Natur und Leben
»Wenn eine Gesellschaft nicht mit der Erschöpfung ihrer Ressourcen umgehen kann, drehen sich die wirklich interessanten Fragen um die Gesellschaft und nicht um die Ressource. Welche strukturellen, politischen, ideologischen oder wirtschaftlichen Faktoren in der Gesellschaft verhinderten eine angemessene Reaktion?«
Joseph Tainter, Anthropologe
Im März 2018 erhält die amerikanische Patentbehörde den Antrag zur Patentierung einer neuen Technik, mit der Pflanzen künstlich bestäubt werden können. In dem mehrseitigen Antrag, abgelegt unter Nummer US2018/0065749, beschreiben die Erfinder einen sehr kleinen Flugapparat ähnlich einer Mini-Drohne, der sich von einer Ladestation aus selbstständig über eine landwirtschaftliche Nutzfläche bewegen kann. Mithilfe einer winzigen Bürste ist er in der Lage, Pollen auf einer Pflanze einzusammeln und sie dann mittels eines ebenso winzigen Ventilators auf einer anderen Pflanze wieder auszubringen. Der Erfolg der Bestäubung wird durch einen Sensor kontrolliert, der zudem ein Signal in ein Netzwerk schickt, damit kein weiterer Flugapparat dieselbe Pflanze noch einmal anfliegt.
Wer den Antrag liest, ist womöglich gleich zweimal überrascht. Einerseits, weil er diese Erfindung sofort als einen technischen Nachbau von etwas erkennt, das die Natur seit Millionen von Jahren bereithält: die Biene.
In der Welt, von der die Erfinder ausgehen, scheint sich allerdings etwas verändert zu haben. Seit Jahren, schreiben sie in ihrem Antrag, gehe die Anzahl der Insekten, die Pflanzen bestäuben, stark zurück, und Versuche, den Pollen mit großen Maschinen weiträumig über Felder auszustreuen, hätten sich als nicht effektiv erwiesen.
Zudem überrascht es, wer das Patent für die neue Technik beantragt. Es sind nicht die Erfinder selbst, sondern die Firma, in deren Auftrag sie es entwickelten: Walmart, die amerikanische Einzelhandelskette.
Was will ein Einzelhändler mit einer Roboterbiene?
Nun, Walmart ist nicht einfach ein Einzelhändler. Er ist weltweit der größte Einzelhändler und eines der finanzstärksten Unternehmen überhaupt. Groß gemacht hat ihn die Strategie, unter allen Umständen billiger zu sein als die Konkurrenz. »Always low prices
, immer niedrige Preise« war viele Jahre lang der Werbeslogan der Firma. Und weil das bedeutet, dass Walmart am einzelnen Produkt weniger verdient als die Konkurrenz, bedeutet es auch, dass es eine enorme Anzahl davon verkaufen muss, um Gewinn zu machen. Das nennt man Zwang zur Größe: Die Masse muss es bringen.
Walmart ist daher nicht nur weltweit das umsatzstärkste Unternehmen, sondern mit mehr als zwei Millionen Angestellten, die in mehr als 11 000 Filialen arbeiten, auch der größte private Arbeitgeber der Welt. Dass die Gründerfamilie, die Waltons, seit Jahren auch die reichste Familie der USA sind, wirkt da schon weniger überraschend.
Was das mit künstlichen Bienen zu tun hat?
Wer das verstehen und damit nachvollziehen will, warum sich unser Wirtschaftssystem so entwickelt hat, wie wir es heute kennen, muss sich zunächst klarmachen, welchen Blick wir auf Natur haben. Natur bildet die Grundlage unseres Wirtschaftens, sie erschafft die Energie und das Material dafür, der Mensch formt beides nur um. Solange die Menschen davon ausgingen, dass die Natur von einem oder mehreren Göttern geschaffen wurde, blieben ihre Gesetze genauso unergründlich wie die göttlichen Wege. In einigen Kulturen sahen die Menschen in der Natur oder der Erde selbst die schöpfende Göttin, in unserem westlichen Kulturkreis hat sich schließlich die Idee des einen Gottes durchgesetzt, der die Erde schuf und sie dem Menschen überantwortete. Als Wissenschaftler wie Galileo Galilei, René Descartes oder Isaac Newton ab dem 16. Jahrhundert einen neuen Blick auf diese Vorstellung warfen und den Auftrag, sich »die Erde untertan zu machen«, neu interpretierten, entstand auch eine völlig neue Perspektive auf die Rolle der Menschen. Sie zeigten, dass die Natur berechenbaren Regeln folgt, und wenn die Wissenschaft diese Naturgesetze erkennt und beschreibt und die Menschen sie systematisch zu ihrem eigenen Nutzen anwenden, dann können sie ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen. Fertig waren die Aufklärung und das neue Selbstbild des homo sapiens
.
Wie ein Kind, das sein Spielzeug auseinandernimmt, nahm der Mensch nun Stück für Stück die Natur auseinander und begann mit ihren Einzelteilen zu spielen. Er fand heraus, welche Aufgabe sie hatten. Er veränderte sie, tauschte sie gegeneinander aus oder setzte sie neu zusammen, in der Überzeugung, dass die Welt für ihn damit besser funktioniere als vorher. Aus der Natur, deren Teil der Mensch gerade noch gewesen war, wurde nun die Um-Welt, von der er sich abgetrennt hatte und die ihn ab jetzt nur noch umgibt. Aus einem lebendigen Ganzen, in dem alles miteinander verbunden ist, wurde eine Maschine, die sich für eigene Zwecke nach Belieben umbauen und verändern lässt. Etwas, das den Charakter eines sich dynamisch stabilisierenden Netzes von Beziehungen hat, reduziert sich in der Wahrnehmung des Menschen auf einzelne Elemente und oft auch nur auf einen einzigen Aspekt, der ihn am (unsichtbar gewordenen) Ganzen interessiert.
Und zwar: Lässt es sich wertbringend nutzen?
Oder kann es weg?
Wer so durch die Welt geht, hat natürlich keinen Blick für deren unfassbare Vielfalt, ihre dynamischen Veränderungen und die Verbundenheit zwischen den einzelnen Teilen. Er übersieht, dass nichts, noch nicht einmal die kleinste Schneeflocke, jemals einer anderen gleicht. Dass jedes Phänomen aus einem anderen entsteht und die Art, wie ein Element eingebettet ist, seine Qualität und Entwicklung beeinflusst. Stattdessen sieht die Welt nun so aus:
Wald ist nichts weiter als Holz.
Erde ist eine Halterung für Pflanzen.
Insekten sind Schädlinge.
Und das Huhn ist ein Ding, das Eier legt und Fleisch liefert.
Alle Hühner, die der Mensch im Verlauf seiner Geschichte gehalten hat, stammen vom Bankivahuhn ab, einer frei lebenden Wildform, die ursprünglich in Süd- und Südostasien beheimatet war, bevor sie der Mensch domestizierte und über die ganze Erde verbreitete, sodass diese Art heute der am häufigsten vorkommende Vogel der Welt ist. Aber die Rassen, die wir heute halten, haben so gut wie nichts mehr mit dieser Wildform zu tun, und sie unterscheiden sich enorm von denen, die unsere Vorfahren vor rund hundert Jahren hatten. Bis dahin war es nämlich üblich, Hühner zu halten, die sowohl Eier legten als auch Fleisch liefern konnten, wobei es immer Rassen gab, die Vorteile auf der einen oder der anderen Seite hatten. Versuchte man jedoch, die eine Eigenschaft durch Züchtung zu verbessern, ließ die andere nach. Mehr Eier hieß weniger Fleisch und umgekehrt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg spaltete der Mensch das Tier dann entlang seiner Eigenschaften auf und schuf Rassen, die er nur noch entweder für das eine oder das andere nutzte. Heutige Masthühner sind nach nur einem Monat groß genug, um geschlachtet zu werden, heutige Legehühner legen im ersten Jahr bis zu 330 Eier, ein zweites Jahr ist dann nicht mehr vorgesehen. Noch schlechter haben es die Hähnchen der Legerassen getroffen. Sie sind in diesem System doppelt nutzlos, weil sie naturgemäß weder Eier legen noch schnell Fleisch ansetzen, weswegen ihre Aufzucht wirtschaftlich gesehen sinnlos ist. Sie landen direkt nach dem Schlüpfen im Schredder.
Sie finden das pervers?
So funktioniert das System, nach dem allein in Deutschland in einem Jahr 12 Milliarden Eier produziert und 650 Millionen Hühner geschlachtet werden – und 45 Millionen Küken geschreddert.
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Und dann im nächsten Jahr wieder.
Aus einem Huhn, das alles konnte, auf einem Hof, der alles brauchte, sind im Verlauf der modernen Zivilisation hoch optimierte Hühner in hoch spezialisierten Geflügelfabriken geworden. Denn auch die Haltung der Tiere hat sich aufgespalten. Es gibt heute Betriebe, die nur züchten, nur vermehren, nur mästen oder nur Legehennen halten. Nachdem der Mensch jahrhundertelang die verschiedensten Rassen gezüchtet hatte, gehen die Hühner in diesem System auf nur wenige Rassen zurück. Eine genetische Verschlankung, die sie anfälliger für Krankheiten macht. Diese Verschlankung spiegelt sich aufseiten der Produzenten, die in monopolhaften Strukturen organisiert sind, bei denen einige wenige den Markt beherrschen und für die eine einzige Vogelgrippewelle ausreichte, um sie in den Konkurs zu treiben.
Ein vergleichbares Bild zeigt sich heute bei den sogenannten Cash Crops, den Bargeld-Pflanzen wie Bananen, Kaffee, Soja oder Weizen. Cash Crops baut ein Land nicht für die eigene Versorgung an, die es dafür im Gegenteil sogar vernachlässigt, sondern für den Export. Hier bedienen hocheffiziente Sorten das Ziel maximaler Erträge in kurzer Zeit. Leider erweisen sie sich als nicht besonders resistent gegen die klimatischen Veränderungen, aber die meisten Alternativen wurden bereits zum Verschwinden gebracht.
Der bedeutende Unterschied zwischen solchen Systemen, die der moderne Mensch baut, und solchen, die in der Natur vorkommen, ist, dass Letztere durch eine hohe Diversität gekennzeichnet sind und in einem Kreislauf funktionieren. Im natürlichen System gibt es niemanden, der etwas rausnimmt, ohne es nicht in einer weiter verwertbaren Form wieder zurückzugeben. Der Abfall des einen ist die Nahrung des anderen. Greift der moderne Mensch in so ein gewachsenes System ein, wird aus dem Kreislauf ein Förderband, das nur noch in eine Richtung läuft. Vorne wird abgebaut, dann verbraucht, und hinten entsteht Müll, der für niemanden Nahrung ist. Müll, der verbrannt, verbuddelt oder aufgetürmt wird oder eben im Meer und den Flüssen schwimmt.
Natürliche Systeme sind auf Dauer angelegt, menschliche auf den Moment. Natürliche Systeme leben von der Vielfalt, steuern sich selbst und können Schocks abfangen. Genau das macht sie resilient und in ihrer Ganzheit effizient. Sie sind auf Energieeffizienz ausgerichtet, weshalb auch nichts verschwendet wird. Moderne menschliche Systeme versuchen einzelne Prozesse – denken Sie an das Bild des Förderbands – ökonomisch effizient zu gestalten: Was vorne weniger kostet, ist hinten netto positiv. Dadurch reduzieren menschliche Systeme Vielfalt, und das Gesamtgefüge wird homogen, was es fragil und fehleranfällig macht. Anstatt also die Muster erfolgreicher Evolution in lebendigen Systemen zu übernehmen, versucht der moderne Mensch alles, was er anfasst, in eine maximal produktive Maschine zu verwandeln, ohne die Umgebung dieser Maschine im Blick zu behalten.
Und so geht er ja nicht nur mit der Natur um.
Laufen Sie doch mal durch eine deutsche Innenstadt und zählen, wie viele kleine Läden es dort noch gibt. Und wie viele internationale Ketten, die in einer anderen Stadt, einem anderen Land oder Kontinent die gleichen Sachen verkaufen. Zum Beispiel Kleidungsstücke, bei deren Herstellung jedes Jahr 92 Millionen Tonnen Müll anfallen. Zum Teil sind darunter völlig funktionsfähige Kleidungsstücke. Dieser Müll wird in der Regel verbrannt, weil verbrennen nun mal das Billigste ist.
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Also wieder der Griff in die Erde für die nächste Massenkollektion, statt Vorhandenes zu recyceln.
Oder gehen Sie schon lange nicht mehr in die Innenstadt, weil Sie sowieso fast all Ihre Besorgungen über Amazon erledigen? Diesem beeindruckenden Megakonzern, der alles noch billiger und bequemer macht? Dass er dabei die gesamte Gesellschaft abhört und analysiert und diese Daten gewinnbringend an andere verkauft, ist zunehmend bekannt. Auch dass die gigantische Plattform systematisch Marken und Hersteller torpediert, die sich nicht über Amazon vertreiben lassen wollen. Aber dass die Packer*innen dort mit Handgelenkscannern durchs Lager kommandiert werden und Signale ertönen, wenn die Standardzeit unterlaufen wird, findet erst langsam Anstoß. Selbstständig fahrende Auslieferer bekommen kaum einen Menschen zu sehen, nicht mal bei ihrer Einstellung. Nur E-Mails, Videos und Navigationsgeräte. Auch Steuern zahlt Amazon kaum, da es die Gewinne an einigen wenigen Orten auf der Welt deklariert, die sich durch niedrige Konzernsteuern zu attraktiven Standorten gemacht haben. Die durch Steuergelder finanzierte Infrastruktur und das Sozialsystem für die prekär Beschäftigten nutzt der Konzern aber durchaus gern in allen Ländern. Nicht einmal der Kreislauf »ein Teil von meinem Profit dient dem Erhalt unserer Daseinsvorsorge« funktioniert hier noch.
Das inzwischen globalisierte Fortschrittsmodell der mechanischen Extraktions- und Maximierungsmaschine hat also nicht nur die Natur, sondern auch Kulturen und Lebensweisen einer rasend voranschreitenden Homogenisierung und Ökonomisierung unterworfen. Rund um den Globus.
Fast 2,5 Milliarden monatlich aktive Nutzer*innen auf Facebook.
Starbucks, Zara, Primark, McDonald’s, Burger King und Coca-Cola produzieren und verkaufen überall.
Wir sehen dieselben Filme, hören dieselbe Musik, kennen dieselben Stars, essen Burger, Nudeln und Pizza. Weltweit.
Was das mit der Roboterbiene zu tun hat?
1983 setzten die Vereinten Nationen eine Kommission ein, die sich Gedanken darüber machen sollte, wie sich unser Wirtschaften mit den Grenzen des Planeten vereinbaren lässt. Der vier Jahre später erscheinende Bericht, der unter Leitung der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland entstand und deshalb als »Brundtland-Report« bekannt wurde, formulierte erstmals eine Richtlinie dafür, woran sich menschliches Wirtschaften orientieren muss, wenn es nachhaltig sein will. Zugrunde lag die Idee, einen einfachen Orientierungspunkt dafür zu schaffen, wie die Dinge wieder ins Lot zu bringen sind. Denn sie begannen ja schon damals aus dem Ruder zu laufen.
Die Definition, die die Kommission fand und die später zur Grundlage für alle weiteren Umweltabkommen wurde, ist ganz einfach: »Dauerhafte (nachhaltige) Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.«
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Dazu gehörten zwei wichtige Unterpunkte: Die Bedürfnisse der Armen sollten Priorität genießen, und es galt darauf zu achten, die sozialen und technologischen Entwicklungen so auszurichten, dass sie die regenerativen Zyklen der Natur nicht zerstören. Hier war also ein großes Umdenken angelegt.
1987 war aber auch das Jahr, in dem der US-amerikanische Ökonom Robert Solow den Nobelpreis für sein Konzept des Wachstums bekam, das nicht nur die Rolle von neuen Erfindungen als Motor für die Volkswirtschaft benannte, sondern auch die Substituierbarkeit von Naturkapital einschloss. Das hört sich komplizierter an als die Regel für nachhaltiges Wirtschaften, ist aber genauso simpel. Es führt nur zu Lösungsansätzen in die entgegengesetzte Richtung. Substituierbarkeit von Naturkapital besagt nämlich, dass es möglich ist, aus einem natürlichen System jedes einzelne Element herauszunehmen und durch ein künstliches zu ersetzen. Nach Robert Solow war es also keine Katastrophe, noch nicht einmal ein Fehler, wenn der Mensch die Natur zerstört, er muss sie nur durch Technik ersetzen und alles läuft super. Aus Grün mach Grau. Damit war die zweite Bedingung des Brundtland-Reports umgedeutet: Es ging nicht mehr darum, dass sich soziale und technische Prozesse so in die Natur einfügen sollten, dass sie deren regenerative Zyklen nicht zerstören. Jetzt mussten sie Natur nur noch ausreichend ersetzen.
Oder um es in den nüchternen Worten von Robert Solow zu sagen: »Solange es sehr einfach ist, natürliche Ressourcen durch andere Faktoren zu ersetzen, gibt es im Prinzip kein Problem. Die Welt kann praktisch ohne natürliche Ressourcen auskommen, daher ist Erschöpfung nur ein Ereignis, keine Katastrophe.«
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Als ich das zum ersten Mal las, konnte ich es nicht fassen.
Dafür gab es den Nobelpreis?
Wichtige Institutionen wie die Weltbank übernahmen diese Sicht und verteilten Lob und Geld an die Länder, die durch die Ausbeutung von Naturkapital dann eben Bildung oder Häuser oder andere Dinge bezahlten. »Genuine Savings«-Ansatz nannte sich das, und unter dieser Metrik war es kein Problem, wenn kein Regenwald mehr übrig bleibt, solange die Leute viel Geld mit den damit produzierten Produkten und Dienstleistungen verdienen. Denn die alleinige Kenngröße der Ökonomie ist ja das Geld und der Preis. Ob das von Menschen erfundene Substitut sich aber überhaupt als Passstück in das Netzwerk des Lebens einfügt, kann ein Geldindikator gar nicht anzeigen. Und ob es okay ist, einfach alles Leben zu zerstören, solange wir uns Maschinen dafür bauen können, bleibt eine seltsam undiskutierte Frage der vermeintlich wertneutralen Wirtschaftswissenschaften.
Sie merken, ich fand die Sichtweise von Robert Solow anmaßend und in seinen Grundannahmen ziemlich befreit von naturwissenschaftlicher Kenntnis, die Sichtweise im Brundtland-Report hingegen sehr viel lebensweltlicher. Aber lässt man das mal beiseite, verkörpern die Ansätze von Solow und Brundtland – wie oft in der Geschichte der Menschheit – erst einmal nur zwei verschiedene Arten, auf die Welt zu sehen. Zwei Angebote, sich für eine Zukunft zu entscheiden. So weiterzumachen wie bisher, nur krasser. Oder grundlegend etwas zu verändern. Ändere die Sicht auf die Welt, und es verändert sich die Welt. Diese beiden Ideen standen zur Auswahl, und sie stehen es noch heute.
Sie ahnen, welche Sicht sich nach dem Showdown 1987 durchgesetzt hat?
Dann wären wir damit jetzt bei der Roboterbiene.
Dass Insekten Pflanzen bestäuben, lässt sich als Dienstleistung der Natur am Menschen verstehen. Umgerechnet in Geld, schätzt das Bundesamt für Naturschutz den Wert dieser Dienstleistung auf gut 150 Milliarden Euro pro Jahr.
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Das ist mehr, als Apple, die Google-Mutter Alphabet, Facebook und Microsoft zuletzt zusammen in einem Jahr an Gewinn ausgewiesen haben. Weitere Dienstleistungen der Ökosysteme für den Menschen umfassen auch die Säuberung und Zirkulation von Wasser, Luft und Nährstoffen, Schutz gegen Stürme und Überschwemmungen sowie den Erholungswert von Naturräumen für Menschen. Den Geldwert der gesamten Dienstleistungen der Ökosysteme zu schätzen ist daher eine schwierige Aufgabe – dahinter steht ja der Versuch aufzuzeigen, welchen wirtschaftlichen Mehrwert die Natur für unser Leben leistet im Vergleich zu menschengemachten Formen der Wertschöpfung. Umgekehrt ließe sich fragen, wie teuer es wohl würde, wenn wir das alles selbst herstellen müssten. Ganz zu schweigen davon, ob wir das überhaupt könnten.
Die ermittelte Summe einer Metastudie aus dem Jahr 2014 mehrerer Forscher*innen um Robert Costanza ist aber so immens, dass es auf ein paar Abweichungen nach unten und oben nicht ankommt: Bis 2007 erbot die Natur dem Menschen 125 bis 145 Billionen Dollar pro Jahr an Dienstleistungen. Das ist deutlich mehr als das gesamte Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Welt, also die Summe aller Waren und Dienstleistungen, die weltweit in einem Jahr von Menschen hergestellt wurden. 2018 lag dieses BIP bei 84 Billionen, 2007 aber noch etwa bei 55 Billionen Dollar. Die Studie besagt auch, dass die jährliche Zerstörung der Ökosystemdienstleistungen bis 2007 bei etwa 4,3 bis 20,1 Billionen Dollar lag.
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Rechnen wir den Zuwachs an Bruttoinlandsprodukt und die Zerstörung des Ökosystems gegeneinander, ist die Summe negativ.
Aber obwohl der Wert der Ökosystemdienstleistungen für die verlässliche Ressourcenbereitstellung, eine gesunde Versorgung und hohe Lebensqualität derart immens ist, bekommt sie die Menschheit von der Natur quasi umsonst. Wir müssen sie nicht erst erfinden und entwickeln und dafür Menschen und Maschinen bezahlen. Darum ist sie auch kein Posten in den Bilanzen, und weil in der Ökonomie keinen Wert hat, was nicht bezahlt werden muss, fällt die Natur bisher schlicht nicht ausreichend ins Gewicht. Wir zahlen für die einzelnen Bausteine, die Ressourcenstücke, die wir der Erde entnehmen – den Kubikmeter Holz oder das Gramm Eisen. Für das regenerative und distributive Reinigen von Luft und Wasser, das Verbreiten von Pollen und Saatgut, die Kohlenstoffspeicherung und die Sicherung von Nahrungsketten und Biodiversität haben wir hingegen kein funktionierendes Preissystem, geschweige denn Verständnis. Fällt Ihnen auf, wie seltsam die Erzählung ist, dass der Schutz der Natur und erfolgreiches Wirtschaften Gegensätze seien?
Ein Drittel der weltweiten Kulturpflanzenproduktion hängt davon ab, dass es Insekten gibt, die Pflanzen bestäuben. Aber solange es Firmen wie Walmart nur darum geht, Lebensmittel zum niedrigsten Preis anzubieten, sind sie natürlich blind für die Schäden, die genau jene Art von industrieller Landwirtschaft anrichtet, die nötig ist, um Lebensmittel derart billig anbieten zu können.
Zum Glück sehen das auch zunehmend die Konzerne selbst.
Seit einigen Jahren gibt sich Walmart Mühe, ein nachhaltiges Unternehmen zu werden. Das Haus modernisierte seine riesige Lastwagen-Flotte, reduzierte den Stromverbrauch der Kühlaggregate, minimierte Verpackungsgrößen und sparte dadurch jede Menge Kohlendioxid ein, das ansonsten den Klimawandel beschleunigt hätte. Als es auch noch begann, auf den Dächern seiner absurd großen Supermärkte Solaranlagen aufzustellen, stieg es zum größten Produzenten von Solarstrom der USA auf. Sogar Bio-Produkte wurden ins Sortiment aufgenommen, woraufhin Walmart auf einen Schlag zum weltweit größten Abnehmer von Bio-Milch und Bio-Baumwolle wurde.
Klingt nach durchschlagendem Erfolg, oder?
Wenn ein derart großes Unternehmen auf einmal nachhaltig wirtschaftet, wird das sicher das ganze System auf Nachhaltigkeit umkrempeln. Möchte man denken. Aber aufgrund ökonomischer Konzepte wie Wachstum, Produktivität oder Wettbewerbsfähigkeit, die ich in diesem Buch erklären und hinterfragen werde, ist genau das nicht passiert. Weder mit dem Unternehmen noch mit dem Markt für Milch und Baumwolle.
Walmart wurde nicht die größte Bioladenkette der Welt.
Stattdessen lässt es jetzt Roboterbienen entwickeln.
Ob die Drohnen wirklich so funktionieren werden wie die Bienen, ist mindestens ein waghalsiges Experiment. Amazon etwa braucht ja auch noch die Menschen, weil Roboterhände weiterhin nicht fein genug arbeiten. Und Miniatur-Elektronik ist ziemlich anfällig, bei Weitem nicht so hart im Nehmen wie eine sich selbst reparierende biologische Biene. Außerdem brauchen all diese von Menschen gefertigten technischen Substitute Energieformen, die auch von Menschen ermöglicht werden müssen. Bereits heute geht es aber darum, den Energieverbrauch zu senken und damit den Klimawandel einzuhegen. Bienen erzeugen ihre eigene Energie aus ihrer Nahrung. Sie leben vom Blütenstaub der Pflanzen und ihrem selbst produzierten Honig. Die Pflanzen gewinnen ihre Energie aus Fotosynthese, was ganz ohne unser menschliches Zutun funktioniert und ganz ohne Schaden für die anderen Dienstleistungen der Ökosysteme.
Es tut mir leid, Herr Solow, selbst wenn wir ethische Fragen und Wertentscheidungen allein auf das Überleben des »Team Mensch« reduzieren: Die Idee, ein zukünftiges Wirtschaftssystem zu bauen, in dem alle Funktionalitäten von menschengemachten mechanischen Abläufen und Energiequellen abhängen, ist aus Sicht der Resilienz schlicht Wahnsinn.
Warum erhalten wir nicht einfach die sich vielfältig mit Energie versorgende und regenerierende Natur, die uns geschenkt wurde? Bereits heute können wir erkennen, mit welchen Anbau- und Pflanzmethoden wir die echten Bienen dezimieren. Welches wäre wohl die lebenserhaltende Innovationsagenda? Die Drohne oder die Umgestaltung von Anbaumethoden, Lieferketten und Landnutzungskonzepten?
In unserem Verhältnis zur Natur zeigt sich die ganze Anmaßung menschlichen Wirtschaftens. Indem der Mensch die natürlichen Systeme seinem Bedarf unterwirft, reduziert er ihre Vielfalt, macht sie verletzlicher und braucht einen immer größeren Aufwand, um sie zu stabilisieren. Menschliche Systeme sind nicht nachhaltig und müssen notgedrungen zusammenbrechen, wenn wir nicht lernen, sie umzubauen.