Wachstum und Entwicklung
»Die Welt ist mit drei existentiellen Krisen konfrontiert: die Klimakrise, die Ungleichheitskrise und eine Krise der Demokratie. Und dennoch geben uns die etablierten Wege, wie wir ökonomischen Fortschritt messen, nicht den leisesten Hinweis darauf, dass wir ein Problem haben könnten.«
Joseph Stiglitz, Ökonom
Karsten Schwanke ist einer der Meteorologen, die kurz vor der Tagesschau das Wetter im Ersten präsentieren. Zu der Sendung gehört es auch, den Zuschauern interessante Wetterphänomene vorzustellen. Karsten Schwanke kann in drei, vier Minuten erklären, warum der Regenbogen gebogen ist oder Wolken nicht vom Himmel fallen, und selbst wenn man sich diese Fragen bisher nie gestellt hat, ist man plötzlich gespannt auf die Antwort. Seit einiger Zeit beschäftigt sich Karsten Schwanke in dieser Sendezeit auch mit dem Klimawandel. Er erklärt, warum das Eis in der Antarktis schmilzt, obwohl es dort nie wärmer als null Grad ist, oder wie die Dürre in Deutschland mit den Waldbränden in Kalifornien und den Überschwemmungen in Italien zusammenhängt. An einer Stelle, an der es normalerweise um etwas so Harmloses wie Wetter geht, taucht auf einmal der Weltuntergang auf. Das ist fast so irritierend wie zwei Männer, die in der morgendlichen Rushhour plötzlich auf das Dach einer U-Bahn klettern, mit der man eigentlich ins Büro fahren wollte.
In den sozialen Netzwerken sind die Sendungen, in denen Karsten Schwanke den Klimawandel erklärt, der absolute Renner. Die Mitschnitte werden auch Monate später noch zehntausendfach geteilt und millionenfach angesehen. Inzwischen hat die ARD sogar Anfragen von Zuschauer*innen, ob sie daraus nicht eine eigene Sendung vor der Tagesschau machen könne – »Klima vor acht«.
Als Nachhaltigkeitswissenschaftlerin hatte ich das auch schon mal empfohlen, weil das Thema damit eine noch größere Wichtigkeit erhält und in unserer täglichen Aufmerksamkeitsarchitektur einen Platz bei den relevanten Informationen ergattert. Als Politökonomin dagegen finde ich vor allem charmant, dass der tägliche Klimabericht dann womöglich direkt nach der Börse kommen würde.
Von den Kurven des Aktienwachstums zu den Kurven des CO2 -Wachstums.
Damit würden die Klimakosten unseres Wirtschaftssystems innerhalb von wenigen Minuten und zur besten Sendezeit direkt und bildhaft sichtbar.
Das Mauna-Loa-Observatorium auf Hawaii misst seit 1958 den Anteil von Kohlendioxid in der Erdatmosphäre. Die Station wurde ganz bewusst abseits jeglicher Zivilisation errichtet, auf der windabgewandten Seite eines Vulkans, mehr als 3000 Meter über dem Meer und fast 4000 Kilometer vom amerikanischen Festland entfernt. Nichts sollte die Messungen verfälschen. Der Datensatz, der auf diese Weise seit mehr als sechzig Jahren ununterbrochen erhoben wird, gehört zu den wertvollsten der Welt.
Wer sich die Kurve ansieht, die aus diesen Messwerten entsteht, erkennt, dass sie fast durchgehend ansteigt. Es gibt nur drei Ausnahmen, in denen sie es nicht tut – Mitte der Siebziger-, Anfang der Neunzigerjahre und nach 2008 flachte die Kurve leicht ab.
Warum gerade da?
Mitte der Siebzigerjahre kam es zur Ölkrise, als arabische Staaten die Ölfördermenge um nur fünf Prozent senkten und sich der Ölpreis innerhalb kurzer Zeit fast verdoppelte. Anfang der Neunzigerjahre kam es zum Zusammenbruch der Sowjetunion, und vor zwölf Jahren hat die Finanzkrise in vielen Ländern das BIP-Wachstum verlangsamt. Politisch sehr verschieden, bedeuten diese Ereignisse ökonomisch gesehen jedoch das Gleiche: Es wird weniger produziert, weniger transportiert, weniger konsumiert und damit auch weniger Kohlendioxid ausgestoßen.
Anders gesagt: Schrumpft die Wirtschaft, verlangsamt sich der Klimawandel. Wächst die Wirtschaft, beschleunigt er sich.
Oder noch einfacher ausgedrückt: Wirtschaftswachstum in seiner heutigen Form heißt Klimawandel. Und mehr Wirtschaftswachstum heißt noch mehr Klimawandel.
Darin besteht die fatale Logik unserer Zivilisation.
Das glauben Sie nicht?
Dann vergleichen Sie mal die Kurve von Mauna Loa mit der Kurve der weltweiten Wirtschaftsleistung aus den vergangenen sechzig Jahren. Sie werden nicht nur sehen, dass beide Kurven immer weiter gestiegen sind. Sie werden auch sehen, dass die erreichten CO2 -Einsparungserfolge in der Summe nicht ausreichend waren, um das Gesamtbild zu verändern. Die Kurven verlaufen nahezu deckungsgleich, wie der Physiker Henrik Nordborg in seinem Essay »Ein Gespenst geht um auf der Welt – das Gespenst der Fakten« dargelegt hat. ​[​13​]​
Das ist die eine unschöne Beobachtung, der wir uns stellen müssen. Die andere ist, dass alle unsere Versuche, diesen Zusammenhang aufzulösen, bisher keinen ausreichenden Erfolg gezeigt haben.
Weder die Klimaabkommen von Kyoto oder Paris noch der Ausbau der erneuerbaren Energien haben den Anstieg des Kohlendioxidanteils in der Atmosphäre verhindern können.
Und die Messungen für Rohstoffextraktion, Entwaldung, Verlust von Biodiversität oder Plastikmüll? – Das gleiche Muster, überall die gleiche Entwicklung: Die Kurven zeigen nach oben wie ein Hockeyschläger.
Das ist eine deprimierende Bilanz, aber im Grunde kein Wunder. Solange die Menschheit an der Vorstellung festhält, dass wirtschaftlich immer mehr produziert werden muss, wird jeder Fortschritt, den sie an der einen Stelle für sich und die Umwelt erreicht, an einer anderen Stelle mehr als zunichtegemacht.
Ob das primär am rasanten Anstieg der Weltbevölkerung in genau dieser Zeit liegt? – Ja, auch. Aber in Deutschland wächst die Bevölkerung zum Beispiel seit Jahrzehnten nicht merklich, eine Zeit lang ist sie sogar geschrumpft. Vorreiter beim Klimaschutz waren wir aber vor allem deshalb, weil der Zusammenbruch der DDR-Industrie ruckartig zu massiven CO2 -Einsparungen geführt hat. Ja, es gab auch viele technologische Verbesserungen und Recyclingfortschritte, durch die die Summe der benötigten Energie und Ressourcen sich im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung deutlich verbessert hat: Ein Kühlschrank, ein Auto, ein Heizkörper schlagen nicht mehr so stark zu Buche. Aber insgesamt ist der Strombedarf seit 1990 trotzdem über zehn Prozent gestiegen und der Energieverbrauch nur um etwa drei Prozent gesunken. ​[​14​]​
Und genau deshalb stimmt die Prognose des Berichts über die »Grenzen des Wachstums« von 1972 immer noch: Das Wachsen der Wirtschaftsleistung ist beschränkt, da das Ausmaß dessen, was wir dem Planeten wegnehmen und zufügen können, beschränkt ist. Und trotzdem messen wir die Wirtschaftsleistung – also das Wachstum – immer noch nicht mit Blick auf diese sich abzeichnenden physischen Beschränkungen.
Das Bruttoinlandsprodukt umfasst nämlich nur den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in einem Land hergestellt oder angeboten werden. Vor zweihundertfünfzig Jahren, als das Konzept des BIP in England erfunden wurde, ist dabei noch nach Boden, Vieh und Staatsschätzen unterschieden worden. Gezielte politische Verwendung fand es aber erst im Zweiten Weltkrieg, als insbesondere die USA genauer wissen wollten, wie schnell ihre Wirtschaft die nötige Aufrüstung leisten könne. Seitdem ist das BIP die Kennziffer geworden, um Wachstum und damit Wohlstand zu messen. Aus einem Konzept wird eine Zahl, aus einer Zahl folgen Entscheidungen, wird Politik, richtet sich eine Gesellschaft aus. Wie viel Wertverlust und Schadschöpfung sich hinter der Zahl verbirgt, bleibt verborgen.
Beispiele?
Ein Tankerunglück, das einen Küstenabschnitt mit Öl verpestet, lässt das BIP ansteigen, weil es dazu führt, dass Firmen kommen und das Öl vom Strand kratzen und also Dienstleistungen erbracht werden. Die Schäden, die durch die Ölpest im Ökosystem angerichtet wurden, schlagen sich im BIP nicht nieder, weil Natur – wie wir gesehen haben –, solange sie einfach nur da ist, in keiner ökonomischen Bilanz auftaucht. Ein Vater oder eine Mutter, die nach der Geburt ihres Kindes eine Zeit lang zu Hause bleiben und nicht ins Büro gehen, senken dagegen das BIP. Denn das Wohlgefühl des Kindes und der Eltern, die ihr gemeinsames Leben zusammen beginnen, zählt hier nicht. ​[​15​]​ Die vielleicht eindrucksvollste Definition, was wir mit diesem Indikator abbilden, hat wohl Robert Kennedy, der Bruder John F. Kennedys, 1968 geliefert: »Das Bruttoinlandsprodukt misst alles außer dem, was das Leben lebenswert macht.«
In den meisten Lehrbüchern der Ökonomie wird trotzdem angenommen, dass die Bilanz im Großen und Ganzen positiv ist. Das hat natürlich mit dem homo oeconomicus zu tun, der ja bekanntlich nicht nur egoistisch, sondern auch unersättlich ist. Der individuelle Nutzen entsteht also durch höheren Konsum oder weniger Arbeit.
Noch mal zurück: In einer leeren Welt mit wenig Menschen, geringem materiellen Wohlstand und viel Natur bot sich die Annahme ja durchaus an, dass viel mehr zu produzieren auch viel positiven Nutzen stiftet. Das Wirtschaftssystem, das wir auf dieser Idee errichtet haben, ist darauf angelegt, zu produzieren, um zu wachsen, und den Zuwachs so zu investieren, dass Innovationen zu noch mehr Produktion führen. Mehr Produktion heißt mehr Nutzen für die Konsument*innen. Diese Gleichung des ökonomischen Fortschrittsdenkens lässt sich in der alten Realität, wie ich sie nennen möchte, in der der Großteil der Menschen noch mit sehr wenig oder gar keinem Wohlstand auskommen musste, gut nachvollziehen. Auch heute gilt diese Gleichung in Ländern und für Personen, denen es an ausreichend guter Nahrung, sicherer Unterkunft, Kleidung, Gesundheits- und Energieversorgung mangelt.
Aber erinnern Sie sich an das Easterlin-Paradox?
Die Gleichung entkoppelt sich irgendwann, und jeder Euro und jedes Stück Besitz mehr hat dann nicht mehr den gleichen Mehrwert für Menschen wie die Euro und Besitzstücke bis zu diesem Sättigungsgrad.
Genau das ist dem auf Wachstum getrimmten Wirtschaftssystem aber ziemlich egal. Die Frage, ob jemals ein »Genug« erreicht sein könnte, ist darin nicht vorgesehen. Und so sind wir heute an dem Punkt, dass die ursprünglich beabsichtigte bessere Versorgung von Menschen mit Gütern und Dienstleistungen, die sie wirklich brauchen, gar nicht mehr das eigentliche Ziel des Wirtschaftens ist. Wir haben Mittel und Zweck verdreht. Und obwohl wir uns dessen im Alltag womöglich nicht bewusst sind, wissen wir interessanterweise genau, wer in diesem System welche Aufgabe zu erfüllen hat, damit es zu mehr Wachstum kommt. Zudem erwartet auch jeder vom anderen, dass er sich dementsprechend verhält. Sonst gibt es Ärger.
Stimmt nicht?
Dann stellen Sie sich mal vor, wie die Börse reagieren würde, wenn Apple nicht mehr regelmäßig ein neues iPhone herausbrächte, ganz egal, ob das neue nun wirklich so viel nützlicher ist als das alte.
Was Apple sagen würde, wenn die Politik aus genau diesem Grund auf einmal die steuerlichen Regelungen für Handys veränderte. Wie die Investoren aufschreien würden, wenn deshalb weniger Handys verkauft werden würden. Und wie Mitarbeiter*innen von Apple das fänden, wenn in der Folge Jobs gestrichen würden, da die Investoren auf jeden Fall bedient werden sollen. Damit wäre dann übrigens weniger Kaufkraft zum Konsum neuer Handys vorhanden.
Unternehmen müssen Neues produzieren, Verbraucher*innen Neues konsumieren und Ingenieur*innen Neues erfinden, das mithilfe von Werbung in den Markt gedrückt wird, während Banken Kredite ausgeben und Politiker*innen sogenannte Rahmenbedingungen schaffen müssen, was in Wahrheit heißt, dass sie alles unterlassen, was das Wachstum dessen gefährden könnte, wofür Geld ausgegeben wird. Denn scheinbar kann nur Wachstum Arbeitsplätze, Investitionen und Steuereinnahmen sichern. Jeder und jede in diesem System muss demzufolge zum Wachstum beitragen, genauso wie alle darauf angewiesen sind, dass alle dasselbe tun.
Aus diesem Grund sehen Leute den Börsenbericht vor der Tagesschau – weil sie denken, dass sie dabei etwas über das Wachstum und damit ihre Zukunft erfahren, auch wenn sie selbst gar keine Aktien besitzen. Solange die Kurven weiter nach oben gehen, scheint alles gut zu laufen. Und das, obwohl uns genau diese Kurven herzlich wenig über unser Wohlergehen und fast gar nichts über unsere Zukunft verraten.
In der alten Realität der englischen Ökonomie-Väter wurde nämlich nicht gefragt, woraus all das Neue ständig gemacht werden soll. Und somit klang das auch erst mal nach einer perfekten Aufwärtsspirale.
Das Problem ist nur: Es ist keine.
Wie wir im Kapitel über unser Verhältnis zur Natur gesehen haben, organisiert der Mensch seine Wirtschaft nämlich nicht als Kreislauf, sondern als gigantisches, inzwischen weltweit installiertes Förderband, bei dem zunächst Rohstoffe und Energie aufgeladen, unterwegs in Güter verwandelt und hinten als Geld einerseits und Müll andererseits wieder abgeladen werden.
In der alten Realität wurde deshalb prognostiziert, dass diese Form des Wirtschaftens »das größte Glück der größten Zahl« erbringen würde. So hatte Jeremy Bentham, ein weiterer englischer Denker aus dem 18. Jahrhundert, die Leitidee des Utilitarismus formuliert. Diese Philosophie bietet einen ethischen Blickwinkel, der das gewählte Mittel durch das Ergebnis beurteilt: Solange sie immer mehr Menschen immer mehr Glück bringt, ist die Wirtschaftsform in Ordnung. Bentham selbst ging es in seiner »Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung« (1789) beim Glück noch um möglichst viele positive und möglichst wenig negative Empfindungen der Menschen. Ökonomen seiner Zeit haben die Messbarkeit des Glücks – oder der Utilitarität, also der Nützlichkeit – dann über Geldwerte hergestellt: Der Warenwert oder das Einkommen gibt den Nutzen an.
Wie wiederum die größte Zahl am Nutzen teilhaben könnte, das hatte Adam Smith in seinem Werk »Der Wohlstand der Nationen« schon im ersten Kapitel erklärt:
»Es ist die immense Vervielfachung der Produktion all der verschiedenen Produktionszweige infolge der Arbeitsteilung, die in einer gut regierten Gesellschaft zu allgemeinem Wohlstand führt, der bis in die untersten Schichten des Volkes reicht.« ​[​16​]​
Im Umkehrschluss: Damit die Armen mehr vom Kuchen abbekommen, muss der Kuchen immer größer werden.
Obwohl Adam Smiths Formulierung von der »gut regierten Gesellschaft« eigentlich als Spitze gegen den König gedacht war, der sich seiner Meinung nach aus der Wirtschaft heraushalten sollte und sich zu üppig seiner Privilegien bediente, wird diese Idee auch dann noch angeführt, wenn längst nicht mehr der König, sondern der demokratische Staat regiert, bei dem Smith die Aufgabe sah, die Macht der großen Spieler einzuschränken. Die Märkte, so das Credo noch heute, seien die bessere Organisationsform von Wertschöpfung. Über die genaue Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt wird immer wieder heftig gestritten, aktuell spitzt sich das in der Diskussion um die schwarze Null, staatliche Investitionstätigkeiten und angemessene Niveaus der Staatsverschuldung oder aber die Verwendung von Zentralbankgeld zu.
Seit den Siebzigerjahren wurden die Ökonom*innen einflussreich, die privatwirtschaftlichen Akteur*innen so viel Freiraum wie möglich verschaffen wollten. Der Staat sollte sich nach Ansicht dieser Ökonom*innen aus der Wirtschaft heraushalten, da Märkte Ressourcen am effizientesten verteilen und Angebot und Nachfrage am besten ausgleichen würden – und damit auch das Wachstum beschleunigten, sodass mehr verteilt werden könne. Damit einher gingen Forderungen, die Reichen nicht mit hohen Steuern zu belegen, damit sie investieren, neue Arbeitsplätze schaffen, höhere Löhne zahlen und so ihre Gewinne bis in die unteren Schichten der Gesellschaft durchsickern konnten.
Nach zu viel staatlicher Regulierung sei wieder mehr Markt nötig, um den oben beschriebenen Trickle-Down -Effekt des Adam Smith wiederzubeleben.
Die Trickle-Down -Formulierung taucht in den USA in den Reden von John F. Kennedy genauso auf wie in denen von Ronald Reagan und in Großbritannien in den Vermeldungen Margaret Thatchers. Sie diente seit den Achtzigerjahren in vielen Ländern rund um die Welt als Begründung dafür, Spitzensteuersätze sowie Vermögens- und Erbschaftssteuern zu senken, Staatsbetriebe zu privatisieren und schließlich durch eine Deregulierung der Finanzmärkte – die damit weniger starken Kontrollen unterlagen – die politischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, ein ungekanntes Ausmaß an Finanz-»Produkten« zu schaffen.
»The tide lifts all boats « – dass die Flut alle Boote hebt, war die Geschichte, die sich mit dieser Art von Wirtschaftspolitik verband.
Bald fünfzig Jahre später muss man feststellen, dass diese Rechnung nicht aufgegangen ist. Zwar werden immer wieder die eindrucksvollen Zahlen der von der University of Oxford betriebenen Plattform Our World in Data präsentiert, nach denen der Anteil der in Armut lebenden Personen von 94 Prozent im Jahr 1820 auf heute zehn Prozent gefallen ist. Beim Jahrestreffen der Wirtschaftselite in Davos haben sowohl der ehemalige Microsoft-Chef Bill Gates als auch der Psychologie-Professor und Bestseller-Autor Steven Pinker daher ganz utilitaristisch verlauten lassen, dass sich ja wohl niemand über die Ungleichheit und die Konzentration von Reichtum auf der Welt beschweren solle, wenn das Wirtschaftsmodell dahinter gleichzeitig so effektiv die Armut auf der Erde zurückdränge. Besonders Steven Pinker hat sich bisher nicht dazu verleiten lassen, die ökologische Krise ernst zu nehmen.
Doch Jason Hickel, ein Anthropologe mit forensischer Neigung in seinem Umgang mit Daten, hält auch bei den Armutszahlen dagegen. Er kommt zu dem Schluss, dass es verlässliche Datensätze zum globalen Armutsniveau erst ab etwa 1981 gibt. Und zum anderen macht er deutlich, dass der verwendete Weltbank-Standard, ab dem angeblich keine »extreme Armut« mehr vorliege, ziemlich umstritten ist. Denn mit dem im Jahr 2011 festgelegten Standard von 1,90 Dollar pro Tag in den USA an gesunde Ernährung, Behausung und Gesundheitsversorgung zu gelangen, scheint eine ziemlich gewagte Annahme. Wird die Bemessungsgrenze von Armut auf das angehoben, was inzwischen viele Wissenschaftler*innen für ein würdevolles Leben angeben, landet diese bei 7,40 bis 15 Dollar pro Tag. Und die Erfolgsgeschichte wird ein Misserfolg: Bei einem Wert von 7,40 Dollar leben 2019 ganze 4,2 Milliarden Menschen unter der Armutsgrenze, das sind mehr als 1981. ​[​17​]​
Das weltweite Bruttoinlandsprodukt ist in der gleichen Zeit von 28,4 Billionen Dollar auf 82,6 Billionen gestiegen. Aber von jedem Dollar mehr sind nur fünf Prozent bei den unteren sechzig Prozent der Weltbevölkerung angekommen. Und wissen Sie, wo die meisten Personen leben, deren Lebensstandard sich seit 1981 über diese Armutsgrenze hinaus entwickelt hat?
In China. ​[​18​]​
Nehmen wir diese Anzahl Personen aus der Statistik heraus, sieht die marktradikale Variante des Wachstumsmodells nur noch wenig nach Trickle-Down aus. Nicht nur leben weitaus mehr Menschen als 1981 unter der Armutsgrenze, der Anteil armer Menschen an der wachsenden Weltbevölkerung stagniert bei sechzig Prozent. Und in Industrieländern ist seit 1980 die Ungleichheit zwischen Einkommen und Vermögen wieder angestiegen – nach etwa einem Jahrhundert, in dem sie sich verringert hatte.
Heute liegen die Steuersätze für Reiche und Konzerne auf den niedrigsten Quoten seit Jahrzehnten, und die Zahl der Milliardäre steigt rasant. Diese Botschaft hatte auch Thomas Piketty in seinem viel beachteten Buch »Das Kapital im 21. Jahrhundert« zusammengefasst und marktorientierte Ökonom*innen wie Robert Solow dazu veranlasst, von einer sich abzeichnenden Plutokratie zu sprechen. In Europa ist diese Entwicklung im Vergleich zum Rest der Welt weniger drastisch, aber auch in Deutschland steigen alle Indikatoren für Ungleichheit an. ​[​19​]​
Anders als erhofft haben die Reichen die eingesparten Steuern nicht so sehr in Form von Investitionen in produktive Tätigkeiten ausgegeben, sondern viele öffentliche Vermögenswerte wie Infrastrukturen und Gebäude übernommen. Was wir Privatisierung nennen, bedeutet, dass privates Nettovermögen in reichen Ländern in den letzten fünfzig Jahren von 200 bis 350 Prozent (1970) des Nationaleinkommens auf 400 bis 700 Prozent (2018) gestiegen ist, das öffentliche Nettoeinkommen hingegen gesunken. ​[​20​]​ Damit sind bei dieser Form des Wachstums zwar die Länder reicher geworden, die Staaten hingegen verarmt. Aus produktiver wurde unproduktive Verwendung von Finanzkapital: Die Gebühren für die Nutzung der Vermögenswerte steigen in Form von Mieten oder Pacht, ohne dass neuer Wert entsteht.
Ein weiterer beliebter Ort für überschüssiges Kapital war die Börse, wo mit Geld mehr Geld zu verdienen war als mit Arbeitsplätzen. In den letzten zehn Jahren gaben 500 der größten Unternehmen der USA fünf Billionen Dollar für eigene Aktien aus, wofür bei 450 der Firmen mehr als die Hälfte ihrer Gewinne investiert wurden. Besonders die Steuersenkung der Trump-Regierung hat dem noch einmal Auftrieb verliehen: Allein 2018 wurde eine Billion Dollar so investiert. ​[​21​]​ Der Effekt ist im Grunde genommen nichts anderes als Zahlentrickserei – die Anzahl der Aktien im Markt wird verringert, und damit steigt der Kurse pro Aktie. Und ohne dass sich in dem Unternehmen sonst irgendetwas verändert, steht es nun als vermeintlich erfolgreicher da als vorher. Die nach dieser Leistung berechneten Boni der Konzernlenker steigen natürlich auch. Noch zwei schöne Hockeyschläger-Kurven in unserer neuen Realität, und sie zeigen nur einen kleinen Ausschnitt davon.
Die Armen dagegen verschuldeten sich vor der Finanzkrise mit billigen und toxischen Krediten für ihre Häuser, die sie verloren, als die Immobilienblase schließlich platzte, woraufhin der Staat mit Steuergeldern einspringen musste, um die Kreditgeber zu retten. So wurden die Gewinne dieses riskanten Spiels privatisiert und verblieben bei wenigen, die Verluste wurden sozialisiert, also auf die Allgemeinheit abgewälzt.
Wie es aussieht, hat die Flut die Jachten deutlich schneller gehoben als die kleinen Kähne. Und seit der Finanzkrise mit einer Schwemme an billigem Geld der Zentralbanken begegnet wird, schießen die Vermögen und Einkommen der obersten ein Prozent fast senkrecht in die Höhe.
Die Geschichte vom ewigen Wachstum des Konsums für alle ist nicht aufgegangen, weder ökologisch noch sozial. Schritt für Schritt ist hinter atemberaubenden Zahlen ein System entstanden, das unseren Planeten zerstört, Eigentumsverhältnisse wieder denen im Feudalismus angleicht und das trotzdem immer weiterwachsen muss, um unter seinen Unwuchten nicht zusammenzubrechen.
Der eigentliche Zweck des aktuellen Systems lautet eben aller anderslautenden Beteuerungen zum Trotz doch endloses Wachstum an Absatz, Gewinnen und Besitz, koste es, was es wolle.
Dabei gibt es davon an einigen Stellen schon viel zu viel. Ich werde nie vergessen, wie wir im Sommer 2019 bei den Vereinten Nationen in New York über die fehlenden 39 Milliarden diskutiert haben, die jährlich für die Bereitstellung von primärer Bildung für alle Kinder fehlen. Gleichzeitig verkündete 250 Meter weiter das Bankhaus J. P. Morgan, dass es innerhalb weniger Monate 40 Milliarden Euro an seine Aktionäre ausschütten werde – weil es kaum mehr wisse, wohin mit seinen Finanzmitteln. ​[​22​]​
Es fehlt also nicht an weiterem Wachstum, bis genug Geld für viel mehr Glück bei vielen armen Menschen vorhanden ist. Es fehlt der ökonomische und politische Wille, die Vermehrung von Geld wieder expliziter mit der Schöpfung von Wert zu verbinden und die Abschöpfung von unverdientem Einkommen zu reduzieren.
Was ich damit meine?
Dass wir uns drei wichtige Fragen stellen sollten, wenn es um Wachstum geht:
Wie entstehen Güter und Dienstleistungen?
Wie gelangen sie zu Abnehmern?
Was passiert mit den Gewinnen aus diesen Prozessen?
Eines ist sicher: Hier sind eine Menge Akteur*innen beteiligt, die für ihren Beitrag irgendetwas haben wollen. Was aber passiert, wenn alle in diesem Prozess Beteiligten nur ihren eigenen Nutzen verfolgen und in ihren Berechnungen nur Geldindikatoren zählen? Dieser Frage ist die Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem Buch »Wie kommt der Wert in die Welt?« nachgegangen. Auch sie ist in die Geschichte der ökonomischen Ideen eingetaucht und hat nachgezeichnet, wie sich verschiedene Denker*innen die Entstehung von Mehrwert und Wohlstand erklärten.
Bis zum 19. Jahrhundert, also auch noch bei Adam Smith und David Ricardo, gab es stets so etwas wie eine objektive Basis für die Ermittlung von Wertschöpfung. Das konnten die Menge von Land und Materialien sein, die benötigten Werkzeuge und technischen Apparate oder auch der Zeitaufwand und die Qualität der Arbeit. Der Wert war das Ergebnis der jeweiligen produktiven Kombination dieser Ressourcen. Selbst wenn sich niemand fand, der für eine Sache oder Leistung einen Preis in der geforderten Höhe zahlen wollte oder konnte, so verringerte das nicht den Wert dieser Sache oder Leistung. Denn Preise waren das Ergebnis eines Tauschgeschäfts, in das Interessen, Machtverhältnisse und politische Rahmenbedingungen eingeflossen waren. Der Wert von Dingen und Dienstleistungen kann aber auch dann immens für menschliches Leben sein, wenn sie aktuell nichts kosten. Adam Smith hat das anhand des Wasser-Diamanten-Beispiels gezeigt.
Neben diesen produktiven Tätigkeiten kannte man auch schon unproduktive Tätigkeiten. Das waren solche, bei denen Bestehendes hin und her geschoben wurde – wie zum Beispiel der Handel oder die Verteilung von Geld. Dafür wurde eine Gebühr vorgesehen, aber nicht von produktiver Wertschöpfung gesprochen. Smith fand übrigens – entgegen den Bestrebungen der Financiers –, dass die Vergütung dafür eher gering gehalten werden sollte. ​[​23​]​
Diese Unterscheidung zwischen Wert und Preis ging dem Utilitarismus und der Mathematisierung der Ökonomie verloren: Ein nutzenmaximierender homo oeconomicus gibt nur so viel Geld für etwas her, wie es ihm an zusätzlichem Wert einbringt. Der Wert von Dingen wird also durch ihren Preis auf dem Markt bestimmt und hat nichts mehr mit ihren Inhalten oder Qualitäten zu tun. Der Preis ist der Wert. Subjektive Präferenzen (der Käufer*innen) schlagen objektive Ressourcen, Tauschwert entkoppelt sich vom Nutzwert.
Auf diese Weise wurde Wertschöpfung durch reine Verabredung möglich. Und das leistete auch, so Mazzucato, vielen unentdeckten unverdienten Einnahmen Vorschub, die aus unverhältnismäßigen Gebühren im Prozess des Hin-und-her-Schiebens entstehen. Merken Sie, was jetzt mit dem Utilitarismus passiert? Genau: Es kann sehr teuer werden, Wertschöpfung in einer Gesellschaft zum Wohle der größten Zahl zu organisieren.
Das macht Mazzucato am Beispiel der Pharmaindustrie deutlich: Weil jemand bereit ist, für ein neues Krebsmedikament 15 000 Euro zu zahlen, ist dieses Medikament das auch »wert«, und es ist legitim, diesen Preis von den Krankenkassen zu verlangen. Dass dieses neue Medikament vielleicht kaum verändert ist zu dem, was schon lange auf dem Markt war, spielt da keine Rolle. Dass Menschen natürlich alles für ihr Überleben ausgeben würden, auch nicht. Der Preis spiegelt also eher das Nutzen einer Machtposition als die Schaffung von Mehrwert wider.
Recherchieren Sie mal die Preissprünge für Medikamente nach Unternehmensfusionen. Sie werden erstaunt sein, wie einige neue Eigentümer den Wert der übernommenen Angebote einstufen im Vergleich zum Vorgänger.
Für die Wachstumsindikatoren beim Unternehmen und im BIP macht es aber keinen Unterschied, dass der »Wert« gar nicht neu geschaffen wurde. Im Gegenteil, höhere Gesamtbeträge suggerieren Erfolg und Fortschritt. Und so bleibt es innerhalb des Weltbildes der Tauschwert-Ökonomie sehr schwierig, gegen solche Praktiken zu argumentieren.
In der subjektiven Werttheorie können sich Menschen mit hohem Verdienst also nicht nur als besonders erfolgreich wahrnehmen, sondern eben auch behaupten, sie hätten einen hohen gesellschaftlichen Mehrwert geschaffen. Theoretisch betrachtet liegt hier aber etwas vor, was sich Zirkelschluss nennt: Erträge werden damit gerechtfertigt, dass etwas produziert wurde, das einen Wert hat. Der Wert wiederum richtet sich nach dem – Ertrag.
Und schwupp, ist der Kreis geschlossen.
Nicht mehr enthalten in diesem Kreis sind Fragen der gerechten Verteilung, der möglichst ökonomischen Wertschöpfung und der gesellschaftlich wünschenswerten Ergebnisse der Wertschöpfung.
Mich verwundert nicht, dass Mazzucato dafür bekannt wurde, dass sie, wie das Manager Magazin es ausdrückt, »der Businesselite die Lizenz zum Auftrumpfen« entzieht. ​[​24​]​ Wie J. P. Morgan zum Beispiel. Denn selbst wenn die 40 Milliarden Euro durch spekulative Hochgeschwindigkeitsgeschäfte über algorithmisierte Computerprogramme gemacht wurden und vielleicht ganze Volkswirtschaften ins Wackeln gebracht haben: Der Geldwert signalisiert Wertschöpfung. Und dessen Hersteller hat seinen Gewinn daher auch ganz produktiv verdient. Kein Wunder, dass Schuldscheine oder Aktienfonds auch gern Finanz-»Produkt« genannt werden. In die Berechnung des BIP wurden die Aktivitäten des Finanzsektors seit den Siebzigerjahren aufgenommen, parallel zu den Deregulierungsmaßnahmen, die diesen Sektor unter geringere Kontrolle stellten. Der Aufstieg ist beeindruckend. Aus einem unproduktiven Verschieben von Ressourcen im Dienste der Realwirtschaft ist mit der Zeit ein hochlukratives neues Geschäftsmodell geworden. Machen Sie sich noch mal klar, wie es funktioniert: Es beeinflusst durch Renditeerwartungen, welche Produktionsprozesse, Vergütungsregeln und Technologien sich in der Realwirtschaft durchsetzen.
Ich denke, dass wir viel mehr Transparenz und Aufklärung über die Zusammenhänge von Preisen und Werten brauchen.
Die Botschaft von Mazzucato etwa sollte viel stärker diskutiert werden. Sie lautet: Durch ein gezieltes Verhindern der unverdienten Wertabschöpfung und ein Bereinigen der Bilanzierung nach objektiveren Wertvorstellungen wäre eine viel nachhaltigere Form von Wirtschaft möglich.
Spätestens, wenn dieses wertblinde Wachstumsmodell immer mehr Krisensymptome von globalem Ausmaß mit sich bringt, sollte doch etwas mehr Sorgfalt in die Debatte und Suche nach Fortschritt und gutem Wirtschaften gebracht werden. Und dann fangen wir hoffentlich an, anders über unsere Begriffe und Wertvorstellungen nachzudenken. Und über die Einschätzung, welche Veränderungen machbar oder auch wünschenswert sind.
Vom Produkt zum Prozess.
Vom Förderband zum Kreislauf.
Vom Einzelteil zum System.
Vom Extrahieren zum Regenerieren.
Vom Wettkampf zur Zusammenarbeit.
Von Unwucht zur Balance.
Vom Geld zum Wert.
Mit unserer Sprache und ihren Begriffen drücken wir aus, was wir erreichen wollen und worauf wir achten. Ein Konzept oder eine Theorie zu entwickeln heißt deshalb auch, Grenzen des Denkens abzustecken. Und damit Grenzen unseres Möglichkeitsraumes für Zukunftsgestaltung. Denn Zukunft gestalten wir jeden Tag. Mit unseren Innovationen und Technologien, mit unserem Verhalten und unseren Entscheidungen und mit den Regeln des Zusammenlebens, die wir uns geben. Entscheidend ist, an welchen Zielen wir diese ausrichten.
Eine Wirtschaftsweise, die in einer begrenzten Welt mit endlichen Ressourcen auf stetes Wachstum setzt, ist nicht nachhaltig. Es gilt neu zu verhandeln, was den Wohlstand der Menschen übermorgen ausmacht. Dafür brauchen wir neue Begriffe und Konzepte, die ausdrücken, was wir künftig wichtig finden. Planetenzerstörung darf nicht mehr Wachstum heißen. Reine Geldvermehrung nicht länger Wertschöpfung. Grenzen des Wachstums sollten Überwindung der ökologischen und sozialen Schadschöpfung heißen.