Gerechtigkeit
»Wir reden viel darüber, mehr zu geben. Wir reden nicht darüber, weniger zu nehmen. Wir reden viel darüber, wovon wir mehr machen sollten. Wir reden nicht darüber, wovon wir weniger tun sollten.«
Anand Giridharadas, Journalist und Autor
Vor einigen Jahren kam der Ökologe Stefan Gössling auf die Idee, die Flugbewegungen von Prominenten zu untersuchen. ​[​54​]​ Er wollte herausfinden, welchen Einfluss Menschen wie sie auf den Klimawandel haben. Interessanterweise hatte das bis dahin noch niemand gemacht. Prominente stehen in unserer Gesellschaft für jene, die es, wie gern gesagt wird, geschafft haben. Sie gelten als Leute, zu denen wir aufsehen, die Vorbilder sind. Dazu gehören Künstler, Schauspieler, Sportler, Wirtschaftsführer oder Politiker, aber zunehmend auch Menschen, die nicht berühmt sind für den Job, den sie haben, sondern deren Job darin besteht, berühmt zu sein. Sie lassen sich als sogenannte Influencer von Unternehmen dafür bezahlen, deren Marken öffentlichkeitswirksam zu platzieren.
Stephan Gössling hat die Flugbewegungen von zehn dieser Menschen für das Jahr 2017 analysiert – angefangen vom Microsoft-Gründer Bill Gates über Facebook-Chef Mark Zuckerberg, Sängerin Jennifer Lopez, Hotel-Erbin Paris Hilton, Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey bis hin zu Designer Karl Lagerfeld. Erhoben hat er die Daten, von denen man meinen möchte, dass an sie nur im Geheimen heranzukommen sei, über deren öffentliche Profile in den sozialen Netzwerken. Denn viele Prominente veröffentlichen, wann sie wohin und wofür sie gereist sind, über Twitter, Instagram oder Facebook. Das gehört bei einigen inzwischen zur Pflege ihres Images. Sie stellen einen Lebensstil aus, der zeigt, dass sie superreich sind, was im Umkehrschluss nahelegt, dass jeder, der superreich ist, auch so lebt wie sie – als gebe es kein anderes Bild und Vorbild dafür, wie man Geld erwirbt und was man damit anfangen kann.
Allein auf Instagram, der Plattform, auf der Bilder geteilt werden, folgten den zehn Prominenten zum Zeitpunkt der Studie zusammen mehr als 170 Millionen Menschen, um an deren Leben teilzuhaben.
»Insbesondere jüngere Menschen können Vielfliegeridentitäten als eine von Prominenten geprägte soziale Norm ansehen«, so die Studie.
Bill Gates, der die Liste der Vielflieger anführt, war demnach im Jahr 2017 wenigstens 350 Stunden in der Luft, und weil er dafür vornehmlich ein Privatflugzeug nutzte, stieß er auf diese Weise mehr als 1600 Tonnen Kohlendioxid aus. Bei Paris Hilton und Jennifer Lopez, Platz zwei und drei auf der Liste und ebenfalls meist in Privatflugzeugen unterwegs, waren es 1200 Tonnen beziehungsweise 1000 Tonnen Kohlendioxid.
Was das mit Gerechtigkeit zu tun hat?
In der Vergangenheit war es leicht zu glauben, dass der Lebensstil des wohlhabenderen Teils der Welt mit dem des armen und ärmsten in keinerlei Zusammenhang steht. Die einen waren reich und die anderen arm, und wenn sich daran etwas ändern sollte, mussten die Armen eben versuchen, ebenfalls reich zu werden. Was nahm der Reichtum der einen dem Leben der anderen denn schon weg?
Seit die Wissenschaft nicht nur genaue Kenntnis vom Klimawandel hat, sondern auch genaue Prognosen darüber abgeben kann, wie viel ausgestoßenes Kohlendioxid wahrscheinlich zu wie viel Erhöhung der mittleren globalen Oberflächentemperatur führen wird und was diese Erhöhung auf dem Planeten wahrscheinlich anrichten kann, lässt sich dieser Zusammenhang aber gut in Zahlen beschreiben.
Im Jahr 2015 beschlossen fast alle Staaten der Weltgemeinschaft auf der Klimakonferenz in Paris, die Erderwärmung gemessen an der vorindustriellen Zeit auf »deutlich unter 2 Grad« zu begrenzen. Ließe sich die Zunahme sogar noch auf 1,5 Grad begrenzen, das zeigten wissenschaftliche Berichte in den folgenden Jahren, würden die Klimaveränderungen weniger drastisch und die Kosten, sich an sie anzupassen, weniger hoch werden. Für diese 1,5-Grad-Grenze konnte die Menschheit, gerechnet ab Ende 2017, noch ungefähr 420 Gigatonnen Kohlendioxid ausstoßen. Da sie derzeit pro Jahr aber bis zu 42 Gigatonnen ausstößt, verbleiben ihr inzwischen, Stand Anfang 2020, noch weniger als acht Jahre, bis dieses Budget aufgebraucht ist. ​[​55​]​ Danach muss sie praktisch klimaneutral leben, was bedeutet, dass die neuen Emissionen und das, was von der Natur oder den Ozeanen absorbiert werden kann, in Balance sein müssen. Weniger als acht Jahre, um die wohl größte ökonomische, technologische und soziale Umstellungsleistung in der Geschichte zu leisten.
Das ist, um das Mindeste zu sagen, sehr, sehr knapp.
Umgerechnet auf eine Person würde das bedeuten, dass Stand Anfang 2020 jeder Mensch noch etwa 42 Tonnen Kohlendioxid ausstoßen darf, damit die Erde sich nicht um mehr als jene 1,5 Grad erwärmt.
Womit wir dann wieder bei Bill Gates wären.
Bill Gates, laut Forbes-Liste mit einem Vermögen von etwa 108 Milliarden Dollar einer der drei reichsten Menschen der Welt, ​[​56​]​ hat so gesehen also in einem Jahr das Lebensbudget an Kohlendioxid von 38 Menschen verbraucht – alles, was sie für Heizen, Mobilität und Konsum noch ausgeben dürften, um die 1,5-Grad-Grenze nicht zu überschreiten. Eine Person. Nur für sich. Nur für seine Flüge, die auf den sozialen Netzwerken zu finden sind. In einem Jahr.
Jetzt haben wir aktuell noch die Situation, dass einige Menschen mit ihren Lebensstilen kaum etwas vom CO2 -Budget verbrauchen und damit anderen ihren Anteil zur Verfügung stellen können. Natürlich ist es auch nicht so, dass alle Berufe mit den gleichen Aktivitäten verbunden sind, und bei einigen Personen leben Teile der Familie am anderen Ende der Welt. Es ist also nicht einfach, hier Gerechtigkeitsformeln zu finden. Das ist es nie.
Aber was in diesem Fall eindeutig ungerecht ist, ist der Fakt, dass kaum jemand der Extrem-Emittent*innen sich anschickt, seinen oder ihren Lebensstil ernsthaft infrage zu stellen. Und die einzige Begründung, die ich dafür sehen kann, ist, dass sie die finanziellen Mittel haben, diese Ressourcen für sich zu sichern. Es sind die gleichen finanziellen Mittel, mit denen sie dann etwas tun können werden, das die Menschen, deren Budget sie verflogen haben, ebenfalls nicht können – sich an den Klimawandel anpassen, dahin ziehen, wo es noch schön ist, die steigenden Preise für weniger Nahrungsmittel zahlen und die Zerstörung ihrer Häuser von Versicherungen übernehmen lassen. Nimmt man jetzt noch die Emissionen dazu, die sie in den vergangenen dreißig oder vierzig Jahren verursacht haben, in denen Klimawandel und seine Ursache bereits bekannt war, wird die Rechnung erst richtig deutlich. Auf Lebenszeit gerechnet liegt das Kohlendioxid-Budget dieser Menschen so weit außerhalb des Charts, dass sie jedes Jahr Tausende Tonnen wegsaugen müssten, um bis 2050 einen in etwa vergleichbaren Anteil wie der weltliche Durchschnittsbürger zu erreichen.
Finden Sie das gerecht?
Dann erkennen Sie jetzt den Zusammenhang.
Wie ich in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt habe, leben wir heute in der Realität der vollen Welt, in der wir uns an den begrenzten Möglichkeiten unseres Planeten ausrichten müssen. Doch diese Begrenztheit ist noch nicht ins Bewusstsein der Menschheit vorgedrungen, sie bestimmt noch nicht ihr Handeln: Die meisten Versuche, irgendwie mit ihr umzugehen, haben uns nicht dazu verholfen, dass sich unsere Lebensweise tatsächlich daran ausrichtet.
Der Grund dafür ist meiner Meinung nach ganz einfach: Wer akzeptiert, dass es Grenzen gibt, der muss auch akzeptieren, dass Güter und Verschmutzungsrechte endlich sind. Wenn der Kuchen aber nicht immer größer werden kann, stellt sich automatisch die Frage, wie er zu verteilen ist. Wenn die Ökosysteme nur eine bestimmte Menge an Rohstoffen hergeben und eine bestimmte Menge an Abfall und Abgasen aufnehmen können, stellt sich automatisch die Frage, wer wie viel verbrauchen, wegwerfen und ausstoßen darf. Umweltfragen sind immer Verteilungsfragen, und Verteilungsfragen sind immer Gerechtigkeitsfragen.
Ein paar der Argumente, mit denen diese Gerechtigkeitsfragen in der öffentlichen Diskussion beantwortet werden, habe ich dargestellt.
Wirtschaftswachstum wird für Gerechtigkeit sorgen.
Effizientere Technik wird für Gerechtigkeit sorgen.
Nachhaltiger Konsum wird für Gerechtigkeit sorgen.
Ich habe ebenfalls dargestellt, dass alle diese Argumente, wenn man sie sich genauer ansieht, durchweg eine Geschichte erzählen, in der der Kuchen am Ende doch immer größer werden kann, und dass sie sich genau deshalb eher als bequeme Geschichten aus einer Scheinrealität erwiesen haben, die nicht aufgegangen sind und von denen wir trotzdem nicht lassen wollen. Will man denen, die diese Geschichten erzählen oder erzählt haben, nichts Böses unterstellen, dann könnte man sagen, sie haben sich eben geirrt. Fakt aber ist, dass wegen genau dieser Geschichten die Fragen danach, wie die Ressourcen des Planeten unter Beachtung der gegebenen Grenzen gerechterweise zu verteilen wären, nicht klar und deutlich gestellt, sondern in eine Zukunft verschoben wurden. Fakt ist auch, dass davon vor allem jener Teil der Menschheit profitiert, der bisher auch schon überdurchschnittlich stark von den Ressourcen des Planeten profitiert hat.
Trotzdem hören wir immer noch und immer wieder, dass die ökologischen Ziele den sozialen Zielen leider entgegenstehen.
Wie oft saß ich schon in Paneldiskussionen, bei denen mit dem Aufrufen von diesen »tief sitzenden Zielkonflikten« fast so was wie Erleichterung einzutreten schien, da man nun erst einmal weiter darüber sinnieren konnte, wie schwierig alles ist. Klar, dass man dann nicht sofort handeln kann. Auf den Panels sind ja auch selten die wirklich armen Länder und Menschen vertreten, die in einem ökologischen Desaster die größte soziale und humanitäre Krise sehen würden. Und so kann sich mit Verweis auf die finanziell Schwächeren in den Ländern des Überkonsums weiteres Nichthandeln als soziale Rücksichtnahme darstellen. Fast hatte ich den Eindruck, dass Politiker*innen, Konzernlenker*innen, aber auch Gewerkschafter*innen Anfang 2019 unglaublich dankbar für die Demonstrationen der Gelbwesten in Frankreich waren, wo sich Proteste an einer höheren Treibstoffsteuer entzündet hatten, eine Maßnahme der dortigen Energiewende. Wirkliche Klimapolitik, so die Schlussfolgerung, wolle die Bevölkerung eben nicht.
Wo aber war die Frage, welche Klimapolitik die Bevölkerung möchte? Und wie sie so mit zukunftsorientierter Sozial- und Fortschrittspolitik kombiniert werden kann, dass der angebliche Zielkonflikt zwischen Ökologischem und Sozialem zur Zielverheiratung wird? Wo war die Einsicht, dass soziale Gerechtigkeit auch von einer anderen Seite angepasst werden kann, nämlich von oben? Wie will man Menschen für die enormen Veränderungen gewinnen, die eine nachhaltige Wirtschaftsweise bedeutet, wenn man nicht gewährleisten kann, dass diese Veränderungen alle betreffen? – Wenn die französische Regierung die Vermögenssteuer senkt, wird dieses Gefühl zumindest sehr strapaziert.
Anders gesagt: Wie will man die ökologische Frage lösen, wenn man sie nicht auch als soziale Frage versteht?
Der Amerikaner John Rawls, einer der wichtigsten Vertreter der politischen Philosophie des vergangenen Jahrhunderts, hat Anfang der Siebzigerjahre mit einer neuen Perspektive auf die Verteilungsfrage gesehen. Er war der Meinung, das grundlegende Problem der Welt sei, dass die Entscheider, die Reichen und Mächtigen, keinen Vorteil in einer Verteilung von Macht und Ressourcen sähen, die von der gerade bestehenden abweicht. Diejenigen dagegen, die von einer anderen Verteilung profitieren würden, also die Ärmeren und weniger Mächtigen, haben keinen oder nicht genügend Einfluss, um daran etwas zu ändern. Die Folge ist ein sich verstärkendes Gerechtigkeitsdilemma, das sich im Grunde nicht auflösen lässt.
Um dieses Dilemma zu veranschaulichen, schlug Rawls vor, sich gedanklich in einen »Schleier des Nichtwissens« zu begeben. Dort angekommen, kann man zwar noch rational denken, aber man weiß – ähnlich wie vor der Geburt – nichts darüber, in welche Situation man hineingeboren wird. Mit welcher Hautfarbe man zur Welt kommt, mit welchem Geschlecht, in welchem Land, in welche Familie, und – wie ich jetzt noch ergänzen wollen würde – man hat keinen Schimmer davon, in welche Generation man geboren wird. Man könnte das Kind von Bill Gates sein, aber auch das eines Reisbauern aus Bangladesch. Allerdings ist es unwahrscheinlich, in diesem Gedankenexperiment das Kind von einem der reichsten Menschen der Welt zu werden, als Tochter oder Sohn eines der ärmsten Menschen auf die Welt zu kommen wäre viel wahrscheinlicher. Ganz einfach, weil es auf der Welt noch immer so unglaublich viel mehr Arme als Reiche gibt.
Die Frage, die Rawls aus diesem Gedankenexperiment ableitet, lautet: Wie würden Sie die Welt einrichten wollen, wenn Sie nicht wissen, welche Position Sie in ihr einnehmen werden?
In dem Moment, in dem Sie so an die Sache herangehen, nehmen Sie eine systemische Perspektive ein. Und damit könnten wir Zielkorridore formulieren und mehrere Maßnahmen zusammendenken, anstatt bei jeder einzelnen Maßnahme isoliert abzuwägen. Denn nach Rawls verfügen wir alle über ein intuitiv richtiges Empfinden dafür, was gerecht und ungerecht ist. Das kann die Wissenschaft inzwischen auch mit Zahlen stützen.
Der Psychologe und Verhaltensökonom Dan Ariely hat mit seinem Kollegen Mike Norton im Jahr 2011 Amerikaner gefragt, was sie meinen, wie der Wohlstand in der Gesellschaft ihrer Meinung nach verteilt sein sollte, und wie sie glauben, dass er verteilt sei. ​[​57​]​ Dabei wurde die Bevölkerung in fünf Segmente geteilt, und für jedes Segment sollten die Befragten angeben, wie viel Prozent des Wohlstands dort verfügbar ist. Die befragten Amerikaner sahen eine ideale Verteilung so: Das reichste Fünftel sollte über gut dreißig Prozent des Wohlstandes verfügen, das ärmste Fünftel aber wenigstens über zehn Prozent. Hier gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder ob die Menschen demokratisch oder republikanisch wählten. Sollten die Befragten dagegen sagen, wie das Vermögen tatsächlich in der Gesellschaft verteilt ist, nahmen sie an, dass das reichste Fünftel über fast sechzig Prozent des Vermögens verfüge, das ärmste Fünftel dagegen über weniger als fünf Prozent.
Tatsächlich war es zum Zeitpunkt der Befragung so, dass das reichste Fünftel der Gesellschaft über fast 85 Prozent des Vermögens verfügte, das arme und ärmste Fünftel zusammen dagegen über weniger als ein Prozent.
Anders gesagt: Die amerikanische Gesellschaft ist in Wahrheit noch viel ungerechter, als sie ihren Mitgliedern ohnehin erscheint.
Und seit dieser Umfrage ist die Ungleichverteilung so rasant gestiegen, dass neue Studien immer das obere ein Prozent einzeln angeben. Dort befinden sich in Amerika inzwischen vierzig Prozent des Haushaltsvermögens. ​[​58​]​
Und auf der Welt im Ganzen sieht es kaum anders aus.
Das World Inequality Lab beschäftigt sich mit der Erforschung der globalen Ungleichheitsdynamik. Sein 2018 erstellter Bericht zur weltweiten Ungleichheit – eine Arbeit von mehr als hundert Forschern aus der ganzen Welt – zeigt, dass die Ungleichheit zwischen Arm und Reich seit 1980 rund um den Globus zugenommen hat. ​[​59​]​ Das reichste Prozent der Weltbevölkerung konnte in dieser Zeit mehr als ein Viertel des Vermögenszuwachses auf der Welt für sich sichern. Das reichste 0,1 Prozent hat sein Vermögen in diesen fast vierzig Jahren um dieselbe Summe gesteigert wie die unteren fünfzig Prozent.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Von dem, was das Wirtschaftswachstum seit der Globalisierung an Vermögen geschaffen hat, ist bei vielen Armen etwas, bei sehr wenigen Reichen unfassbar viel und bei der großen Mittelschicht kaum bis gar nichts angekommen.
Was der Bericht über die Weltungleichheit allerdings auch zeigt, ist, dass in den Ländern, die eine aktive Verteilungs- und Sozialpolitik betreiben, die Schere weniger extrem auseinandergeht. Das bedeutet, dass die Abschaffung der Armut schneller vorangeht, wenn sie tatsächlich ein politisches Ziel ist und sich nicht wie nebenbei ergeben soll, während wir alle auf einen ungesteuerten Trickle-Down -Effekt warten, bei dem die Flut angeblich alle Boote hebt. ​[​60​]​ Was wäre also, wenn wir gar nicht erst immer weiterwachsen, um die Ungleichheit zu reduzieren? Sondern gleich damit anfangen, die Verteilung von Gütern, Ressourcen und Chancen so zu lenken, dass sie annähernd den empfundenen Idealen entspricht?
Im ersten Schritt könnten wir zum Beispiel einmalig 10 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsproduktes für den Aufbau von Gesundheitssystemen, Bildungseinrichtungen, resilienter Landwirtschaft und erneuerbarer Energieversorgung für Menschen ohne viel Kaufkraft einsetzen.
Das wären 8,2 Billionen Dollar.
Viel zu viel?
Wo das herkommen soll?
Das ist, so die Schätzung des Ökonomen Gabriel Zucman, die Summe Geld, die von den vermögenden Menschen dieser Welt aktuell in Steueroasen versteckt wird. ​[​61​]​ Steuern werden doch in der Regel erlassen, damit das Geld in Investitionen für das Gemeinwohl fließt? Mal angenommen, auf diese Summe würde einmalig ein in vielen Ländern normaler Steuersatz von etwa 30 Prozent angesetzt, dann würden 2,7 Billionen Dollar in der globalen öffentlichen Hand landen. Mit diesem Budget im Haushalt könnte die internationale Staatengemeinschaft sehr viele Investitionen in die Daseinsvorsorge leisten, was Zucman auch schon in seinem Buch »The Hidden Wealth of Nations« klargemacht hatte.
Wie bringt man diese Unwuchten also wieder in Einklang? Oder als erster Schritt: Wieso sprechen wir nicht ehrlicher von diesen Unwuchten, wenn es um die Lösungssuche geht?
Schauen wir noch einmal auf Menschen wie Bill Gates. An ihrem Beispiel lassen sich viele der Schwierigkeiten beschreiben, die entstehen, wenn man versucht, die Symptome eines fehlgesteuerten Systems zu korrigieren, statt sich das System selbst anzusehen. Bill Gates hat sein Vermögen nicht geerbt, es ist das Ergebnis seines unternehmerischen Einfallsreichtums – fast jeder Mensch auf dieser Welt kennt oder arbeitet mit Produkten von Microsoft. Mit seiner privaten Stiftung, die gemessen an den Einlagen von mehr als dreißig Milliarden Dollar größte Privatstiftung der Welt, lassen er und seine Frau Melinda seit Jahren Impfstoffe gegen Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und Malaria entwickeln und kümmern sich um eine bessere landwirtschaftliche Versorgung in Afrika. Sie geben so mehr Geld für Gesundheits-, Bildungs- und Ernährungsprojekte aus als viele demokratisch gewählte Regierungen.
Ist das Kohlendioxid, das Bill Gates jedes Jahr mit seinem Privatflugzeug ausstößt, da nicht gut investiert? Ist es nicht prima, dass er sich Themen annimmt, die die Regierungen dieser Welt nicht ausreichend lösen?
Natürlich ist es großartig, dass sich jemand dieser Themen annimmt. Aber während eine Regierung von der Opposition, den Gerichten oder den Wählern kontrolliert wird, legt die Stiftung von Bill Gates selbst fest, für wen sie sich wie engagiert und mit wem sie sich zusammentut. Sie legt ihre eigenen Verfahrens- und Kooperationsweisen fest. Dass sie dabei laut der Organisation »Global Justice Now« Chemiekonzernen wie Monsanto oder globalen Getreide-Großhändlern wie Cargill den Weg in die Märkte in Afrika ebnet und teilweise auch Aktien an Firmen wie Monsanto oder McDonald’s hielt oder hält, bleibt damit ihre Sache. ​[​62​]​
Der amerikanische Journalist Anand Giridharadas hat in seinem 2018 erschienen Buch »Winners Take All«, also Gewinner nehmen das Ganze, untersucht, wie sich diese Form der Philanthropie als eine Art Ablasshandel etabliert hat, der wirkliche Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen, der Verteilung von Wohlstand oder der eigenen Beteiligungsprivilegien eben gerade nicht herbeiführen will.
»Den Gewinnern unserer Zeit gefällt die Vorstellung nicht, dass einige von ihnen tatsächlich verlieren müssen und Opfer bringen, damit Gerechtigkeit getan werden kann«, schreibt er. Von ihnen höre man nicht viele Ideen, wonach sie als die Privilegierten tatsächlich im Unrecht seien und sie ihren Status und ihre Position aus Gründen der Gerechtigkeit aufgeben müssen. Sie ließen es sich gefallen, wenn man sie auffordere, etwas mehr Gutes zu tun, und sie dafür Dankbarkeit ernteten, so Anand Giridharadas. »Aber sag ihnen niemals, dass sie weniger Schaden anrichten sollen.« ​[​63​]​
Großzügigkeit ist noch keine Gerechtigkeit.
Und Umverteilung klingt immer so, als müssten die einen etwas abgeben, das ihnen zusteht, während andere, die angeblich weniger erfolgreich, weniger klug und geschäftstüchtig waren als sie, gönnerhaft bedacht werden sollen. Es ist aber schwer vorstellbar, dass die Top-Manager seit 1980 im Schnitt 1000 Prozent klüger, geschäftstüchtiger und arbeitsamer geworden sind und die durchschnittlichen Mitarbeiter*innen in ihrer Firma nur 12 Prozent? Denn genau so hat sich die Einkommensverteilung in den Firmen der USA seit 1978 entwickelt. ​[​64​]​ Und auch die empirische Fleißarbeit von Thomas Piketty zum Kapital im 21. Jahrhundert hat die wachsende Ungleichverteilung nicht so sehr in der explodierenden Produktivität der Manager gesehen, sondern in den staatlichen Regeln der Besteuerung. Er verwies auch auf den Sachverhalt, dass die Hochverdiener der einen Firma bei denen der anderen im Aufsichtsrat sitzen und sie damit gegenseitig über die Vergütungsstrukturen befinden.
Gerechtigkeit heißt nicht allein Verteilungsgerechtigkeit, sie heißt auch Chancengerechtigkeit. Sowohl die gleiche Chance, ein den menschlichen Bedürfnissen gerechtes Leben zu führen, als auch die gleiche Chance, die Bedingungen dafür zu beeinflussen.
Dieses Konzept lässt sich auch auf Staaten übertragen.
Das World Resources Institute hat vor einiger Zeit eine Grafik veröffentlicht, in der es die Kohlendioxid-Emissionen seit Beginn der Industrialisierung auf einzelne Staaten herunterrechnet. ​[​65​]​ Danach sind die USA für den Zeitraum von 1850 bis 2011 für insgesamt 27 Prozent der weltweiten kumulativen Emissionen verantwortlich, gefolgt von den Staaten der Europäischen Union, einschließlich Großbritanniens, die bislang für 25 Prozent der Emissionen verantwortlich waren. Staaten wie China, Russland oder Indien folgen erst in großem Abstand. Das relativiert natürlich die Rede davon, dass das, was wir im globalen Norden gegen die Erderwärmung tun oder wenigstens tun könnten, von dem immensen Energiehunger dieser Länder ohnehin wieder zunichtegemacht wird.
Wie diese Grafik zeigt, haben wir unseren Entwicklungsschub bereits vor langer Zeit mit einem Kredit am Weltklima finanziert, und die Menschheit wird an dieser Hypothek noch lange tragen. Wenn die Schlussfolgerung daraus nicht lauten soll, dass Gerechtigkeit nur hergestellt werden kann, wenn diese Länder mindestens genauso viel Kohlendioxid ausstoßen wie die USA – und die USA würden deshalb ja nicht plötzlich aufhören, so weiterzuleben wie bisher –, dann kann es nur darum gehen, auf eine andere Art einen Ausgleich zwischen den Staaten zu finden.
Wie könnte so ein Ausgleich aussehen?
Nehmen wir den Regenwald im Amazonas. Nach Untersuchungen des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung sind in ihm bis zu 76 Milliarden Tonnen Kohlenstoff gespeichert, jedes Jahr bindet er weitere 600 Millionen Tonnen Kohlenstoff. ​[​66​]​ Er ist ein wichtiger Faktor bei der Bekämpfung des Klimawandels, die wiederum eine wichtige Angelegenheit der Weltgemeinschaft ist. Insofern ist es einerseits kein Wunder, dass sich der französische Staatspräsident Emmanuel Macron besorgt äußert, wenn wie im Jahr 2019 Tausende Feuer Teile dieser grünen Lunge der Erde vernichten. ​[​67​]​ Andererseits liegt der Regenwald zum überwiegenden Teil auf dem Staatsgebiet Brasiliens, dessen Präsident Jair Bolsonaro es als Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes versteht, wenn sich ausländische Regierungschefs dazu äußern, dass Brasilien diese Feuer schneller und entschlossener löschen solle.
Ein klassischer Konflikt.
Brasilien möchte wirtschaftlich Anschluss an die BIP-feiernden westlichen Industrienationen bekommen. Länder mit diesen Pro-Kopf-Einkommen werden international schließlich »Schwellenländer« genannt, sie sind also ganz dicht dran am Eintritt in den Klub derer, die es geschafft haben. Und dafür will Brasilien auch auf den Regenwald zugreifen, sein Holz, die Rohstoffe, die darunter vermutet werden, nicht zuletzt die landwirtschaftliche Nutzfläche, die er darstellt und die oft zuerst als Weide für Rinder und danach als Ackerfläche für den Sojaanbau genutzt wird. Brasilien ist der größte Rindfleisch-Exporteur der Welt ​[​68​]​ und der zweitgrößte Exporteur für Soja, ​[​69​]​ mit dem wir wie erwähnt in Deutschland Kühe und Schweine mästen. Europa schließt mit Südamerika gerade erst weitere Abkommen, die sogenannten Mercosur-Verträge, ab, um den Handel zu erleichtern.
Kann sich Europa hier also durch moralische Zeigefinger und Drohungen stark oder eher lächerlich machen?
Und kann man Brasilien seine Pläne verdenken?
Länder wie Deutschland oder Großbritannien haben die Rohstoffe auf ihren Staatsgebieten auch ausgebeutet, wie es ihnen gefiel, ohne dass sich jemand von außen eingeschaltet hätte. Hätten sie beispielsweise ihre Kohlevorräte in der Erde gelassen, hätten wir es heute mit einem geringeren Anteil an Kohlendioxid in der Atmosphäre zu tun.
Der südkoreanische Wirtschaftswissenschaftler Ha-Joon Chang hat im Jahr 2002 in einem Buch, das auf Englisch den Titel »Kicking Away The Ladder« trägt – also »Das Wegtreten der Leiter« –, beschrieben, wie die Industriestaaten des globalen Nordens den Entwicklungsländern genau jene Methoden verbieten, die sie einst selbst für ihren Aufstieg benutzt haben: Hohe Zölle, um die heimische Wirtschaft zu schützen, Produktpiraterie oder die Konzentration auf Schlüsselindustrien – all das wandten Länder wie die USA, Großbritannien, Deutschland oder Japan einst an und tun es heute wieder, um weiteres Wachstum zu erzeugen.
»Wenn jemand den Gipfel der Macht erklommen hat«, schreibt Ha-Joon Chang, »dann ist es ziemlich klug, einfach die Leiter wegzustoßen, auf der er nach oben gekommen ist.« ​[​70​]​
Wie kommen wir aus dem Wettlauf Richtung Zerstörung der Welt raus? Wie können wir ein Gerechtigkeitsverständnis finden, das uns wieder miteinander anstatt gegeneinander handeln lässt und die Verbindung von sozialen und ökologischen Zielen erlaubt?
Für mich liegt die Formel darin, dass wir aus der Zukunft denken. Und systemisch. Denn wie wir am Schleier des Nichtwissens von John Rawls gesehen haben, liegen unsere individuellen Ideen von Verteilungsgerechtigkeit relativ nah beieinander, wenn wir vom direkten Vergleich miteinander einmal zurücktreten.
Übernähmen wir die ideale Verteilungsidee der Amerikaner*innen, entsprächen 10 Prozent des Welt-BIP, die ihrer Meinung nach den ärmsten 20 Prozent der Weltbevölkerung zukommen sollten, ebendiesen 8,2 Billionen Dollar, die in Steueroasen liegen. Das sind etwas über 10 000 Dollar pro Kopf pro Jahr. Oder 27 Dollar pro Tag. Da scheint die Idee, eine Zielperspektive von 7,40 Dollar oder auch 15 Dollar pro Tag für die extreme Armutsgrenze anzusetzen, wie ich sie im Kapitel »Mensch und Verhalten« diskutiert habe, nicht so vermessen. Der entsprechende Weltbank-Indikator mit 1,90 Dollar pro Tag schon eher. Ein System, das diesen Wert von 1,90 Dollar pro Tag erreicht, als legitimiert zu bezeichnen, ohne zu schauen, wie es diesbezüglich ganz oben aussieht, kann, so würde Rawls das wohl sehen, nur von denen kommen, die oben sitzen.
Die Losung der globalen Nachhaltigkeitsziele heißt »Niemanden zurücklassen«. Auf einem begrenzten Planeten gedacht ist der Umkehrschluss: »Niemanden davonziehen lassen«.
Mit dieser Formel kommen wir dann sogar den Bedingungen näher, unter denen eine »unsichtbare Hand« das Aushandeln guter Ergebnisse zwischen vielen dauerhaft erlaubt. Denn, so stellen Oliver Richters und Andreas Siemoneit in ihrem Buch »Marktwirtschaft reparieren« fest: »Eigentum stellt Verantwortung sicher und wirkt der Vernachlässigung entgegen. Diese Funktionen sind richtig und wichtig. Aber Eigentum kann kein Absolutum sein, weil es in erster Linie eine soziale Funktion erfüllen soll, nicht eine individuelle: Es soll Arbeitsteilung unter Unbekannten ermöglichen, nicht Akkumulation. Eigentum muss seine Grenze dort finden, wo es die Freiheit anderer einschränkt, also zu übermäßiger Machtakkumulation führt und unweigerlich ermöglicht, zu ernten, ohne zu säen.« ​[​71​]​
Dazu ist die Idee, dass ein paar Obergrenzen sogar den Oberen helfen können, gar nicht so absurd. Diese Befunde tragen eine Mehrzahl von Gesellschaftsforschern in den letzten Jahren zusammen und bestätigen damit, was Tim Kasser schon als psychologischen Effekt des Materialismus beschrieben hatte – die Gesellschaft bewegt sich von Chancengleichheit weg und hin dazu, Wert nur noch in Geld, Besitz oder Ruhm auszudrücken. Wenn diese Erzählung gekoppelt ist mit einer Gesellschaft, in der die Chancenverteilung und der Wohlstand sowieso schon arg schiefliegen, kommt selbst bei den vermögenden Sphären der Gesellschaft viel Stress auf.
2019 hat Daniel Markovitz – genau wie Michael Sandel – ein Buch dazu geschrieben, warum diese Art der Meritokratie allen schadet und wie viel die Top-Verdiener*innen für die Top-Verdienste und Top-Lebensstile des Distinktionskonsums aufbringen müssen: Sie widmen ihnen nicht weniger als ihr gesamtes Leben und im Zweifel auch ihre Gesundheit. Diese Widmung beginnt im Kindergartenalter, wo der Eintritt in die Elite-Institutionen startet. Später zeigen die Schüler*innen der Erfolgsschulen dann dreimal so hohe Stresswerte wie ihre Altersgenoss*innen auf normalen Schulen. In Silicon Valley lag der Anteil der Highschool-Schüler*innen mit Zeichen von Depressionen bei 54 Prozent und der mit moderaten bis starken Zeichen von Anspannung bei über 80 Prozent. ​[​72​]​ Der Job eines Bankers geht dann von 9 bis 5 Uhr, also von neun Uhr morgens bis zum nächsten Morgen um fünf. Der Sinn für ihren Job geht vielen genauso verloren wie die Zeit für Familie, Freunde und Gesundheit. Aber um den Anschluss nach »ganz oben« nicht zu verlieren, darf das Einkommen nicht fehlen.
Wissen Sie, was eine nach oben gesetzte Grenze konkret bedeutet?
Ausreichend progressive Besteuerung und ein vernünftiges Kartellrecht.
Dann wird Gerechtigkeit neben einem gesellschaftlichen Ziel auch noch ein Mittel, um die empfundene Lebensqualität und den sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft zu sichern.
Und wie lässt sich die zukunftsorientierte Perspektive gesunder Systeme auf die Umweltprobleme anwenden?
Für das Beispiel des Regenwaldes am Amazonas bietet sich eine Verabredung an, wie sie von der Regierung Ecuadors unter dem Präsidenten Rafael Correa schon einmal relativ weit verhandelt war. Sie beinhaltet die Idee eines Fonds, in den reiche Länder einzahlen, damit Ecuador das Öl im Nationalpark Yasuní im Boden lässt. Zum Schluss ist die Idee an Misstrauen gescheitert: Man war sich nicht sicher, ob Ecuador nicht doch das Öl fördern würde, sobald das Geld des Fonds verbraucht wäre. Aber das ist eine Frage des politischen Willens und der Suche nach guten Institutionen – dauerhafte Transfers, gesichert mit neuen Technologien wie einer Blockchain, böten sich an. Es ist kein Interessenkonflikt zwischen sozialen und ökologischen Zielen, im Gegenteil.
Ein anderes Konzept in diese Richtung ist zum Beispiel der Earth Atmospheric Trust, den ökologische Ökonom*innen um die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom vorgeschlagen haben. ​[​73​]​ Überziehen Einzelne ihren Anteil des CO2 -Budgets, zahlen sie entsprechend in den Trust ein. Das erhaltene Geld wird zu einem Teil als ein Einkommen ohne Bedingungen an alle ausgezahlt. Der Rest wird für Investitionen in den Umbau der Energiesysteme genutzt oder in andere Klimaschutzprojekte gesteckt. Da ärmere Menschen weniger Kohlendioxid in Anspruch nehmen, würden sie dazugewinnen. Auch für die CO2 -Bepreisung in Deutschland gab es einen vergleichbaren Vorschlag, ​[​74​]​ und seine Ablehnung wurde von Ökonom*innen aller Denkrichtungen mit großem Unverständnis quittiert.
Aber der EU-Mechanismus des sogenannten European Effort Sharing – übersetzen lässt sich das mit »Lastenteilung« – unter dem Emissionshandel nimmt das Modell konkret auf – und Deutschland wird Strafzahlungen bis zu 60 Milliarden Euro an Nachbarländer leisten, wenn sich die Klimapolitik nicht rasant verändert. ​[​75​]​
Das alles mögen für Sie heute noch unkonventionelle Beispiele sein, aber es sind Mechanismen, die wir im großen Stil brauchen werden, da bin ich sicher. Der zukunftsorientierte Gedanke, der für mich darin steckt, ist: Diejenigen, die aufgrund ihrer ressourcenintensiven Entwicklung in der Vergangenheit heute das Vermögen haben – auch im Sinne der Befähigung –, mehr zu tun, müssen es auch tun. Denn den anderen steht diese einfache Entwicklung durch massive Extraktion nicht mehr offen. Das ist Gerechtigkeit anstatt Großzügigkeit.
Wir leben in krisenhaften Zeiten, und in Krisenzeiten ergibt es sehr viel Sinn, nicht mehr auf das zu starren, was wir individuell verlieren könnten. Da fokussieren wir uns besser auf das, was durch ein gemeinsames Nutzen der vorhandenen Ressourcen möglich ist. Denken Sie zum Beispiel an das Hochwasser an der Elbe vor einigen Jahren: Krise erfasst, Handlungsoptionen auch, und jede und jeder trägt das bei, was sie oder er hat: Sandsäcke, Trecker, Lastwagen, Behausung, Körperkraft, Informationen, Geld, Kaffee, Tee und belegte Brote – was man eben beisteuern kann.
Was machen wir heute?
Wir keifen uns an, dass dein Sandsack zu groß ist, der Trecker zu klein, der Lastwagen zu grün, das Quartier eine Zumutung, die Informationen noch nicht 120-prozentig gesichert, deine Ausgleichszahlung doch nicht entsprechend deinem Abstand zum Fluss, der Kaffee zu dünn. Gewonnen ist so leider nicht viel – und das Wasser kommt trotzdem.
Das geht doch besser.
Gerechtigkeit ist der Schlüssel für eine nachhaltige Wirtschaftsweise, wenn sie global funktionieren soll. Nur so kann man verhindern, dass die ökologische Frage gegen die soziale ausgespielt wird. Beide gehören zusammen und lassen sich nur miteinander lösen. Für diese neue Art der Gerechtigkeit müssen wir ein paar heilige Kühe der Wachstumserzählung schlachten und andere Wege gehen. Damit können wir aber auch ihre zunehmend ausufernden Nebenwirkungen hinter uns lassen.