsweise südlicher Breite markieren die am weitesten vom Äquator entfernten Linien, auf denen die Sonne zur Mittagszeit noch senkrecht steht.
Der aktuelle Wert von 23,5 Grad ist so etwas wie die goldene Mitte. Die Achsneigung kann in einem Zyklus von rund 41000 Jahren zwischen 21,8 und 24,4 Grad schwanken. Der Neigungswinkel wirkt sich auf die Jahreszeiten aus. Wenn die Neigung größer ist, sind die Sommer im Durchschnitt etwas heißer und die Winter kälter, die Regionen der Arktis und Antarktis sind größer, und auch die Wendekreise befinden sich auf einem höheren Breitengrad. Mit anderen Worten: Das Klima der Erde wird – wenn auch nur minimal – extremer. Beträgt die Achsneigung hingegen weniger als 23,5 Grad, sind die Klimaschwankungen im Allgemeinen milder.
Einen dritten Zyklus stellt die sogenannte Präzession dar, bei der die geneigte Polachse der Erde selbst rotiert, wenn auch ungleich langsamer als die tägliche Rotation – ähnlich wie die langsame Drehung der Mittelachse eines Kreisels. Dieser Zyklus braucht für einen vollständigen Umlauf etwa 26000 Jahre. Wer sehr viel Geduld mitbringt, kann sie an der kreisförmigen Wanderung des Nordpols am Sternenhimmel ausmachen. Derzeit zeigt der Nordpol mehr oder weniger auf Polaris, den Polarstern im Sternbild Kleiner Bär. Aufgrund der Präzession wird Polaris jedoch zunehmend durch Wega im Sternbild Leier ersetzt werden, einen anderen markanten Stern des Nordhimmels.[271] Wer die Muße hat, rund 13000 Jahre zu warten, wird dies deutlich sehen können.
Eine Folge dieser drei ineinandergreifenden Zyklen ist, dass die Sonneneinstrahlung, die auf jeden Fleck unseres Planeten niedergeht, in regelmäßigen Abständen variiert – was im Endeffekt bedeutet, dass die Erde etwa alle 100000 Jahre eine Kältewelle erlebt.[272]
Über Jahrmillionen hat die Umlaufbahn der Erde weitgehend auf diese Weise geatmet, gewackelt oder sich geneigt, und im Großen und Ganzen waren die Auswirkungen relativ gering. Bis vor etwa 2,5 Millionen Jahren. Bis dahin hatten Vorkommnisse auf der Planetenoberfläche das Schicksal der Lebewesen weit gravierender beeinflusst: Ereignisse wie das Verschmelzen oder Auseinanderbrechen von Kontinenten und die damit einhergehende Störung des Gleichgewichts in den Meeren und der Atmosphäre. Und so kam es, dass vor 2,5 Millionen Jahren der Einfluss der himmlischen Gestirne die Begebenheiten auf dem Boden noch verstärkte, anstatt sie, wie nicht selten, abzumildern.
Die ohnehin schon eisbedeckten Pole schafften die perfekten Bedingungen dafür. Kosmische Abläufe und die Kontinentalverschiebung arbeiteten also Hand in Hand und sorgten für eine Abfolge von Eiszeiten auf unserem Planeten. Sie begannen eher mild, wurden im Allgemeinen aber immer heftiger – ein Prozess, der bis zum heutigen Tag anhält. Jede dieser Eiszeiten dauert rund 100000 Jahre, jeweils unterbrochen durch kürzere Warmzeiten von 10000 bis 20000 Jahren, in denen das Klima für kurze Zeit sehr mild und selbst in höheren Breiten tropisch werden kann.
Der Kältehöhepunkt der letzten Eiszeit war vor 26000 Jahren. Ein Großteil des nordöstlichen Nordamerikas lag damals unter dem sogenannten Laurentidischen Eisschild begraben, das westliche Nordamerika hingegen unter dem Kordilleren-Eisschild. Der überwiegende Teil Nordwesteuropas lag unter dem Skandinavischen Eisschild. Gebirgszüge von den Alpen bis zu den Anden ächzten unter Gletschern. Der Rest der gletscherfreien Nordhalbkugel bestand meist aus einer Mischung aus Trockensteppe und Tundra, vom Wind gepeitscht und baumlos.
Das ganze im Eis gebundene Wasser musste irgendwo entzogen werden, deshalb lag der Meeresspiegel 120 Meter niedriger als heute. Im Moment befinden wir uns in einer seit 10000 Jahren andauernden Warmzeit, und der Meeresspiegel ist im Durchschnitt höher, als er seit ungefähr zwei Millionen Jahren war.
Die von Eiszeiten ausgelösten Klimaschwankungen vollzogen sich oft recht schnell und waren, gelinde gesagt, verheerend. Besonders extrem sind diese Kontraste in Großbritannien, das am äußersten Westrand der eurasischen Landmasse liegt und dessen Klima deshalb besonders empfindlich auf Veränderungen in den Meeren und bei den vorherrschenden Westwinden reagiert. Vor einer halben Million Jahren lag Großbritannien unter einer kilometerdicken Eisschicht. Vor 125000 Jahren dagegen war es dort so warm, dass Löwen am Themse-Ufer Hirsche jagten und sich im nordenglischen Fluss Tees Nilpferde suhlten. Vor 45000 Jahren bestand Großbritannien aus einer baumlosen Steppe, in der im Winter Rentiere und im Sommer Bisons grasten.[273] Vor 26000 Jahren war es dann sogar für Rentiere zu kalt.[274]
Diese abrupten Klimaschwankungen wurden durch den Einfluss von Meeresströmungen wie auch durch das Vorhandensein von Meereis selbst verstärkt.
Der Hauptgrund, wieso in Großbritannien heute ein so mildes Klima herrscht – gerade in Anbetracht seiner Lage auf einem relativ nördlichen Breitengrad –, ist, dass es von einer warmen Meeresströmung umspült wird, die aus der Gegend um die Bermudas nach Nordosten fließt. Wenn diese Strömung die Region um Grönland erreicht, trifft sie auf eiskaltes Wasser aus dem Norden, kühlt sich ab und gibt ihre Wärme an die Atmosphäre ab. Da kaltes Wasser dichter ist als warmes, sinkt es nun abgekühlt zu Boden und fließt zurück gen Süden, wo es wieder Teil des weltweiten Tiefsee-Strömungssystems wird.
Das Klima Großbritanniens beruht also in erheblichem Maße auf dem Breitengrad, an dem die nordwärts fließende Strömung abkühlt und absinkt. Würde diese Strömung viel weiter südlich verlaufen als jetzt, wäre es in Großbritannien sehr viel kälter. In den kältesten Phasen der letzten Eiszeiten gelangte diese Strömung nicht viel weiter als bis auf die Höhe Spaniens. Infolgedessen ähnelte das Klima Großbritanniens damals eher dem des nördlichen Labradors in Kanada.
Die weltweite Tiefseeströmung wird aber nicht nur durch Wärme, sondern auch durch den Salzgehalt am Laufen gehalten. Je salziger das Wasser in der warmen, nordöstlich verlaufenden Strömung im Nordatlantik ist, desto dichter ist es auch und desto schneller sinkt es auf den Grund, sobald es Grönland erreicht. Ein Nebeneffekt dieses Mechanismus ist, dass schwimmendes Eis in der Regel weniger Salz enthält als das Meer im Allgemeinen.[275]
Dies wurde zum Problem, als eine allgemeine Erwärmung gegen Ende der letzten Eiszeit Eisberge des Laurentidischen Eisschilds im Nordatlantik zum Kalben brachte. Durch den plötzlichen Zufluss riesiger Mengen kalten Süßwassers sank der Salzgehalt des Meeres, was die Dynamik des weltweiten Tiefenstroms beeinträchtigte.[276] Die Folge war eine Reihe kurzer Kälteeinbrüche inmitten der allgemeinen Erwärmungstrends.
Auch das Eis selbst spielt eine Rolle, denn es ist leuchtend weiß und reflektiert die Sonnenstrahlen. Je mehr Eis es gibt, desto mehr Licht wird zurück ins All geworfen und desto weniger wärmt sich die Oberfläche auf, wodurch wiederum weniger Eis schmilzt und so weiter und so fort in einer Art positivem, sich selbst verstärkendem Rückkopplungseffekt.
All diese zusammenwirkenden Faktoren machen deutlich, dass die Auswirkungen kosmischer Prozesse weit weniger genau vorhersehbar sind, als man gemeinhin glauben möchte, und dass Klimaveränderungen erstaunlich schnell gehen können. Am Ende der letzten Kaltzeit, vor rund 10000 Jahren, wandelte sich das Klima im Zeitraum eines Menschenlebens von subarktisch zu gemäßigt.
Der Klimawandel hatte an den Kontinentalrändern und rings um die Polarzonen die drastischsten Auswirkungen, doch seine Folgen machten auch vor den Tropen Afrikas nicht halt, wo unterschiedlichste Arten von Hominini in Savannen und an Waldrändern ein einfaches und hartes Leben fristeten. Zwar hatten sie nicht die geringste Ahnung, was ein Eisschild war, doch sie bekamen allmählich ein Problem: Das Klima, ohnehin schon trocken, wurde immer trockener.
Und das alles passierte ziemlich plötzlich, vor rund 2,5 Millionen Jahren.[277]
Die Wälder dörrten aus.
Beutetiere wurden seltener und scheuer, schwerer aufzuspüren und zu töten.
Die Hominini konnten nicht länger in den Tag hineinleben, hier nach Wurzeln graben, dort einem Tier einen Kadaver abjagen. Die diversen Spezies von Paranthropus gruben unverdrossen weiter, mahlten mit ihren kräftigen Kiefern Nüsse zu Splittern und Knollen zu Brei, doch das Leben wurde für sie immer härter. Die umherstreifenden Gruppen von Paranthropus wurden immer seltener, und irgendwann vor ungefähr einer halben Million Jahren, als Nordeuropa und Nordamerika unter der bislang schwersten Eislast ächzten, verschwanden sie aus der Savanne.
Etwa um diese Zeit erschien ein neuer Hominin, der sich von all seinen Vorgängern unterschied. Er stand aufrechter. Er war schlauer. Den zweibeinigen Gang, den die Hominini sechs Millionen Jahre zuvor angenommen hatten, perfektionierte er. Während Paranthropus zu einem spezialisierten Pflanzenfresser und andere Hominini zu Sammlern und gelegentlichen Aasfressern geworden waren, entwickelte sich diese neue Art zu einem Raubtier der Savanne.
Heute nennen wir ihn Homo erectus.
Im Vergleich zu seinen Vorgängern besaß Homo erectus einen völlig neuartigen Körperbau. Wie der Name schon vermuten lässt, war er größer und ging erheblich aufrechter. Er hatte schmalere Hüften, und die Beine waren im Verhältnis länger, was das Gehen effizienter machte. Die Arme hingegen waren, proportional gesehen, kürzer – das Klettern schien in seinem Alltag kaum noch eine Rolle zu spielen. Obwohl die Hominini seit sechs Millionen Jahren auf den Hinterbeinen gingen, hatten sie dem Leben in den Bäumen nie gänzlich abgeschworen. Homo erectus war der Erste, der sich ausschließlich auf das Leben auf zwei Beinen einließ.
Diese Neuerung brachte eine Reihe weiterer Veränderungen mit sich. Homo erectus ernährte sich erheblich fleischlastiger. Wie bereits erwähnt, ist Fleisch besser verdaulich als pflanzliche Kost und enthält mehr schnell verfügbare Nährstoffe und Kalorien. Homo erectus hatte einen kleineren Verdauungstrakt, wodurch er sich ein größeres Gehirn leisten konnte. Letzteres ist wichtig, da ein Gehirn einen überaus kostspieligen Luxus darstellt: Es macht nur ein Fünfzigstel der Körpermasse aus, verbraucht aber ein Sechstel der verfügbaren Energie.
Aufgrund seines kleineren Darms hatte Homo erectus eine stärker ausgeprägte Taille als seine gedrungenen, dickbäuchigen Vorfahren. Seine Hüften waren höher und schmaler, sodass sich der Rumpf im Verhältnis zu den Beinen leichter drehen ließ. Gleichzeitig hielt er den Kopf höher und besaß einen klarer definierten Hals. Das führte dazu, dass Homo erectus etwas völlig Neuartiges tun konnte: Er konnte rennen. Dabei schwang er seine Arme entgegengesetzt zu den weit ausschreitenden Beinen, während Augen und Kopf nach vorne gerichtet waren, stets in Richtung seines Ziels.
Rennen wurde ausgesprochen wichtig für ihn. Wenngleich Homo erectus im Vergleich zu einem Gepard oder einer Impala ein schlechter Sprinter war, glänzte er als Langstreckenläufer. Mit Geduld und Ausdauer konnte er große Beutetiere kilometerweit und stundenlang verfolgen, bis diese vor Überhitzung zusammenbrachen.[278]
Den Jägern machte die Hitze weit weniger aus als ihrer Beute. Ein Grund war, dass Homo erectus weniger Fell besaß als andere Säugetiere. Zwar hatte er die gleiche Anzahl von Haaren, doch waren diese fein und äußerst kurz. Und zwischen den Haarwurzeln befanden sich Schweißdrüsen, die Flüssigkeit absonderten und den Körper durch Verdunstung kühlten, was Tiere mit mehr Fell nicht konnten.
Trotz dieser beeindruckenden Errungenschaften brauchte es mehr als einen einsamen drahtigen, kahlen Jäger, um eine Antilope zur Strecke zu bringen, selbst wenn diese schon tödlich verwundet war. Mehr als je zuvor in der Geschichte der Hominini war es überlebenswichtig, dass sie in Gruppen zusammenarbeiteten.
Geschmiedet wurde dieser für die Jagd so unerlässliche Zusammenhalt jedoch zu Hause.
Wie viele Räuber im offenen Gelände, etwa auch jagende Hunde, war Homo erectus ein soziales Wesen. Und er legte die dafür typischen Verhaltensweisen an den Tag: sexuelles Imponiergehabe, extreme Gewalt und das Kochen.
Irgendwann im Laufe ihrer Evolution erlernten verschiedene Stämme des Homo erectus den Umgang mit Feuer. Sie entdeckten, dass Kochen ein genussvolles und geselliges Erlebnis darstellte. Dass bei dieser Art der Zubereitung mehr Nährstoffe freigesetzt und Parasiten oder Krankheiten abgetötet wurden, die in der ungekochten Nahrung oftmals enthalten sein konnten, dürfte ihnen noch kaum bewusst gewesen sein. Die Stämme,[279] die Feuer nutzten, lebten länger und gesünder und brachten mehr Nachkommen hervor als jene, die es nicht taten. Die Stämme, die kein Feuer verwendeten, starben letztlich aus.
Die Existenz von Stämmen bedeutete, dass Homo erectus in gewissem Maße territorial war. Primaten neigen mehr als alle anderen Säugetiere zu aggressiver Gewalt und sogar Mord.[280] Und Hominini sind die mörderischsten von allen. Doch sind sie ebenso gute Liebhaber wie Kämpfer – alles Merkmale eines Syndroms, zu dem auch ihre Sozialstruktur und ihr sexuelles wie soziales Imponierverhalten gehört sowie die relative Haarlosigkeit eines Jägers in den warmen Breiten.
Doch seine spärliche Behaarung dient nicht allein der Wärmeregulierung. In Verbindung mit der aufrechten Haltung werden nun auch heiklere Körperstellen den Blicken der Allgemeinheit ausgesetzt. Diese öffentliche Zurschaustellung von Sexualorganen könnte die rätselhafte Tatsache erklären, dass männliche Vertreter des modernen Menschen im Verhältnis zu ihrer Körpermasse viel größere Penisse besitzen als andere Menschenaffen.
Sexuelles Imponierverhalten – und das Bedürfnis nach Gruppenzusammenhalt – könnte ebenso erklären, wieso die weiblichen Brüste beim Menschen permanent hervorstehen und nicht nur während der Stillzeit. Bei anderen Säugetieren bilden sich die Zitzen fast gänzlich zurück, sobald das Weibchen nicht mehr säugt.
Darüber hinaus sehen die weiblichen Genitalien beim Menschen immer gleich aus, egal ob die Frau gerade ihren Eisprung hat oder nicht. Bei anderen Primaten sind die äußeren Genitalien des Weibchens während des Östrus oftmals so stark angeschwollen, dass die Empfängnisbereitschaft für jedes Mitglied der Gruppe klar ersichtlich ist. Beim Menschen dagegen bleibt der Fortpflanzungsstatus einer Frau derart verborgen, dass sie häufig selbst nichts davon weiß.
Beim Menschen gibt es keine Paarungszeit – während der, wie bei anderen Säugetieren, Männchen und Weibchen vor den Augen aller kopulieren. Dies dient den Tieren unter anderem zur Demonstration und Festigung ihrer sozialen Stellung. Menschen indes können das gesamte Jahr über fruchtbar sein (oder auch nicht) und praktizieren lieber Geschlechtsverkehr, wenn andere Mitglieder der Gruppe nicht zuschauen.
Obwohl Menschen extrem kontaktfreudig und gesellig sind, gehen sie zur Aufzucht ihrer Nachkommen meist feste Paarbeziehungen ein. Zwar unterscheiden sich die individuellen Paarungsgewohnheiten bei den Menschen drastisch, gemeinhin jedoch gehen ein Weibchen und ein Männchen eine Bindung ein, die für die lange Dauer der Kindererziehung bestehen bleibt.
Dies schlägt sich auch in den relativ geringen körperlichen Unterschieden zwischen den Geschlechtern nieder – einem Phänomen, das man Sexualdimorphismus nennt. Bei Tierarten, bei denen ein Männchen eine größere Gruppe Weibchen für sich vereinnahmt, sind Männchen viel größer und kräftiger als Weibchen. Dies trifft heute etwa auf den Gorilla zu, einen Menschenaffen, der in kleinen Gruppen lebt, in denen ein Harem kleiner Weibchen von einem einzigen großen Männchen dominiert wird.[281] Auch beim Menschen sind männliche Vertreter im Durchschnitt größer und schwerer als weibliche, doch ist der Unterschied vergleichsweise gering. Bei Menschen zeigt sich der Sexualdimorphismus weniger in der Körpergröße als in der Verteilung von Körperbehaarung und Fettpolstern.
Wenn Menschen doch feste Paarbindungen eingehen, wieso haben dann die Männchen so große Penisse, und wieso stehen die Brüste von Frauen so hervor, als würden beide Geschlechter stets ihre Paarungsbereitschaft signalisieren? Oder umgekehrt: Wieso sehen die Genitalien eines Weibchens, empfänglich oder nicht, so unauffällig aus? Wieso wird der Östrus stets versteckt, und warum findet Sex im Verborgenen statt? Wären die Paarbindungen wirklich so stabil, dürfte all dies keine Rolle spielen.
Die Antwort lautet, dass, wenngleich Elternpaare zur unmittelbaren Aufzucht von Nachwuchs sicher am geeignetsten sind, Menschen doch viel mehr zum Fremdgehen neigen, als allgemein angenommen wird. Es heißt in einem nigerianischen Sprichwort nicht umsonst, dass man ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Und das trifft besonders auf Hominini-Nachwuchs zu, der in einem relativ hilflosen, unterentwickelten Zustand auf die Welt kommt.
Die Zusammenarbeit zwischen den Familien wird dadurch begünstigt, dass niemand in der Gruppe völlig sicher sein kann, welches Kind von welchem Vater stammt. Dieser Zusammenhalt überträgt sich auch auf die Kameradschaft der Männer in der Jagdgemeinschaft. Wenn die Männer sich nicht sicher sind, welches Kind ihr eigenes ist, jagen sie nicht allein für ihre eigene Familie, sondern für den ganzen Stamm.
In vielerlei Hinsicht ähneln die sozialen und sexuellen Gepflogenheiten des Menschen mehr denen der Vögel als denen anderer Primaten. Viele Vögel leben in Gruppen, sind territorial, neigen zu sexuellem Imponiergehabe und leben in Familienverbänden, in denen ältere Nachkommen den Eltern bei der Aufzucht der jüngeren Geschwister helfen, bevor sie die Gruppe verlassen und sich ihr eigenes Revier suchen. Viele Vogelarten gehen Paarbindungen ein, die nach außen hin stabil wirken, obgleich die Weibchen sich nicht selten heimlich mit anderen Männchen paaren, wenn ihr offizieller Partner auf der Jagd ist. Das heißt, dass ein Männchen sich nie völlig sicher darüber sein kann, welche der Nachkommen, bei deren Aufzucht es hilft, wirklich seine eigenen sind, und welche von einem anderen Männchen gezeugt wurden.[282]
Angesichts dieser Umstände gehen Männer meist lieber auf Nummer sicher. In menschlichen Gesellschaften ist die beste Strategie für sie, mit anderen Männern zusammenzuarbeiten. Weibliche Untreue stiftet so letztlich Männerfreundschaften und hält, trotz des Anscheins dauerhafter Paarbindungen, Gemeinschaften im Ganzen zusammen.
Homo erectus sah uns äußerlich sehr ähnlich. Doch Ähnlichkeiten können trügerisch sein. Wenn wir einem Homo erectus in die Augen blicken könnten, würden wir weniger uns selbst erkennen als die Gerissenheit eines Raubtiers wie einer Hyäne oder eines Löwen.[283] Homo erectus war verstörend unmenschlich.
Die meisten Säugetiere werden geboren, wachsen rasch heran, pflanzen sich so schnell wie möglich fort, und sobald dies nicht mehr möglich ist, sterben sie. Das galt auch für Homo erectus. Ihre Jungen wuchsen rasend schnell vom Säuglingsalter zur Geschlechtsreife heran, ohne die ausgedehnte Phase einer Kindheit, die den heutigen Menschen kennzeichnet.[284] Wenn sie starben, ließ man ihre Leichen einfach liegen, so wie jedes andere Aas. Homo erectus hatte keine Vorstellung vom Jenseits. Die Vertreter dieser Gattung kannten keinen Himmel. Fürchteten keine Hölle. Vor allem aber hatten sie keine Großmütter, die ihnen Geschichten erzählten und als Übermittlerinnen von Traditionen dienten.
Trotz alldem war Homo erectus ein Schöpfer schönster Artefakte: jener faszinierenden, kunstvoll gearbeiteten, tränenförmigen, ja nahezu juwelengleichen Steine, die man gemeinhin als Faustkeile bezeichnet, dem typischsten Artefakt ihrer Altsteinzeitkultur, dem sogenannten Acheuléen.[285]
Der Faustkeil ist so unverwechselbar, da er, unabhängig von Fundort, Alter oder Material, stets mehr oder weniger dieselbe Machart aufweist. Dass seine Verwendung so eng mit einer bestimmten Spezies verknüpft ist – dem Homo erectus –, legt nahe, dass Faustkeile trotz ihrer unbestreitbaren Schönheit stets nach einem schablonenhaften Bauplan hergestellt wurden. Die Frühmenschen schufen sie so achtlos, wie Vögel ihre Nester bauen. Wenn ihnen bei der Abfolge der Schläge, die nötig sind, um den Keil aus einem stumpfen Feuerstein herauszuhauen, ein Fehler unterlief, versuchten sie nicht, den Stein auszubessern oder ihn für etwas anderes zu verwenden. Sie warfen den halb fertigen Stein einfach fort und fingen mit einem neuen Rohling wieder von vorne an.
Dieses für uns moderne Menschen so unverständliche Verhalten wird noch dadurch herausgestrichen, dass bisher niemand wirklich herausgefunden hat, wozu Faustkeile tatsächlich verwendet wurden. Obgleich viele Faustkeile durchaus die richtige Größe besaßen, um sie in der Hand bequem als Hack- und Schneidewerkzeug benutzen zu können, sind manche für diesen Zweck viel zu groß. Und außerdem: Wieso der ganze Aufwand? Es ist sehr einfach, die Kante eines Feuersteins so zu behauen, dass sie scharf genug ist, um etwa einen Kadaver zu häuten oder Fleisch von Knochen zu lösen. Warum sollte man sich also die Mühe machen, für diesen Zweck etwas so Komplexes und Schönes wie einen Faustkeil herzustellen? Und wenn man vorhatte, mit Steinen zu werfen – oder gar eine Steinschleuder zu benutzen –, um Beute zu erlegen oder Feinde zu vertreiben, wieso sollte man sich dann die Arbeit machen, einen Faustkeil anzufertigen, wenn er letztlich doch einfach weggeschmissen wurde?
Wir neigen stets zur Annahme, dass technische Gegenstände einen Zweck haben und dieser aus seiner Bauweise klar ersichtlich sein muss. »Um etwas zu sehen, muss man es verstehen«, schrieb Jorge Luis Borges einst in seiner kurzen Schauergeschichte There Are More Things:
Der Sessel setzt den menschlichen Körper voraus, seine Gelenke und Gliedmaßen; die Schere die Tätigkeit des Schneidens. Was soll man von einer Lampe oder einem Wagen sagen? Der Wilde vermag die Bibel eines Missionars nicht zu erkennen; der Passagier sieht nicht das gleiche Takelwerk wie die Matrosen. Wenn wir das Universum wirklich sähen, würden wir es vielleicht verstehen.[286]
Dieser Fehlschluss fußt auf unserer Neigung, kunstvoll hergestellten Objekten außerhalb des Körpers eine planvolle Zielgerichtetheit oder einen Zweck beizumessen, der einzig und allein unseren menschlichen Vorstellungen entspricht. Ein Blick auf einen Bienenstock, einen Termitenhügel oder ein Vogelnest führt uns jedoch sofort vor Augen, wie falsch diese Annahme ist.
Andererseits hat Homo erectus gelegentlich auch Dinge getan, die uns heute überaus menschlich erscheinen – etwa Rautenmuster in Muscheln zu ritzen.[287] Wozu er das tat, weiß niemand. Es ist durchaus möglich, dass sich Homo erectus bereits mit Segelbooten oder Kanus aufs offene Meer hinausgewagt hat – ein nur allzu menschlicher Entdeckerdrang. Und wie wir bereits gesehen haben, war Homo erectus der erste Hominin, der lernte, die Macht des Feuers zu bändigen und für sich zu nutzen.
Was immer er sonst noch war, tat oder dachte, eines war Homo erectus ganz bestimmt: eine Antwort der Evolution auf die plötzliche Klimaveränderung vor rund 2,5 Millionen Jahren. Anstatt sich wie die restlichen Menschenaffen in die schwindenden Wälder zurückzuziehen, um dort als lebendes Relikt in einer Art Themenpark zu hausen,[288] oder zu versuchen, der kargen Savanne ein immer beschwerlicheres Leben abzutrotzen, wie Paranthropus es tat und schließlich damit scheiterte, begann Homo erectus weiter umherzustreifen als alle anderen Hominini vor ihm, um auf der immer unwirtlicheren Erde zu überleben.
Am Ende war Homo erectus der erste Hominin, der Afrika verließ.
Vor zwei Millionen Jahren hatte sich Homo erectus über den gesamten Kontinent ausgebreitet.[289] Aber das war ihm nicht genug. Der Klimawandel hatte die Wälder so weit schrumpfen lassen, dass sich die Savanne nahtlos über Afrika, den Nahen Osten bis nach Zentral- und Ostasien hinzog. Riesige Herden von Beutetieren streiften über das endlose Grasland, und Homo erectus folgte ihnen, wo auch immer sie hingingen.
Schon vor etwa 1,7 Millionen Jahren, vielleicht sogar noch früher, hatten die Herden ihn bis nach China geführt.[290] Vor 750000 Jahren nutzte er die Höhlen von Zhoukoudian, das heute ein Vorort Pekings ist.[291]
Und während Homo erectus sich ausbreitete, entwickelte er sich weiter.
Homo erectus war der Stammvater[292] einer äußerst schillernden Reihe von Tochterspezies, die aussahen wie Riesen, Hobbits, Höhlenmenschen, Yetis und letztlich – wie wir. Ihre Neigung zur Artenvielfalt war schon früh ausgeprägt. Ein Stamm von Homo erectus, der vor 1,7 Millionen Jahren im Kaukasus in Georgien lebte, glich einem so bunt zusammengewürfelten Haufen, dass wir uns heute nur schwer vorstellen können, dass sie alle zu derselben Art gehörten.[293]
Bereits vor 1,5 Millionen Jahren besiedelten Stämme von Homo erectus die Inselwelt Südostasiens. Sie holten sich nicht einmal nasse Füße: Der Meeresspiegel stand so niedrig, dass ein Großteil dieser Gegend Festland war. Die vielen Inseln, die wir heute kennen, sind halb versunkene Überreste einer einst viel weitläufigeren Landmasse. Auf Java hielt sich Homo erectus bis vor mindestens 100000 Jahren[294] – die letzten Widerständigen harrten auch noch aus, als der Meeresspiegel anstieg und der Dschungel die Inseln wieder überwucherte.
Gut möglich, dass sie sogar lange genug durchhielten, um die Ankunft ihrer Nachfahren in der Region noch mitzuerleben – der modernen Menschen.[295] Sollten diese beiden tatsächlich aufeinandergetroffen sein, wäre die Begegnung wohl übel für die Ureinwohner ausgegangen, die den Neuankömmlingen als große, aber scheu verschwiegene Waldaffen erschienen sein mussten – nur eine von vielen in der Gegend beheimateten Arten wie Orang-Utan und sein riesiger Verwandter Gigantopithecus.
Auf den Inseln Südostasiens angekommen, nahm die Entwicklung von Homo erectus einige skurrile Wendungen. Durch den steigenden Meeresspiegel vom Festland abgetrennt und auf den Inseln isoliert, schlugen verschiedene Stämme oft ganz eigene evolutionäre Wege ein.
Einen davon verschlug es nach Luzon auf den Philippinen, wo er die einheimischen Nashörner etwa zur selben Zeit jagte,[296] als seine Vettern in Ostchina erstmals Funken schlugen, um sich das Feuer untertan zu machen. Abgeschnitten von der Außenwelt entwickelten sich diese Frühmenschen zu Homo luzonensis, einer Spezies von zwergenhafter Größe.[297] Sie waren nicht nur klein, sondern auch in vielerlei Hinsicht primitiv. Als der Urwald auf die Inselwelt zurückkehrte, stiegen sie wieder auf die Bäume. Dort lebten sie bis vor mindestens 50000 Jahren. Als die ersten modernen Menschen eintrafen, müssen diese so untypischen Nachfahren afrikanischer Savannenjäger mit Unglauben und Entsetzen auf die Eindringlinge hinabgestarrt haben.
Ein ähnlich eigenartiges Schicksal erwartete einen anderen Stamm von Homo erectus, der es bis nach Flores schaffte, eine Insel östlich von Java.
Die Hominini besiedelten die Insel vor über einer Million Jahren. Das allein ist schon verwunderlich, denn sie konnten nicht einfach dorthin gewandert sein, so wie ihre Vorfahren auf andere, näher am Festland gelegene Inseln. Selbst als der Meeresspiegel seinen niedrigsten Stand erreicht hatte, war Flores vom Rest der Welt durch tiefe Meerengen abgeschnitten.
Gut möglich, dass der Zufall sie dorthin verschlagen hat. Wer weiß, vielleicht wurden sie von einem Wirbelsturm dorthin geweht, von einem durch Erdbeben oder Vulkanausbrüche ausgelösten Tsunami ans Ufer geschwemmt, oder sind auf Ästen, Stämmen oder anderem Treibgut über das Meer gelangt. Schließlich sind derartige Extremereignisse in dieser Weltregion keine Seltenheit, und das Vorkommen von Pflanzen und Tieren auf den entlegensten Inseln ist meist auf derartige Zufälle zurückzuführen.
Entweder das, oder aber sie sind auf einer Art Wasserfahrzeug nach Flores gelangt, selbst wenn dieses Gefährt womöglich nur zum Fischen in Ufernähe konzipiert war und vom Wind aufs offene Meer getrieben wurde.
Doch wie auch immer sie dorthin gekommen waren, auch sie wurden auf der Insel immer kleiner[298] und entwickelten sich zu einer Art, die wir heute Homo floresiensis nennen. Als sie vor rund 50000 Jahren ausstarben, etwa gleichzeitig mit ihren entfernten Vettern auf den Philippinen,[299] waren sie nur knapp einen Meter groß, stellten jedoch dieselben Werkzeuge her wie ihre Vorfahren, wenn auch in kleinerem Maßstab, damit sie besser in ihre kleinen Hände passten.
Eine derartige Verzwergung ist nicht ungewöhnlich; mit Arten, die auf Inseln stranden, geschehen oftmals merkwürdige Dinge. Kleine Lebewesen werden größer, und mächtige Tiere büßen häufig ihre Größe ein.
Die Warane von Flores etwa, Verwandte des Komodowarans, nahmen eine Größe an, die selbst für uns moderne Menschen wahrlich furchteinflößend gewesen wäre – geschweige denn für einen Meter große Floresmenschen, wie unerschrocken diese auch gewesen sein mögen. Einige der Ratten wurden groß wie Terrier.[300]
Infolge des ständig schwankenden Meeresspiegels eiszeitlicher Ozeane konnten viele damalige Inseln eine ganz eigene Spezies von Zwergelefanten vorweisen, und Flores war da keine Ausnahme. Vielleicht jagte Homo erectus auf Flores ja anfangs großen Elefanten hinterher, und im Laufe der Jahrtausende schrumpften Jäger wie Gejagte, da beide sich ans Inselleben anpassten.[301]
Selbst für seine geringe Größe besaß Homo floresiensis nur ein winziges Gehirn. Doch wie bereits die Hominini im entfernten Afrika herausgefunden hatten, als sie zu Fleischfressern geworden waren: Ein Gehirn zu unterhalten ist mit nicht wenig Aufwand verbunden. Bei einer Spezies, der Ressourcenknappheit derart zusetzte, dass die natürliche Auslese sie zu Zwergen machte, mussten auch die Gehirne klein und energiesparend sein. Kleineres Gehirnvolumen muss nicht zwangsläufig geringere Intelligenz bedeuten: Bei Vögeln etwa sind Krähen und Papageien für ihre Schläue berüchtigt, obwohl ihr Gehirn nicht größer ist als eine Nuss. Auch Homo floresiensis stellte Werkzeuge her, die an Raffiniertheit denen von Homo erectus in nichts nachstanden.
Auf Flores, Luzon und gewiss auch anderswo wurden Homo erectus, wenn sie isoliert auf Inseln lebten, immer kleiner und endeten als Wesen, die wir heute wohl Zwerge oder Hobbits nennen würden.
Andernorts wurden sie zu Riesen.
In Westeuropa entwickelte sich die Spezies zu Homo antecessor, einem kräftigen robusten Frühmenschen, der weit abseits der milden Savannen seiner Vorfahren zu Hause war. Vor etwa 800000 Jahren hinterließ er in Ostengland Faustkeile und sogar Fußabdrücke – viel weiter nördlich, als sich je ein Hominin zuvor gewagt hatte.[302] Grobschlächtig und doch seltsam vertraut, sah Homo antecessor dem heutigen Menschen viel ähnlicher als Homo erectus und sogar als der Inbegriff des eiszeitlichen Höhlenmenschen – der Neandertaler. Unsere menschliche Physiognomie hat, wie auch unsere Gene, eine lange Vorgeschichte: Beim Homo antecessor lassen sich die ersten Anzeichen der genetischen Verwandtschaft mit dem modernen Menschen nachweisen.[303]
Anderswo in Europa erschien etwas später Homo heidelbergensis. Die Knochen und Werkzeuge, die er in seiner Heimat im Herzen Europas hinterlassen hat, belegen, dass er eine eindrucksvolle Erscheinung gewesen sein muss. Rund 400000 Jahre alte Jagdspeere aus Deutschland, die man zusammen mit Steinwerkzeugen und den Überresten geschlachteter Pferde entdeckt hat, ähneln eher Zaunpfählen.[304] Diese Speere – einer davon 2,30 Meter lang und an der breitesten Stelle fast fünf Zentimeter dick – waren keine Stoß-, sondern Wurfwaffen. Auch nur einen davon im Kampf hochzuheben und zu schleudern, muss immense Kraft erfordert haben. Ein in Südengland gefundener Schienbeinknochen[305] ist genauso groß wie der eines heutigen erwachsenen Mannes, wenn auch viel dichter und kompakter, was auf ein außerordentlich robustes Exemplar schließen lässt, das über 80 Kilo wog. Auch am anderen Ende der Welt stapften Hominini von der Statur der größten heutigen Menschen durch die Schneelandschaft der Mandschurei. Damals wandelten Riesen auf dieser Erde.
Die Nachfahren von Homo erectus in Europa und Asien waren gewiss als Reaktion auf die sich verschlechternden Bedingungen der Eiszeit entstanden. Der schlanke Langstreckenläufer der afrikanischen Savanne verwandelte sich in etwas völlig Verändertes und Neues – ein Wesen, das zäh genug war für die Entbehrungen des Nordens.
Vor rund 430000 Jahren besiedelte ein Stamm die Höhlen in der Sierra de Atapuerca[306] im Norden Spaniens. Die Mitglieder sahen in vielerlei Hinsicht bereits menschlich aus. Ihre Gehirne waren etwa genauso groß wie die heutiger Menschen. Ihre Gesichter jedoch wirkten gedrungen, die Züge schroff. Ihren Ausblick auf eine unerbittliche Außenwelt machten sie durch ein reiches Innenleben wett. Denn sie bestatteten ihre Toten. Zumindest ließen sie sie nicht achtlos liegen, als handelte es sich dabei um einen beliebigen unbelebten Gegenstand: Die Leichen wurden in den hinteren Bereich der Höhle gebracht, wo man sie in eine tiefe Grube warf. Diese Frühmenschen waren die ersten Neandertaler.[307]
Womöglich sogar mehr noch als bei Homo erectus zeigte sich am Beispiel des Neandertalers, wie das Leben auf die Herausforderungen der Umwelt reagiert. Ungeschlacht, doch vorzüglich an das Leben in den kalten, windgepeitschten Einöden Nordeuropas angepasst, waren sie dort 300000 Jahre praktisch konkurrenzlos. Sie lebten im Einklang mit der Natur, und ihre Kultur veränderte sich in diesem Zeitraum kaum. Doch mit ihren großen Gehirnen, im Durchschnitt größer als die unseren heute, waren sie versonnen und nachdenklich. Und sie bestatteten ihre Toten.
In ihren Höhlen, weitab von Wind, Kälte und dem schwachen Sonnenlicht der Eiszeit, wandten sie sich dem Übersinnlichen zu. In einer Höhle in Frankreich, so tief unter der Erde, dass kein Sonnenstrahl sie je hätte erhellen können, bauten sie kreisförmige Skulpturen aus abgebrochenen Stalaktiten und Bärenknochen.[308] Wieso, weiß niemand. Diese rätselhaften Steinkreise sind 176000 Jahre alt. Sie gelten als die ältesten datierten Bauwerke, die je ein Hominin errichtet hat.
Die Neandertaler unterschieden sich beträchtlich von ihren geschmeidigen und nomadischen Vorfahren, den Homo erectus. Obwohl man ihre Überreste und Hinterlassenschaften in einem riesigen Gebiet gefunden hat – vom äußersten Westen Europas bis zum Nahen Osten und bis hinein nach Südsibirien –, sind die einzelnen Neandertalerstämme kaum umhergezogen. Angesichts klimatischer Extreme, wie kein Hominin sie je zuvor erlebt hatte, wagten sie sich nur zur Nahrungssuche hinaus ins Freie und kultivierten – ähnlich wie die Morlocks eines H.G. Wells – ihr reges Geistesleben unter der Erde.
Einige ihrer Verwandten jedoch setzten sich noch höhere Ziele.
Vor etwas mehr als 300000 Jahren richtete ein Abkomme der Neandertaler den Blick empor und sah das Hochland Tibets – eine der menschenfeindlichsten Regionen jenseits des Polarkreises. Die Luft ist kalt, schneidend und dünn. Der Schnee schmilzt nie. Wenn die Sonne scheint, glüht sie wie ein sengendes Auge in der eisblauen Ödnis. Dennoch setzte sich eine Gruppe von Hominini in den Kopf, ausgerechnet dort oben – auf dem Dach der Welt – leben zu wollen. Also machten sie sich auf den Weg. Sie stiegen hinauf. Und während sie hinaufstiegen, entwickelten sie sich weiter. Sie wurden zu Denisova-Menschen,[309] die an die Yetis erinnerten, die der Legende nach Tausende von Jahren später diese Hochebene bewohnten.[310]
Homo erectus und seine Nachkommen eroberten die Alte Welt. Womöglich unternahmen sie sogar erste Schritte in die Neue.[311] Vor rund 50000 Jahren gab es auf der Erde eine ganze Reihe verschiedener Menschenarten. In Europa und Asien lebten die Neandertaler. Die Denisova-Menschen hatten ihre Bergfestungen verlassen und waren bis zu den Hochebenen Ostasiens vorgedrungen.[312] Wo immer sie auch hingingen, passten sie sich den Bedingungen ihrer neuen Umgebung an – ob tiefe Höhlen oder dichte Urwälder, ob offene Steppe oder Hochgebirge. Und Homo erectus hauste noch immer ungestört auf Java.
Und doch sollten all diese Experimente menschlichen Lebens ausgelöscht werden. Am Ende der Eiszeit war nur noch eine Art der Hominini übrig. Wie Homo erectus kam auch sie aus Afrika.