Drucker veröffentlichten den vorgeschlagenen Verfassungstext im Plakatformat, aber er war auch in Zeitungen, Almanachen und Pamphleten nachzulesen.
JAMES MADISON, 36 JAHRE ALT, belesen und weise, traf am 3. Mai 1787 in Philadelphia ein, elf Tage vor der geplanten Eröffnung des Verfassungskonvents. Er bezog sein altes Quartier in Mrs. Houses Hotel, einer Pension an der Fifth und Market Street, wo er schon während der Sitzungszeit des Kontinentalkongresses gewohnt hatte. Zur Vorbereitung auf die Versammlung ging er noch einmal seine Notizen zum Aufbau von Republiken durch. George Washington kam am 13. Mai, am Vorabend der Versammlung, und dabei ging es nicht annähernd so ruhig zu, er wurde von Menschenmengen begrüßt, von Kirchenglocken, einem Kavallerieregiment und 13 Kanonenschüssen. Als Washington bei Mrs. Houses Hotel eintraf, wo auch er Quartier beziehen wollte, traf er dort auf den wohlhabenden Kaufmann Robert Morris aus Philadelphia, der ihn drängte, in seiner großzügig ausgestatteten Villa zu wohnen, die nur wenige Blocks entfernt war. Am nächsten Tag spazierten Washington und Madison gemeinsam durch einen leichten Morgennebel zum Pennsylvania State House.[1]
Es waren erst sehr wenige Delegierte eingetroffen. «Zum Auftakt herrscht weniger Pünktlichkeit, als wünschenswert wäre», schrieb ein grüblerischer Madison am 15. Mai an Jefferson in Paris.[2] Verzögerung oder nicht, Madison machte sich ab Sitzungsbeginn sorgfältige Notizen in der Gewissheit «des Wertes eines solchen Beitrags für den Fundus an Materialien zur Geschichte einer Verfassung, von der das Glück eines jungen Volkes abhing». Durch einen Torbogen gelangte man in den Versammlungssaal des State House, dessen hohe Fenster für einen lichtdurchfluteten Raum sorgten, in dem der Konvent vom 14. Mai bis 17. September tagte, von der Pflanzzeit bis zur Erntezeit. Madison versäumte nicht einen Sitzungstag, «und auch nicht mehr als einen gelegentlichen Bruchteil einer Stunde an einem beliebigen Tag», erklärte er, «so dass ich nicht eine einzige Rede verpassen konnte, wenn sie nicht gerade sehr kurz war».[3]
Madison selbst sprach leise und stockend, seine Redeweise war das genaue Gegenteil seines Schreibstils. Er machte Aufzeichnungen für sich selbst, und er schrieb auch noch für Jefferson auf, was in jenem Sommer in Philadelphia geschah. Seit Jefferson 1784 das Land verlassen hatte, hatte Madison auch für ihn Notizen zu den Beratungen im Kongress gemacht. Aber Madison war klar, dass er in erster Linie ein Dokument für die Nachwelt anfertigte, ein Dokument, das festhielt, wie eine Verfassung zur Niederschrift gelangt war.
Etwas zu konstituieren heißt, etwas zu machen. Ein Körper besteht aus seinen einzelnen Teilen, eine Nation aus ihren Gesetzen. «Die Beschaffenheit des Menschen ist das Werk der Natur; die Beschaffenheit des Staates das Werk der Kunst», schrieb Rousseau 1762.[4] Im 18. Jahrhundert bedeutete eine Verfassung «die Sammlung von Gesetzen, Institutionen und Gebräuchen, die aus bestimmten festgelegten Vernunftgründen abgeleitet sind, … nach denen das Gemeinwesen mit eigener Zustimmung regiert wird».[5] Engländer prahlten, dass «England jetzt die einzige Monarchie der Welt ist, von der man zu Recht sagen kann, dass sie eine Verfassung hat».[6] Aber Englands Verfassung ist ungeschrieben; anstelle eines einzigen, schriftlichen Dokuments ist Englands Verfassung die Summe seiner Gesetze, Gewohnheitsrechte und Präzedenzfälle. In einer Debatte mit dem konservativen Edmund Burke behauptete Thomas Paine, dass die englische Verfassung überhaupt nicht existiere. «Kann denn Herr Burke die englische Konstitution vorzeigen?», fragte Paine. «Wenn er es nicht kann, so folgt der natürliche Schluss, dass, allen Redens davon ungeachtet, kein solches Ding existiert oder je existierte.»[7] In Amerikas Buch Genesis sollte die Verfassung geschrieben, gedruckt und bewahrt werden.
Jahrhundertelange Spekulationen über einen Naturzustand – eine Zeit, bevor es Regierungen gab – fanden ein Ende. Man musste sich nicht länger vorstellen, wie ein Volk vielleicht eine Regierung bilden könnte: Jetzt konnte man es miterleben. «Wir brauchen nicht auf der Suche nach Auskunft in das dunkle Feld des Altertums hinabzusteigen, noch uns in Vermutungen zu wagen. Wir werden auf einmal zu dem Punkte gebracht, wo wir die Regierung entstehen sehen, als hätten wir im Anfang der Zeit gelebt», schrieb Paine.[8] Madison teilte diese Gedanken, als er sich als ein derart sorgfältiger Historiker erwies. Es war so, als lebte er am Anfang der Zeit.
DIE VERFASSUNG der Vereinigten Staaten war nicht die erste geschriebene Verfassung der Weltgeschichte. Die ersten geschriebenen, von Volksvertretungen verabschiedeten Verfassungen wurden ab 1776 von den amerikanischen Staaten entworfen. Nachdem sie ihre eigenen Regierungen abgesetzt hatten, nahmen sie den Gedanken ernst, dass sie diese buchstäblich neu erschaffen mussten, als wären sie in einen Naturzustand zurückgekehrt.
Drei Staaten hatten sich bereits geschriebene Verfassungen gegeben, noch bevor der Kontinentalkongress die Unabhängigkeit von England erklärte, weil sie sich ansonsten in einem Gemeinwesen ohne Regierung wiedergefunden hätten. «Wir sehen uns auf die Notwendigkeit festgelegt, EINE FORM DER REGIERUNG zu begründen», erklärte ein im Januar 1776 in New Hampshire zusammengekommener Verfassungskongress, nachdem der loyal zur Krone stehende Gouverneur von New Hampshire gemeinsam mit den meisten Mitgliedern seines Rates aus dem Staat geflohen war.[9] Elf der dreizehn Staaten erarbeiteten 1776 oder 1777 einen Verfassungstext. Die Tätigkeit, diese Verfassungen zu schreiben, hielt Jefferson 1776 fest, sei «das ganze Ziel der gegenwärtigen Kontroverse».[10]
Die meisten Verfassungen von Staaten wurden von deren gesetzgebenden Versammlungen entworfen; andere wurden von Männern geschrieben, die als Delegierte für eigens zu diesem Zweck einberufene Versammlungen gewählt worden waren. Der zum Aufbrausen neigende John Adams hatte im Frühjahr 1775 den Kongress gedrängt, «der Bevölkerung einer jeden Kolonie zu empfehlen, unverzüglich solche Konvente einzuberufen und eigene Regierungen einzusetzen, in eigener Verantwortung; denn das Volk ist der Ursprung aller Amtsgewalt und der Urheber aller Macht». New Hampshire hatte als erste Kolonie gehandelt. Es war der erste Staat, der dem Volk seine Verfassung zur Ratifikation vorlegte und damit einen Prozess einleitete, dessen Ergebnis alles andere als unausweichlich war. Die gesetzgebende Versammlung von Massachusetts erarbeitete 1778 einen Verfassungsentwurf, der dem Volk zur Ratifikation vorgelegt wurde, doch das Volk lehnte diesen Entwurf ab und forderte die Einberufung eines Konvents, der dann 1779 in Cambridge tagte; Adams, einer der Delegierten bei dieser Zusammenkunft, war der Hauptautor einer neuen Verfassung, die das Volk von Massachusetts 1780 ratifizierte. Dass diese Vorgehensweise – das Volk selbst stimmte über die eigene Regierungsform ab – einen außergewöhnlichen Bruch mit der Vergangenheit bedeutete, entging Adams keineswegs, er schrieb: «Welch kleiner Teil der menschlichen Rasse hat jemals die Gelegenheit gehabt, sich und seinen Kindern im Unterschied zur Luft, zum Boden und zum Klima, mit denen sie leben mussten, eine Regierungsform aussuchen zu können!»[11]
Jeder der Staaten war ein Laboratorium, jede neue Verfassung ein weiteres politisches Experiment. Viele Staatsverfassungen, zum Beispiel diejenigen für Virginia und Pennsylvania, enthielten auch eine Grundrechteerklärung, eine Declaration of Rights. Die im September 1776 entworfene Verfassung für Pennsylvania begann mit einem Echo der Präambel der Unabhängigkeitserklärung und hielt fest, «dass alle Menschen gleichermaßen frei und unabhängig geboren sind und bestimmte natürliche, angeborene und unveräußerliche Rechte haben, zu denen etwa Besitz und Verteidigung von Leben und Freiheit zählen, Erwerb, Besitz und Wahrung von Eigentum und das Streben nach und das Erlangen von Glück und Sicherheit.» Die Verfassung von Massachusetts beharrte auf einem Recht zur Revolution und erklärte für den Fall, dass die Regierung dem Volk nicht gerecht werde: «Das Volk hat ein Recht, die Regierung zu ändern und die notwendigen Maßnahmen für seine Sicherheit, seine Prosperität und sein Glück zu ergreifen».[12]
Bei aller Verehrung für das «Volk» behielt das Wort «Demokratie» dennoch einen einhellig negativen Beiklang. Amerikaner des 18. Jahrhunderts entliehen bei Aristoteles den Gedanken, dass es drei Arten der Regierung gebe: eine Monarchie, eine Aristokratie und eine Politie (einen Bürgerstaat); Regierungen des einen, der wenigen und der vielen. Jede dieser Regierungsformen wird korrumpiert, wenn die Regierung eher die eigenen Interessen zu verfolgen sucht als das Gemeinwohl. Eine korrumpierte Monarchie ist eine Tyrannei, eine korrumpierte Aristokratie eine Oligarchie und eine korrumpierte Politie eine Demokratie. Der allgemeine Niedergang lässt sich vermeiden durch eine geeignete Mischung der drei Formen, so dass ein Niedergang in einem Bereich durch die anderen beiden gebremst oder aufgehalten wird. Fisher Ames, ein Rechtsanwalt aus Massachusetts und späteres Kongressmitglied, hätte, vor die Wahl zwischen einer zu monarchischen und einer zu demokratischen Regierung gestellt, eher der Ersteren den Vorzug gegeben: «Die Monarchie ist wie ein Handelsschiff, das gute Fahrt macht, aber manchmal auf einen Felsen trifft und sinkt», schrieb Ames 1783, «während eine Republik ein Floß ist, das niemals sinken würde, aber deine Füße sind immer im Wasser.»[13]
Im Unterschied zum grummelnden Ames zogen es viele der an Verfassungstexten mitwirkenden Autoren vor, sich zugunsten der Demokratie zu irren. Mehrere Staaten senkten die Anforderungen an persönlichen Besitz als Voraussetzung für das Wahlrecht. Pennsylvanias neue Verfassung sah vor, dass jeder Mann, der ein Jahr in diesem Staat gelebt und Steuern gezahlt hatte – irgendeine Art von Steuern –, wählen durfte. Während zuvor zwei Drittel der weißen Männer wahlberechtigt gewesen waren, konnten jetzt 90 Prozent wählen. Doch viele wohlhabende Männer fanden diese Entwicklung beunruhigend, weil sie der Ansicht waren, dass arme Männer – ebenso wie Frauen – nicht imstande seien, gute politische Entscheidungen zu treffen, weil sie, von anderen abhängig, keinen eigenen Willen besäßen. Die Verfassung von Massachusetts sah einen gewissen persönlichen Besitz als Voraussetzung für Bewerber um ein öffentliches Amt wie auch für das Wahlrecht vor. Adams begründete das so: «Der menschliche Charakter ist so schwach, dass sehr wenige Menschen ohne Eigentum eigene Urteilskraft besitzen.»[14]
Die meisten Staaten sahen eine aus drei Teilgewalten bestehende Regierung vor, mit einem Gouverneur als Exekutive, einem Obersten Gerichtshof als Judikative und einem Senat und Repräsentantenhaus als Legislative. Aber einige Staaten versuchten die aus der Kolonialzeit überkommenen Verhältnisse zu korrigieren, bei denen ein vom König ernannter Gouverneur und sein ebenfalls ernanntes Ratsgremium sehr viel mehr Macht ausgeübt hatten als eine schwache gewählte Versammlung. Diese Staaten sprachen jetzt das größte Gewicht dem Unterhaus der Legislative zu, nicht mehr dem Oberhaus oder einer Exekutive. Die Verfassung von Pennsylvania war, ebenso wie die in diesem Staat lebenden Quäker, die radikalste von allen und außerdem, so schätzten es zahlreiche Beobachter ein, alarmierend demokratisch. Sie forderte jährliche Wahlen, den Verzicht auf einen Gouverneur und eine Ein-Kammer-Legislative, deren Mitglieder nur für eine begrenzte Amtszeit gewählt wurden. Jede Gesetzesvorlage musste gedruckt und an die Bevölkerung verteilt werden, der ein Jahr Zeit für den Gedankenaustausch blieb, ehe die Legislative über die Vorlage abstimmte.[15]
Die Staatsverfassungen waren auch unter anderen Gesichtspunkten politische Experimente. Die Grundrechteerklärung in der Verfassung von Vermont aus dem Jahr 1777 verbot die Sklaverei ausdrücklich: Männer konnten bis zu einem Alter von 21 Jahren als abhängige Dienstboten verpflichtet werden, Frauen bis zu einem Alter von 18 Jahren, aber niemand durfte über dieses Alter hinaus gegen den eigenen Willen in Knechtschaft gehalten werden. (Diese Bestimmung hätte Vermont zum ersten Staat gemacht, der die Sklaverei abschaffte, nur war Vermont im Jahr 1777 noch kein Staat, sondern eine unabhängige Republik; sie sollte den Vereinigten Staaten erst 1791 beitreten.)
Bett, eine Sklavin in Massachusetts, deren Ehemann im Krieg gekämpft hatte und getötet worden war, reichte 1781 eine Klage ein, in der sie vorbrachte, dass die neue Verfassung des Staates die Sklaverei abgeschafft habe. Betts Besitzer John Ashley war ein einheimischer Richter. Sie hatte mitgehört, wie Ashley sich mit dem 26 Jahre alten Theodore Sedgwick, einem seiner Gerichtsschreiber, über naturgegebene Rechte unterhalten hatte. Als Ashleys Frau Betts Schwester mit einer Küchenschaufel schlagen wollte, wehrte Bett den Schlag ab und erlitt dabei schlimme Verbrennungen. Sie flüchtete, suchte Sedgwick auf und beschloss, mit dessen Unterstützung, ihre Freilassung einzuklagen. «Alle Menschen sind frei und gleich geboren und haben gewisse natürliche, wesentliche und unveräußerliche Rechte; unter diesen können vor allem genannt werden das Recht, sich ihrer Leben und Freiheiten zu erfreuen und dieselben zu verteidigen; jenes auf den Erwerb, den Besitz und den Schutz des Eigentums; und schließlich jenes, ihre Sicherheit und ihr Glück zu suchen und zu erlangen», hatte Adams in Artikel I der Grundrechteerklärung der Verfassung von Massachusetts geschrieben. Bett zitierte Adams, gewann ihren Fall und ihre Freiheit und gab sich selbst einen neuen Namen: Elizabeth Freeman.[16]
Zwei Jahre später erklärte der Oberste Gerichtshof von Massachusetts die Sklaverei höchstrichterlich für nicht mit der Verfassung des Staates vereinbar und führte dazu aus: «Ist es nicht ein Naturgesetz, dass alle Menschen gleich und frei sind? Sind nicht die Gesetze der Natur auch Gottes Gesetze? Ist Gottes Gesetz dann nicht gegen die Sklaverei?» Im darauffolgenden Jahr änderte die 1775 in Pennsylvania gegründete Society for the Relief of Free Negroes Unlawfully Held in Bondage ihren Namen in Pennsylvania Society for Promoting the Abolition of Slavery ab, und ein Richter in Vermont entschied zugunsten eines entlaufenen Sklaven, dessen Besitzer eine Verkaufsurkunde eingereicht hatte, um seinen Eigentümerstatus nachzuweisen: Der Richter erklärte, um sein Eigentum in Gestalt eines anderen Menschen zu behalten, müsse der Kläger eine Verkaufsurkunde von «Gott, dem Allmächtigen» vorlegen.[17]
Einige Staatsverfassungen funktionierten zwangsläufig besser als andere. Eindeutig nicht gut funktionierten die Konföderationsartikel, die der Kontinentalkongress eilig zu Papier gebracht und verabschiedet hatte, um den Krieg gegen Großbritannien führen zu können, und selbst diesem Zweck dienten sie unzureichend (Regimenter erhielten keinen Proviant, Soldaten keinen Sold, Veteranen keine Pension). Die einzelnen Staaten ratifizierten die 1777 entworfenen Artikel erst im Jahr 1781 – die Verzögerung war den konkurrierenden Ansprüchen der Staaten auf Land im Westen geschuldet –, und selbst nach der Verabschiedung der Artikel blieben diese Ansprüche weitgehend ungeklärt. Die Bemühungen um eine Überarbeitung der Artikel verpufften ergebnislos, obwohl der Kontinentalkongress weder das Ansehen besaß, mit dem sich Streitigkeiten zwischen Staaten lösen ließen, noch über die Zuständigkeiten verfügte, Richtlinien für den Handel und dessen Regulierung zu erlassen. Die Folge dieser Entwicklung war, dass die neue Nation sich mit dreizehn verschiedenen Währungen und dreizehn getrennt operierenden Flotten herumplagte.
Das dringendste Problem war, dass der Kongress noch nicht befugt war, Gelder einzutreiben, die er benötigte, um seine Schulden zu begleichen und die Truppen im Nordwestterritorium zu bezahlen, dem Gebiet westlich der Alleghenies, nördlich des Ohio und östlich des Mississippi, das die Bundesregierung von den Staaten erworben hatte. Der Vertrag von Paris hatte 1783 die Bestimmung enthalten, dass die einzelnen Staaten ihre Schulden begleichen mussten, und für den Fall, dass sie diesen Verpflichtungen nicht nachkamen, drohte Großbritannien seinerseits mit der Nichteinhaltung einer Verpflichtung, die ebenfalls im Friedensvertrag festgehalten war: der Übergabe seiner Forts im Nordwesten – Oswego, Niagara und Detroit – an die Vereinigten Staaten.
Selbst wenn der Kongress über die uneingeschränkte Macht, Steuern zu erheben, verfügt hätte: Die Frage der Berechnungsgrundlage für die Steuerlast jedes einzelnen Staates blieb ungelöst. Sollte jeder Staat entsprechend seiner Bevölkerungszahl zur Kasse gebeten werden oder entsprechend seiner Besitztümer? In einem großen Teil des Landes bestand eine Form des persönlichen Besitzes aus Menschen. Sollten Sklaven dann zum Zwecke der Besteuerung als Menschen oder als Eigentum zählen? Samuel Chase aus Pennsylvania hatte dazu 1777 die Ansicht vertreten, nur weiße Bewohner des Landes sollten als Menschen zählen, weil Schwarze rein rechtlich betrachtet nicht mehr Menschliches an sich hätten «als Vieh». Dieser Punkt war für Thomas Lynch aus South Carolina von so grundlegender Bedeutung, dass er drohte, «dass die Konföderation beendet ist, wenn diskutiert wird, ob ihre Sklaven ihr Eigentum sind». Benjamin Franklin reagierte darauf mit der sarkastischen Bemerkung, es gebe eine einfache Methode, den Unterschied zwischen Menschen und Eigentum festzustellen: «Schafe werden niemals irgendwelche Aufstände vom Zaun brechen.»[18]
Der Kongress versuchte 1781 und ein weiteres Mal 1783 die Artikel so zu überarbeiten, dass er sich selbst die Befugnis zusprach, Steuern auf Importgüter zu erheben. Dies führte zu einem Rückfall in die ursprüngliche Debatte, wie denn nun die Steuerlast eines jeden Staates zu berechnen sei: anhand der Zahl seiner Bewohner oder über den Wert des Landes. Der Wert des Landes war schwierig zu veranschlagen – die Fläche allein ist ein schlechter Maßstab, denn ein Acker ist wertvoller als ein Sumpf –, und, wie Adam Smith in Der Wohlstand der Nationen dargelegt hatte: «Am ehesten drückt sich die Prosperität eines Landes in der Zunahme der Bevölkerung aus.» Die Bevölkerungszahl schien einfacher zu ermitteln zu sein, und außerdem lieferte sie eine vernünftigere Berechnungsgrundlage nicht nur für die Besteuerung, sondern auch für die parlamentarische Vertretung. Das führte zu einem Kompromiss, zu dem auch ein mathematischer Richtwert gehörte, eine Bruchzahl. Ein Ausschuss zu Steuerfragen schlug vor, dass «zwei Schwarze so gewertet werden, dass sie einem freien Mann entsprechen». Weitere Vorschläge folgten, bis «Mr. Madison sagte, dass er, um einen Nachweis der Ernsthaftigkeit seiner Bekundungen von Liberalität zu erbringen, vorschlagen möchte, dass Schwarze wie drei Fünftel gezählt werden sollten.»
Die mathematische Formel, die sieben Jahrzehnte lang den Verlauf amerikanischer Wahlen bestimmen sollte, sah reiner Willkür ziemlich ähnlich. Zur damaligen Zeit war sie auch strittig: Sie wurde niemals umgesetzt, weil die Staatsparlamente die Verabschiedung jedweder steuerwirksamer Zusatzartikel verweigerten.[19] Aber das vorgeschlagene Verhältnis – drei Fünftel – wurde nicht vergessen.
Die Konföderation schleppte sich dahin, schwach und humpelnd. Frankreich und Holland drängten auf die Begleichung von Schulden – mit echtem Geld, nicht mit den papierenen Versprechungen, auf denen die Republik dahintrieb. «Not worth a Continental», eine Redewendung zur Charakterisierung des vom Kongress gedruckten Papiergeldes, fand Eingang ins Lexikon. Der Kongress war nicht imstande, seine Geldgeber auszuzahlen, und im Jahr 1786 stand die Kontinentalregierung unmittelbar vor dem Bankrott. Auch die Staaten steckten in großen Schwierigkeiten; sie konnten zwar Steuern erheben, waren aber nicht in der Lage, sie zuverlässig einzutreiben. Massachusetts hatte Steuern erhoben, um die Kriegsschulden des Staates abzutragen; Farmer, die nicht bezahlten, mussten damit rechnen, dass ihr Eigentum beschlagnahmt und versteigert wurde. Doch viele dieser Farmer hatten im Krieg gekämpft, und im August 1786 beschlossen sie, den Kampf wieder aufzunehmen: Mehr als Tausend bewaffnete, zornige und aufgebrachte Farmer im Westen von Massachusetts protestierten unter der Führung eines Veteranen namens Daniel Shays gegen die Regierung, blockierten Gerichte und besetzten ein Waffenlager der Bundesregierung.[20]
Es sah ganz danach aus, als könnte die noch junge Nation in einen Bürgerkrieg abrutschen und in einen unendlichen Zyklus von Revolutionen eintreten. «Ich wünschte mir, dass unser armer, verwirrter Staat die vielen guten Lehren beherzigen würde», die die Geschichte bietet, schrieb Jane Franklin an ihren Bruder, und nicht «immer in Flammen steht».[21] Madison befürchtete, dass sich die Revolution bis nach Virginia ausbreiten könnte. Washington stellte sich die Frage, ob die Nation nicht letztlich doch einen König brauche, und schrieb an Madison: «Wir geraten schnell an den Rand der Anarchie und des Aufruhrs!» Und Madison berichtete an Jefferson, Shays’ Rebellion habe selbst bei den überzeugtesten Republikanern «den Glauben beschädigt».[22]
Ein allerletzter Versuch, zu einer Wiederherstellung der Ordnung zu kommen, indem man die Konföderationsartikel überarbeitete, sollte am 11. September 1786 in Annapolis beginnen, auf einem eigens einberufenen Konvent, zu dessen Delegierten auch Madison zählte, der möglicherweise Urheber der Resolution gewesen war, mit der diese Zusammenkunft einberufen wurde. Zur Vorbereitung vertiefte er sich intensiv in seine Lektüre zur politischen Geschichte. Er hatte sich eine eigene Bibliothek zusammengestellt. Jefferson schickte ihm 1785 Kisten voller Bücher aus Paris. «Seit ich zu Hause gewesen bin, habe ich die Muße gehabt, die literarische Fracht durchzugehen, für die ich Ihrer Freundschaft so viel schulde», schrieb er im März 1786 an Jefferson und berichtete auch noch, dass es in jenem Winter in Virginia so viel geschneit habe, dass die Gipfel der Blue Ridge Mountains immer noch weiß seien. Der Schnee schmolz in jenem Frühjahr noch, als Madison bereits an einem langen Essay mit dem Titel «Ancient & Modern Confederacies» schrieb, einer Einschätzung aller aus Bündnissen gebildeten Regierungen, die ihm bei seiner Lektüre aufgefallen waren: ihrer Struktur, ihrer Stärken und vor allem auch ihrer Schwächen.[23]
Der Frühling war ungewöhnlich nass gewesen. Madison verließ Virginia im Sommer und begab sich auf einen Weg, der ihn durch eine Landschaft mit durchnässten Weizen- und Roggenfeldern führte. Er ritt den ganzen Weg nach New York und nahm dabei geschäftliche Verpflichtungen wahr, bis er schließlich wieder kehrtmachte, um zurück nach Maryland zu reiten. Er sinnierte dabei immer noch über seine Lektüre nach und schrieb weitere Hinweise für Jefferson, mit denen er ihn wissen ließ, welche Bücher er seiner Bibliothek gerne noch hinzufügen würde. «Wenn Ihnen ein Exemplar von ‹Graecorum Respublicae ad Ubbione Emmio descriptae›, Lugd. Batavorum, 1632, begegnet, dann besorgen Sie es doch bitte für mich», drängte er ihn.[24]
Ein reisemüder Madison traf im September in einem äußerst entmutigten Zustand in Annapolis ein. Der Geist der Union war so belastet und die Bundesregierung so geschwächt, dass nur Delegierte aus fünf von dreizehn Bundesstaaten zum Konvent erschienen. Sie versammelten sich in George Mann’s Tavern, einem sechsgiebeligen Backsteinbau, der als Hotel diente. Madison stellte sein Pferd in Manns Scheune ab. Zwölf Männer aus fünf Staaten einigten sich, weit entfernt von jedwedem Quorum, auf eine von Alexander Hamilton aus New York entworfene Resolution, nach der im darauffolgenden Jahr – idealerweise von allen dreizehn Staaten entsandte – Delegierte in Philadelphia zusammenkommen sollten, «um dort weitere Maßnahmen zu treffen, die ihnen notwendig erscheinen, um die Verfassung der Bundesregierung in Einklang mit den Erfordernissen der Union zu bringen».[25]
Wären tatsächlich mehr Delegierte zum Konvent von Annapolis erschienen, dann hätten sie höchstwahrscheinlich einen einzigen Zusatz zu den Artikeln vorgeschlagen, der dem Kongress die Befugnis verlieh, Steuern zu erheben. Die schwache Beteiligung bei diesem Konvent eröffnete ironischerweise die Möglichkeit, weit umfassendere Maßnahmen zu treffen. Doch als die Resolution beim Kongress einging, der in jener Zeit in New York tagte, versäumte es dieser wochenlang, darüber zu beraten. Es waren letztlich wohl nur die Ereignisse in Massachusetts, die den Kongress zum Handeln drängten. Der Gouverneur von Massachusetts entsandte im Januar 1787 eine 3000 Mann starke Miliz mit dem Auftrag, Shays’ Rebellion zu unterdrücken und das Waffenlager der Bundesregierung zurückzugewinnen, in den Westen des Staates. Der Staat verhängte das Kriegsrecht. In New York handelte der Kongress endlich und billigte den Vorschlag, einen Konvent in Philadelphia abzuhalten, «mit dem einzigen und ausdrücklichen Zweck der Überarbeitung der Konföderationsartikel».[26] Niemand verlor auch nur ein Wort über einen Verfassungsentwurf.
Von Annapolis aus kehrte Madison nach Virginia zurück und nahm dort seine Studien wieder auf. Im April 1787 entwarf er einen Essay mit dem Titel «Vices of the Political System of the United States». Dieser Text nahm die Form einer Liste von elf Mängeln an, sie begann mit: «1. Nichteinhaltung der Erfordernisse der Verfassung durch die Staaten. … 2. Übergriffe auf die Befugnisse des Bundes durch die Staaten. … 3. Verletzungen des Völkerrechtes und von Verträgen.» Und sie endete mit einer Liste von Ursachen für diese Mängel, die der Autor in erster Linie «im Volk selbst» verortete. Mit diesem letzten Punkt meinte er die Gefahr, die eine Mehrheit für eine Minderheit darstellte: «In einer republikanischen Regierung erlässt die wie auch immer zusammengesetzte Mehrheit letztlich das Gesetz. Wann immer also ein offenkundiges Interesse oder eine gemeinsame Leidenschaft eine Mehrheit eint, was hält sie dann von ungerechten Verletzungen der Rechte und Interessen der Minderheit oder von Einzelpersonen zurück?»[27] Welche Kraft hindert gute Menschen daran, böse Dinge zu tun? Ehrlichkeit, Charakter, Religion – darauf konnte man sich, wie die Geschichte zeigte, nicht verlassen. Nein, die einzige Kraft, die die Tyrannei des Volkes bändigen konnte, war eine gut konstruierte Verfassung. Sie musste so kunstvoll gearbeitet sein wie ein schmiedeeisernes Tor.
BENJAMIN FRANKLIN, der seine nützliche Tätigkeit für das Gemeinwesen noch nicht beendet sah, verbrachte die ersten Maitage 1787 mit dem Warten auf das Eintreffen der Nachzügler unter den Delegierten und der Pflege seiner Korrespondenz. Seine Schwester Jane schrieb ihm aus Boston, dass sie Neuigkeiten über ihn gelesen habe. «Ich wollte Dir sagen, wie viel Freude ich empfinde über die beständige und lebhafte Erwähnung, die Du in den Zeitungen findest», schrieb sie voller Stolz. Franklin war 81 Jahre alt; Jane war 74. Die Nachrichten über seine Umtriebigkeit, schrieb sie ihm augenzwinkernd, «lassen Dich in meinen Augen wie einen jungen Mann von 25 wirken».[28]
Franklin war der älteste der 75 Männer, die als Vertreter von zwölf Staaten beim Konvent gewählt worden waren. (Rhode Island sah die Notwendigkeit der Versammlung nicht ein und verweigerte die Entsendung einer Delegation.) Die Hälfte der Delegierten waren Rechtsanwälte. 19 Delegierte waren Sklavenhalter. Nur 55 Delegierte erschienen dann zum Konvent, und da am Versammlungsort ein stetes Kommen und Gehen herrschte, waren an einem beliebigen Sitzungstag meist nur etwa 30 von ihnen verfügbar. Am 14. Mai, dem vorgesehenen Eröffnungstag des Konvents, waren erst sehr wenige Delegierte schon eingetroffen. Madison gab dem Wetter die Schuld.
Neben Franklin und Madison waren zwei weitere Mitglieder der Delegation aus Pennsylvania, Gouverneur Morris und James Wilson, bereits in der Stadt, ebenso wie zwei weitere Delegierte aus Virginia: George Washington und Edmund Randolph. Diese sechs Männer trafen sich am Abend des 16. Mai in Franklins vor kurzem erweitertem Haus, dessen Wachstum ein Gradmesser für den Aufstieg des Besitzers war. Wie Franklin seiner Schwester berichtete, hatte er einen Anbau errichten und eine weitere Tür in seinem Schlafzimmer einbauen lassen, durch die er einen direkten Zugang zu seiner Bibliothek hatte, die er jetzt auch in Pantoffeln und Morgenrock betreten konnte. «Wenn ich mir diese Baulichkeiten anschaue, meine liebe Schwester, und sie mit dem Ort vergleiche, in dem unsere guten Eltern uns aufzogen, lässt mich der Unterschied staunen», schrieb er an sie und erinnerte dabei an das winzige Holzhäuschen in der verwinkelten Straße in Boston, in dem sie geboren worden waren, in einem kleineren Amerika.[29]
An jenem Abend, bei Kerzenlicht in Franklins Esszimmer, einigten sich die sechs pünktlich zum Konvent erschienenen Delegierten darauf, dass diese Versammlung ein nationales Regierungssystem entwerfen sollte, anstatt bloß die Konföderationsartikel zu überarbeiten, die nur wenig mehr waren als ein Bündnisvertrag zwischen souveränen Staaten. Am darauffolgenden Tag begann Madison mit der Ausarbeitung eines Textes, der unter der Bezeichnung Virginia-Plan bekannt wurde. Franklin widmete sich wieder seiner Korrespondenz. «Es geht uns allen gut, und wir versammeln uns in Liebe zu Dir und den Deinen», schrieb er an seine Schwester.[30] Er dachte über den Zustand der Union nach. Seine Schwester hatte einen Rat für ihn. «Ich hoffe, dass Du mit der Unterstützung einer so großen Zahl weiser Männer, mit denen Du im Konvent verbunden bist, Ruhmreiches vollbringen und dem Zwangsdienst und dem Hängen ein Ende bereiten wirst, das sind widerwärtige Mittel», schrieb sie und drängte den Bruder, die Abschaffung der Wehrpflicht und der Todesstrafe zu unterstützen. «Ich würde lieber von Schwertern hören, die zu Pflugscharen umgeschmiedet wurden, und von Stricken, die als Wagenseile dienen, wenn wir durch solche Mittel zu einem friedlichen Zusammenleben miteinander gelangen.» Franklins Schwester hatte, wie so viele andere Amerikaner auch, während des Krieges schwer gelitten. Sie hatte ihr Zuhause verloren. Einer ihrer Söhne war den Wunden erlegen, die ihm bei der Schlacht von Bunker Hill zugefügt worden waren; ein weiterer Sohn hatte den Verstand verloren. Sie hatte genug von Gewehren und Gewalt. Franklin legte ihre Briefe beiseite und hielt seine Zunge im Zaum.[31]
Der Konvent nahm seine Arbeit schließlich mit elftägiger Verspätung auf, am 25. Mai, als ein Quorum von 29 Delegierten erreicht war. Washington, mit 55 Jahren immer noch eine nahezu ebenso eindrucksvolle Erscheinung wie als junger Mann, wurde einstimmig zum Präsidenten gewählt. (Seine Schönheit wurde nur vom schlimmen Zustand seiner Zähne beeinträchtigt, die verfault und durch Prothesen ersetzt worden waren, die man aus Elfenbein und aus neun Zähnen hergestellt hatte, die seinen Sklaven gezogen worden waren.)[32] Der zutiefst und nahezu ausnahmslos bewunderte Washington stand in den Augen vieler Amerikaner für all das, was in einer Republik am edelsten war. Nichts belegte seine Bürgertugenden eindrucksvoller als der Rücktritt vom Oberbefehl bei Kriegsende: Anstatt dauerhaft nach der Macht zu greifen, hatte er sie weggegeben.[33] Seine Rolle als Präsident des Verfassungskonvents war weitgehend zeremonieller Natur, aber sie geriet ihm, wie bei so vielen zeremoniellen Rollen, zu einem stilprägenden, ja sogar bewegenden Auftritt.
Die ernsthaften Debatten begannen am 29. Mai, an dem Edmund Randolph den Gestaltern der Konföderationsartikel einen höflichen Dank entbot und hinzufügte, man könne sie wohl kaum für die Unzulänglichkeiten des Dokuments verantwortlich machen, angesichts der Tatsache, dass sie «alles getan hatten, was Patrioten tun konnten, in den damaligen Kindertagen der Wissenschaft, der Verfassungen & der Konföderationen». Randolph war ein glänzender Rechtsanwalt, dessen Vater, ein Loyalist, 1775 aus Virginia geflohen war und dessen Onkel Peyton seine Sklaven an Dunmores Regiment verloren hatte. Er kannte sich mit chaotischen Zuständen aus. Er sagte, er denke an «die Aussicht auf eine Anarchie wegen nachlässiger Regierungsführung überall», und legte eine Reihe von Resolutionen vor, in denen er die Mittel benannte, über die der Konvent aus seiner Sicht zur Vermeidung eines Chaos verfügte.[34]
Das unmittelbare Problem, das die Delegierten zu bewältigen hatten – jenes Chaos –, waren die Schulden des Kongresses, sein Geldmangel und seine Unfähigkeit, Steuern zu erheben oder Volksaufstände niederzuschlagen oder Konflikte zwischen den Staaten zu lösen. Aber Randolph war, wie viele andere Delegierte auch, der Ansicht, die Arbeit des Konvents bestehe darin, den Tendenzen der Staatsverfassungen entgegenzuwirken. «Unsere Hauptgefahr entsteht aus den demokratischen Teilen unserer Staatsverfassungen», sagte er. Elbridge Gerry, der Feuerkopf aus Massachusetts, teilte die Ansicht, dass die Staaten unter einem «Exzess an Demokratie» litten. Randolph glaubte, der entscheidende Punkt für den Konvent bestehe darin, «eine Kur für die Übel zu finden, unter denen die Vereinigten Staaten litten; dass bei der Suche nach den Ursprüngen dieser Übel jeder Mann sie in den Turbulenzen und Torheiten der Demokratie finde; dass deshalb nach irgendeinem Kontrollmittel gegen diese Tendenz unserer Regierungen gesucht werden müsse».[35]
Diejenigen Delegierten, die gegen die Einrichtung einer nationalen Regierung waren und außerdem dachten, sei seien nur zur Überarbeitung der Konföderationsartikel nach Philadelphia gekommen, konnten sich nicht an die Öffentlichkeit wenden, die durch Nachrichten über das Geschehen in der Independence Hall ohne Weiteres in größte Unruhe hätte geraten können, wäre auch nur ein Sterbenswörtchen nach draußen gedrungen. Aber die Delegierten hatten sich – für einen Zeitraum von 50 Jahren – verpflichtet, den Inhalt ihrer Beratungen geheim zu halten, und dieses Schweigegebot wirkte sich zugunsten von Männern wie Madison aus. Und innerhalb des Versammlungsorts sorgte es für eine umfassende und freimütige Äußerung von Ansichten.
Die in Philadelphia entworfene Verfassung wirkte als Widerlager für die Revolution, als Stopp für ihren Radikalismus; die Revolution hatte das Gleichgewicht zwischen Regierung und Freiheit in Richtung Freiheit verschoben, und die Verfassung sorgte jetzt für eine Verschiebung in Richtung Regierung. Aber diese Verfassung löste auf vielerlei Weise auch das Versprechen der Revolution ein, und hier ganz besonders das Versprechen einer parlamentarischen Vertretung. Mit der Entwicklung eines neuen nationalen Regierungssystems wiesen die Delegierten energisch einen Vorschlag zurück, nach dem die Abgeordneten der Parlamente der einzelnen Staaten – und nicht das Volk selbst – die Mitglieder des Kongresses wählen sollten. «Nach der bestehenden Konföderation repräsentiert der Kongress die Staaten, nicht das Volk der Staaten», sagte George Mason, «sein Handeln wirkt sich auf die Staaten, nicht auf die Einzelpersonen aus. Dies wird in dem neuen Plan für ein Regierungssystem geändert werden. Das Volk wird vertreten sein; es sollte deshalb auch seine Vertreter wählen.»[36]
So viel die Delegierten beim Konvent auch über das Übermaß an Demokratie in den Staatsverfassungen geschimpft und die Absenkung des Eigentumszensus für das Wahlrecht in den Staaten bedauert haben mochten, sie verankerten solche Anforderungen nicht in der Bundesverfassung. Franklin wies darauf hin, dass arme Männer ohne jeglichen Besitz im Krieg gekämpft hätten und es deshalb keinen vernünftigen Grund gebe, aus dem man ihnen die Abstimmung über die neue Regierung verweigern könne. «Wer soll die Abgeordneten im Repräsentantenhaus wählen?», fragte Madison. «Keineswegs die Reichen eher als die Armen, die Gebildeten eher als die Unwissenden, die stolzen Erben vornehmer Namen eher als die schlichten Söhne der Unbekannten und vom Schicksal Benachteiligten. Wählen wird sie das gesamte Volk der Vereinigten Staaten.» Das war gleichermaßen eine politische Frage wie auch eine Grundsatzfrage. Der Delegierte Oliver Ellsworth aus Connecticut sagte es unverblümt: «Das Volk wird nicht bereitwillig die Verfassung der Nation gutheißen, wenn diese ihr das Wahlrecht vorenthalten sollte.» Die Anforderungen für das Wahlrecht wurden den Staaten überlassen.
Die Verfassung legte auch keinen Eigentumszensus für eine Kandidatur um ein Amt in der Bundesregierung fest. «Wer kommt als Objekt einer Wahl durch das Volk in Betracht?», fragte Madison. «Jeder Bürger, dessen Verdienste ihn der Achtung und dem Vertrauen seines Landes empfehlen.» Was könnte revolutionärer sein als diese Worte? «Weder Reichtum noch Herkunft, religiöser Glaube oder bürgerlicher Beruf dürfen das Urteil des Volkes positiv oder negativ beeinflussen», betonte Madison.[37]
Im gleichen revolutionären Geist verlangte die Verfassung, dass die Kongressabgeordneten bezahlt werden sollten, damit das Amt nicht nur wohlhabenden Männern vorbehalten blieb. Sie verlangte von Einwanderern nur eine kurze Aufenthaltsdauer im Land, bevor auch sie für öffentliche Ämter kandidieren durften. Delegierte, die für stärkere Einschränkungen plädierten, bekamen es mit Einwanderern wie Hamilton zu tun, der in Westindien zur Welt gekommen war, oder mit dem in Schottland geborenen James Wilson, der sich über die Aussicht wunderte, «selbst untauglich für ein Amt zu sein nach den Bestimmungen eben der Verfassung, an deren Entstehung er beteiligt gewesen war».
Diese Fragen wurden zwar relativ leicht gelöst, aber andere erwiesen sich als weitaus schwieriger. Der Kongress sah sich hier auf eine nahezu unauflösbare Art gespalten. Wie konnte man zu einer gerecht austarierten Vertretung im Kongress kommen, in einer nationalen Regierung, die aus Staaten so unterschiedlicher Größe zusammengesetzt war? Ein Vorschlag ging unter anderem von einer neu zu zeichnenden Karte der Vereinigten Staaten aus. «Legt die Karte der Konföderation auf den Tisch», regte ein Delegierter aus New Jersey an, um sie so neu zu zeichnen, dass «alle bestehenden Grenzen beseitigt werden und eine neue Aufteilung des Ganzen mit 13 gleich großen Teilen entsteht».[38] Aber das Problem war nicht allein die Größe der Staaten, wie Madison ausführte. Es lag in der Bevölkerungsstruktur. «Die Staaten wurden nicht durch Größenunterschiede in verschiedene Interessengruppen aufgeteilt», erklärte er, «… sondern grundsätzlich nach den Auswirkungen des Besitzes oder Nichtbesitzes von Sklaven.»[39]
Das Problem des Eigentums in Form von Menschen hatte sich im Vergleich zur vorrevolutionären Zeit noch vergrößert. Die Jahre, die auf das Kriegsende folgten, sahen den größten Import afrikanischer Sklaven in den Doppelkontinent in der Geschichte – eine Million Menschen innerhalb eines einzigen Jahrzehnts. Die Sklavenbevölkerung der Vereinigten Staaten, die 1776 noch 500.000 Menschen zählte, hatte bis 1787 auf 700.000 zugenommen. Nach dem Friedensvertrag von Paris, in dem Großbritannien die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten anerkannte, betrachtete es seine ehemaligen Kolonien wie eine ausländische Nation, was bedeutete, dass amerikanische Kaufleute keinen Zugang mehr zu britischen Häfen hatten, einschließlich der Häfen auf den Westindischen Inseln. Eine Konsequenz daraus war, dass der Sklavenhandel innerhalb der Vereinigten Staaten zunahm, weil Sklavenbesitzer im Süden ihr Eigentum an Siedler im ländlichen Kentucky, Louisiana und Tennessee verkauften. Doch während die Zahl der Sklaven in den südlichen Staaten zunahm, ging sie im Norden zurück; bis zum Jahr 1787 war die Sklaverei in Neuengland praktisch abgeschafft worden, und in Pennsylvania und New York stand sie stark unter Druck. Von großer wirtschaftlicher Bedeutung war sie nur in fünf der dreizehn Staaten, und nur in zweien davon, in South Carolina und Georgia, bildete sie das Rückgrat der Wirtschaft.
Beim Verfassungskonvent erwies es sich als unmöglich, das Thema Sklaverei beiseitezuschieben, weil einerseits die Frage der parlamentarischen Vertretung eng damit zusammenhing und andererseits jede Art von Verständnis des Wesens der Tyrannei darauf beruhte. Wenn Madison die unvermeidliche Unterdrückung erörterte, die eine Mehrheit über eine Minderheit ausübte, berief er sich auf die antike Geschichte und erzählte, wie die Reichen die Armen schon in Griechenland und Rom unterdrückt hatten. Aber er berief sich auch auf die moderne amerikanische Geschichte. «Wir haben die bloße Unterscheidung nach der Farbe erlebt, die in der aufgeklärtesten Zeitspanne überhaupt getroffen wurde, die Grundlage der tyrannischsten Herrschaft, die jemals von Menschen über Menschen ausgeübt wurde».[40] Mit dieser Darstellung von Unterdrückung hatte Madison eigentlich keine Aussage über die Sklaverei beabsichtigt (obwohl er genau das unabsichtlich tat, weil das, was er an jenem Tag sagte, offenlegte, dass er «die bloße Unterscheidung nach der Farbe» nicht als Grundlage für eine Knechtschaft anerkannte); er versuchte seine Delegiertenkollegen davon zu überzeugen, dass eine Republik großmütig sein müsse, mit einer Vielzahl von Fraktionen, damit eine Mehrheit eine Minderheit nicht unterdrücken könne. Aber die Sklaverei war das, was er unter Unterdrückung verstand.
Die Sklaverei wurde zum entscheidenden Konfliktpunkt in Philadelphia, weil Sklaven in zwei Berechnungen eingingen: in das Vermögen, das sie als persönliches Eigentum darstellten, und in die Bevölkerungszahl, die sie als Menschen repräsentierten. Beides war nicht voneinander zu trennen.
Die schwierigste Frage beim Konvent betraf die parlamentarische Vertretung. Staaten mit einer hohen Einwohnerzahl wollten natürlich eine parlamentarische Vertretung im Bundesparlament, die ihrem Bevölkerungsanteil entsprach. Staaten mit niedriger Einwohnerzahl wünschten sich eine einheitliche parlamentarische Vertretung für jeden Staat. Staaten mit einer hohen Zahl von Sklaven wollten, dass Sklaven zum Zweck der parlamentarischen Vertretung als Menschen zählten, nicht aber bei der Besteuerung; Staaten ohne Sklaven wollten das Gegenteil. «Wenn … wir vom Grundsatz der Repräsentation entsprechend der Bevölkerungszahl abgehen, werden wir das Ziel unserer Versammlung aus den Augen verlieren», warnte James Wilson aus Pennsylvania am 9. Juni.[41] Am gleichen Tag, möglicherweise auch erst am späten Abend, verschickte der fleißige Briefschreiber Benjamin Franklin Abschriften der neuen Verfassung der Pennsylvania Society for Promoting the Abolition of Slavery an bedeutende Gegner der Sklaverei in aller Welt, «denn in dieser Angelegenheit gehören die Freunde der Menschheit in jedem Land einer Nation und Religion an».[42] Franklin sprach beim Konvent zur Frage der Repräsentation, aber es war Wilson, sein Landsmann aus Pennsylvania, der dieses Thema klar und deutlich behandelte. Wilson verstand das Wesen der politischen Spaltung besser als alle anderen Delegierten – einer Spaltung, die innerhalb von Jahrzehnten die Union auseinanderreißen sollte.
Wilson fragte am 11. Juli, warum Sklaven, wenn sie als Menschen anerkannt wurden, nicht auch «als Bürger anerkannt» wurden. Und «warum werden sie nicht als mit weißen Bürgern gleichrangig anerkannt»? Und wenn sie nicht als Menschen anerkannt wurden, «werden sie als Eigentum anerkannt? Warum wird dann nicht auch anderes Eigentum in die Berechnung einbezogen?»
Der Konvent hatte sich nahezu vollständig in eine Sackgasse verrannt, aus der er nur durch ein Abkommen herausfand, das sich auf das Nordwest-Territorium bezog – eine «Northwest Ordinance» («Nordwest-Verordnung»), mit der festgelegt wurde, dass alle der Union künftig beitretenden neuen Staaten, die nördlich des Ohio River gebildet wurden, ohne Sklaverei sein sollten, während alle weiteren Staaten südlich des Ohio die Sklaverei aufrechterhalten würden. Dieser Beschluss wurde am 13. Juli gefasst. Vier Tage später nahm der Konvent eine Vereinbarung an, die als Connecticut-Kompromiss bezeichnet wird. Darin wurden eine gleichrangige Vertretung im Senat, mit zwei Senatoren für jeden Staat, und eine proportionale Vertretung im Repräsentantenhaus, mit einem Abgeordneten für jeweils 40.000 Menschen (erst in allerletzter Minute wurde diese Zahl in 30.000 abgeändert), festgelegt. Und jeder Sklave sollte zum Zweck der Repräsentation als drei Fünftel einer Person mitgezählt werden – mit der von Madison 1783 ersonnenen Verhältniszahl. Ein alle zehn Jahre abzuhaltender nationaler Zensus wurde beschlossen, um diese Zählung vorzunehmen.[43]
Die bemerkenswerteste Konsequenz dieses bemerkenswerten Abkommens war, dass Sklavenhalterstaaten eine viel größere parlamentarische Vertretung im Kongress eingeräumt wurde als freien Staaten. Die erste Volkszählung in den Vereinigten Staaten ergab 1790 eine Zahl von 140.000 freien Bürgern in New Hampshire, was bedeutete, dass der «Granite State» vier Sitze im Repräsentantenhaus erhielt. Aber South Carolina erhielt mit seinen 140.000 freien Bürgern und 100.000 Sklaven sechs Sitze. Die Bevölkerung von Massachusetts war größer als die Bevölkerung von Virginia, aber Virginia hatte 300.000 Sklaven und erhielt deshalb fünf weitere Sitze. Die Abgeordneten der freien Staaten wären ohne die Drei-Fünftel-Bestimmung gegenüber den Abgeordneten der Staaten mit Sklaverei mit 57 zu 33 in der Mehrheit gewesen.[44]
Während einer Sitzungspause im August ging Madison seinen eigenen Geschäften nach. Ein Sklave namens Anthony, 17 Jahre alt, war aus Montpelier weggelaufen. Madison fragte sein einstiges menschliches Eigentum Billey, den jetzigen William Gardener, ob er wisse, wohin Anthony geflohen sein könnte.[45] Anthony hatte sich auf den Weg gemacht, um zu einem Fünf-Fünftel-Menschen zu werden.
Franklin nutzte die Unterbrechung für eine Ruhepause und dachte über das Problem der Sklaverei nach. Er hatte vorgehabt, einen Vorschlag einzureichen, mit dem er zu einer Grundsatzerklärung aufrief, einer Erklärung, die sowohl den Sklavenhandel wie auch die Sklaverei selbst verurteilte, aber Delegierte aus dem Norden hatten ihn dazu bewogen, den Vorschlag zurückzuziehen, weil der Kompromiss so brüchig war. Rufus King, ein Delegierter aus Massachusetts, nutzte die Vertagung, um seine Zustimmung zur Drei-Fünftel-Klausel zu überdenken. Als die Beratungen wieder aufgenommen wurden, schlug King vor, dem Kongress zumindest die Befugnis zur Abschaffung des Sklavenhandels zu erteilen, worauf die Delegation aus South Carolina deutlich machte, dass jeder Versuch einer Einschränkung dieses Handels sie zwingen würde, den Konvent zu verlassen.
Luther Martin konnte sich damit nicht abfinden. Martin, ein Sohn von Farmersleuten aus New Jersey, hatte als Lehrer gearbeitet, bevor er Rechtsanwalt wurde; 1778 war er zum Justizminister (Attorney General) von Maryland ernannt worden. Martin erklärte, dass der Sklavenhandel sich «mit den Prinzipien der Revolution nicht vertrug und den amerikanischen Charakter entehrte». Martin war klein und rotgesichtig, und er war ebenso schlampig wie brillant. «Sein Genie und seine Laster waren gleichermaßen auffallend», sagte man über ihn.[46] Aber er erwies sich als ein Mann mit Grundsätzen. Er verließ den Konvent, verweigerte seine Unterschrift unter die Verfassung, wandte sich gegen ihre Ratifizierung und mahnte, dass «nationale Verbrechen in dieser Welt nur durch nationale Strafen vergolten werden können, und oft geschieht das auch».[47] John Rutledge wies Martins Argument zurück. Der 48-jährige Rutledge hatte in der South Carolina Assembly gedient, war Abgeordneter des Stempelsteuer- und des Kontinentalkongresses und Gouverneur seines Staates gewesen; jetzt erwies er sich als entschlossenster Verteidiger des Südens. «Die wahre Frage von heute ist, ob die Staaten des Südens Mitglieder der Union sein sollen oder nicht.»
Die Neuengländer erkannten das Argument an. «Lassen wir jeden Staat importieren, was ihm gefällt», sagte Oliver Ellsworth aus Connecticut. Ellsworth, ein gläubiger Christ, hatte sich auf eine Laufbahn als Geistlicher vorbereitet, bevor er Rechtsanwalt wurde. «Die moralische Berechtigung oder Vernünftigkeit der Sklaverei sind Überlegungen, die in den einzelnen Staaten selbst angestellt werden müssen», sagte er. Er glaubte außerdem, dass diese Einrichtung im Schwinden begriffen sei. «Die Sklaverei wird unser Land mit der Zeit nicht mehr beflecken.»
Ein Kompromiss zwischen den Gegnern und Befürwortern des Sklavenhandels wurde durch einen Antrag erreicht, der vorsah, dem Kongress jegliche Eingriffe in den Sklavenhandel für einen Zeitraum von 20 Jahren zu untersagen. Madison war bedrückt. Er hätte es vorgezogen, dass das Wort Sklaverei in der Verfassung überhaupt nicht erwähnt wurde. «Ein so langer Zeitraum wird für den Nationalcharakter entehrender sein, als in der Verfassung überhaupt nichts dazu zu sagen», warnte er. Gouverneur Morris, der ein Bein an ein Wagenrad und den Gebrauch eines Arms an einen Topf mit kochendem Wasser verloren hatte, war entsetzt über den ganzen Handel und beschloss, einen Vortrag zu halten. «Der Bewohner von Georgia und S. C., der an die Küste Afrikas reist und unter Missachtung der heiligsten Gesetze der Menschheit seine Mitmenschen ihren Liebsten entreißt & sie zur grausamsten Knechtschaft verdammt, soll mehr Stimmen in einem Parlament haben, das zum Schutz der Rechte der Menschheit eingerichtet wurde, als der Bürger von Pa. oder N. Jersey, der eine derart schändliche Handlungsweise mit lobenswertem Abscheu betrachtet.» Er würde sich «lieber einer Steuer für die Bezahlung aller Neger in den Vereinigten Staaten unterwerfen, als die Nachwelt mit einer solchen Verfassung zu belasten». Morris wies darauf hin, dass die Delegierten zusammengekommen seien, um eine Republik aufzubauen, aber es gebe nichts Aristokratischeres als die Sklaverei. Er bezeichnete sie als «den Bannfluch des Himmels».[48]
Die Verfassung sollte diesen Fluch nicht aufheben. Stattdessen versuchte sie ihn zu vertuschen. Die Worte «Sklave» oder «Sklaverei» tauchen im Schlussdokument nirgendwo auf. «Was wird über diesen neuen Grundsatz gesagt werden, ein Recht, freie Menschen zu regieren, auf eine Macht zu gründen, die auf Sklaverei beruht», fragte sich John Dickinson aus Pennsylvania – zutreffenderweise, wie sich herausstellen sollte. Er sagte voraus: «Das Weglassen des Wortes wird als ein Unterfangen betrachtet werden, mit dem ein Grundsatz verborgen werden soll, dessen wir uns schämen.»[49]
Fünf Tage vor dem Ende des Konvents schlug George Mason eine Ergänzung durch eine Bill of Rights, einen Katalog von Grundrechten, vor: «Eine Gesetzesvorlage könnte innerhalb weniger Stunden ausgearbeitet werden», drängte er. Aber Masons Vorschlag wurde abgeschmettert; kein einziger Staat stimmte für ihn, in erster Linie, weil die meisten Staaten bereits einen Grundrechtekatalog in ihren Verfassungen hatten, aber auch, weil die Delegierten erschöpft waren und endlich nach Hause wollten.
Nach vier Monaten voll anstrengender Debatten war schließlich am Montag, dem 17. September 1787, ein gründlich überarbeiteter Entwurf unterschriftsreif. Der von seiner Gichtkrankheit schwer gezeichnete Franklin erhob sich mit Mühe von seinem Stuhl, war aber wie so oft während des Konvents zu erschöpft, um noch sprechen zu können. Der halb so alte Wilson las Franklins Redetext vor.
«Herr Präsident», begann er, an Washington gerichtet. «Ich bekenne, dass es in dieser Verfassung mehrere Teile gibt, mit denen ich gegenwärtig nicht übereinstimme, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihnen niemals zustimmen werde.» Er ließ durchblicken, dass er eines Tages seine Meinung ändern könnte. «In einem langen Leben habe ich viele Beispiele erlebt, bei denen ich es besseren Informationen oder umfassenderen Überlegungen verdankte, dass ich meine Meinung selbst bei wichtigen Themen änderte, eine Meinung, die ich einst für richtig hielt, aber dann zu einem anderen Ergebnis kam. Deshalb neige ich, je älter ich werde, immer mehr dazu, an meinem eigenen Urteilsvermögen zu zweifeln und dem Urteilsvermögen anderer mehr Respekt zu erweisen.» Er hoffte darauf, die Denkweise der Delegierten aufzubrechen, die sich dem ihnen vorliegenden Kompromiss verschlossen, und erinnerte sie an den Preis, der mit jeder Art von fanatischem Eiferertum verbunden war. «Die meisten Menschen wähnen sich, ebenso wie die meisten religiösen Sekten, im Besitz der alleinigen Wahrheit, und überall dort, wo andere nicht mit ihnen übereinstimmten, mussten sie im Irrtum sein.» Aber war unter solchen Begleitumständen nicht Demut die beste Wahl? «Deshalb, Sir, stimme ich dieser Verfassung zu», schloss er, «weil ich keine bessere erwarte, und weil ich nicht sicher bin, dass sie nicht die beste ist.»[50]
Um vier Uhr nachmittags setzten die ersten Abgeordneten ihre Unterschrift unter die letzte der vier auf Pergament festgehaltenen Seiten des Dokuments. Mason zählte zu den Delegierten, die ihre Unterschrift verweigerten. Washington saß auf einem Stuhl vor einem Fenster. Franklin war sich der Bedeutung politischer Theatralik bewusst. Er erlaubte sich die Bemerkung, dass er sich während der vielen langen Tage des Konvents, an denen er sein Zeitgefühl eingebüßt hatte, oft gefragt habe, ob die Sonne dort draußen vor dem Fenster, ebenso wie die Sonne, die sich jetzt hinter Washingtons Stuhl abzeichnete, auf- oder untergehe. «Aber jetzt endlich», sagte er, «habe ich das Glück zu wissen, dass es eine aufgehende und keine untergehende Sonne ist.»[51]
Am Tag nachdem sich der Kongress vertagt hatte, wurde das, was so lange strikt geheim gehalten und erst vor so kurzer Zeit auf Pergament niedergeschrieben worden war, kopiert und veröffentlicht, in Zeitungen und auf Plakate gedruckt, und oft wurden dabei die Worte «We, the People» in übergroßer Schrift hervorgehoben. Washington schickte eine Abschrift an Lafayette in Paris: «Sie ist jetzt ein Glückskind.» Wie Madison feststellte, sei die Verfassung «auch nicht mehr wert als das Papier, auf dem sie geschrieben wurde, solange sie nicht mit der Billigung derjenigen versehen ist, an die sie sich richtet. … das Volk selbst».[52]
DIE UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG WAR von Mitgliedern des Kontinentalkongresses unterzeichnet worden; sie war niemals allen Wahlberechtigten zur Abstimmung vorgelegt worden. Die Konföderationsartikel waren in den Staaten ratifiziert worden, aber nicht durch die Wahlberechtigten, sondern durch die Parlamente der Staaten. Einer wahlberechtigten Bevölkerung war, mit Ausnahme der Verfassung von Massachusetts (1780) und der zweiten Verfassung von Massachusetts (1784), noch niemals zuvor ein schriftlicher Entwurf für ein Regierungssystem zur Genehmigung vorgelegt worden. «Das ist ein neuartiges Ereignis in der Geschichte der Menschheit», sagte der Gouverneur von Connecticut beim Ratifizierungskonvent seines Staates.[53]
Die Debatte anlässlich der Ratifizierung der Verfassung brachte einige der hitzigsten politischen Schriften der amerikanischen Geschichte hervor, die nicht nur in amerikanischen Zeitungen erschienen, sondern auch durch Hunderte von Plakaten und Pamphleten verbreitet wurden. Das Plädoyer zugunsten einer Ratifikation wurde in der Zeit von Oktober 1787 bis Mai 1788 in 85 unter dem Pseudonym Publius erschienenen Essays eloquent und überzeugend vorgetragen. Der ehrgeizige, junge, rothaarige Alexander Hamilton, der beim Verfassungskonvent selbst keine besondere Rolle gespielt hatte und der Ansicht war, die vorliegende Verfassung schaffe ein zu demokratisches Regierungssystem, verfasste 51 dieser Essays. Madison schrieb etwa 20, und John Jay steuerte den Rest bei.
Die Debatte, die in den Ratifizierungskonventen, aber auch, noch spannender, in den Wochenzeitungen der Nation geführt wurde, etablierte die Grundstruktur des Zweiparteiensystems der neuen Nation. Den Föderalisten standen die unvorteilhaft benannten Antiföderalisten gegenüber, die sich gegen die Ratifizierung wandten. Ohne den Alles-oder-nichts-Dualismus dieser Wahl und eine parteiische Presse hätten die Vereinigten Staaten ohne Weiteres eine andere politische Kultur mit vielen Parteien entwickeln können.
Die Antiföderalisten kritisierten im Allgemeinen, die Verfassung laufe auf eine Verschwörung gegen ihre Freiheiten hinaus, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil ihr eine Bill of Rights, ein Grundrechtekatalog fehle. Jefferson, zu diesem Zeitpunkt in Paris, klagte: «Eine Bill of Rights ist das, was dem Volk gegen jede Regierung auf Erden zusteht.»[54] Die Antiföderalisten fanden außerdem, der Kongress sei zu klein; zu dieser Frage zitierten sie John Adams, der geschrieben hatte, eine Legislative «sollte im Kleinformat ein exaktes Abbild des ganzen Volkes sein». Die Antiföderalisten vertraten unter dem Einfluss von Montesquieus Schrift Vom Geist der Gesetze (1748) die Ansicht, eine Republik müsse klein und homogen sein, und die Vereinigten Staaten seien für diese Art von Regierungssystem zu groß. Sie klagten außerdem, die Verfassung sei eine schwierige Lektüre, und ihr Schwierigkeitsgrad sei ein weiterer Beleg dafür, dass sie Teil einer Verschwörung gegen den Verstand einfacher Bürger sei, so als ob sie bewusst unverständlich sei. «Die Verfassung eines weisen und freien Volkes», insistierten die Antiföderalisten, «sollte für die einfache Vernunft so einleuchtend sein wie die Buchstaben unseres Alphabets» und so leicht zu lesen wie Common Sense. «Eine Verfassung sollte, einem Leuchtturm ähnlich, dem Auge der Öffentlichkeit vorgehalten werden, so dass sie von jedem Menschen verstanden werden kann», erklärte Patrick Henry.[55]
Antiföderalisten, unter ihnen einige ehemalige Delegierte des Konvents, stellten auch die Drei-Fünftel-Klausel infrage. Luther Martin bezeichnete sie als «feierliche Verhöhnung und Beleidigung Gottes» und sagte, die Klausel «schließe die Absurdität mit ein, die Macht des Staates … in dem Maß zu erhöhen, in dem dieser Staat die Freiheitsrechte verletze».[56] Madison verteidigte diese Entscheidung und beharrte darauf, es gebe keine andere Möglichkeit, Sklaven zu zählen, es sei denn als Personen und als Eigentum zugleich, weil dies «die Kennzeichnung ist, die die Gesetze ihnen verleihen, unter denen sie leben».[57]
Die Ratifizierung erwies sich als äußerst nervenaufreibend. Bis zum 9. Januar 1788 hatten fünf Staaten – Connecticut, Delaware, Georgia, New Jersey und Pennsylvania – ratifiziert. Die Debatte, die Mitte Januar beim Konvent in Massachusetts einsetzte, wurde hitzig. «Du merkst, dass wir einige unruhige Geister haben, die gegen die Verfassung sind», berichtete Jane Franklin ihrem Bruder aus Massachusetts. «Aber es sieht nicht danach aus, als seien es diejenigen mit dem überlegenen Urteilsvermögen»,[58] versicherte sie ihm. Nachdem die Föderalisten versprachen, sie würden bei der ersten Sitzung des neuen Kongresses eine Bill of Rights vorlegen, stimmte Massachusetts im Februar mit einer knappen Mehrheit von 187 zu 168 Stimmen für die Ratifizierung. Im März verweigerte Rhode Island, das bereits die Entsendung von Delegierten zum Verfassungskonvent abgelehnt hatte, die Einberufung eines Ratifizierungskonvents. Maryland ratifizierte im April, South Carolina im Mai, New Hampshire im Juni. Das waren jetzt neun Staaten, die sich für die Verfassung aussprachen, was dem verlangten Minimum entsprach.
In der Praxis war jedoch die Zustimmung Virginias und New Yorks unentbehrlich. Beim Konvent in Virginia vertrat Patrick Henry die Ansicht, die Verfassung sei ein Angriff auf die Souveränität der Staaten: «Haben sie einen Vorschlag zu einem Vertrag zwischen Staaten gemacht? Hätten sie das getan, wäre dies eine Konföderation: Es ist im Gegenteil ganz eindeutig ein kompaktes Regierungssystem. Die Frage wendet sich, Sir, dieser armseligen kleinen Sache zu – dem Ausdruck Wir, das Volk, anstelle der Staaten von Amerika.»[59] Aber die Föderalisten setzten sich schließlich am 25. Juni 1788 mit 89 zu 79 Stimmen durch.
Am 4. Juli sprach James Wilson mit vollmundiger Leidenschaft bei einer Parade in Philadelphia, während ein Ratifizierungskonvent in New York zusammenkam. «Sie haben von Sparta gehört, von Athen und von Rom, sie haben von ihren bewunderten Verfassungen und von ihrer hochgeschätzten Freiheit gehört», rief er seinem Publikum zu. Dann ließ er eine Reihe rhetorischer Fragen folgen. Aber waren ihre Verfassungen niedergeschrieben worden? «Nein!», rief die Menge zurück. Waren sie vom Volk geschrieben worden? Nein! Waren sie dem Volk zur Ratifizierung vorgelegt worden? Nein! «Sollten sie durch ein zustimmendes oder ablehnendes Votum des Volkes stehen oder fallen?» Abermals nein.
Drei Wochen später ratifizierte New York mit 30 zu 27 Stimmen.[60] Mit einer Mehrheit von drei Stimmen erlangte die Verfassung Gesetzeskraft. Und dennoch wütete die politische Schlacht weiter. Am Tag nach der Abstimmung stellte Thomas Greenleaf, der einzige antiföderalistische Drucker in der von Föderalisten beherrschten Stadt New York, abends bei seiner Rückkehr nach Hause fest, dass eine Bande von Föderalisten Musketenkugeln in sein Haus gefeuert hatte. Er lud zwei Pistolen, legte sie in eine Kommode neben seinem Bett und ging schlafen, wurde aber mitten in der Nacht von Männern geweckt, die vor seinem Haus ein Geschrei veranstalteten. Als ein Mob sich daranmachte, seine Haustür aufzubrechen, Fenster zertrümmerte und Steine warf, feuerte Greenleaf aus einem Fenster im zweiten Stock in die Menge, versuchte noch nachzuladen, entschloss sich dann aber zur Flucht. Nachdem er und seine Frau samt den Kindern mit knapper Not durch die Hintertür entkommen waren, stürmte der Mob das Haus und seine Werkstatt und zerstörte seine Lettern und die Druckerpresse – ein böses Omen für eine Nation, die auf der Grundlage der freien Meinungsäußerung entstanden war.[61]
Die Ratifizierung war ein qualvoller Prozess gewesen. Das Ganze hätte sehr leicht anders ausgehen können. Eine ungestüme neue Republik hatte begonnen.
DER ERSTE KONGRESS kam am 4. März 1789 in New Yorks City Hall zusammen, an dem Ort, an dem der deutsche Drucker John Peter Zenger 1735 vor Gericht gestellt worden war, an dem einen schwarzen Mann namens Caesar 1741 sein Schicksal ereilt und an dem 1765 der Stamp Act Congress getagt hatte, jedes einzelne Ereignis ein Prozess für die Freiheit. Das in Federal Hall umbenannte Gebäude war für seine neue Bestimmung renoviert, erweitert, verbessert und majestätisch aufgehübscht worden, mit toskanischen Pfeilern und dorischen Säulen, nach einem vom französischen Architekten Pierre Charles L’Enfant entworfenen Plan, dem Mann, der später, als die Bundesregierung an das Ufer des Potomac umzog, auch die Hauptstadt der Nation planen sollte. Unter L’Enfants Händen wuchs die City Hall auf das Dreifache ihrer ursprünglichen Größe, und ihr ästhetisches Fundament stand für einen neuen Baustil: Federal. Über einem prunkvollen neuen Balkon, der Wall Street zugewandt, schien ein riesiger, dreizehn Pfeile tragender Adler aus den Wolken aufzutauchen. Eine neue Kuppel war mit halbkreisförmigen Fenstern ausgestattet, himmelwärts gerichteten Augen.[62]
George Washington wurde auf dem Balkon der Federal Hall, der ehemaligen City Hall von New York, in sein Amt eingeführt.
Bei allem Pomp war die Federal Hall ein Monument des Republikanismus: Das Gebäude öffnete seine Türen dem Volk. Die Verfassung verlangt, dass «jedes Haus ein Protokoll seiner Sitzungen führen und dieses von Zeit zu Zeit veröffentlichen soll». Der Congressional Record wurde veröffentlicht, weil das sein musste, aber der Kongress beschloss, seine Tätigkeit auf eine ganz andere Art öffentlich zu machen. Die Verfassung von Pennsylvania hatte 1776 verfügt, dass «Die Türen des Hauses … offen sein und bleiben sollen, um allen Personen Zutritt zu gewähren, die sich angemessen betragen». Das Repräsentantenhaus folgte diesem Vorbild und öffnete seine Türen ab der ersten Sitzung. Der Abgeordnetensaal, gewölbt und achteckig, hatte zwei Stockwerke und bot Zuschauern auf großen Galerien Platz.[63]
Der neue Präsident wurde erst am 30. April in sein Amt eingeführt. Die Verzögerung entstand durch die Zeit, die man für das Abhalten der ersten Präsidentschaftswahl brauchte. Washington hatte keinen Gegenkandidaten, aber es blieb dennoch die Aufgabe der Stimmenzählung. Die genauen Umstände, unter denen der neue Präsident sein Amt antreten sollte, waren nicht unmittelbar klar. Die Verfassung verlangt nur, dass der Präsident einen Eid ablegt, mit dem er schwört, dass er «die Verfassung der Vereinigten Staaten nach besten Kräften erhalten, schützen und verteidigen» werde.
Nur wenige Stunden vor dem geplanten Termin für Washingtons Amtseinführung entschied ein Sonderausschuss des Kongresses, dass es angemessen sein könnte, wenn der Präsident seine Hand auf eine Bibel legt, während er den Amtseid leistet. Unglücklicherweise hatte niemand in der Federal Hall ein Exemplar der Bibel zur Hand. Das führte zu einer hektischen Suche. Zur Mittagszeit, über einer auf der Wall Street versammelten Menschenmenge und unter jenem aus den Wolken hervorbrechenden Adler, leistete Washington, auf einem Balkon stehend, seinen Amtseid.
Er legte das Gelöbnis ab und küsste dann seine geliehene Bibel. Nach der Vereidigung betrat Washington die Federal Hall und trug eine von Alexander Hamilton geschriebene Rede vor. Die Verfassung verlangt keine Rede zur Amtseinführung. Aber Washington hatte ein Gespür für den historischen Augenblick. Er begann, indem er mit dieser Rede die «Mitbürger des Senats und des Abgeordnetenhauses» ansprach. Er sprach zum Kongress in diesem gewölbten, achteckigen Raum, aber er beschwor das Volk herauf: «Die Erhaltung des heiligen Feuers der Freiheit und das Geschick der republikanischen Form der Regierung werden … als endgültig an jenes Experiment gebunden erachtet werden, welches den Händen des amerikanischen Volkes anvertraut ist.»[64]
Nahezu alles, was Washington tat, schuf einen Präzedenzfall. Was wäre geschehen, wenn er sich, noch bevor er jenen Amtseid ablegte, dafür entschieden hätte, seine Sklaven freizulassen? Von der Sklaverei war er desillusioniert; seine eigenen Sklaven und die Mehrzahl der Sklaven, die seiner Frau gehörten, waren für ihn eine moralische Belastung, und er verstand sehr gut, dass die Institution der Sklaverei eine moralische Belastung für die Nation war, allem Reichtum zum Trotz, der durch unbezahlte Zwangsarbeit geschaffen wurde. Es gibt einen Hinweis darauf – so vage er auch sein mag –, dass Washington eine Erklärung verfasste, mit der er seine Absicht, noch vor Antritt des Präsidentenamtes seine Sklaven freizulassen, bekanntgeben wollte. (Oder diese Erklärung war, wie bereits Washingtons Rede zum Amtsantritt, von Hamilton geschrieben worden, einem Mitglied der New York Manumission Society). Auch das, Washington war sich dessen bewusst, hätte einen Präzedenzfall geschaffen: Jeder Präsident in seiner Nachfolge hätte seine Sklaven freilassen müssen. Und dennoch wollte, konnte er es nicht tun.[65] Nur wenige Entscheidungen Washingtons sollten so dauerhafte und schreckliche Konsequenzen haben wie diese eine versäumte Handlung.
DIE VERFASSUNG SAGT über die Pflichten des Präsidenten nicht viel. «Der Präsident ist Oberbefehlshaber der Armee und Marine der Vereinigten Staaten», heißt es in Artikel II, Abschnitt 2, und «er kann von den Leitern jeder Abteilung der Bundesexekutive eine schriftliche Stellungnahme zu jedem Thema anfordern, das sich auf ihre jeweiligen Amtspflichten bezieht.» Aber die Verfassung verlangt von ihm kein Kabinett. Dennoch richtete der erste Kongress mehrere Ministerien ein, für die Washington Minister ernannte: das Außenministerium, geführt von Jefferson, das Finanzministerium, geführt von Hamilton, und das Kriegsministerium, geführt von Henry Knox.
Der dringendste Tagesordnungspunkt für den Kongress war die Erarbeitung einer Bill of Rights. Madison, der einen Gesetzentwurf vorbereitet hatte, «um die Verfassung nach der Ansicht derjenigen, die gegen sie sind, zu verbessern», legte dem Repräsentantenhaus am 8. Juni eine Liste mit zwölf Verfassungszusätzen vor. Seine Absicht war gewesen, die Zusätze in die Verfassung aufzunehmen, jede an dem dafür geeigneten Ort, stattdessen wurden sie einfach am Ende hinzugefügt.[66]
Während Madisons Ergänzungsvorschläge diskutiert und überarbeitet wurden, behandelte der Kongress die Frage des nationalen Rechtswesens. Artikel III, Abschnitt 1 verfügte, dass «die richterliche Gewalt der Vereinigten Staaten einem Obersten Gerichtshof übertragen wird», aber die Details wurden dem Kongress überlassen. Washington unterzeichnete am 24. September 1789 den Judiciary Act, mit dem die Zahl der Richter auf sechs festgelegt, die – eng gefasste – Zuständigkeit des Gerichts definiert und das Amt des Justizministers geschaffen wurde, mit dem Washington Edmund Randolph betraute.
Die Macht des Supreme Court ist nach der Verfassung sehr begrenzt. Die Exekutive führt das Schwert, hatte Hamilton im Federalist Nr. 78 geschrieben, und die Legislative hat das Kommando über die Geldbörse. «Dagegen hat die Judikative weder Einfluss auf das Schwert noch auf die Geldbörse, sie kann weder über die Stärke noch den Reichtum der Gesellschaft verfügen, und sie kann überhaupt nichts von sich aus durchsetzen.» Richter können nur Recht sprechen. «Die Judikative ist unbestreitbar die unvergleichlich schwächste der drei Gewalten», folgerte Hamilton und zitierte in einer Fußnote Montesquieu: «Von den oben genannten drei Gewalten ist die Judikative in gewisser Weise so gut wie nicht vorhanden.»[67]
Der Oberste Gerichtshof verfügte in der Federal Hall über keinerlei Räumlichkeiten. Stattdessen tagte er – wenn er tagte – in einem zugigen Raum im zweiten Stock eines alten Steingebäudes namens Merchant’s Exchange an der Ecke Broad und Water Street. Das Erdgeschoss, eine Arkade, diente als Börse. Im ersten Stock wurden Vorträge und Konzerte veranstaltet. Zum allerersten Sitzungstag, zu dem das Gericht einberufen wurde, erschienen nur drei Richter, so dass das Quorum verfehlt wurde und das Gericht sich vertagte.[68]
Am Tag nach der Unterzeichnung des Judiciary Act durch Washington schickte der Kongress Madisons zwölf Verfassungszusätze zur Ratifikation an die einzelnen Staaten. Unterdessen widmete sich der Kongress anderen Aufgaben und sah sich sofort mit dem Streitpunkt der Sklaverei konfrontiert. Eine Gruppe von Quäkern reichte am 11. Februar 1790 zwei Petitionen ein, eine aus Philadelphia und eine aus New York, mit denen vom Kongress ein Ende der Sklavenimporte und eine schrittweise Freilassung der bereits in Sklaverei gehaltenen Menschen verlangt wurde. Nachdem Abgeordnete aus Georgia und South Carolina sich im Oktagon der Federal Hall zu Wort gemeldet hatten, um die Petitionen zu zerpflücken, beantragte Madison, die Dokumente einem Ausschuss vorzulegen. Am darauffolgenden Tag erhielt der Kongress eine Petition der Pennsylvania Abolition Society, die das Parlament drängte, «mit der ihm verliehenen rechtsmäßigen Amtsgewalt die nach seinem Ratschluss gebotenen Maßnahmen zur Abschaffung der Sklaverei und zur Beendigung jeder Art von Handel mit Sklaven zu ergreifen». Zu den Unterzeichnern gehörte auch Benjamin Franklin.
Nach mehrstündiger Debatte – vor Zuschauern auf den Galerien – votierte der Kongress mit 43 zu 11 Stimmen für die Weiterleitung aller drei Petitionen an einen Ausschuss (sieben der elf «Nein»-Stimmen kamen aus Georgia und South Carolina). Am 8. März, dem für den Bericht des Ausschusses vorgesehenen Tag, gelang es Delegierten aus dem Süden, den vorgesehenen Ablauf zu verzögern. James Jackson aus Georgia hielt eine zweistündige Rede, in der er sagte, die Verfassung sei ein «heiliger Vertrag», und William Loughton Smith aus South Carolina beanspruchte weitere zwei Stunden Redezeit, wetterte gegen die Freilassung der Sklaven mit dem Argument, dass Schwarze im Fall ihrer Freilassung Weiße heiraten würden, «die weiße Rasse würde ausgelöscht, und das amerikanische Volk würde nur noch aus Mulatten bestehen».[69]
Gar nicht so viele Meilen von New York entfernt waren Männer, Frauen und Kinder, die sich einst im Besitz einiger an dieser Debatte beteiligter Personen befanden, mit einer Diskussion über ihre eigenen Themen beschäftigt. Harry Washington, der New York 1783 mit dem Ziel Halifax verlassen hatte, fragte sich, ob er mit seiner Familie in eine neue Kolonie in Westafrika umsiedeln sollte. Die erste Expedition nach Sierra Leone war im Mai 1787 von London aus in See gestochen, genau zu dem Zeitpunkt, als die verspäteten Delegierten des Verfassungskonvents nach und nach in Philadelphia eintrudelten. Während sich etwa 400 Auswanderer auf die Seereise vorbereiteten, hatte sie der in Afrika geborene Schriftsteller und ehemalige Sklave Quobna Ottobah Cugoano gewarnt, dass «sie lieber an Land schwimmen sollten, wenn sie das können, um ihr Leben und ihre Freiheiten in Großbritannien zu bewahren, als sich den Gefahren einer Seereise … und dem Risiko einer Ansiedlung in Sierra Leone auszusetzen». Sie stachen dennoch in See. Noch vor der Ankunft hatten sie eine Hauptstadt gegründet und einen entlaufenen Sklaven und Veteranen des Revolutionskrieges aus Philadelphia namens Richard Weaver zu ihrem Gouverneur gewählt. Fünf Monate später waren 122 der unter Krankheiten und Hunger leidenden Siedler bereits tot. Schlimmer noch, und exakt nach Cugoanos Vorhersage: Einige der Auswanderer wurden entführt und erneut in die Sklaverei verkauft. Aber für einige andere war Sierra Leone die Heimat. Frank Peters, der im Kindesalter entführt worden war, hatte den größten Teil seines Lebens als Sklave mit Feldarbeit in South Carolina verbracht, bis er sich 1779 der britischen Armee anschloss. Zwei Wochen nach seiner Ankunft in Sierra Leone, er war mittlerweile 29 Jahre alt, entdeckte ihn eine alte Frau, hielt ihn auf und drückte ihn fest an sich: Sie war seine Mutter.[70]
Harry Washington schloss sich letztlich einer Gruppe von fast 1200 schwarzen Flüchtlingen – zu ihnen gehörten auch die schwarzen Prediger Moses Wilkinson und David George – aus den Vereinigten Staaten an, die in Halifax Harbor an Bord von 15 Schiffen gingen, deren Ziel die Westküste Afrikas war. Bevor der Konvoi die Anker lichtete, erhielt jede Familie ein Zertifikat, einen «Nachweis des ‹kostenlosen› Stücks Land, das sie ‹bei der Ankunft in Afrika› erhalten sollten». Aber als Washington in Sierra Leone eintraf, stellte er fest, dass Freedom, die neue Hauptstadt der Kolonie, von Krankheiten heimgesucht wurde und unter einer Armut litt, die von außerordentlich hohen Mieten herrührte. «Wir nannten den Ort einst Free Town, aber wir haben Grund, ihn eine Stadt der Sklaverei zu nennen», lautete Wilkinsons bittere Klage.[71]
In New York, einer Sklavenstadt, legte der Ausschuss des Kongresses, der mit der Antwort auf die Petitionen gegen die Sklaverei beauftragt worden war, schließlich seinen Bericht vor. Die Verfassung untersagte dem Kongress bis zum Jahr 1808 ein Verbot des Sklavenhandels, sah aber eine Besteuerung eingeführter Waren vor, berichtete der Ausschuss, und diese Amtsgewalt schließe auch die Befugnis ein, den Sklavenhandel so massiv zu besteuern, dass dies abschreckend wirke oder ihm sogar ein Ende bereite. Madison, ein Mann mit einer leisen Stimme, stand auf und meldete sich zu Wort. Er forderte den Ausschuss auf, diese Option bei einer Überarbeitung des Berichts zu streichen. Es war ein winziges Fenster gewesen, die kleinstmögliche Öffnung. Madison schlug sie zu. Im Abschlussbericht hieß es dann: «Der Kongress hat nicht die Befugnis, sich in die Freilassung der Sklaven oder in den Umgang mit ihnen in irgendeinem der Staaten einzumischen; es bleibt allein den verschiedenen Staaten überlassen, dort Regelungen zu treffen, die die Menschlichkeit und angemessene Politik erfordern.» Eine Resolution zur Annahme des Berichts wurde mit 29 zu 25 Stimmen befürwortet, die sich den Lagern entsprechend verteilten. Damit war das Thema Sklaverei effektiv bis 1808 zurückgestellt.[72]
Franklin versuchte noch vom Sterbebett aus zu protestieren. Zuvor hatte er sich bemüht, seine Schwester zu beruhigen: «Was die Schmerzen anbelangt, die ich zu erdulden habe und die Dich so unglücklich machen, so sind sie im Vergleich zu dem langen Leben in Gesundheit und Behaglichkeit, dessen ich mich erfreute, nur eine Kleinigkeit.»[73] Aber das war reine Verstellung. Er hatte unerträgliche Schmerzen. Doch sie hinderten ihn nicht daran, in einem Beitrag für die Pennsylvania Gazette die Sklaverei anzugreifen, den er mit «Historicus» zeichnete – die Stimme der Geschichte.[74]
Er starb zwei Wochen später. Er war der einzige Mann, der die Unabhängigkeitserklärung, den Friedensvertrag von Paris und die Verfassung unterschrieb. Seine letzte öffentliche Handlung war ein Appell, die Sklaverei abzuschaffen. Der Kongress wollte nichts davon wissen.
DIE SPALTUNG IN DER FRAGE DER SKLAVEREI, die fast die Gründung der Union verhindert hätte, sollte schließlich die Nation in zwei Teile spalten. Es gab noch weitere tiefe und dauerhafte Zerwürfnisse. Die Spaltung in Föderalisten und Antiföderalisten war mit der Ratifizierung der Verfassung nicht beendet. Sie endete auch nicht mit der Ratifizierung der Bill of Rights. Zehn der zwölf von Madison formulierten Verfassungszusätze wurden am 15. Dezember 1791 von der erforderlichen Dreiviertelmehrheit der Staaten gebilligt; sie wurden zur Bill of Rights und sollten zum Gegenstand endloser Kontroversen werden.
Die Bill of Rights ist eine Liste der Machtbefugnisse, die der Kongress nicht hat. Im Ersten Zusatzartikel zur Verfassung heißt es: «Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Religion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung beschränkt, die Rede- und Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition zur Abstellung von Missständen zu ersuchen.» Seine Grundsätze leiten sich aus früheren Texten ab, unter anderem aus Madisons 1785 entstandener «Memorial Remonstrance against Religious Assessments», in der er schrieb: «Die Religion eines jeden Menschen muss der Überzeugung und dem Gewissen eines jeden Menschen überlassen bleiben», aus Jeffersons «Statute for Religious Freedom» von 1786 («unsere Bürgerrechte hängen nicht stärker von unseren religiösen Überzeugungen ab als unsere Ansichten über Physik oder Geometrie») und aus dem Artikel VI der Verfassung («Niemals darf ein religiöses Bekenntnis zur Voraussetzung für die Übernahme eines Amtes oder einer öffentlichen Vertrauensstellung im Dienst der Vereinigten Staaten gemacht werden»).[75]
Doch auch die mit der Bill of Rights formulierten Rechte sind außergewöhnlich. Nahezu jede englische Kolonie in Nordamerika wurde mit einer Staatsreligion gegründet. In den Fundamental Orders of Connecticut wurde 1639 festgehalten, der einzige Zweck einer Regierung sei die Erhaltung und Bewahrung der «Freiheit und Reinheit des Evangeliums unseres Herrn Jesus». In den eineinhalb Jahrhunderten, die zwischen den Fundamental Orders of Connecticut und dem Verfassungskonvent von 1787 liegen, vollzog sich eine vollständige Revolution – nicht nur eine politische, sondern auch eine religiöse Revolution. Die Verfassung, weit entfernt davon, eine bestimmte Religion vorzuschreiben, erwähnt «Gott» nicht einmal, mit Ausnahme des Datums («im Jahre des Herrn 1787 …»). In einer Zeit, in der alle Bundesstaaten mit nur zwei Ausnahmen ein religiöses Bekenntnis als Voraussetzung für ein öffentliches Amt verlangten, verbot das die Verfassung. In einer Zeit, in der alle Staaten bis auf drei immer noch eine Staatsreligion praktizierten, verbot die Bill of Rights der Bundesregierung die Einführung einer Staatsreligion. Die meisten Amerikaner glaubten ganz im Sinne Madisons, dass die Religion nur gedeihen könne, wenn sie nicht Teil des Regierungssystems ist, und dass ein freies Regierungssystem nur gedeihen könne, wenn es keiner bestimmten Religion angehört.[76]
Mit der Ratifizierung der Bill of Rights tauchten neue Konflikte auf. Ein großer Teil der politischen Geschichte Amerikas besteht aus einer anhaltenden Meinungsverschiedenheit zwischen denjenigen, die eine starke Bundesregierung bevorzugen, und denjenigen, die den einzelnen Staaten den Vorzug geben. Während Washingtons erster Amtszeit nahm diese Auseinandersetzung die Form einer Debatte über den von Hamilton vorgelegten Wirtschaftsplan an. In dieser Debatte drehte sich viel um das Thema Schulden. An erster Stelle stand dabei die private Verschuldung. Die auf den Krieg folgende Wirtschaftskrise hatte viele Amerikaner zahlungsunfähig gemacht. In Philadelphia saßen so viele Männer im Schuldgefängnis, dass sie sogar eine eigene Zeitung herausbrachten: Forlorn Hope.[77] An zweiter Stelle folgten die Schulden, die der Staat im Kriegsverlauf gemacht hatte. Und an dritter Stelle kamen schließlich die Schulden, die der Kontinentalkongress angehäuft hatte. Bis diese Verpflichtungen der Regierung bezahlt waren, würde es für die Vereinigten Staaten weder Geldgeber noch ausländische Investoren geben, und das Land wäre damit von der Teilnahme am Welthandel effektiv ausgeschlossen.
Hamilton schlug vor, dass die Bundesregierung nicht nur die vom Kontinentalkongress eingegangenen Schulden bezahlen, sondern auch die Verantwortung für die Schulden der einzelnen Staaten übernehmen solle. Zu diesem Zweck schlug er – nach dem Vorbild der Bank of England – die Gründung einer Nationalbank vor, zu deren Vorzügen auch die Stabilisierung einer nationalen Papiergeldwährung gehören sollte. Der Kongress verabschiedete im Februar 1790 ein Gesetz zur Gründung der Bank of the United States, das für einen Zeitraum von 20 Jahren gelten sollte. Bevor Washington der Vorlage mit seiner Unterschrift Gesetzeskraft verlieh, beriet er sich mit Jefferson, der den Präsidenten wissen ließ, Hamiltons Plan sei verfassungswidrig, weil er gegen den allumfassenden Zusatzartikel X verstoße, in dem zu lesen ist: «Die Machtbefugnisse, die von der Verfassung weder den Vereinigten Staaten übertragen noch den Einzelstaaten entzogen werden, bleiben den Einzelstaaten oder dem Volk vorbehalten.» Die Verfassung verleiht dem Kongress nicht ausdrücklich die Macht zur Gründung einer Nationalbank, und weil im Zusatzartikel X steht, dass alle Machtbefugnisse, die nicht dem Kongress zugesprochen wurden, bei den Staaten oder beim Volk liegen, könne der Kongress keine Nationalbank gründen. Washington unterschrieb dennoch und schuf damit einen Präzedenzfall für eine eher großzügige als enge Auslegung der Verfassung, indem er Hamiltons Argument zustimmte, die Gründung einer Nationalbank falle unter den Wortsinn von Artikel I, Abschnitt 8 der Verfassung, wo dem Kongress die Macht zugesprochen wird, «alle Gesetze zu erlassen, die … notwendig und geeignet sind» – und das war das genaue Gegenteil der Lesart, mit der man im Kongress die eigene Macht zur Besteuerung des Sklavenhandels ausgelegt hatte.
Andere Teile von Hamiltons Plan stießen auf Einwände anderer Art. Staaten wie Virginia und Maryland, die ihre Kriegsschulden bereits abbezahlt hatten, widersprachen der Übernahme von Schulden der Einzelstaaten durch die Bundesregierung, weil in Virginia und Maryland erhobene Bundessteuern jetzt dafür verwendet werden würden, eine finanzielle Belastung abzubezahlen, die von Staaten eingegangen worden war, die ihre Schulden noch nicht beglichen hatten, wie etwa South Carolina und Massachusetts. Schon der Gedanke, dieser Plan sei verfassungswidrig, war in Hamiltons Augen «das erste Symptom einer Sichtweise, die entweder beseitigt werden muss, oder sie wird die Verfassung der Vereinigten Staaten beseitigen». Hamilton vermittelte ein Abkommen. Die Südstaatler lehnten Hamiltons Plan ebenfalls ab, weil er Manufakturbetriebe gegenüber der Landwirtschaft begünstigte und deshalb für die Südstaaten von Nachteil zu sein schien. Weiterhin stand auf der Tagesordnung des Kongresses die Benennung einer nationalen Hauptstadt. Der Erste Kongress kam zu seinen ersten beiden Sitzungen in New York zusammen, und bei den beiden nächsten Zusammenkünften tagte man in Philadelphia. Der Kontinentalkongress hatte seinerzeit in Baltimore und Princeton und an einem halben Dutzend weiterer Orte getagt. Ein ständiger Versammlungsort für den Kongress wie auch für die anderen Institutionen der Bundesregierung war angesichts der Spannungen zwischen den einzelnen Interessengruppen, die der Union von Anfang an hart zugesetzt hatten, eine unerquickliche Frage. Bei einer Abmachung, die mit Madison beim Abendessen in Jeffersons Quartier in der Maiden Lane in New York getroffen wurde – sie wurde als «dinner table bargain» bekannt –, machte sich Hamilton für einen Plan stark, der die Hauptstadt der Nation in den Süden verlegte. Das sollte die Gegenleistung für die Unterstützung von Madison und dessen Landsleuten aus dem Süden für Hamiltons Plan sein, die Schulden der einzelnen Staaten durch die Bundesregierung zu übernehmen. Der Kongress verabschiedete Hamiltons Plan im Juli 1790 und stimmte für die Errichtung der Hauptstadt der Nation auf einem zehn mal zehn Meilen großen, quadratischen Stück Flusslandschaft am Potomac River, auf dem Staatsgebiet des damaligen Virginia und Maryland, und er beschloss gleichzeitig, wie in der Verfassung vorgesehen, einen Bundesbezirk zu gründen. Er sollte den Namen Washington erhalten.[78]
Hamilton war der Ansicht, dass die Zukunft der Vereinigten Staaten im verarbeitenden Gewerbe lag, das die Abhängigkeit der Amerikaner von Importwaren beenden und das Wirtschaftswachstum ankurbeln würde. Sein Plan sah deshalb eine Erhöhung der Einfuhrzölle – der Steuern auf importierte Waren – und die Unterstützung einheimischer Hersteller und Händler durch die Regierung vor. Der Kongress experimentierte kurzzeitig mit im Inland erhobenen Abgaben (unter anderem mit Steuern auf Kutschen, Whiskey und Briefmarken). In der Zeit vor dem Bürgerkrieg erzielte die Bundesregierung ihre Einnahmen und regulierte sie den Handel jedoch nahezu ausschließlich über Importzölle, die, anders als direkte Steuern, das Problem der Sklaverei umgingen und deshalb sehr viel weniger Anlässe zu Kontroversen boten. Importzölle schienen außerdem die Steuerlast den Kaufleuten aufzubürden, was Jefferson gefiel. «Wir finden uns umso leichter mit der Steuer auf Importe ab, weil sie ausschließlich den Reichen auferlegt wird», erklärte Jefferson. Die Hoffnung Amerikas lag seiner Ansicht nach darin, dass «der Farmer seine Regierung gestärkt sieht, seine Kinder gut ausgebildet und sein Land wie ein Paradies gestaltet, und das allein durch die Zahlungen der Reichen».[79]
Aber Hamiltons Kritiker, zu deren wichtigsten Jefferson selbst zählte, warfen ihm vor, dass sein Wirtschaftsplan die Spekulation begünstigen würde, was er tatsächlich auch tat. Nach Hamiltons Auffassung war Spekulation eine notwendige Voraussetzung für Wirtschaftswachstum; Jefferson dagegen war der Ansicht, dass sie die republikanischen Tugenden korrumpiere. Dieses Problem spitzte sich 1792 zu, als Spekulationstätigkeit zur ersten Finanzkrise in der Geschichte der neuen Nation führte.
Diese Geschichte begann wie so viele andere Finanzkrisen mit Ehrgeiz und endete mit Korruption. Hamilton hatte sich mit John Pintard angefreundet, einem Importkaufmann mit Büroräumen in der Wall Street Nr. 12. Pintard war 1790 ins Parlament des Staates New York gewählt worden; im darauffolgenden Jahr wurde er Geschäftspartner von Leonard Bleecker, dem Sekretär der New Yorker Society for the Relief of Distressed Debtors: Gemeinsam handelten sie mit Wertpapieren. Nachdem Bleecker die Partnerschaft beendet hatte, machte Pintard Geschäfte mit William Duer, Hamiltons stellvertretendem Finanzminister, einem Gauner, der die Idee hatte, bei der Bank of the United States hinterlegte Wertpapiere zu Spekulationszwecken aufzukaufen. Duer, für den Pintard als Agent auftrat, entlieh die Ersparnisse von «Ladeninhabern, Witwen, Waisen, Metzgern, Fuhrleuten, Gärtnern, Marktfrauen». Als 1792 dann klar wurde, dass von Pintard gezeichnete Banknoten im Wert von über einer Million Dollar das Papier nicht wert waren, auf dem man sie gedruckt hatte, löste die Insolvenz von Duer und Pintard den ersten Börsenkrach der Nation aus. Ein Mob versuchte Duer zu Tode zu steinigen und jagte ihn anschließend bis zum Schuldgefängnis. Pintard verbarg sich in seinem Stadthaus in Manhattan. «Wäre es nicht klug von ihm, in einen Staat zu gehen, in dem es einen Bankrupt Act gibt?», fragte sich ein Freund.[80] Pintard floh über den Fluss nach New Jersey, wo er schließlich aufgespürt und ins Schuldgefängnis gebracht wurde.
Selbst die prominentesten Männer entgingen einer Haft wegen Schulden nicht. James Wilson, der demokratischste aller Delegierten beim Verfassungskonvent, inzwischen Richter am Supreme Court, geriet so tief in Schulden, dass er sich davor fürchtete, an den dafür vorgesehenen Orten öffentliche Gerichtstage abzuhalten, aus Angst, von seinen Gläubigern festgenommen und in Ketten gelegt zu werden. (Er war mit fast 200.000 Dollar bei Pierce Butler verschuldet, der als Delegierter South Carolinas am Verfassungskonvent teilgenommen hatte.) Wilson leistete Pintard 1797 Gesellschaft im Schuldgefängnis in New Jersey, kam dann zwar frei, nachdem er sich 300 Dollar von einem seiner Söhne geliehen hatte, landete aber im Jahr darauf in North Carolina erneut im Schuldgefängnis, wo seine Frau ihn in abgerissener, schmutziger Kleidung antraf. Wenig später erkrankte er an Malaria. Im Alter von erst 56 Jahren erlitt er einen Schlaganfall und hielt im Delirium noch wirre Reden über seine Schulden, bevor er starb.[81]
Hamilton entschied, dass die Vereinigten Staaten unerschütterlichen Kredit genießen sollten. Die Schulden der Nation sollten bedient werden; private Schulden konnten erlassen werden. In der neuen Republik konnten individuelle Schulden – die Schulden von Personen, die Risiken eingingen – getilgt werden. Pintard kam aus dem Schuldgefängnis, indem er ein 1798 in New Jersey erlassenes Insolvenzgesetz nutzte, später meldete er nach den Bestimmungen des 1800 erlassenen ersten Konkursgesetzes der Vereinigten Staaten Konkurs an.[82] Er wurde per Gerichtsbeschluss von der Verpflichtung befreit, jemals seine Schulden zurückzahlen zu müssen, sein Hauptbuch für ungültig erklärt. Die Ersetzung des Schuldgefängnisses durch einen Schutz des Bankrotteurs vor Gläubigern sollte die amerikanische Volkswirtschaft verändern. Investitionen, Spekulation und das Eingehen von Risiken kamen in Schwung.
Auch die «Panik von 1792» wirkte auf diese Art: Sie veranlasste New Yorker Finanzmakler zur Unterzeichnung eines Abkommens, mit dem private Gebote auf Wertpapiere untersagt wurden, so dass niemand mehr jemals das tun konnte, was Duer getan hatte; dieses Abkommen steht für die Gründung der Einrichtung, die sich später zum New York Stock Exchange entwickeln sollte.
«WIR LEBEN IN EINEM ZEITALTER DER REVOLUTIONEN, in dem man alles erwarten kann», schrieb Thomas Paine 1791 aus England im ersten Teil von Rights of Man. Wenig später floh er aus England nach Frankreich, wo er den zweiten Teil schrieb. «Wo es Freiheit gibt, dort ist mein Land», sagte Franklin einmal, worauf Paine angeblich antwortete: «Und meines dort, wo es keine Freiheit gibt.»[83] Das eine Land, in dem Paine nicht versuchte, eine Revolution anzufachen, war Haiti. Es war ein Zeitalter der Revolutionen, aber ein Sklavenaufstand war nicht das, wonach Paine Ausschau hielt.
Haiti, damals noch Saint-Domingue genannt, war die größte und reichste Kolonie in der Karibik. Es war auch Frankreichs wichtigste Kolonie, mit einer Bevölkerung, die aus 40.000 Weißen, 28.000 freien farbigen Menschen und 452.000 Sklaven bestand – der Hälfte der Sklavenbevölkerung in der gesamten Karibik. Die Insel war der weltweit führende Hersteller von Zucker und Kaffee, sie allein exportierte fast genauso viel Zucker wie Jamaika, Kuba und Brasilien zusammen.[84] Die Revolution begann dort 1791.
Der Gang der Ereignisse in Haiti folgte Frankreichs eigener qualvoller Revolution, die im Frühjahr 1789 begonnen hatte. Die Mitglieder der Generalstände, einer als Reaktion auf Frankreichs eigene Schwierigkeiten mit Kriegsschulden einberufenen Legislative, trotzten dem König, konstituierten sich als Nationalversammlung und begannen mit der Ausarbeitung einer Verfassung. Lafayette legte der Versammlung im August eine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vor, deren Artikel I lautete: «Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten.»[85]
Paine war während der Schreckensherrschaft in Paris, als Ludwig XVI. enthauptet wurde. Paine selbst wurde verhaftet. Er schrieb das größte Stück des zweiten Teils seiner Schrift The Age of Reason in einer Zelle, während täglich Insassen des Gefängnisses zur Guillotine geführt wurden. Im Sommer 1794 wurden innerhalb von sechs Wochen mehr als 1300 Menschen hingerichtet.[86]
Die Französische Revolution war zu weit gegangen, eine Revolution, die kein Ende fand. Die Amerikaner fanden sie zwar erschreckend, aber den meisten von ihnen jagte sie nicht halb so viel Angst ein wie die Revolution in Haiti 1791, wo Hunderttausende von Sklaven ihre Ketten abschüttelten. Ihr Anführer war zunächst ein Mann namens Boukman, und dann, nach Boukmans Tod, ein ehemaliger Sklave namens Toussaint Louverture. Ihr Sklavenaufstand war ein Krieg für die Unabhängigkeit, der zweite in der westlichen Welt.
Amerikanische Sklavenbesitzer waren entsetzt über die Ereignisse in Haiti – ihre schlimmsten Befürchtungen wurden Wirklichkeit. Aber für einige Radikale in Neuengland war die Revolution auf Haiti der unvermeidliche nächste Schritt auf dem Weg zur Freiheit des Menschen. Abraham Bishop, ein Anhänger Jeffersons aus Connecticut, war einer unter einer Handvoll von Amerikanern, die die Revolution begrüßten. «Wenn die Freiheit von der Farbe abhängig ist und die Schwarzen als Sklaven geboren sind, kann man diejenigen auf den Westindischen Inseln als Aufständische und Mörder bezeichnen», schrieb Bishop in einer Reihe von Essays, die in Boston unter dem Titel «The Rights of Black Men» erschienen, und er fuhr fort: «Aber das aufgeklärte Denken von Amerikanern wird solche Ideen nicht annehmen. Wir glauben, dass die Freiheit das natürliche Recht aller vernunftbegabten Wesen ist, und wir wissen, dass die Schwarzen diese Freiheit niemals willentlich aufgegeben haben. Ist dann ihre Sache nicht ebenso gerecht wie unsere?»
Seine amerikanischen Landsleute antworteten ihm darauf mit einem dröhnenden Nein. Amerikanische Zeitungen stellten die Haitianische Revolution stattdessen als eine Art von Irrsinn dar, ein zügelloses Morden. «Nichts kann bedrückender sein als die Lage der Inselbewohner, nachdem ihre Sklaven zum Handeln aufgerufen wurden und ein fürchterliches Werkzeug sind, vollkommen unregierbar», schrieb Jefferson. Die Revolution auf Saint-Domingue, die weit entfernt davon war, Erklärungen abzugeben, mit denen die Gleichheit «aller Menschen» auf alle Menschen, weiße oder schwarze, bezogen wurde, überzeugte viele weiße Amerikaner vom Gegenteil. Die Vereinigten Staaten verkauften den französischen Plantagenbesitzern auf der Insel in der Zeit von 1791 bis 1793 Waffen und Munition und unterstützten sie mit Hundertausenden von Dollar auch finanziell.[87] Föderalisten machten sich oft größere Sorgen um Frankreich als um Haiti. Republikaner, vor allem diejenigen im Süden, sorgten sich wegen einer möglichen Ausbreitung der Revolution. Jefferson, der die Haitianer als «Kannibalen» bezeichnete, warnte Madison: «Wenn dieser Aufruhr bei uns eingeführt wird, unter welchem Schleier auch immer, haben wir ihn zu fürchten.»[88]
Wenn sie an die furchteinflößenden Gespenster Frankreich und Haiti dachten, sorgten sich die Amerikaner um ihre eigene Republik, ein Land der Freiheit und Sklaverei. Madison hatte versprochen, dass die Verfassung ihre Stabilität sichern würde. In einer Demokratie, in der das Volk «sich versammelt und die Regierung in Person ausübt», wird es immer «Unruhen und Streitigkeiten» geben, meinte er, aber eine Republik, in der das Volk sich Repräsentanten wählt, die das Regierungsgeschäft übernehmen, kann diesem Schicksal entgehen, indem sie Männer wählt, denen das Gemeinwohl wichtiger ist als Partikular- oder Parteiinteressen und die es jederzeit über den Vorteil irgendeines Teiles oder einer Partei stellen. Frühere politische Denker hatten die Ansicht vertreten, dass dieses System nur funktionieren könne, wenn eine Republik klein sei. Madison hielt dagegen, es könne nur funktionieren, wenn eine Republik groß sei, und zwar aus zwei Gründen. Erstens würde es in einer großen Republik mehr Männer geben, aus deren Reihen man auswählen könne, und deshalb sei für das Volk die Chance – rein zahlenmäßig – größer, Männer zu wählen, die das öffentliche Interesse wahrten. Zweitens müssten Kandidaten für ein öffentliches Amt in einer großen Republik angesehen und würdig zugleich sein, um bekannt zu werden und einer so großen Zahl von Wählern zu gefallen.[89]
Doch die Verfassung hielt die Parteiungen nicht in Schach, und Madison hatte bereits 1791 damit begonnen, seine Haltung zu revidieren. In einem Essay mit dem Titel «Public Opinion» dachte er über eine Quelle der Instabilität nach, die für eine große Republik typisch ist: Das Volk könnte getäuscht werden. «Je größer ein Land ist, desto schwieriger ist seine wahre Meinung zu ermitteln», erklärte er. Das heißt: Die einzelnen Gruppierungen mochten letztlich eben nicht aus weisen, sachkundigen und vernünftigen Männern bestehen. Sie konnten sich vielmehr aus unbeherrschten, ignoranten und irrationalen Männern zusammensetzen, die von Männern mit Überredungsgabe (Madison dachte hierbei an Hamilton und seine Fähigkeit, öffentliche Unterstützung für seinen Finanzplan zu gewinnen) zu «verkehrten» Ansichten verleitet worden waren. Für ihn waren die Zeitungen der Ausweg aus diesem politischen Irrgarten. «Eine Verbreitung von Zeitungen über das ganze Gemeinwesen ist gleichbedeutend mit einer Kontraktion von Gebietsgrenzen», erklärte er. Zeitungen würden das Land effektiv verkleinern.[90]
Das war ein kluger Gedanke. Jede folgende Generation entnervter Anhänger des Republikanismus sollte auf sie zurückkommen. Die Zeitung sollte die Republik zusammenhalten; der Telegraf sollte die Republik zusammenhalten; das Radio sollte die Republik zusammenhalten; das Internet sollte die Republik zusammenhalten. Und jedes Mal sollte diese Behauptung richtig und fürchterlich falsch zugleich sein.
Aber Madison war intelligent genug, um den Zusammenhang zwischen der Kommunikationstechnologie und der Herausbildung der öffentlichen Meinung zu spüren. Das amerikanische Zweiparteiensystem, die fortwirkende Quelle politischer Stabilität der Nation, wurde in den Zeitungen des Landes geschmiedet – und man kann mit einiger Berechtigung sagen: geschaffen. Zeitungen hatten die Ratifikationsdebatte zwischen Föderalisten und Antiföderalisten geprägt, und im Jahr 1791 formten Zeitungen bereits das erste Parteiensystem, eine Auseinandersetzung zwischen Föderalisten und denjenigen, die sich mit einer neu entstehenden Opposition zusammentaten: der Demokratisch-Republikanischen Partei, besser bekannt als Jeffersonianer oder Republikaner. Jefferson und Madison, die Gründer der Demokratisch-Republikanischen Partei, glaubten, das Schicksal der Republik liege in den Händen von Farmern; Hamilton und die Federalist Party glaubten, das Schicksal der Republik liege in der Entwicklung der Industrie. Jede Partei verfügte über eigene Zeitungen. In den 1790er Jahren, einer Zeit, in der die Föderalisten ihre Auseinandersetzungen mit den Jefferson-Republikanern führten, wuchsen die Zeitungen viermal so schnell wie die Bevölkerung.[91]
Zeitungen waren in der Frühzeit der Republik nicht zufällig oder unabsichtlich parteiisch; sie waren ganz und gar und mit Begeisterung parteiisch. Sie zeigten kein besonderes Interesse an der Präsentation und Sicherung von Fakten; sie interessierten sich für die Inszenierung eines Meinungsstreits. «Ich werde keine Bekenntnisse zur Unparteilichkeit ablegen», schrieb ein föderalistisch gesinnter Drucker. «Sie sind stets nutzlos und außerdem auch völliger Unsinn.»[92] Der Drucker der Connecticut Bee versprach, Nachrichten zu bringen.
Of turns of fortune, changes in the state,
The fall of fav’rites, projects of the great,
Of old mismanagements, taxations new,
All neither wholly false, nor wholly true.[93]
Parteien, einst viel geschmäht als zerstörerischer Einfluss auf das öffentliche Leben, wurden jetzt, angefeuert von den Zeitungen, zu dessen Maschinenraum. «Die Presse», sagte Jefferson, «ist die Maschine».[94]
Zeitungsleser erfuhren im September 1796, dass der 64 Jahre alte George Washington nicht für eine dritte Amtszeit kandidieren würde. Das war ein erstaunlicher Vorgang, ein Machtverzicht, der seinem Abschied vom militärischen Oberkommando nach dem Krieg nicht unähnlich war, vielleicht auch seine wichtigste Amtshandlung als Präsident. Er wusste, dass dies einen Präzedenzfall schaffen würde, dass kein Präsident unbefristet regieren sollte, ja nicht einmal für eine sehr lange Zeit. Als Abschiedsgruß richtete er einen offenen Brief an das amerikanische Volk, eine Rede, die nie gehalten, dafür aber in allen Zeitungen des Landes abgedruckt wurde.
Madison hatte den ersten Entwurf für den Brief zum Amtsverzicht bereits 1792 verfasst, als Washington das erste Mal zurücktreten wollte. Aber man hatte ihn in der Hoffnung auf eine Einigung zwischen Föderalisten und Republikanern zu einer zweiten Amtszeit überredet. Der von Hamilton überarbeitete Brief wurde als Washington’s Farewell Address bekannt. Sie erschien zunächst auf der zweiten Seite einer Zeitung in Philadelphia und richtete sich: «An das VOLK der Vereinigten Staaten»; unterschrieben mit «G. Washington».
Washingtons Abschiedsrede besteht aus einer Reihe von Warnungen vor der Gefahr der Uneinigkeit. Der Norden und der Süden, der Osten und der Westen, sie sollten ihre Interessen nicht als gesondert oder konkurrierend betrachten, mahnte Washington: «Eure Union muss für eine Hauptstütze eurer Freiheit gehalten werden.» Parteien, warnte er, seien der «schlimmste Feind» jeder Regierung, der Parteigeist «beunruhigt das Gemeinwesen durch unbegründete Eifersüchteleien und falsche Besorgnisse», er «entzündet die Feindschaft des einen Teiles gegen den anderen» und schürt sogar «Aufruhr und Empörung». Zur Frage der Größe der Republik merkte er an: «Besteht ein Zweifel darüber, ob eine gemeinsame Regierung ein so ausgedehntes Gebiet umfassen kann? Lasst die Erfahrung es erweisen.» Das amerikanische Experiment musste weitergehen. Aber es konnte nur gedeihen, wenn die Bevölkerung sich auf Religion und Moral stützte und wenn sie auch gut ausgebildet war. «Sorgt also (dies ist eine Sache von allergrößter Wichtigkeit!) für Einrichtungen zur weitesten Verbreitung von Kenntnissen», betonte er. «Im Verhältnis zum Einfluss, den der Aufbau einer Regierung der öffentlichen Meinung gewährt, ist es wesentlich, dass die öffentliche Meinung aufgeklärt wird.»[95]
Washingtons Abschiedsrede hat etwas Herzzerreißendes an sich, mit ihrem Glauben an Vernunft, Erfahrung und Wahrheit. Washington übergab seinen Brief dem Volk der Vereinigten Staaten in etwa dem gleichen Geist, in dem Madison gemahnt und bei der Niederschrift der Verfassung selbst mitgewirkt hatte. Er hoffte, so sagte er, dass die Amerikaner «den gewöhnlichen Lauf der Leidenschaften aufhalten» könnten. Das Wort «Leidenschaft» und Varianten dieses Begriffs tauchen in der Abschiedsrede sieben Mal auf; sie ist für ihn der Ursprung eines jeden Problems; die Vernunft ist die einzige Abhilfe. Die Leidenschaft ist ein Fluss, dessen Lauf sich nicht ändern lässt. Und George Washington selbst war von ihrem Einfluss nicht frei.
Als George und Martha Washington sich darauf vorbereiteten, Washington mit dem Ziel Virginia zu verlassen, trafen ihre Sklaven Vorbereitungen anderer Art. Ihr versklavter Koch Hercules floh nach New York, und Martha Washingtons 22 Jahre alte Näherin Ona Judge, ebenfalls eine Sklavin, floh auf einem Schiff nach New Hampshire. Judge hatte erfahren, dass Martha Washington vorhatte, sie als Hochzeitsgeschenk ihrer Enkelin zu übergeben. George Washington schickte ihr einen Sklavenfänger hinterher, aber als dieser Mann die Näherin aufgespürt hatte, berichtete er, dass «die öffentliche Meinung hier für die allgemeine Freiheit ist» und dass es großes Aufsehen erregen würde, wenn er sie festnähme. Judge schickte Washington eine Nachricht, in der sie erklärte, dass sie nur dann nach Mount Vernon zurückkehren würde, wenn man ihr die Freiheit gewährte, denn sie würde «lieber den Tod erleiden als in die Sklaverei zurückkehren». Washington verweigerte das mit der Begründung, so würde ein «gefährlicher Präzedenzfall» geschaffen.[96] Was in der Frage der Sklaverei und bei Präzedenzfällen zu tun war, belastete sein Denken schwer, nicht anders als sein Gewissen.
Am 12. Dezember 1799, nach einem Ritt durch ein Schneetreiben, das in einen Regen überging, erkrankte Washington. Zwei Tage später, um vier Uhr nachmittags, als er in seinem Schlafzimmer im ersten Stock des Herrenhauses in Mount Vernon bereits im Sterben lag, bat er seine Frau Martha, ihm zwei verschiedene Testamente zu bringen, die er auf seinem Schreibtisch hatte liegen lassen. Er las beide Dokumente langsam und sorgfältig durch und bat seine Frau dann, eines davon zu verbrennen. Noch an diesem Tag tat er seinen letzten Atemzug, umgeben von seiner Frau, seinem Arzt, seinem Sekretär und von vier seiner Sklaven: von Caroline und Molly, zwei Hausmädchen, von Christopher, einem Diener, und von Charlotte, einer Näherin. Als Washington starb, waren mehr Schwarze im Raum als Weiße.
Washington hatte während seiner zweiten Amtszeit seinem Sekretär geschrieben, er wolle «eine Art von Eigentum befreien, das ich besitze, was meinen eigenen Gefühlen sehr widerspricht». Er hatte das auch vorbereitet, aber es sollte erst nach seinem Tod geschehen. In dem Testament, das er nicht von seiner Frau verbrennen ließ – ein zweiter letzter Wille, erst im Sommer jenes Jahres verfasst –, hatte er geschrieben: «Beim Ableben meiner Frau … sollen all diejenigen Sklaven, die zu meinem Besitz gehören, ihre Freiheit erhalten.»
In Mount Vernon gab es mehr als 300 Sklaven; Washington besaß 123 davon; die übrigen gehörten zum Besitz seiner Frau. Washingtons Testament wurde in Zeitungen von Maine bis Georgia veröffentlicht, er wusste auch, dass das geschehen würde. Alle Bewohner von Mount Vernon kannten die Verfügungen in seinem Testament. Seine 123 Sklaven würden erst bei Marthas Tod freigelassen werden. Seine Frau befürchtete verständlicherweise, dass sie ermordet werden könnte.[97]
Harry Washington, der einst Washingtons Eigentum gewesen war, könnte auf der anderen Seite des Ozeans, in einer anderen unruhigen Republik, die Nachricht von seinem Tod vielleicht gehört haben. Etwa die Hälfte der schwarzen Siedler in Sierra Leone rebellierten gegen die tyrannische Regierung der Kolonie, der man nachsagte, sie verhalte sich «wie vollendete Jakobiner, als wären sie in Paris erzogen und ausgebildet worden». Eine Gruppe von Revolutionären unter Führung von Harry Washington versuchte 1799, die Unabhängigkeit zu erklären. Die Rebellion wurde rasch niedergeschlagen, die Anführer verbannte man. Wenige Monate nach Washingtons Tod in Mount Vernon wählten die exilierten Rebellen von Sierra Leone Harry Washington zu ihrem Anführer.[98]
Bei George Washingtons Tod verfiel die Nation in tiefe Trauer, es war ein reißender Strom der Leidenschaft. Die Menschen predigten und beteten; sie trugen schwarze Kleidung und weinten. Die Ladengeschäfte waren geschlossen. Es wurden Gedenkreden gehalten. «Trauere, oh Columbia!», verkündete eine Zeitung in Philadelphia. Die Abschiedsrede wurde wieder und wieder abgedruckt, gelesen und immer wieder gelesen, ja sogar auf Kissen gestickt. «Sie soll in Goldbuchstaben geschrieben werden und in jedem Haus an der Wand hängen», forderte eine Ausgabe der Address. «Sie soll auf Kupfer- und Marmortafeln eingraviert und, wie Moses’ heilige Zehn Gebote, in jeder Kirche, Versammlungshalle und Senatskammer angebracht werden.»
Sie soll geschrieben stehen. Die Amerikaner lasen ihren Washington. Und sie betrachteten ihn auf Drucken und Porträts. Eine beliebte Radierung, Washington Giving the Laws to America, zeigte den Erzengel Gabriel im Himmel, der ein amerikanisches Wappenschild trägt, während Washington, angetan mit einer römischen Toga, in Gesellschaft der Götter sitzt und in der einen Hand einen Stift, in der anderen eine Steintafel hält, in die die Worte «Die amerikanische Verfassung» eingraviert sind.[99] Das erweckt den Anschein, als wäre ihm die Verfassung vom Himmel herabgereicht worden, auf Schrifttafeln und in Stein graviert, heilig und unfehlbar, von Gott an den ersten amerikanischen Präsidenten übergeben. Wo waren die über Jahrhunderte entwickelten Gedanken und der jahrzehntelange Kampf? Was war mit dem in einfachen Verhältnissen lebenden, hart arbeitenden amerikanischen Volk und seinen erbittert geführten Debatten? Was war mit dem beinahe handgreiflich ausgetragenen Streit um die Ratifizierung? Was mit den Fehden und den Fehlschlägen und den Kompromissen, den Tribunalen der Fakten und den Kämpfen zwischen Vernunft und Leidenschaft?
In der Stille eines nicht allzu weit entfernten Hauses holte James Madison die Notizen, die er sich beim Verfassungskonvent in jenem drückend heißen Sommer in Philadelphia Tag für Tag gemacht hatte, aus einem Schrank. Er las sie durch, staunte über das, was da geschrieben stand, und machte sich dann an die Bearbeitung, Wort für Wort. Er schrieb vor sich hin, insgeheim, Seite um Seite. In seinem Schreibtisch lag, für einen anderen Tag aufbewahrt, die Geschichte, wie die Verfassung geschrieben worden war und welche schicksalhaften Kompromisse sie enthielt.
Arthur Fitzwilliam Taits Gemälde Arguing the Point von 1854 zeigt einen Jäger und einen Farmer, die gemeinsam mit einem Städter, der mit einer Zeitung vorbeikam, über eine Wahl diskutieren, während die Tochter des Farmers sich um die Aufmerksamkeit des Vaters bemüht.