SECHS

Die Seele und die Maschine

Eisenbahnen wurden in den 1830er Jahren zu einem Symbol des Fortschritts, auf Abbildungen wie diesem Kupferstich stellte man sie dar, als würden sie die Zivilisation mitten durch die Wildnis über den Kontinent tragen.

MARIA W. STEWART, DUNKELHÄUTIG UND SEHR SCHÖN, trug ein Manuskript unterm Arm, als sie auf Bostons gepflasterten Straßen den Weg einschlug, der zur Redaktion des Liberator in Merchant’s Hall Nr. 11 führte, unten am Hafen. «Unsere Seelen werden von der gleichen Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit befeuert wie eure», hatte sie in einem Essay geschrieben, den sie gedruckt zu sehen hoffte. Als Nachkomme von Sklaven war sie 1803 in Connecticut frei geboren worden. Mit fünf Jahren war sie zur Waise geworden und bis zum Alter von 15 Jahren als Dienstmädchen an einen Geistlichen gebunden. Im August 1826, nur wenige Wochen nach dem 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung und dem Tod von John Adams und Thomas Jefferson, hatte sie einen sehr viel älteren Mann geheiratet: Sie war 23 Jahre alt; ihr Ehemann James W. Stewart, der als «annehmbar kräftiger, gut gebauter Mann» und «lebhafter, hellhäutiger Mulatte» beschrieben wurde, hatte im Krieg von 1812 als Matrose gedient und war dabei in Kriegsgefangenschaft geraten. «Das Blut unserer Väter und die Tränen unserer Geschwister haben euren Boden wertvoll gemacht», schrieb Maria Stewart in ihrem ersten, revolutionären Essay. «UND WIR VERLANGEN UNSERE RECHTE.»[1]

William Lloyd Garrison, der Herausgeber des Liberator, war zwei Jahre jünger als Stewart, die ambitionierte Autorin. Er hatte eine Schriftsetzerlehre absolviert, danach als Drucker und Redakteur gearbeitet und war immer wieder gescheitert, bis er seine radikalste Zeitung gründete. Der hagere weiße Mann mit schütterem Haar schlief in einem Bett auf dem Fußboden seines viel zu kleinen Büros, wo die Druckerpresse in einer Ecke stand; er hielt sich eine Katze, die Ratten fangen sollte. Stewart erklärte Garrison, sie wolle für seine Zeitung schreiben, um zu sagen, was ihrer Ansicht nach dem amerikanischen Volk gesagt werden müsse. Garrison war beeindruckt von ihrer «Intelligenz und den Vorzügen ihres Charakters», wie er sich später erinnerte. Er veröffentlichte ihren ersten Beitrag 1831 in einer als «Ladies’ Department» gekennzeichneten Kolumne. «Dies ist das Land der Freiheit», schrieb Stewart. «Jeder Mann hat das Recht, seine Meinung zu äußern.» Und auch jede Frau. Stewart fragte: «Wie lange werden die schönen Töchter Afrikas gezwungen sein, ihre Gedanken und Begabungen unter einer Last von eisernen Töpfen und Kesseln zu begraben?»[2]

Stewart war eine wiedergeborene Christin, von der religiösen Erweckungsbewegung erfasst, die über das Land ging und ihren Höhepunkt in den 1820er und 1830er Jahren in den Fabrikstädtchen erreichte, die entlang des Eriekanals vom Hudson River bis zu den Großen Seen wie Pilze aus dem Boden schossen. An solchen Orten fanden die Dampfkraft und die Beklemmung der Industrialisierung Antworten in der Macht Christi und der Verheißung des Evangeliums. Vor dem Beginn dieser Bewegung war kaum einer von zehn Amerikanern Mitglied einer Kirche; als sie auslief, hatte sich diese Quote auf acht von zehn erhöht.[3] Der presbyterianische Geistliche Lyman Beecher bezeichnete sie als «das größte Werk Gottes und die größte religiöse Erweckung, die die Welt je erlebt hat».[4]

Die Erweckungsbewegung, bekannt als Second Great Awakening, durchdrang die amerikanische Politik mit dem religiösen Eiferertum des Chiliasmus: Dessen glühendste Konvertiten glaubten, sie stünden kurz vor der Tilgung der Sünde aus der Welt, wodurch die Wiederkunft Christi ermöglicht würde, mit der sie bereits in den nächsten drei Monaten rechneten. Und diese Wiederkunft sollte sich nicht im Heiligen Land ereignen, nicht in Bethlehem oder Jerusalem, sondern in den sich industrialisierenden Vereinigten Staaten, in Cincinnati und Chicago, in Detroit und Utica. Ihre Geistlichen predigten die Macht des Volkes, sie verbreiteten eine Art von spirituellem Jacksonianismus. «Gott hat den Menschen zu einem selbstständig handelnden freien Wesen gemacht», erklärte der 1,90 Meter große Feuerkopf Charles Grandison Finney mit seiner Donnerstimme.[5] Und die Erweckung war revolutionär: Indem sie die spirituelle Gleichheit betonte, stärkte sie die Proteste gegen die Sklaverei und die politische Ungleichbehandlung der Frauen.

«Es ist nicht die Hautfarbe, die den Mann oder die Frau ausmacht», schrieb Stewart, «sondern die in der Seele entstandenen Grundsätze.»[6] Die Demokratisierung der amerikanischen Politik wurde von Anhängern der religiösen Erweckung wie Stewart beschleunigt, die an die Errettung des Einzelnen durch gute Werke und an die Gleichheit aller Menschen in den Augen Gottes glaubten. Gegen diesen Glauben stand die nackte und brutale Wirklichkeit eines Zeitalters der Industrialisierung, der Zermahlung der Seelen.

I

DIE VEREINIGTEN STAATEN wurden als Republik geboren, wuchsen zur Demokratie heran und zerfielen schließlich in zwei Teile, weil sie nicht imstande waren, ihr Regierungssystem mit der Institution der Sklaverei in Einklang zu bringen. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde die Demokratie gefeiert; das Recht der Mehrheit, die Regierung zu stellen, wurde zum Dogma, und das Wahlrecht wurde auf alle weißen Männer erweitert. Diese Entwicklungen wurden immer wieder zum Gegenstand von Hohn und Spott von Konservativen, die davor warnten, dass die Herrschaft der Zahlen die Republik zerstören werde. Das amerikanische Experiment hatte bis zu den 1830er Jahren die erste große Demokratie eines ganzen Volkes der Weltgeschichte hervorgebracht, ein politisches Leben, das seinen Ausdruck in Wahlkämpfen und Umzügen, Kundgebungen und Konventen fand, mit einem Zweiparteiensystem, das von parteigebundenen Zeitungen betrieben, und einer Wählerschaft, die in einem neuen System von öffentlich finanzierten Schulen ausgebildet wurde.

Die großen Debatten in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten mit der Seele und der Maschine zu tun. Eine dieser Debatten verknüpfte Religion und Politik. Was waren die politischen Konsequenzen der Vorstellung von der Gleichheit der Seelen? Konnte die Seele Amerikas von der Erbsünde der Nation erlöst werden, der Billigung der Sklaverei durch die Verfassung? Eine weitere Debatte verband Politik mit Technologie. Konnten die neuen demokratischen Traditionen der Nation im Zeitalter der Fabrik, der Eisenbahn und des Telegrafen überleben? Wenn alles Geschehen in der Zeit durch frühere Ereignisse erklärt werden kann, wenn Geschichte ein Zeitstrahl und keine Kreisbewegung ist, dann wird der Gang der Ereignisse – Wandel im Lauf der Zeit – durch eine Reihe von Gesetzen geregelt, die den Gesetzen der Physik gleichen, und durch eine der Schwerkraft vergleichbare Kraft angetrieben. Wie sieht diese Kraft der Geschichte aus? Wird der Wandel von Gott bewirkt, von Menschen oder von Maschinen? Ist Fortschritt das Voranschreiten im Pilgrim’s Progress, John Bunyans Allegorie von 1678 – die Reise eines Christen von der Sünde zur Errettung? Ist Fortschritt die Erweiterung des Wahlrechts, die Ausbreitung der Demokratie? Oder ist Fortschritt gleichbedeutend mit Erfindung, mit der Erfindung neuer Maschinen?

Eine spezifisch amerikanische Vorstellung von Fortschritt bezog sich auf die Geografie als Bestimmung und entwarf ein Bild von Verbesserungen als Wandel nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum. Jefferson schrieb 1824, dass ein Reisender, der den Kontinent von West nach Ost durchquere, eine «zeitliche Untersuchung des Fortschritts der Menschheit von den Kindheitstagen der Schöpfung bis zum heutigen Tag» vornehme, weil «er im Verlauf seiner Reise auf die langsam voranschreitenden Ausprägungen des sich verbessernden Menschen treffen würde». Sein Reisender – ein Forschungsreisender in Sachen Zeit und Raum – würde mit «den Wilden der Rocky Mountains» beginnen: «Bei ihnen würde er das früheste Stadium des nur am Naturrecht orientierten gesellschaftlichen Zusammenschlusses beobachten, sie ernähren sich vom Fleisch und bekleiden sich mit den Fellen wilder Tiere.» Auf dem Weg nach Osten würde Jeffersons imaginärer Reisender dann «an unseren Grenzen» haltmachen, wo er Wilde als «Hirtengruppen» vorfinden würde, «die Haustiere halten, um die Mängel der Jagd auszugleichen». Danach, noch weiter im Osten, würde er «unseren eigenen halbbarbarischen Bürgern» begegnen, «den Pionieren des Voranschreitens der Zivilisation». Zum Schluss würde er die Hafenstädte am Atlantik erreichen und dort den Menschen in seinem «bis jetzt am weitesten entwickelten Zustand» vorfinden.[7]

Maria Stewarts christlicher Glaube verlangte die spirituelle Gleichheit aller Seelen, aber Jeffersons Vorstellung von Fortschritt war hierarchisch. Diese Hierarchie war in der Ära Jackson die Logik, die hinter der Kolonisierung Afrikas stand, und sie war auch die Logik hinter einem Vorgehen der Bundesregierung, das als «Indian removal» bekannt wurde: Indigene Völker, die östlich des Mississippi lebten, mussten sich in Gebieten im Westen ansiedeln. Ein Bild des Fortschritts in Gestalt der Entwicklungsphasen von der «Barbarei» bis zur «Zivilisation» – Phasen, die sich auf einer Karte des nordamerikanischen Kontinents nachverfolgen ließen – konkurrierte mit einem Bild des Fortschritts als einer endlosen Kette von Maschinen.

Das Maschinenzeitalter hatte 1769 in Glasgow begonnen, als James Watt sich eine Verbesserung der Dampfmaschine patentieren ließ. Der Mensch hatte zuvor schon für die verschiedenen Gewerbe natürliche Energiequellen angezapft – mit Wasserrädern und Windmühlen –, aber Watts Maschinen produzierten die fünffache Energiemenge eines Wasserrads und mussten auch nicht an einem Flussufer aufgestellt werden: Eine Dampfmaschine konnte überall arbeiten. Watt ging davon aus, dass die Leistung eines Pferdes zehnmal so stark war wie die eines Mannes; er definierte eine «Pferdestärke» als die Leistung, (umgerechnet) 250 Kilogramm innerhalb einer Sekunde um einen Fuß anzuheben. Der von Dampfkraft angetriebene Produktionsprozess wurde im 19. Jahrhundert zweihundertmal effizienter als die Manufakturarbeit des 18. Jahrhunderts. Dass diese Erfindung letztlich für eine völlige Umwälzung der politischen Verhältnisse sorgen würde, wird in einer vermutlich frei erfundenen Geschichte angedeutet, die man sich damals über Watt und den englischen König erzählte. Als Georg III. eine Fabrik besuchte, um sich anzusehen, wie Watts Maschine funktionierte, sagte man ihm, dass die Fabrik «einen Gegenstand herstellt, von dem Könige sehr angetan seien».[8]

«Was für ein Gegenstand ist das?», fragte er. Die Antwort: «Power.»

Es folgte eine Maschine nach der anderen, mit Dampfkraft betriebene Webstühle und mit Dampfkraft betriebene Schiffe, die für eine schnellere Produktion, für schnelleres Reisen und billigere Waren sorgten. Die von Dampfkraft angetriebene industrielle Produktion veränderte die Wirtschaft, veränderte auch die sozialen Beziehungen, insbesondere die zwischen Männern und Frauen und zwischen Reichen und Armen. Die von diesen Veränderungen ausgelösten Ängste und die soziale Entwurzelung befeuerten die religiöse Erweckung. Und deren Flamme loderte in den Fabrikstädtchen am hellsten auf.

Vor dem Aufstieg des Fabrikwesens waren Wohn- und Arbeitsplatz nicht getrennt. Die meisten Menschen lebten auf Farmen, wo Männer wie Frauen auf den Feldern arbeiteten. Im Winter verbrachten die Frauen den größten Teil ihrer Zeit mit dem Krempeln, Spinnen und Weben der selbst geschorenen Schafwolle. In den Städten und kleinen Ortschaften lebten Ladenbesitzer und Handwerker – Bäcker, Schneider, Drucker, Schuhmacher – in den Häusern, in denen ihre Läden und Werkstätten waren. Den Wohnraum teilten sie sich mit Gesellen und Lehrlingen. Handwerker beherrschten den gesamten Herstellungsprozess ihrer Waren und führten jeden einzelnen Schritt selbst aus. Ein Bäcker buk einen Brotlaib, ein Schneider nähte einen Anzug. Mit dem Aufstieg des Fabrikwesens war die Aufteilung der Arbeit in einzelne Schritte verbunden, die von verschiedenen Arbeitern ausgeführt wurden.[9] Durch die Dampfkraft wurde aber nicht nur der Herstellungsprozesses in einzelne Schritte aufgeteilt, sondern ein großer Teil der Arbeit wurde von Maschinen übernommen, die man auch als «mechanische Sklaven» bezeichnete.[10]

Neue, mit Dampf betriebene Maschinen konnten auch spinnen und weben und sogar Webarbeiten in mehrfarbigen Ziermustern ausführen. Joseph-Marie Jacquard, ein französischer Weber, erfand 1802 einen automatischen Webstuhl. Mit Hilfe steifer Lochkarten aus Papier konnte er seine Webstühle so einrichten, dass sie jedes von ihm gewünschte Muster ausführten. Zwei Jahrzehnte später nutzte der englische Mathematiker Charles Babbage Jacquards Methode für die Entwicklung einer Maschine, die mathematische Berechnungen ausführen konnte. Er nannte sie Difference Machine, eine riesige, mechanische, mit einer Kurbel angetriebene Rechenmaschine, die jede Art von polynomialer Funktion tabellarisieren konnte. Dann entwarf er eine weitere Maschine – er nannte sie Analytical Engine –, die mechanisch Tabellen erstellen sollte, um sämtliche Probleme zu lösen, bei denen Logik gefragt war. Babbage baute nie eine funktionsfähige Maschine, aber Ada Lovelace, eine Mathematikerin und Tochter von Lord Byron, verfasste später eine detaillierte Beschreibung und Analyse der Prinzipien und Aussichten, die Babbages Arbeit eröffnete, die erste Darstellung dessen, was im 20. Jahrhundert dann ein Computer für allgemeine Anwendungen werden sollte.[11]

In den Vereinigten Staaten mit ihrer Demokratie der Zahlen sollte ein rechnender Computer, eine Maschine, die zählen konnte, eines Tages einen Schraubenschlüssel ins Getriebe des Regierungsapparates werfen. Aber lange bevor dieser Tag kam, entwickelten Amerikaner einfachere Maschinen. Watt hütete seine Patente eifersüchtig. Ein amerikanischer Kaufmann namens Francis Cabot Lowell besichtigte 1810 englische Textilfabriken und fertigte Gedächtnisskizzen seiner dort gesammelten Eindrücke an. Zurück in Neuengland, entwarf er mit Hilfe dieser Skizzen seine eigenen Maschinen und warb Kapital für den Bau einer eigenen Fabrik ein. Lowell starb 1817. Seine Nachfolger eröffneten 1823 die Lowell-Fabriken am Merrimack River. Jeder Arbeitsschritt, vom Krempeln bis zum fertigen Stoff, wurde in der gleichen Gruppe von Fabrikgebäuden ausgeführt: in sechs Backsteingebäuden, die um einen zentralen Glockenturm herum errichtet worden waren. Lowell hatte dieses System, inspiriert vom britischen Sozialreformer Robert Owen, als Modell konzipiert, das eine Alternative zu den harten Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Fabriken in England bieten sollte. Er nannte es «ein philanthropisches Manufakturcollege». Die Besitzer der Lowell-Fabriken stellten junge Frauen ein, die von Farmen in Neuengland kamen. Sie arbeiteten zwölf Stunden am Tag und hörten abends Vorträge; sie brachten eine Monatszeitschrift heraus. Aber das Utopia, das Francis Cabot Lowell vorschwebte, war nicht von Dauer. In den 1830er Jahren kürzten die Fabrikbesitzer die Löhne und erhöhten das Arbeitstempo. Als die Frauen protestierten, wurden sie durch Männer ersetzt.[12]

Fabriken beschleunigten die Produktion, Kanäle beschleunigten den Transport. Der 1825 fertiggestellte Eriekanal hatte eine Bauzeit von acht Jahren und überwand eine Entfernung von 580 Kilometern. Bevor es den Kanal gab, dauerte eine Fahrt mit dem Wagen von Buffalo nach New York 20 Tage; auf dem Kanal brauchte man für diese Strecke sechs Tage. Die Preise fielen nahezu ungebremst; der Lebensstandard schnellte in die Höhe. Eine Matratze, die 1815 noch 50 Dollar gekostet hatte, was zur Folge hatte, dass so gut wie niemand eine besaß, war 1848 für nur fünf Dollar zu haben.[13] Eine Station am Eriekanal war Rochester, ein am Ufer des Ontariosees gelegenes Mühlenstädtchen, in dem das auf den Farmen der Umgebung geerntete Getreide gemahlen wurde. Rochester exportierte 1818 26.000 Barrel Mehl pro Jahr. Die Mühlen des Ortes waren klein, zwölf bis fünfzehn Mann arbeiteten dort unter Aufsicht eines Müllers in einem einzigen Raum in dessen Haus. In solchen Betrieben wurde, wie schon seit Jahrhunderten, sehr viel getrunken: Die Arbeiter erhielten oft keinen regulären Lohn, sondern Schnaps. Die Arbeitszeit orientierte sich nicht an der Uhr, sondern an der zu verarbeitenden Menge. Bis zum Ende der 1820er Jahre, nach der Fertigstellung des Kanals, hatten sich diese kleinen Betriebe vergrößert, arbeiteten jetzt meist in zwei Räumen und beschäftigten mehr Männer, die jetzt ein kleineres Pensum zu bewältigen hatten, sich dabei im Allgemeinen an der Uhr orientierten und Löhne in bar ausbezahlt bekamen. «Arbeit» bedeutete jetzt nicht mehr einfach nur Tätigkeit, sondern einen Ort, die Fabrik oder das Büro des Bankiers oder Angestellten: einen Ort, an dem Männer jeden Tag zehn oder zwölf Stunden zubrachten. Das «Zuhause» war der Ort, wo die Frauen blieben und wo das, was sie dort den ganzen Tag lang taten, nicht mehr als Arbeit betrachtet wurde, was heißt: Sie wurden nicht dafür bezahlt. Das Leben von Männern und Frauen trennte sich voneinander. Lohnarbeiter verloren mehr und mehr ihre beruflichen Qualifikationen. Die Besitzer der Betriebe verdienten mehr und mehr Geld. Rochester exportierte im Jahr 1828.200.000 Barrel Mehl, und bis Ende der 1830er Jahre wuchs diese Zahl auf eine halbe Million. Ein Zeitungsredakteur, der 1829 das Wort «Boss» verwendete, musste es definieren («ein Vorarbeiter oder Handwerksmeister moderner Prägung»). Anfang der 1830er Jahre arbeitete nur noch der Boss in der Werkstatt; seine Beschäftigten arbeiteten in Fabriken. Meister – oder Bosse – lebten nicht mehr in Werkstattgebäuden oder auch nur in der näheren Umgebung von Fabriken; sie zogen in neu errichtete Viertel, in die Enklaven einer neuen Mittelschicht.[14]

Diese neue Mittelschicht zeigte sich schon bald besorgt über die Unbotmäßigkeit der Arbeiter und ganz besonders über deren Trinkgewohnheiten. Eine Gruppe von Mühlenbesitzern ließ sich vom Erweckungsprediger Lyman Beecher und dessen Abstinenzlerkreuzzug inspirieren und gründete die Rochester Society for the Promotion of Temperance. Ihre Mitglieder gelobten, jeglichem Alkoholkonsum zu entsagen und ihre Beschäftigten nicht mehr in Schnaps zu entlohnen. Selbst in der evangelikalen Erweckungsbewegung engagiert, drängten sie auch ihre Mitarbeiter, ihren Kirchen beizutreten, und schließlich entließen sie diejenigen, die dem Drängen nicht nachgaben. Hinter diesem Vorgehen standen in erster Linie ihre Frauen.

Frauen führten die Abstinenzlerbewegung, und zu diesem ganz besonderen Kreuzzug veranlasste sie nicht zuletzt die Tatsache, dass betrunkene Ehemänner dazu neigten, ihre Frauen zu misshandeln. Nur wenige Gesetze schützten Frauen vor solchen Übergriffen. Alkoholabhängige Männer gaben ihren Lohn für ihre Sucht aus und ließen ihre Kinder hungern. Da verheiratete Frauen auch kein Recht auf eigenen Besitz hatten, boten die Gesetze ihnen keinen Beistand. Die beste Lösung schien unter diesen Umständen, dass man die Männer dazu brachte, auf den Alkoholkonsum zu verzichten. Aber die Bewegung war auch eine Konsequenz tiefer reichender und umfassenderer Veränderungen. Mit der Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz entwickelte sich auch eine Ideologie getrennter Lebensbereiche: Die öffentliche Welt von Arbeit und Politik war die Welt der Männer; die private Welt des Zuhauses und der Familie war die Welt der Frauen. Frauen waren nach diesem Verständnis das sanftere Geschlecht, sie waren fürsorglicher, liebevoller, moralischer. Ein Ratgeberhandbuch, A Voice to the Married, instruierte die Frauen, sie sollten das gemeinsame Zuhause zu einem Zufluchtsort für den Ehemann machen, zu «einem Elysium, in das er sich flüchten und wo er Ruhe vor den Streitigkeiten einer selbstsüchtigen Welt finden kann». Diese Veränderungen in der Familie hatten schon vor der Industrialisierung begonnen, aber die Industrialisierung beschleunigte sie. Mittelschicht- und wohlhabendere Frauen bekamen jetzt weniger Kinder – im Durchschnitt 3,6 Kinder pro Frau in den 1830er Jahren im Vergleich zu 5,8 in der vorhergehenden Generation. Hinter diesem Rückgang steckte keine neue Verhütungsmethode: Die abnehmende Fruchtbarkeit war die Folge von Enthaltsamkeit.[15]

Lyman Beecher übte in dieser Reformära einen enormen Einfluss aus, und dasselbe galt für seine unbeugsame Tochter Catherine, die sich für die Erziehung junger Mädchen einsetzte und eine Abhandlung über «Hauswirtschaft» veröffentlichte – Ratschläge für Hausfrauen.[16] Aber der einflussreichste Prediger für diese neue Mittelschicht und ganz besonders für deren Frauen war Charles Grandison Finney.

Finney hatte sein Wiedergeburtserlebnis im Jahr 1821 gehabt, im Alter von 29 Jahren, und der Heilige Geist kam über ihn, wie er es ausdrückte, «wie eine Welle von Elektrizität». Drei Jahre später wurde er von einer weiblichen Missionsgesellschaft als Geistlicher ordiniert. Er hielt große und kleine Versammlungen ab, Zeltzusammenkünfte und Gebetsgruppen. Seinen Zuhörern blickte er in die Augen. «Eine Erweckung ist kein Wunder», sagte er. «Wir marschieren entweder in Richtung Himmel oder in Richtung Hölle. Wie steht es um euch?» Frauen stellten nicht immer die Mehrheit unter den Bekehrten, aber ihr Einfluss wirkte auf viele, die sich bekehren ließen. Eine andere weibliche Missionsgesellschaft lud Finney 1830 nach Rochester ein, wo er sechs Monate lang jeden Abend predigte und an Sonntagen drei Mal. Er predigte für alle Gesellschaftsschichten, alle Geschlechter und alle Altersgruppen, vor allem aber für Frauen. Die Mitgliederzahlen der Kirchen verdoppelten sich während Finneys sechsmonatigem Aufenthalt in Rochester, angetrieben von Frauen. Die überwiegende Mehrheit der Neuzugänge – mehr als 70 Prozent – folgte dem Glaubensbekenntnis der Mütter, nicht dem der Väter. Ein Mann klagte nach einem Besuch Finneys: «Er überschüttete meine Frau mit Traktaten und weckte ihre Ängste, und nichts anderes als Versammlungen, bei Tag und bei Nacht, konnte die vielfältigen Sünden wiedergutmachen, die meine arme, einfache Ehefrau begangen hatte, gleichzeitig machte sie die wundersame Entdeckung, dass sie ‹ins fremde Joch gespannt› gewesen war» (vgl. 2. Korinther 6,14). Indem sie ihre Macht als Reformerinnen der Moral ausübten, brachten die Ehefrauen und Töchter von Fabrikbesitzern ihre Männer in die Kirchen. Fabrikbesitzer leiteten Stellenangebote jetzt mit dem Hinweis ein: «Nur Bewerbungen von alkoholabstinenten Männern werden berücksichtigt.» Sie bezahlten ihre Arbeiter sogar dafür, dass sie zur Kirche gingen. Die Erweckungsbewegung kam bei vielen Amerikanern von Herzen und war dauerhaft. Aber für viele andere galt das nicht. Ein Fabrikarbeiter in Rochester sagte: «Mir ist das vollkommen egal, ich bekomme im Monat fünf Dollar mehr als vor meiner religiösen Phase.»[17]

Auch wenn die Ernsthaftigkeit der Konvertiten oft zweifelhafter Natur war, so schlug doch eine andere Art von Glauben in den 1820er Jahren tiefere Wurzeln, ein evangelikaler Glaube an den technischen Fortschritt, eine unkritische Überzeugung, dass jede neue Maschine die Welt verbesserte. Die Vereinigten Staaten waren ein günstiger Ort für diesen Glauben, als hätten Maschinen auf dem amerikanischen Kontinent eine besondere Bestimmung zu erfüllen. Der «Fortschritt» kam auf Drucken und Gemälden als Dampflokomotive daher, die unaufhaltsam den ganzen Kontinent durchquerte. Schriftsteller feierten Erfinder als «Männer des Fortschritts» und «Eroberer der Natur» und priesen ihre Maschinen als sehr viel würdiger als die Poesie. Der Triumph der Naturwissenschaften über die Künste stand für die Niederlage des Althergebrachten gegen die moderne Zeit. Es war zu hören, das Genie von Eli Whitney, dem Helden der Moderne (Whitney war ein erfolgreicher Farmer, ihm wurde die Erfindung der Baumwollentkernungsmaschine, der Cotton Gin, zugeschrieben), sei dem eines Shakespeare ebenbürtig; für den Direktor des US-Patentamts war das Dampfschiff «ein gewaltigeres Epos» als die Ilias.[18]

Jacob Bigelow, Professor für Physik und Mathematik in Harvard, hielt 1829 eine Vorlesungsreihe unter dem Titel «The Elements of Technology». Vor Bigelow waren mit «technology» die praktischen Künste gemeint, allen voran die mechanische Kunst. Bigelow benutzte das Wort als Bezeichnung der Anwendung von Wissenschaft zum Nutzen der Gesellschaft. Für ihn lief die «fortschreitende Verbesserung» auf eine Art mechanischen Chiliasmus hinaus. «Neben dem Einfluss des Christentums auf unser moralisches Wesen», verkündete er später, habe die Technologie «einen führenden Einfluss auf die Beförderung des Fortschritts und Glücks unserer Rasse gehabt». Seine Kritiker warfen ihm vor, er predige «das Evangelium der Maschinen».[19]

Der Schotte Thomas Carlyle, der die Ära als «Maschinenzeitalter» bezeichnete, beklagte, dass der Glaube an Maschinen sich zu einem religiösen Wahn ausgewachsen habe, der so falsch und gefährlich sei wie der Glaube an Hexerei. Carlyle vertrat die Ansicht, dass Leute wie Bigelow, die glaubten, dass Maschinen die Menschheit befreien würden, einen schweren Fehler begingen. Maschinen seien Gefängnisse. «An Händen und Füßen frei, sind wir im Herzen und in der Seele mit sehr viel engeren als nur feudalen Ketten gefesselt», schrieb Carlyle, «mit Ketten, die wir selbst geschmiedet haben».[20] Amerikanische Autoren wiesen Carlyles Ansichten zurück und erklärten, das Maschinenzeitalter selbst ermögliche den Aufstieg der Demokratie. Ein Rechtsanwalt aus Ohio namens Timothy Walker antwortete 1831 auf Carlyles Beitrag mit der Behauptung, Maschinen würden die Demokratie voranbringen, indem sie den einfachen Mann von der stumpfsinnigen Plackerei befreiten, die ansonsten seine vollständige Teilhabe am politischen Leben verhindere.[21]

Gegner von Andrew Jackson hatten seine Präsidentschaft nicht als Zeit des Fortschritts, sondern des Verfalls bewertet. «Die Republik ist zu einer Demokratie verkommen», verkündete 1834 eine Zeitung in Richmond.[22] Für Jacksons Anhänger dagegen stand seine Wahl nicht für Degeneration, sondern für ein neues Stadium in der Geschichte des Fortschritts. Nirgendwo wurde dieses Argument energischer oder einflussreicher vorgetragen als in George Bancrofts History of the United States from the Discovery of the American Continent to the Present. Das Buch selbst, hielten Rezensenten fest, votierte für Jackson. Die Ausbreitung des evangelikalen Christentums, die Erfindung neuer Maschinen und der Aufstieg der amerikanischen Demokratie überzeugten Bancroft davon, dass «der Humanismus stetige Fortschritte macht» und dass «der Fortschritt von Freiheit und Gerechtigkeit gewiss ist». Für diesen Fortschritt, glaubten Männer wie Bancroft und Jackson, mussten Amerikaner den Kontinent durchqueren, um diese Verbesserungen von Osten nach Westen voranzubringen, so wie Jefferson es sich ausgemalt hatte. John O’Sullivan, ein New Yorker Rechtsanwalt und demokratisch gesinnter Redakteur, schrieb 1839, Demokratie sei nicht mehr und nicht weniger als «der christliche Glaube in seiner irdischen Gestalt». O’Sullivan sollte später zur Erläuterung dieser Überzeugungen den Begriff «manifest destiny» prägen, die Vorstellung, dass das Volk der Vereinigten Staaten dazu bestimmt sei, «sich auszubreiten und den ganzen Kontinent zu besitzen, den die Vorsehung gespendet hat zur Entwicklung des großen Experiments der Freiheit».[23]

Für evangelikale Demokraten waren die Demokratie, das Christentum und die Technologie Hebel an ein und derselben Maschine. Und dennoch gab es auf der ganzen Wegstrecke auch Kritiker, Abweichler und Gegenredner, die in der Seele des Volkes, im unaufhaltsamen Fortschritt, in der endlosen Reihe von Maschinen, im scheinbaren Voranschreiten der Geschichte nur wenig mehr erkennen konnten als Gewalt und Rückständigkeit und ein großes Zermalmen von Männern, Frauen und Kindern. «Oh Amerika, Amerika», klagte Maria Stewart, «abscheulich und unauslöschlich ist dein Schandfleck!»[24]

STEWART HATTE DIE BIBEL seit ihren Kindertagen studiert, ein Studium, das sie ihr Leben lang beibehielt, auch in Zeiten, in denen sie die Häuser anderer Leute putzte und anderer Leute Wäsche wusch. «Während meine Hände sich für ihren täglichen Lebensunterhalt abmühen», schrieb sie, «denkt mein Herz meist über seine göttlichen Wahrheiten nach.»[25] Die Sklaverei hielt sie für eine Sünde. Ihre Inspiration bezog sie aus der Bibel. «Einen großen Teil meiner Sprache habe ich aus der Heiligen Schrift entliehen», sagte sie.[26] Aber sie entlieh auch einen großen Teil ihrer Sprache, vor allem die Sprache der Grundrechte, aus der Unabhängigkeitserklärung. Dass die christliche Erweckungsbewegung mit dem 50. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung zusammenfiel, einem Jahrestag, der umso mystischere Züge annahm, als sich die Nachricht verbreitete, dass Jefferson und Adams an gerade jenem Tag, am 4. Juli 1826, gestorben waren, als wäre dies durch die Hand Gottes geschehen, führte dazu, dass die Erklärung selbst eine religiöse Form annahm. Die selbstverständlichen, weltlichen Wahrheiten der Unabhängigkeitserklärung wurden für evangelikale Amerikaner zu Wahrheiten der geoffenbarten Religion.

Die Feststellung, dass diese Entwicklung eine Abwendung vom Gründergeist der Nation markierte, wäre eine starke Untertreibung. Die Vereinigten Staaten wurden während des säkularsten Zeitalters der amerikanischen Geschichte gegründet. Ende des 18. Jahrhunderts waren die Mitgliederzahlen der Kirchen gering, die antiklerikale Stimmung ausgeprägt. Es ist kein Zufall, dass in der Verfassung von Gott nicht die Rede ist. In der Annahme, es handele sich um ein Versehen, stellte der Arzt Benjamin Rush aus Philadelphia die höfliche Frage, ob dieser Irrtum wohl korrigiert werden könne. «In die vorgeschlagenen Zusatzartikel könnte vielleicht eine Anerkenntnis Seiner Güte oder Seiner Vorsehung aufgenommen werden», drängte er.[27] Es kam zu keiner Korrektur dieser Art.

Die Vereinigten Staaten wurden nicht als christliche Nation gegründet. Die Verfassung verbietet, dass ein religiöses Bekenntnis zur Voraussetzung für ein öffentliches Amt gemacht wird. Die Bill of Rights untersagt dem Kongress die Einführung einer Religion auf dem Gesetzesweg. James Madison hatte die Ansicht vertreten, durch die Einführung einer Staatsreligion würde «bei denjenigen, die sie nach wie vor ablehnen, ein Verdacht gestärkt, dass ihre Freunde sich ihrer Irrtümer zu sehr bewusst sind, um allein auf ihre Vorzüge setzen zu können».[28] Die damals getroffenen Regelungen waren weder beiläufige Unterlassungen noch Zufälle; sie standen für die bewusste Ablehnung eines verfassungsmäßigen Verhältnisses zwischen Kirche und Staat, eine Nichtanerkennung, die nicht selten ausdrücklich festgehalten wurde. John Adams unterzeichnete 1797 den Vertrag von Tripolis, in dem die Freilassung amerikanischer Gefangener in Nordafrika zugesichert wurde, und sagte dabei zu, dass die Vereinigten Staaten nicht in einen heiligen Krieg gegen den Islam ziehen würden, weil «das Regierungssystem der Vereinigten Staaten in keinerlei Hinsicht auf der christlichen Religion gründet».[29]

Aber während des Second Great Awakening deuteten die Evangelikalen die Ursprünge der Nation in ein ausdrückliches Bekenntnis zum Christentum um. «Auf was wurde Amerika gegründet?», fragte Maria Stewart und gab selbst die Antwort: «Auf Religion und reine Grundsätze.»[30] Lyman Beecher behauptete, dass die Republik «in ihrer Verfassung und ihren Gesetzen himmlischen Ursprungs ist».[31] Im Verlauf der Erweckungsbewegung nahm nahezu alles eine religiöse Form an, nicht zuletzt wegen der stark gestiegenen Zahl von Predigern. 1775 hatte es in den Vereinigten Staaten 1800 Geistliche gegeben; 1845 waren es bereits mehr als 40.000.[32] Es gab Baptisten, Methodisten, Presbyterianer, Kongregationalisten, Episkopale, Universalisten und weitere Gruppen; in höchstem Maße blühten die religiösen Bekenntnisse auf, wie es sich nach Madisons Vorhersage aus dem Verbot einer von Staats wegen eingeführten Religion ergeben würde. Die Trennung von Kirche und Staat ließ die Religion gedeihen, das war eine der damit verbundenen Absichten. Die Amerikaner folgten in Ermangelung einer Staatsreligion neuen Sekten, von den Shakern bis zu den Mormonen, konkurrierende protestantische Glaubensgemeinschaften entwickelten sich in einer Stadt nach der anderen. Die einzige vereinigende nationale Religion war eine Zivilreligion, ein Glaube an die amerikanische Weltanschauung. Dieser Glaube hielt die Nation zusammen und sorgte für eine außergewöhnliche politische Stabilität in einem Zeitalter tiefen Wandels, aber er band sie auch auf eine Art an die Vergangenheit, die sich oft als lähmend erwies. Jefferson warnte 1816 – er war inzwischen 73 Jahre alt, und die Erweckungsbewegung hatte eben erst eingesetzt – vor einer Anbetung der Männer seiner Generation. «Das würden sie selbst sagen, könnten sie von den Toten auferstehen», schrieb er: «… Gesetze und Institutionen müssen Hand in Hand mit dem Fortschritt des menschlichen Denkens gehen.» Man würde zu einem Sklaven der Vergangenheit, wenn man die Gründungsdokumente der Nation als heilige Schrift betrachtete. «Manche Männer begegnen Verfassungen mit frömmelnder Verehrung und halten sie für die Bundeslade, die zu heilig ist, um auch nur berührt zu werden», räumte Jefferson ein. Aber wenn sie das tun, «schreiben sie Männern des vorhergehenden Zeitalters eine übermenschliche Weisheit zu».[33]

Die Abolitionisten nahmen allerdings eine andere Haltung ein. Sie verehrten die Gründerväter nicht; sie bildeten sich ein Urteil über sie. William Lloyd Garrison, der sich der evangelikalen Bewegung als Befürworter des Abstinenzlertums angeschlossen hatte und sich erst seit kurzem mit dem Problem der Sklaverei befasste, wurde im Frühjahr 1829 gebeten, vor einem Ableger der Colonization Society in der Park Street Church in Boston eine Rede zum 4. Juli zu halten. Er erklärte bei diesem Anlass, der Feiertag sei angefüllt mit «heuchlerischem leerem Gerede über die unveräußerlichen Menschenrechte».[34]

Diese komplexe Haltung, ein Sinn für die Theologie der Unabhängigkeitserklärung, vermischt mit dem Zorn auf die Gründerväter selbst, kam vor allem aus den Kirchen der Schwarzen, etwa aus der Kirche, in der Maria Stewart und ihr Ehemann geheiratet hatten, dem African Meeting House in der Belknap Street. Sie befand sich in dem Viertel Bostons, in dem freie Schwarze wohnten, an einem Hang von Beacon Hill, der als «Nigger Hill» bezeichnet wurde.[35] David Walker, ein Freund des Ehepaars, ein groß gewachsener, frei geborener Mann aus North Carolina, lebte nicht weit vom Andachtshaus entfernt und betrieb auf der Brattle Street einen Laden für Seemannsbedarf; vermutlich trieb er Handel mit James W. Stewart, der seinen Lebensunterhalt als Schiffsausrüster verdiente. Walker war in Wilmington in North Carolina geboren worden. Sein Vater war Sklave, seine Mutter eine freie schwarze Frau. Irgendwann in den Jahren von 1810 bis 1820 zog er von Wilmington nach Charleston in South Carolina, möglicherweise angezogen von der dortigen freien schwarzen Gemeinde und deren Kirche. Gleich zu Beginn der Erweckungsbewegung, im Jahr 1816, wurde die African Methodist Episcopal Church in Philadelphia gegründet. Eine AME-Kirche in Charleston, der Walker beitrat, nahm 1817 ihre Tätigkeit auf.

Während Männer wie Finney für die Arbeiter und Fabrikbesitzer von Rochester, New York, predigten, wandten sich schwarze evangelikale Prediger an freie Schwarze, die sich der ganz anders gearteten Auswirkungen des Maschinenzeitalters auf das Leben von Sklaven und Sklavenfamilien vollkommen bewusst waren. Die Baumwollproduktion im Süden verdoppelte sich in der Zeit von 1815 bis 1820 und ein weiteres Mal zwischen 1820 und 1825. Baumwolle war zur wertvollsten Handelsware diesseits und jenseits des Atlantiks geworden. Der Sklavenhandel auf der Atlantikroute war 1808 beendet worden, aber der neue, riesenhafte weltweite Markt für Baumwolle schuf einen boomenden Binnenmarkt für Sklaven. Bis zum Jahr 1820 waren mehr als eine Million Sklaven «flussabwärts» verkauft worden, aus Staaten wie Virginia und South Carolina in die Gebiete Alabamas, Louisianas und Mississippis. Zwischen 1820 und 1860 wurde eine weitere Million Menschen verkauft und in Richtung Westen transportiert. Mütter wurden von ihren Kindern getrennt, Männer von ihren Ehefrauen. Wenn der Baumwollpreis in Liverpool stieg, wurden auch die Sklaven in Amerikas Süden teurer. Menschen wurden, wie Baumwolle, nach Güteklassen verkauft und beworben: «Besondere Männer, erstklassige Männer, zweite Wahl oder gewöhnliche Männer, außergewöhnliche Mädchen, erstklassige Mädchen, zweite Wahl oder gewöhnliche Mädchen.» Die Sklaverei war keine Verirrung in einer sich industrialisierenden Volkswirtschaft; sie war deren Motor. Die Fabriken hatten mechanische Sklaven, die Plantagen hatten menschliche Sklaven. Die Leistungsfähigkeit der Maschinen wurde in Pferdestärken gemessen, die Leistungsfähigkeit der Sklaven in Form von Muskelkraft. Ein gesunder Mann zählte als «zwei Hände», eine stillende Frau als «halbe Hand», ein Kind als «Viertelhand». Charles Ball, in der Zeit der Amerikanischen Revolution in Maryland geboren, schuftete jahrelang auf einer Sklavenplantage in South Carolina und stand auch auf einem Versteigerungspodest, wo Käufer seine Hände begutachteten und jeden einzelnen Finger auf genau die Art bewegten, die man beherrschen musste, um Baumwolle zu pflücken. Die übliche Norm für eine Baumwollernte lautete: «Zehn Acres (= vier Hektar) pro Hand.»[36]

Der in Charleston lebende David Walker war ein Augenzeuge dieser Leiden, und er betete. Dasselbe galt für Denmark Vesey, einen Zimmermann, der wie Walker der AME-Kirchengemeinde in Charleston angehörte. Vesey wagte 1822 einen Aufstand, er führte eine Gruppe von Sklaven und freien Schwarzen an, die die Stadt in Besitz nehmen wollte. Doch der Plan scheiterte, Vesey wurde gefangen genommen und gehängt. Die Sklavenhändler beschuldigten schwarze Seeleute, sie hätten im Süden die Nachricht von der Freiheit im Norden und der Unabhängigkeit in Haiti verbreitet. Nach Veseys Hinrichtung verabschiedete das Parlament von South Carolina die Negro Seaman Acts, mit denen verfügt wurde, dass schwarze Seeleute im Gefängnis festzuhalten waren, solange ihre Schiffe im Hafen vor Anker lagen.[37] Walker beschloss, South Carolina zu verlassen und nach Massachusetts zu gehen, wo er einen Laden für schwarze Seeleute eröffnete und bei der Gründung der Massachusetts General Colored Association mitwirkte, der ersten schwarzen politischen Vereinigung in den Vereinigten Staaten. Unterdessen half er entlaufenen Sklaven. «Er unterstützte die Flüchtlinge immer wieder großzügig», schrieb der Prediger Henry Highland Garnet später über ihn. Und Walker las; er «verbrachte jeden freien Augenblick mit der Pflege seiner Gedankenwelt».[38] Er unterstützte in Boston auch die Verbreitung und den Vertrieb des Freedom’s Journal, der ersten schwarzen Zeitung überhaupt, die ab 1827 in New York erschien. «Wir wollen in eigener Sache plädieren», verkündeten die Redakteure. «Zu lange haben andere für uns gesprochen.»[39]

Im Herbst 1829, jenem Jahr, in dem Jacob Bigelow und Thomas Carlyle sich um die Folgen des technologischen Wandels stritten, veröffentlichte David Walker ein kurzes Pamphlet, dessen Botschaft das Land traf wie ein Blitz: An Appeal to the Colored Citizens of the World, but in Particular, and Very Expressly, to those of the United States of America. Walker verband in diesem Text die Ermahnungen eines Erweckungspredigers mit der Demagogie eines politischen Kandidaten der Ära und predigte, dass ohne die erlösende Tat der Sklavenbefreiung eine politische Apokalypse kommen werde, der Preis für die Sünde der Sklaverei: «Ich rufe die Menschen zu Zeugen auf, dass die Vernichtung der Amerikaner unmittelbar bevorsteht und rasch vollendet werden wird, wenn sie nicht bereuen.»

Walker erhob Anspruch auf die Unabhängigkeitserklärung für die schwarzen Amerikaner: «Diese Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass ALLE Menschen GLEICH geschaffen sind!! dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören!!» Er bestand auf dem Recht auf Revolution. An seine weißen Leser schrieb er: «Nun, Amerikaner! Ich frage euch in aller Offenheit: Waren eure Leiden unter Großbritannien auch nur den hundertsten Teil so grausam und tyrannisch wie das, was ihr uns zugefügt habt?» Er schilderte die amerikanische Expansion, das Anwachsen der Union von 13 auf 24 Staaten, als eine Form von Gewalt: «Die Weißen verschleppen uns in Ketten und in Handschellen in ihre neuen Staaten und Territorien, wo wir in ihren Bergwerken und auf ihren Farmen arbeiten sollen, um sie und ihre Kinder reicher zu machen.» Und er verdammte die «manifest destiny» als einen Betrug, der auf dem Glauben von Millionen Amerikanern beruhe, «dass wir, weil wir ein bisschen dunkelhäutiger sind als sie, von unserem Schöpfer ihnen und ihren Kindern für alle Zeiten zur Erbschaft bestimmt sind». Er bezeichnete das Projekt von Henry Clays American Colonizing Society als den «Kolonisierungstrick»: «Dieses Land gehört ebenso sehr uns wie den Weißen, ob sie es jetzt zugeben werden oder nicht, sie werden es nach und nach erkennen und glauben.» Und er warnte: «Sind Mr. Clay und alle anderen Amerikaner unschuldig am Blut und den Klagen unserer Vorväter und von uns selbst, deren Kindern? – Jeder Einzelne mag für sich selbst auf Unschuld plädieren nach eigenem Belieben, aber Gott wird über kurz oder lang die Unschuldigen von den Schuldigen trennen.» Er forderte schwarze Männer auf, zu den Waffen zu greifen. «Schau auf deine Mutter, deine Frau und deine Kinder», appellierte er, «und antworte dem allmächtigen Gott; und glaube mir, dass es dich nicht mehr Aufwand kostet, jemanden zu töten, der versucht, dich zu töten, als einen Schluck Wasser zu trinken, wenn du durstig bist.» Mit einem Hinweis auf die Geschichte Westindiens warnte er die Besitzer von Menschen: «Studieren Sie ganz besonders die Geschichte von Haiti und sehen Sie, wie die Menschen von den Weißen abgeschlachtet wurden, und nehmen Sie das als Warnung.» Im Zeitalter der Quantifizierung machte Walker seine eigenen Rechnungen auf: «Gott hat es gefallen, uns zwei Augen, zwei Hände, zwei Füße und etwas Verstand in unseren Köpfen mitzugeben, ebenso gut wie ihnen. Sie haben kein größeres Recht, uns in Sklaverei zu halten, als wir ihnen gegenüber.» Und dann: «Ich erkläre hiermit, dass ein guter schwarzer Mann sechs weiße Männer töten kann.»[40]

Die Predigt von David Walker entflammte die Nation, und das sogar noch mehr als die Predigten Lyman Beechers oder Charles Grandison Finneys. Sie war anklägerisch, sie war aufwühlend, sie wurde von sehr vielen gelesen. Walker hatte ausgefeilte Pläne geschmiedet, wie sein Appeal in die Hände von Sklaven in den Südstaaten gelangen konnte. Mit der Hilfe seiner Freunde Maria und James Stewart nähte er Exemplare des Textes in den Saum von Kleidungsstücken ein, die er an Seeleute verkaufte, deren Schiffe nach Charleston, New Orleans, Savannah und Wilmington fahren sollten. Der Appeal erlebte drei Auflagen in nur neun Monaten. Die letzte Auflage erschien im Juni 1830; im August jenes Jahres wurde Walker auf der Türschwelle seines Ladens in Boston tot aufgefunden. Sofort kursierten Gerüchte, er sei ermordet worden (in den Südstaaten waren Belohnungen von bis zu 10.000 Dollar für seinen Tod ausgesetzt worden). Wahrscheinlicher ist, dass er an Tuberkulose starb. James und Maria Stewart zogen in seine alte Wohnung in der Belknap Street.[41]

Walker war tot, aber er hatte seine Botschaft unter die Leute gebracht. Bei einer Gruppe von Sklaven, die 1830 einen Aufstand plante, fand man 1830 ein Exemplar des Appeal. Nach Walkers Veröffentlichungen wurde das abolitionistische Plädoyer, sofern es auf eine allmähliche Befreiung setzte und auch noch eine Entschädigung der ehemaligen Sklavenhalter vorsah, unhaltbar. Abolitionisten setzten sich jetzt für die sofortige Freilassung aller Sklaven ein. Und Vereine im Süden, die sich gegen die Sklaverei gewandt hatten, stellten ihre Tätigkeit ein. Noch im Jahr 1827 übertraf die Zahl der Gruppen im Süden, die sich gegen die Sklaverei engagierten, die der entsprechenden Vereine im Norden im Verhältnis von mehr als vier zu eins. Aktivisten, die im Süden gegen die Sklaverei auftraten, waren in der Regel aber Anhänger des Kolonisierungsgedankens, nicht der Freilassung von Sklaven. Walkers Appeal setzte der Bewegung gegen die Sklaverei im Süden ein Ende und radikalisierte sie im Norden. Garrison brachte die erste Ausgabe des Liberator am 1. Januar 1831 heraus. Sie beginnt mit Worten, die ebenso kompromisslos klingen wie die Veröffentlichungen Walkers: «Ich meine es ernst – ich werde nicht doppelzüngig reden – ich werde keine Ausflüchte machen – ich werde keinen Zoll zurückweichen – UND ICH WERDE GEHÖRT WERDEN.»[42]

Ein 30 Jahre alter Erweckungsprediger namens Nat Turner plante in jenem Sommer in Virginia für den 4. Juli einen Sklavenaufstand. Turners Rebellion war ein Akt der Sklavenbefreiung und der Missionierung zugleich. Seine beiden Eltern waren Sklaven. Seine Mutter war in Afrika geboren worden; sein Vater flüchtete in den Norden. Die Ehefrau von Turners Besitzer hatte den jungen Sklaven noch im Kindesalter lesen gelehrt; er studierte die Bibel. Er leistete Feldarbeit, und außerdem predigte er. Im Jahr 1828 hatte er eine religiöse Vision: Er glaubte, Gott habe ihn aufgefordert, eine Rebellion anzuführen. «Weiße Geister und schwarze Geister trugen eine Schlacht aus», sagte er später, «… und das Blut floss in Strömen.» Er verschob den Aufstand bis August, in dem er dann, nach der Tötung Dutzender Weißer, mit seinen Anhängern gefangen genommen wurde. Turner wurde gehängt.

Der Aufstand sorgte in der ganzen Union für Aufsehen. Das Parlament von Virginia debattierte über die Möglichkeit der Freilassung aller Sklaven im Staat, aus Furcht, «es könnte in jeder Familie einen Nat Turner geben». Quäker reichten beim Parlament eine Petition ein, die zur Freilassung der Sklaven aufrief. Die Petition ging von einem Komitee aus, an dessen Spitze Thomas Jefferson Randolph stand, der 39-jährige Enkel Thomas Jeffersons, der einen Plan zur schrittweisen Freilassung vorlegte. Stattdessen verabschiedete das Parlament neue Gesetze, mit denen verboten wurde, Sklaven das Lesen und Schreiben beizubringen, außerdem wurde auch untersagt, sie im Inhalt der Bibel zu unterweisen.[43] In einer Nation, die auf der Grundlage einer geschriebenen Unabhängigkeitserklärung gegründet wurde, die evangelikale Prediger einer religiösen Erweckungsbewegung zur heiligen Schrift stilisierten, wurde jegliche Lektüre zum Thema Gleichheit zur Straftat erklärt.

Alexis de Tocqueville, der scharfsichtige politische Theoretiker und Historiker aus Frankreich, ging im Mai 1831 in New York an Land, um sich auf eine neunmonatige Reise durch die Vereinigten Staaten zu begeben. Nat Turner unternahm im August jenes Jahres in Virginia seinen Aufstand. Maria Stewarts erster Beitrag für den Liberator erschien im Oktober. «Falls Amerika jemals große Revolutionen erlebt, so werden sie durch die Anwesenheit der Schwarzen auf dem Boden der Vereinigten Staaten herbeigeführt: das heißt, dass nicht die Gleichheit der Bedingungen, sondern im Gegenteil ihre Ungleichheit sie hervorrufen wird.»[44] Noch während Tocqueville schrieb, wurden diese Revolutionen bereits ausgefochten.

II

MARIA STEWART WAR die erste Frau in den Vereinigten Staaten, die vor einem «gemischten» Publikum eine Rede hielt, vor einem Publikum, das sich aus Frauen und Männern und zugleich aus Schwarzen und Weißen zusammensetzte. Passenderweise sprach sie in einem nach Benjamin Franklin benannten Saal. Sie habe eine Stimme gehört, die fragte: «Wer soll vorangehen und die Vorwürfe auf sich ziehen, mit denen die Farbigen bedacht werden? Soll es eine Frau sein? Und mein Herz gab die Antwort – ‹Wenn es dein Wille ist, dann soll es so sein, Herr Jesus!›»[45]

Stewart hielt fünf öffentliche Reden in den Jahren 1831 bis 1833 – dem Jahr, in dem Garrison die American Anti-Slavery Society mit Worten gründete, die wie ein Echo Stuarts klangen. Bei der ersten Versammlung der Gesellschaft erklärte Garrison: «Wir berufen uns auf die Unabhängigkeitserklärung und die Wahrheiten der göttlichen Offenbarung, ebenso wie auf den ewiglichen Fels.»[46]

Soll es eine Frau sein? Eine Konsequenz des Aufstiegs der Demokratie nach Jackson’schem Muster und des Second Great Awakening war die Beteiligung von Frauen an der Reform amerikanischer Politik mit Hilfe der amerikanischen Moral. Wenn Eigentum als Voraussetzung des Wahlrechts keine Rolle mehr spielte, wurde die politische Machtlosigkeit der Frauen erst recht deutlich. Für Frauen, die Macht ausüben wollten, war die einzige Machtquelle, die scheinbar zur Verfügung zu stehen schien, ihre Rolle als Mütter. Die mache sie, wie sie behaupteten, Männern moralisch überlegen – liebevoller, fürsorglicher, empfänglicher für die Rufe der Schwachen.

Frauen gaben vor, weniger als Bürgerinnen denn als Mütter zu handeln, kultivierten die Vorstellung von der «republikanischen Mutterschaft» und gründeten Abstinenzler-, Wohltätigkeits-, Friedens-, Vegetarier- und Abolitionistenvereinigungen. Die erste Female Anti-Slavery Society wurde 1833 in Boston gegründet; im Jahr 1837 hatten sich im ganzen Land bereits 139 Female Anti-Slavery Societies konstituiert, darunter mehr als 40 in Massachusetts und 30 in Ohio. Zu diesem Zeitpunkt hielt Maria Stewart bereits keine Reden mehr, verzichtete also auf eine Aktivität, die viele Frauen, schwarze wie weiße, als zu radikal für die Sphäre republikanischer Mutterschaft ansahen. Catherine Beecher erklärte 1837 in An Essay on Slavery and Abolitionism, with Reference to the Duty of American Females: «Wenn die weibliche Fürsprecherin sich dafür entscheidet, auf eine Bühne zu gehen und sich selbst, ihre Kleidung und ihre Vortragsweise der öffentlichen Kritik auszusetzen, dann ist es angebracht, Abscheu zu zeigen.»[47]

Während Frauen hinter den Kulissen an gesellschaftlichen Reformen arbeiteten, protestierten Männer auf den Straßen. Die 1810er Jahre markierten den Anfang einer jahrzehntelang anhaltenden Auseinandersetzung zwischen Arbeiterklasse und Kapital. Während der «Panik von 1819», der ersten Pleitewelle im aufziehenden Industriezeitalter, hatten Fabriken ihre Tore geschlossen, als die Banken zusammenbrachen. In New York fiel der Tageslohn eines Arbeiters von 75 Cent auf 12 Cent. Am meisten litten dabei diejenigen Männer, die zu arm waren, um wahlberechtigt zu sein; es war in vielerlei Hinsicht das Leid der Arbeiter während der Panik von 1819, das viele Männer dazu bewog, für deren Wahlrecht zu kämpfen, damit sie auf die Gestaltung der Politik Einfluss nehmen konnten. Nach der Zuerkennung des Wahlrechts attackierten sie die Banken und alle Arten von Monopolen. Arbeiter in Philadelphia gründeten 1828 die Working Men’s Party. Ein Autor vertrat 1830 die Ansicht, Geschäftsbanken seien «die Grundlage künstlich geschaffener Ungleichheit des Vermögens und dadurch auch der ungleichen Verteilung von Macht».[48]

Arbeiter forderten kürzere Arbeitszeiten (zehn Stunden anstelle von elf oder zwölf) und bessere Arbeitsbedingungen. Sie wandten sich außerdem gegen «eine ungleiche und übermäßige Anhäufung von Reichtum und Macht in den Händen weniger». Die Jackson-Demokratie teilte die Macht unter den vielen auf, aber die Industrialisierung vereinigte die wirtschaftliche Macht in den Händen weniger. In Boston verfügte das wohlhabendste eine Prozent der Bevölkerung 1689 über 10 Prozent des gesamten Vermögens, 1771 waren es 16 Prozent, 1833 bereits 33 Prozent, und 1848 war der Anteil auf 37 Prozent gestiegen, während die unteren 80 Prozent 1689 noch 39 Prozent des Vermögens besaßen und sich 1771 mit 29 Prozent, 1833 mit 14 Prozent und 1848 mit ganzen 4 Prozent begnügen mussten. An anderen Orten war eine weitgehend ähnliche Verteilung zu beobachten. In New York besaß das reichste Prozent der Bevölkerung 1828 40 Prozent des privaten Gesamtvermögens, 1845 waren es bereits 50 Prozent; die wohlhabendsten vier Prozent der Bevölkerung verfügten 1828 über 63 Prozent des Vermögens und steigerten ihren Anteil bis 1845 auf 80 Prozent.[49]

Im Land geborene Arbeiter hatten unter der Mühelosigkeit zu leiden, mit der die Fabrikbesitzer sie durch Einwanderer ersetzen konnten, die in noch nie dagewesener Zahl ins Land kamen, auf der Flucht vor Hunger und Revolution in Europa und auf der Suche nach Demokratie und Lebenschancen in den Vereinigten Staaten. Viele Teile des Landes, unter anderem Iowa, Minnesota und Wisconsin, warben mit Zeitungsanzeigen in Europa um Einwanderer. Einwanderer machten weiteren Einwanderern Mut in den Briefen, die sie an Familienangehörige in der alten Heimat schickten und mit denen sie die Empfänger aufforderten, die Koffer zu packen. «Dies ist ein freies Land», schrieb ein schwedischer Einwanderer 1850 aus Illinois nach Hause. «Und niemand muss hier mit dem Hut in der Hand vor einen anderen hintreten.» Ein Norweger schrieb aus Minnesota: «Der Grundsatz der Gleichheit ist allgemein akzeptiert und übernommen worden.»[50]

Im Jahr 1831 wanderten 20.000 Europäer in die Vereinigten Staaten aus; 1854 war diese Zahl auf mehr als 400.000 angestiegen. Während zwischen 1500 und 1800 zweieinhalb Millionen Europäer nach Nord- und Südamerika ausgewandert waren, traf die gleiche Zahl – zweieinhalb Millionen – in den Jahren von 1845 bis 1854 allein in den Vereinigten Staaten ein. Der Anteil der europäischen Einwanderer an der US-Bevölkerung nahm von 1,6 Prozent in den 1820er Jahren bis 1860 auf 11,2 Prozent zu. Ein Reformer aus Michigan bezeichnete 1837 die Einwanderungsrate der Nation als «das kühnste Experiment zur Stabilität des Regierungssystems in den Annalen der Geschichte».[51]

Die größte Zahl dieser Einwanderer war irischer und deutscher Herkunft. Kritiker Jacksons – der selbst der Sohn irischer Einwanderer war – hatten ihm vorgehalten, er verdanke seine Wahl der zunehmenden Zahl armer, erst seit kurzem wahlberechtigter Iren. «Alles, was halbwegs wie ein Ire aussah, wurde für die Wahl mobilisiert», schrieb ein Journalist 1828.[52] Mehr als ein Achtel der amerikanischen Staatsbürger des Jahres 1860 war in Europa geboren worden, und zu diesen Einwanderern zählten 1,6 Millionen Iren und 1,2 Millionen Deutsche, die mehrheitlich katholisch waren. Während die Zahl der Einwanderer stark anschwoll, wuchs der Einfluss des Nativismus, der Rechte der im Land Geborenen vertritt, ebenso wie die Feindseligkeit gegenüber Katholiken, die von der Abneigung evangelikaler Protestanten beflügelt wurde.

Lyman Beecher hielt 1834 eine Reihe von antikatholischen Vorträgen. Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte Samuel F. B. Morse, ein vielseitig begabter Mann, der besonders als Maler bekannt geworden war, eine bösartige Abhandlung mit dem Titel Imminent Dangers to the Free Institutions of the United States through Foreign Immigraton (Drohende Gefahren für die freiheitlichen Institutionen der Vereinigten Staaten durch Einwanderung), in der er die Verabschiedung eines neuen Einwanderungsgesetzes verlangte, mit dem allen im Ausland geborenen Amerikanern das Wahlrecht verweigert werden sollte.[53] Morse kandidierte dann für das Amt des Bürgermeisters von New York (und verlor). Unterdessen begann er mit der Ausarbeitung eines geheimen, aus Punkten und Strichen bestehenden Alphabets, das für das von ihm entwickelte Telegrafengerät verwendet werden sollte. Morse glaubte an die Existenz einer katholischen Verschwörung, die sich zum Ziel gesetzt habe, die Macht in den Vereinigten Staaten an sich zu reißen, und er glaubte weiter, die amerikanische Regierung brauche zur Niederschlagung einer solchen Verschwörung eine Geheimschrift. Schließlich beschloss er, sein Code finde eine bessere – nicht geheime, sondern öffentliche – Verwendung als Verständigungsmittel über ein Netzwerk von Drähten, das sich nach seiner Vorstellung eines Tages über den gesamten Kontinent erstrecken werde. Es dauere nicht mehr lange, sagte er 1838 voraus, bis «die gesamte Fläche dieses Landes für diese Nervenleitungen eingerichtet sei, die mit Gedankenschnelle Wissen über alle Geschehnisse im ganzen Land verbreiten und so die Vereinigten Staaten zu einer großen Nachbarschaft machen sollen».[54]

Konnte eine schlichte Maschine das politische Getöse beruhigen? In Philadelphia forderten 1844 die zwischen Katholiken und Protestanten ausgebrochenen Unruhen 20 Todesopfer. Die größte einzelne Einwanderungswelle seinerzeit spielte sich von 1845 bis 1849 ab, als eine über mehrere Jahre andauernde Kartoffelfäule in Irland zu einer Hungersnot führte. Eine Million Menschen starb, und weitere eineinhalb Millionen verließen das Land, die meisten davon mit dem Ziel Vereinigte Staaten, wo sie in den Hafenstädten an der Ostküste ankamen und dort blieben, weil sie für eine Weiterreise ins Binnenland kein Geld hatten. (Patrick Kennedy, der Urgroßvater des ersten Katholiken, der zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt werden sollte, verließ Irland 1849.) Sie lebten in rein irischen Vierteln, meist in heruntergekommenen Mietwohnungen, und arbeiteten für miserable Löhne. Der New Yorker Rechtsanwalt George Templeton Strong beklagte in seinem Tagebuch die Fremdartigkeit dieser Menschen: «Unsere keltischen Mitbürger sind mit ihrer Gemütsart und ihrem Wesen so weit von uns entfernt wie die Chinesen.» Die Iren, die ihre Religion und ihre Gemeinschaft unbedingt bewahren wollten, bauten katholische Kirchen und Konfessionsschulen und gründeten Unterstützungsvereine auf Gegenseitigkeit. Zur Verteidigung dieser Institutionen wandten sie sich außerdem an die demokratische Partei. Im Jahr 1850 war jeder vierte Einwohner Bostons irischer Herkunft. In den Geschäften der Stadt tauchten Hinweisschilder auf: «Bewerbungen von Iren zwecklos.»[55]

Die Deutschen, die in noch größerer Zahl in die Vereinigten Staaten kamen als die Iren, hatten erheblich weniger unter Vorurteilen zu leiden. Sie waren bei ihrer Ankunft meist nicht so arm wie die Iren und konnten ins Binnenland weiterreisen und sich eine Existenz als Farmer aufbauen. Sie ließen sich vorzugsweise in den Tälern des Mississippi oder Ohio River nieder, wo sie Land von bereits dort lebenden deutschen Siedlern kauften und ihre Kinder in deutsche Schulen und deutsche Kirchen schickten. Die insulare Existenz der irischen und deutschen Gemeinden trug zum Anwachsen einer Bewegung bei, die sich für die Gründung von mit Steuermitteln unterstützten öffentlichen Grundschulen einsetzte, die «Common Schools», die für eine akademische und bürgerschaftliche Bildung und Erziehung aller Schichten der amerikanischen Bevölkerung sorgen sollten. Auch dieses Element des amerikanischen Experiments trug, wie schon die Ausweitung des Wahlrechts auf alle weißen Männer, dazu bei, dass die Vereinigten Staaten einen Vorsprung vor den Nationen Europas gewannen. Ein Großteil des Engagements für die neuen Schulen verdankte sich dem Eifer der Erweckungsbewegten. Sie hofften darauf, dass diese neuen Schulen eine sehr unterschiedlich zusammengesetzte Bevölkerung aus im Land geborenen und eingewanderten Bürgern assimilieren würden, indem sie sie in die Traditionen der amerikanischen Kultur und des politischen Systems einführten, damit die Jungen, dereinst Männer, weise Wahlentscheidungen treffen und die Mädchen, dereinst Frauen, tugendhafte Kinder aufziehen würden. «Es ist unsere Pflicht, moralische Menschen hervorzubringen», war in einem beliebten, 1830 erschienenen Lehrerhandbuch zu lesen. Andere Befürworter hofften darauf, eine gemeinsame Erziehung der Kinder würde die gegenseitige Voreingenommenheit und die parteiischen Grundhaltungen abbauen. Die Common-School-Bewegung entstand, was auch immer im Einzelnen die Motive der Befürworter gewesen sein mochten, aus einer starken bürgerschaftlichen Kultur heraus und förderte diese.[56]

Doch die Bewegung war, allem fortwirkenden Idealismus zum Trotz, auch vom Nativismus beflügelt. Ein Abgeordneter der New York State Assembly warnte: «Wir müssen die Unreinheiten, die sich in unserer Mitte breitmachen, abbauen und beseitigen. Es gibt nur ein Mittel zur Korrektur – einen unfehlbaren Filter – die SCHULE.» Und die Kritiker behaupteten, dass die als Einrichtungen zur moralischen Erziehung gerühmten Common Schools stattdessen für eine Einweisung in die Reglementierung und Bevormundung sorgen würden. Common Schools legten großen Wert auf Arbeitseifer – auf das Arbeiten nach der Uhr. Dieser Lehrplan veranlasste Arbeiter dazu, Zweifel über den Sinn und Zweck einer solchen Erziehung zu äußern. So fragte etwa das Mechanics Magazine 1834: «Wie sieht die Erziehung an einer Common School aus? Gibt es dort einen Lehrplan aus einem Guss für die Naturwissenschaften, über die einfachsten Grundlagen der Mathematik hinaus? Nein.»[57]

Schwarze Kinder waren von den Common Schools ausgeschlossen, was eine Frau aus Philadelphia dazu veranlasste, auf die Heuchelei der Befürworter der Sklaverei hinzuweisen, die ihre Haltung mit der Unwissenheit der Amerikaner afrikanischer Herkunft begründeten: «Wir sind uns der ungleichen Förderung bewusst, die unsere Kinder genießen, und sind empört über diejenigen, die uns immer wieder wegen der Unwissenheit und Verdorbenheit unseres Volkes schmähen.» Freie schwarze Familien betrieben ihre eigenen Schulen, wie etwa die African Free School in New York, die in den 1820er Jahren bereits mehr als 600 Schüler hatte. In anderen Städten kämpften schwarze Familien um die Aufhebung der Rassenschranken an Common Schools und gewannen. Das Parlament von Massachusetts erhob 1855 auf Drängen von Charles Sumner die Rassenintegration zur gesetzlichen Pflicht. Dieser Beschluss löste einen Aufschrei aus. Der New York Herald schrieb: «Der Norden soll afrikanisiert werden. Neuengland führt die Marschkolonne an. Gott schütze das Commonwealth of Massachusetts.» Kein anderer Staat folgte dem Beispiel. Stattdessen verabschiedeten viele Staaten aus diesem Anlass Gesetze, mit denen die Integration für illegal erklärt wurde.[58]

Durch die kostenlosen öffentlichen Schulen erhöhte sich der Alphabetisierungsgrad, und die Zahl der Tageszeitungen stieg, ein Wandel, der mit dem Aufstieg eines neuen Parteiensystems verbunden war. Parteien kommen und gehen, aber ein Parteiensystem – ein stabiles Parteienpaar – war seit den Ratifikationsdebatten charakteristisch für die amerikanische Politik. Der Wechsel von einem Parteiensystem zum anderen war in der amerikanischen Geschichte fast immer mit einer Revolution der gesellschaftlichen Kommunikation verbunden, die es den Menschen ermöglichte, sich der Kontrolle durch Parteien zu entziehen. In den 1790er Jahren, während des Aufstiegs des ersten Parteiensystems, bei dem sich Föderalisten und Republikaner gegenüberstanden, hatte die Zahl der Zeitungen stark zugenommen. Bei der Herausbildung des zweiten Parteiensystems, bei dem es die Demokraten mit der neu gegründeten Whig Party zu tun bekamen, stieg die Zahl der Zeitungen, und es fielen deren Verkaufspreise. Die Zeitungen des ersten Parteiensystems, die auch als «commercial advertisers» bezeichnet wurden, hatten hauptsächlich aus parteiloyalen Kommentaren und Anzeigen bestanden, und die Blätter wurden üblicherweise für sechs Cent pro Exemplar verkauft. Die neuen Zeitungen kosteten nur einen Cent und wurden von sehr viel mehr Menschen gelesen. Der Aufstieg der sogenannten «Penny-Presse» stand auch für den Beginn des Triumphes von «Fakten» über «Meinung» im amerikanischen Journalismus, und das in erster Linie, weil die Penny-Presse eine andere, breiter gestreute und nicht so ausschließlich parteiorientierte Leserschaft im Blick hatte. Die New York Sun erschien ab 1833. «Sie leuchtet für alle», lautete ihr griffiges, den Durchschnittsbürger ansprechendes Motto. «Das Ziel dieser Zeitung ist es, der Öffentlichkeit zu einem für alle Menschen erschwinglichen Preis ALLE NACHRICHTEN DES TAGES anzubieten», prahlte das Blatt. Es setzte nicht auf Abonnements und wurde stattdessen an Zeitungskiosken für Bargeld verkauft, an jeden, der eine Centmünze griffbereit hatte. Die Titelseite war nicht von Anzeigen belegt, sondern bot Nachrichten. Die Penny-Presse war eine «freie Presse», wie James Gordon Bennett vom New York Herald es formulierte, weil sie nicht an eine bestimmte Partei gebunden war. (Der in Schottland geborene Bennett war in die Vereinigten Staaten ausgewandert, nachdem er Benjamin Franklins Autobiography gelesen hatte.) Da die Zeitung an Kiosken verkauft und nicht an Abonnenten verschickt werde, seien die Redakteure und Autoren «vollkommen ahnungslos, wer sie liest und wer nicht». Sie könnten die politischen Ansichten ihrer Leserschaft nicht bedienen, weil sie diese nicht kennen würden. «Wir werden keine Partei unterstützen», betonte Bennett. «Wir werden bestrebt sein, Tatsachen zu berichten.»[59]

In dieser Epoche der Penny-Presse registrierte Tocqueville, dass die Amerikaner eine entschiedene Vorliebe zeigten, die mit einem Thema verbundenen Fakten selbst gegeneinander abzuwägen:

Sie misstrauen den Systemen, sie halten sich gerne eng an die Tatsachen und an deren unmittelbare Beobachtung. Da sie sich nicht leicht vom Namen irgendeines Mitmenschen beeindrucken lassen, sind sie nie geneigt, auf das Wort des Meisters zu schwören; man sieht sie im Gegenteil stets damit beschäftigt, die schwache Seite seiner Lehre herauszufinden.[60]

Das Volk wollte selbst entscheiden, nicht nur darüber, wie man abstimmte, sondern über die Frage, was stimmte und was nicht.

III

WENN THOMAS JEFFERSON auf den Schultern von Sklaven ins Weiße Haus ritt, wurde Andrew Jackson dorthin auf den Armen des Volkes getragen. Mit dem Ausdruck Volk meinte Jackson die seit kurzem wahlberechtigten arbeitenden Menschen, den Farmer und den Fabrikarbeiter, den Zeitungsleser. Einmal im Amt, verfolgte er eine Politik der kontinentalen Expansion, löste die Nationalbank auf und entging nur knapp einer Verfassungskrise wegen der Frage der Sklaverei. Außerdem erweiterte Jackson die Machtbefugnisse des Präsidenten. «Wir leben zwar in der Staatsform einer Republik, unterstehen aber in Wirklichkeit der absoluten Herrschaft eines einzigen Mannes», schrieb Richter Joseph Story. Jackson legte gegen vom Kongress verabschiedete Gesetze sein Veto ein (er wurde so zum ersten Präsidenten, der von dieser Macht Gebrauch machte). Einmal entließ er sogar sein gesamtes Kabinett. «Der Mann, den wir zu unserem Präsidenten gemacht haben, hat sich zu unserem Despoten aufgeschwungen, und die Verfassung liegt jetzt in Trümmern zu seinen Füßen», erklärte ein Senator aus Rhode Island und fuhr fort: «Wenn der Weg zu seinem Ziel über den Verfassungsbruch führt, hat die Verfassung nicht die Widerstandskraft einer Spinnwebe, ihn davon abzuhalten.»[61] Jacksons Kritiker nannten ihn «König Andrew».

Ein Thema in Jacksons erstem Wahlkampf war die Politik der Indianer-Umsiedlung, mit der die indigenen Völker aus allen Gebieten östlich des Mississippi zwangsweise in den Westen verschoben werden sollten. Diese Politik galt nur für den Süden. Es gab zwar auch im Norden noch indianische Stammesgemeinschaften – zum Beispiel die Mashpee in Massachusetts –, aber ihre Gesamtzahl war gering. James Fenimore Coopers The Last of the Mohicans (1826) war nur ein Beispiel in einem Überangebot romantischer Lobgesänge über den «verschwindenden Indianer», den Geist vergangenen indianischen Lebens. «Wir hören das Rascheln ihrer Schritte, es klingt wie verwelktes Laub im Herbst, und sie sind für immer fort», schrieb Joseph Story, Richter am Supreme Court, im Jahr 1828. Jackson nahm mit seiner gegen die Indianer gerichteten Umsiedlungspolitik die viel größeren Gemeinschaften indigener Völker des Südostens ins Visier, die Cherokee, Chickasaw, Chocktaw, Creek und Seminolen, deren Stammesgebiete in Alabama, Florida, Georgia, Louisiana, Mississippi und in Jacksons Heimatstaat Tennessee lagen.[62]

Bei diesem Feldzug griff Jackson auf seine umfassende militärische Erfahrung zurück. Im Jahr 1814 hatte er ein Bündnis von US-Soldaten und Cherokee-Kriegern in den Kampf gegen die Creek geführt. Die Creek traten nach diesem Krieg mehr als 80.000 Quadratkilometer ihres Stammesgebiets an die Vereinigten Staaten ab. Jackson zwang dann 1816 und 1817 seine Cherokee-Verbündeten zum Abschluss von Verträgen, mit denen sie den Vereinigten Staaten mehr als 12.000 Quadratkilometer Land für einen Preis von etwa 50 Cents pro Hektar verkauften. Als die Cherokee protestierten, antwortete Jackson angeblich: «Schaut euch um, und erinnert euch, was euren Brüdern, den Creek, widerfuhr.»[63] Aber die religiöse Erweckungsbewegung kam der Politik der Zwangsumsiedlung in die Quere. Evangelikale Prediger des American Board of Commissioners of Foreign Missions begannen 1816 ihre Bekehrungsversuche unter den Cherokee und erklärten zum Ziel ihrer Missionierungsarbeit, «den ganzen Stamm englischsprachig, in seinen Sitten und Gebräuchen zivilisiert und christlich in seiner Religion zu machen», eine Mission, die, so schien es fast, die Logik der Zwangsumsiedlung im Namen des «Fortschritts» überwand, wenn sie gelang. Die Cherokee beschlossen mittlerweile, ihre politische Gleichberechtigung zu verkünden und ihre nationale Unabhängigkeit zu erklären.[64]

Die Europäer hatten ihre Ansprüche auf Land in der Neuen Welt jahrhundertelang mit den immer wiederkehrenden Argumenten begründet, dass eingeborene Völker kein Recht auf und keine Souveränität über das von ihnen bewohnte Land hätten, weil sie keine Religion oder weil sie keine Regierung oder weil sie kein Schriftsystem hätten. Die Cherokee stellten jedes dieser Argumente wohlüberlegt und zielgerichtet infrage. Als die US-Bundesregierung 1823 erneut versuchte, die Zustimmung der Cherokee zu ihrer Umsiedlung zu erreichen, antwortete der Cherokee National Council: «Es ist der feste und unabänderliche Entschluss dieser Nation, nie wieder auch nur einen Fußbreit Land abzutreten.» Ein Cherokee-Mann namens Sequoyah, der im Krieg gegen die Creek unter Jacksons Kommando gekämpft hatte, entwickelte eine Schriftform für die Cherokee-Sprache, keine Alphabet-, sondern eine Silbenschrift, bei der jede Silbe durch ein Zeichen wiedergegeben wurde. Die Cherokee Nation begann 1828, den Phoenix zu drucken, eine Zeitung, die auf Englisch und in Silbenschrift auf Cherokee erschien. 1826 gründete sie eine Hauptstadt, New Echota (in unmittelbarer Nähe der heutigen Stadt Calhoun in Georgia), und der Nationalrat (National Council) der Cherokee verabschiedete 1827 eine geschriebene Verfassung.[65]

Der in South Carolina geborene John C. Calhoun, Monroes Kriegsminister, setzte die Cherokee unter Druck: «Ihr müsst so vernünftig sein, einzusehen, dass ihr unmöglich in euren gegenwärtigen Lebensumständen weiterleben könnt, weder auf dem Staatsgebiet von Georgia noch in irgendeinem anderen Staat.» Darauf antworteten die Cherokee: «Wir bitten darum zu beachten und wir erinnern daran, dass die Cherokee keine Ausländer sind, sondern Ureinwohner von Amerika; und dass sie heute ihr eigenes Gebiet bewohnen und auf dessen Boden stehen; … und dass sie die Oberherrschaft irgendeines anderen Staates auf ihrem eigenen Territorium nicht anerkennen können.»[66]

Jackson-Anhänger behaupteten, die Cherokee seien, dem allgemeinen Fortschritt zum Trotz, unzivilisiert («unimproved») und zurückgeblieben, aber die Cherokee waren entschlossen, diese Behauptung als Bluff zu entlarven, und verwiesen auf jede einzelne ihrer «Verbesserungen». Das Eigentum der Cherokee bestand 1825 aus 22.000 Stück Vieh, 7600 Pferden, 4600 Schweinen, 2500 Schafen, 725 Webstühlen, 2488 Spinnrädern, 172 Wägen, 10.000 Pflügen, 31 Getreidemühlen, 10 Sägemühlen, 62 Schmiedewerkstätten, 8 Baumwollentkernungsmaschinen, 18 Schulen, 18 Fähren und 1500 Sklaven. Der Schriftsteller John Howard Payne, der in den 1820er Jahren bei den Cherokee lebte, erklärte: «Wenn der Mann aus Georgia fragt: Sollen Wilde auf diese Art unsere Grenzen unsicher machen?, antwortet ihm der Cherokee: ‹Lesen wir etwa nicht? Haben wir keine Schulen? Kirchen? Manufakturen? Haben wir keine Gesetze? Keine Schrift? Keine Verfassung? Und ihr bezeichnet uns als Wilde?›»[67]

Sie hätten sich behaupten können. Sie hatten das Völkerrecht auf ihrer Seite. Aber dann wurde 1828 auf Cherokee-Land Gold gefunden, nur 80 Kilometer von New Echota entfernt, eine Entdeckung, mit der die Cherokee dem Untergang geweiht waren. Jackson erklärte bei seinem Amtsantritt im März 1829 die Zwangsumsiedlung der Indianer zu einem seiner wichtigsten politischen Ziele und vertrat zugleich die Ansicht, die Gründung der Cherokee Nation verstoße gegen Artikel IV, Abschnitt 3 der Verfassung der Vereinigten Staaten, wo es heißt: «… kein neuer Staat soll innerhalb des Hoheitsbereichs irgendeines anderen Staates gebildet oder errichtet werden» – ohne Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften des betroffenen Staates.

Jacksons Indian Removal Act erregte den Zorn von Reformern und Erweckungspredigern. David Walker hatte die Ansicht vertreten, die Umsiedlung der Indianer sei nur eine neue Variante des «Kolonisierungstricks». Catherine Beecher, die sich gegen öffentliche Ansprachen von Frauen wandte, aber viel vom Briefeschreiben hielt, führte eine Initiative für eine Petition von Frauen an den Kongress, die sich gegen die Zwangsumsiedlung von Indianern wandte. Das Gesetz wurde nach ausführlicher Debatte mit knapper Mehrheit angenommen, wobei die Abstimmung entsprechend den regionalen Grenzen ausfiel: Im Repräsentantenhaus votierten die Neuengländer mit 28 zu 9 Stimmen gegen, die Südstaatler mit 60 zu 15 Stimmen für das Gesetz, während im Senat die Neuengländer nahezu geschlossen gegen und die Südstaatler einstimmig für das Gesetz waren. In den Mittelatlantikstaaten war man sich weniger einig. Und dennoch hatte die Debatte bei allen Beteiligten umfassendere Fragen zum Thema Rasse aufgeworfen. Ein Senator aus New Jersey fragte beispielsweise: «Ändern sich die Anforderungen an die Gerechtigkeit mit der Hautfarbe?»[68]

Offen blieben die Frage der Rechtmäßigkeit des Gesetzes und die nach seiner Durchsetzung. Die Cherokee erklärten, der Staat Georgia übe nicht die Rechtsprechung über sie aus, und der Fall landete vor dem Obersten Gerichtshof. Chief Justice John Marshall erklärte in seiner Urteilsbegründung zu Cherokee Nation v. Georgia (1831): «Wenn es Gerichten erlaubt wäre, ihren Sympathien nachzugeben, könnte man sich kaum einen dafür besser geeigneten Fall vorstellen.» Marshall prägte in diesem Urteil die schicksalhafte Definition von Indianerstämmen als «einheimischen abhängigen Nationen», sah sie als neuartige juristische Personen – nicht als Staaten, auch nicht als Nationen. In einem anderen Fall, Worcester v. Georgia (1832), führte Marshall im darauffolgenden Jahr aus: «Die Cherokee Nation ist eine eigenständige Gemeinschaft, die ihr eigenes Gebiet bewohnt, … in dem die Gesetze Georgias keine Rechtskraft haben können, und das zu betreten die Bürger Georgias kein Recht haben. … Die Acts of Georgia stehen im Widerspruch zur Verfassung, zu den Gesetzen und Verträgen der Vereinigten Staaten.»[69]

Marshalls Urteil veranlasste Stämme wie die Penobscot und die Mashpee in Neuengland, auf ihre eigene Unabhängigkeit zu pochen. Das Volk der Mashpee veröffentlichte 1833 An Indian’s Appeal to the White Men of Massachusetts, in dem es hieß: «Die weißen Männer von Massachusetts haben als unsere Brüder vor kurzem große Sympathie für die roten Männer der Cherokee Nation bekundet. … Wir, die roten Männer des Stammes der Mashpee, halten den Zeitpunkt jetzt für günstig, um zu sprechen. Wir sind nicht frei. Wir wollen es sein.»[70]

Marshalls Urteile in den Cherokee-Fällen – die Fragen des Rechtsanspruchs und Eigentumsrechts berührten – lösten unweigerlich eine schmerzliche Diskussion über die europäische Besiedlung Nordamerikas und die Gründung der Vereinigten Staaten aus. Edward Everett, ein Abgeordneter aus Massachusetts, der im Kongress den Kampf gegen die Zwangsumsiedlung der Indianer angeführt hatte, wehrte sich 1835 gegen die Heuchelei von Autoren und Reformern im Norden: «Solange wir die Rechtmäßigkeit der Besiedlung des Kontinents nicht ganz und gar bestreiten – solange wir nicht behaupten, dass es von Anfang an ungerecht und falsch war, die zivilisierte Rasse nach Amerika zu bringen, und dass man alles, was jetzt unser glückliches und blühendes Land ist, so hätte lassen sollen, wie es vorgefunden wurde, als Heimstatt der Barbarei und des Heidentums –, so lange bin ich mir nicht sicher, dass irgendein anderes Ergebnis hätte herauskommen können.»[71] Jackson stimmte ihm zu und fragte: «Würde die Bevölkerung von Maine es dem Stamm der Penobscot gestatten, innerhalb ihres Staates eine eigene Regierung einzusetzen?»[72]

Jackson entschied sich schließlich dafür, den Supreme Court zu ignorieren: «John Marshall hat seine Entscheidung getroffen», soll er angeblich gesagt haben (das Gerücht scheint eines von der wilden Art gewesen zu sein). «Jetzt soll er zusehen, wie er sie durchsetzt.»[73] Die Anführer einer winzigen Minderheit der Cherokee unterschrieben einen Vertrag, der das Land an Georgia abtrat und den 23. Mai 1838 als letzten Termin für die Umsiedlung festsetzte. Als dieser Tag kam, waren erst 2000 Cherokee in Richtung Westen aufgebrochen; 16.000 weitere weigerten sich, ihre Heimat zu verlassen. Der General der US Army Winfield Scott, auch «Old Fuss and Feathers» genannt, ein peinlich genauer Berufssoldat aus Virginia, traf vor Ort ein, um das Geschehen zu forcieren. Er bat die Cherokee, freiwillig aufzubrechen. «Ich bin ein alter Krieger und war auf vielen Schlachtfeldern dabei», sagte er, «aber ich flehe euch an, erspart mir das Grauen, die Vernichtung der Cherokee mitzuerleben.» Auf dem erzwungenen Marsch, der 1300 Kilometer weit nach Westen führte und, nach Jeffersons Fantasie, eine Zeitreise in die Vergangenheit war, starb jeder vierte Cherokee – an Hunger, Unterkühlung oder Erschöpfung – auf einem Weg, der später Trail of Tears genannt werden sollte. Als alles vorbei war, hatte die US-Regierung 47.000 Indianer aus dem Südwesten des Landes in Gebiete westlich des Mississippi umgesiedelt und im Osten mehr als 400.000 Quadratkilometer Land dazugewonnen. Die Cherokee-Männer, die den Abtretungsvertrag unterschrieben hatten, wurden 1839 im Indian Territory, dem heutigen Oklahoma, von unbekannten Mördern umgebracht.[74]

Zu dem Zeitpunkt waren die zwei Amtszeiten Jacksons zu Ende gegangen. Aber in den Jahren, in denen er im Weißen Haus amtierte, war das Ignorieren eines Urteils des Obersten Gerichtshofs weder der erste noch der unbedeutendste Fall, bei dem Andrew Jackson den Machtanspruch des Präsidenten durchsetzte. Besonders belastet war Jacksons Verhältnis zu seinem ersten Vizepräsidenten John C. Calhoun, Monroes ehemaligem Kriegsminister, einem Mann, der so hart und unnachgiebig auftrat, dass ein gescheiter Beobachter ihm den Beinamen «Mann aus Gusseisen» verpasste.[75] Calhoun hatte auch als John Quincy Adams’ Vizepräsident gedient, und sein Verhältnis zu Jackson war von Anfang an gespannt. Es verschlechterte sich weiter, als Calhoun einen Vorstoß South Carolinas anführte, der das Ziel verfolgte, einen vom Kongress eingeführten Zoll für «null und nichtig» zu erklären. Die Debatte um dieses Zollgesetz setzte, wie schon die Auseinandersetzung um die Vertreibung der Indianer, die bindende Kraft der Verfassung beim Zusammenhalt der einzelnen Staaten einer Belastungsprobe aus.

Jackson und Calhoun trugen eines Abends im Jahr 1832 bei einem offiziellen Dinner ihren Konflikt in Form von Trinksprüchen aus. Der Präsident widmete seinen Toast «unserer bundesstaatlichen Union – sie muss erhalten werden». Nachdem Jackson sich gesetzt hatte, stand Calhoun auf, um seinen eigenen Trinkspruch auszubringen: «Die Union – neben unserer Freiheit ist sie uns das Teuerste; mögen wir uns alle daran erinnern, dass sie nur erhalten werden kann, wenn die Rechte der Staaten respektiert werden.» Das sehr viel geringere politische Geschick von Martin Van Buren, dem ehemaligen Gouverneur von New York, der ebenfalls an diesem Dinner teilnahm, wurde deutlich, als er sich zu einem dritten Trinkspruch erhob, mit dem er auf «gegenseitige Nachsicht und Zugeständnisse» anstieß.[76] Im Umgang zwischen Jackson und Calhoun sollte es keinerlei Nachsicht und nur sehr wenige Zugeständnisse geben.

Obwohl der Zolltarif die Abgabe auf Importe halbierte, beunruhigte er die Südstaatler, die kritisierten, dass er die Interessen der Fabrikbesitzer des Nordens über die der Landwirte im Süden stelle. Der Süden sorgte für zwei Drittel der amerikanischen Exporte (nahezu ausschließlich in Form von Baumwolle) und verbrauchte nur ein Zehntel der Importe, was die Politiker aus den Südstaaten dazu veranlasste, sich gegen die Zollgebühr zu wenden und eine Position zu vertreten, für die man schließlich die Bezeichnung «Freihandel» einführte.[77]

Aus Protest gegen das Zollgesetz verfasste Calhoun im Namen der Legislative South Carolinas eine Abhandlung, in der er eine Theorie der Auslegung der Verfassung entwickelte, nach der die Staaten das Recht hätten, Bundesgesetze für null und nichtig zu erklären. Calhoun ließ sich dabei von den von Jefferson und Madison 1798 verfassten Kentucky- und Virginia-Resolutionen ebenso inspirieren wie vom Konvent von Hartford im Jahr 1812, auf dem die Staaten des Nordens gedroht hatten, aus der Union auszutreten, weil sie den Krieg gegen Großbritannien ablehnten. Er vertrat die Ansicht, die Verfassung müsse durch ein Amendment ergänzt werden, wenn ein Staat zu dem Ergebnis kommen sollte, dass ein vom Kongress verabschiedetes Gesetz verfassungswidrig sei. Der einem Gesetz widersprechende Staat habe das Recht, die Union zu verlassen, wenn ein solcher Zusatz nicht ratifiziert werde, also nicht die notwendige Dreiviertelmehrheit unter den Staaten erreiche. Die Staaten seien bereits souverän gewesen, bevor die Verfassung geschrieben oder auch nur an ihre Niederschrift gedacht worden sei, erklärte Calhoun, und sie würden dies auch bleiben. Calhoun wandte sich deshalb auch gegen die Herrschaft der Mehrheit; die «Nullifikation» (Nichtigkeitserklärung) ist eine grundsätzlich antimajoritäre Vorgehensweise. Wenn Staaten sich abspalten können, gibt es keine Herrschaft der Mehrheit.[78]

Die Nullifikationskrise war weniger eine Debatte über ein Zollgesetz als eine Auseinandersetzung über die Grenzen der Rechte der Einzelstaaten und über die Frage der Sklaverei, ein frühes Vorzeichen des Bürgerkrieges, der näherkam. South Carolina hatte den höchsten Anteil von Sklaven an der Gesamtbevölkerung in der ganzen Union. Im Gefolge von David Walkers Appeal und dem Problem, das die Cherokee Nation für den Staat Georgia bedeutete, stand die Nullifikation für den Versuch South Carolinas, die Macht der Bundesregierung zur Verabschiedung von Gesetzen zurückzuweisen, die man als ungünstig für die eigenen Interessen empfand.

Jackson reagierte mit einer Proklamation, in der er Calhouns Theorie der Nullifikation als «metaphysische Spitzfindigkeit bei der Entwicklung einer unbrauchbaren Theorie» bezeichnete. Jacksons Plädoyer lief auf Folgendes hinaus: Die Vereinigten Staaten sind eine Nation; diese existierte vor den Einzelstaaten; ihre Souveränität ist uneingeschränkt. «Die Verfassung der Vereinigten Staaten beschreibt ein Regierungssystem, kein Bündnis.»[79] Der Kongress verabschiedete letztlich einen Kompromiss in der Zollfrage, den South Carolina akzeptierte. «Die Nullifikation ist tot», verkündete Jackson. Aber der Krieg war nicht gebannt, bei weitem nicht. Die Nullifikationskrise verhärtete nur die Fronten zwischen den Partikularisten und den Nationalisten, während Calhoun zum Anführer der Bewegung für die Sklaverei wurde und erklärte, die Sklaverei sei «für eine republikanische Regierung unentbehrlich».[80]

Jacksons Fehde mit Calhoun hatte zur Folge, dass der Präsident nicht den geringsten Wunsch verspürte, für seine zweite Amtszeit an diesem Vizepräsidenten festzuhalten. Aus Furcht vor politischem Gegenwind zögerte Jackson aber, Calhoun einfach vom Wahlticket zu streichen, sondern sah sich nach einer raffinierteren Methode um, mit der er seinen gusseisernen Partner loswerden konnte. Dabei fiel sein suchender Blick auf eine neue und kurzlebige politische Partei, die Anti-Masons. Diese Partei hielt im September 1831 den ersten Konvent der amerikanischen Geschichte zur Nominierung eines Präsidentschaftskandidaten ab. Das Grundanliegen der Anti-Masons war der Kampf gegen heimliche Machenschaften wie die Freimaurerei (Masonry) oder Wahlversammlungen von politischen Parteien, und dennoch hatten sie die Idee übernommen, eine Delegiertenversammlung nach dem Vorbild der Verfassungskonvente zu veranstalten, die Jahr für Jahr in den einzelnen Staaten abgehalten worden waren. Unglücklicherweise stellte sich heraus, dass der Mann, den die Anti-Masons zu ihrem Kandidaten gekürt hatten, ein Freimaurer war. Aber der Nominierungskonvent der Anti-Masons hinterließ zwei Neuerungen als Vermächtnis: die Praxis, jeder Delegation eines Staates eine Stimmenzahl zuzuweisen, die der Zahl der Delegierten für das Wahlmännergremium entspricht, und die Bestimmung, dass für eine Nominierung eine Dreiviertelmehrheit erforderlich ist. Zwei Monate nach den Anti-Masons veranstaltete eine weitere kurzlebige Partei, die National Republican Party, ihren eigenen Konvent, bei dem die Präsenz der einzelnen Staaten nicht in alphabetischer, sondern in «geografischer Reihenfolge» überprüft wurde, beginnend mit Maine und dann die Küste entlang fortschreitend, was bei den Gentlemen aus Alabama für erhebliche Bestürzung sorgte.[81] Henry Clay, bei dem per Brief angefragt wurde, ob er bereit sei, eine Nominierung durch die National Republicans anzunehmen, antwortete mit einer schriftlichen Zusage, fügte aber hinzu, es sei ihm unmöglich, am Konvent in Baltimore teilzunehmen, «ohne sich der Unterstellung von Dünkelhaftigkeit oder Taktlosigkeit auszusetzen». Clay nahm die Nominierung an und schuf damit einen Präzedenzfall, der bis zu den Tagen Franklin Delano Roosevelts Bestand hatte: Mehr als ein Jahrhundert lang nahm kein Kandidat die Nominierung persönlich an, und Roosevelt tat dies nur, weil er die Botschaft unter die Leute bringen wollte, dass er den Amerikanern einen «new deal» versprach.[82]

Dennoch wäre die Praxis, einen Kandidaten für das Präsidentenamt bei einem nationalen Parteikonvent zu nominieren, vielleicht gar nicht zu einer amerikanischen Tradition geworden, wenn Jackson nicht beschlossen hätte, dass auch die Demokratische Partei eine solche Veranstaltung abhalten sollte, damit er seinen streitsüchtigen Vizepräsidenten loswerden konnte. Jackson und seine Berater erkannten, dass sie es bei einer Kandidatennominierung durch die Parlamente der einzelnen Staaten, wo Calhoun sehr viel Unterstützung genoss, wieder mit diesem Mann zu tun bekommen würden. Jackson sorgte deshalb dafür, dass das Parlament von New Hampshire zu einem nationalen Konvent aufrief, wo er selbst dann als Kandidat für eine zweite Amtszeit und Martin Van Buren, sein geschmeidiger ehemaliger Außenminister, inzwischen Gouverneur von New York, als Bewerber für das Amt des Vizepräsidenten nominiert wurden.

Im Mittelpunkt des Wahlkampfs von 1832 stand die Frage der Nationalbank. Jacksons Streit mit der Bank war, wie schon die Auseinandersetzungen um die Vertreibung der Indianer und das Zollgesetz, ein Testfall für die Macht des Präsidentenamtes. Das Problem bestand schon seit langem. Da die Verfassung den Bundesstaaten untersagte, Geld zu drucken, druckten von den Parlamenten der Staaten lizenzierte Banken ihr eigenes Geld, kein gesetzliches Zahlungsmittel, sondern Banknoten, die von Bankvorständen unterzeichnet wurden. In den Jahren von 1830 bis 1837 nahmen in den Vereinigten Staaten 347 Banken ihre Geschäftstätigkeit auf. Sie druckten ihr eigenes Geld und produzierten mehr als 1200 verschiedene Arten von Banknoten. In diesen chronisch instabilen Verhältnissen war die Banknotenfälschung ebenso weit verbreitet wie Betrügereien, vor allem bei auf Grunderwerb spezialisierten Banken, die für die Spekulation mit Land im Westen gegründet worden waren.

Der Kongress hatte 1816 eine Charta für die Second Bank of the United States bewilligt, um die wirtschaftliche Erholung des Landes nach den Verheerungen des Krieges mit England zu fördern. Der Oberste Gerichtshof hatte 1819 die Verfassungsmäßigkeit der Bank bestätigt.[83] Die Bank of the United States diente als Depotbank für alle Geldmittel der Bundesregierung; sie verwaltete ihre Zahlungen und ihre Einnahmen, einschließlich der Steuern. Dennoch handelte es sich um eine Privatbank, die den Aktionären berichtspflichtig war. Ihr wirtschaftlicher Einfluss war enorm. Das Eigenkapital von 35 Millionen Dollar im Jahr 1830 entsprach dem Doppelten der jährlichen Ausgaben der Bundesregierung. Für ihre härtesten Kritiker sah die Nationalbank wie eine vierte, nicht gewählte Staatsgewalt aus.[84] Jackson hasste alle Banken. «Ihre Bank missfällt mir nicht mehr als alle anderen Banken», ließ er den Bankpräsidenten Nicholas Biddle wissen. Jackson war der Ansicht, dass die Bank of the United States die Volkssouveränität untergrub, den Volkswillen missachtete und, wie alle Banken, «einen korrumpierenden Einfluss» auf die Nation hatte, indem sie «ein paar begüterten Kapitalisten» gestattete, öffentliche Gelder einzusetzen, um «Nutzen daraus zu ziehen, unter Ausschluss der vielen».[85]

Im Januar 1832, als Jacksons erste Amtszeit sich ihrem Ende näherte, beantragte Biddle beim Kongress eine Verlängerung der Charta der Bank, obwohl diese erst 1836 auslief. Der Kongress stimmte dem Antrag zu. Clay versprach: «Sollte Jackson sein Veto einlegen, werde ich mein Veto gegen ihn einlegen!»[86] Im Juli 1832 legte Jackson tatsächlich sein Veto gegen das Bankgesetz ein und trug einen 8000 Worte umfassenden Text vor, in dem er deutlich machte, dass der Präsident nach seiner Überzeugung befugt war, über die Verfassungsmäßigkeit der vom Kongress verabschiedeten Gesetze zu befinden.

«Die Rechtsbeistände der Bank behaupten, deren Verfassungsmäßigkeit in all ihren Merkmalen sollte durch einen Präzedenzfall und durch die Entscheidung des Supreme Court als geklärt gelten. Dieser Schlussfolgerung kann ich nicht zustimmen», sagte Jackson.[87] Biddle bezeichnete Jacksons Veto-Botschaft als «ein Manifest der Anarchie». Aber der Senat erwies sich als nicht imstande, das Veto aufzuheben. Der Bankkrieg, sagte Edward Everett, «ist nicht weniger als ein Krieg der Zahlen gegen den Besitz».[88] Jackson, der Mann des Volkes und König der Zahlen, gewann haushoch.

IV

JACKSONS BANK-VETO riss die amerikanische Volkswirtschaft aus der Verankerung. Mit der Auflösung der Bank of the United States entschwand auch die Stabilität, die sie, als Ballast im Schiffsrumpf, gewährleistet hatte. Befürworter der Nationalbank hatten auf der Notwendigkeit einer Regulierung des Papiergeldverkehrs durch die Bundesregierung bestanden. Jackson und seine auch als «Goldkäfer» («gold-bugs») bekannten Anhänger hätten am liebsten auf jede Art von Papiergeld verzichtet. 1832 war Papiergeld im Gesamtwert von 59 Millionen Dollar im Umlauf, 1836 waren es bereits 140 Millionen. Ohne die regulierende Kraft der Nationalbank war diese Geldpapierschwemme nur durch sehr wenig Edelmetall gedeckt, die Goldbestände der amerikanischen Banken beliefen sich nur auf 10,5 Millionen Dollar.[89]

Die Spekulanten wie auch der Präsident schauten nach Westen. «Der Reichtum und die Stärke eines Landes liegen in seiner Bevölkerung, und der beste Teil der Bevölkerung sind diejenigen, die den Boden bearbeiten», sagte Jackson und klang dabei wie ein Echo Jeffersons.[90] Auf der Flucht vor der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage im Osten und auf der Suche nach neuen Lebensmöglichkeiten zogen Amerikaner in Richtung Westen, alleine und mit Familien, mit Wagen und auf Trails, auf Kanälen und Dampfschiffen, nach Ohio, Indiana, Illinois, Alabama, Mississippi, Missouri, Louisiana, Arkansas und Michigan. Sie legten einen Siedlerhof auf Farmland an; sie errichteten Hütten aus roh zurechtgezimmerten Baumstämmen. Sie gründeten Zeitungen und stritten über Politik. Sie bauten Städte und Kirchen und Schulen. «Ich lade Sie ein, in den Westen zu gehen, eine unserer Blockhütten zu besuchen und deren Bewohner zu zählen», sagte ein Kongressabgeordneter aus Indiana. «Sie werden dort einen kräftig gebauten, unerschrockenen 18-Jährigen und seine bessere Hälfte vorfinden, die beide mit den ersten Schwierigkeiten eines unabhängigen Lebens zu kämpfen haben. Besuchen Sie die beiden in 30 Jahren wieder, und anstelle von zwei Personen werden Sie in der gleichen Familie auf 22 treffen. Das nenne ich die amerikanische Multiplikationstabelle.»[91]

Dennoch überschattete die Sklaverei jeden Schritt, den die Besiedlung des Westens vorankam. Der in Maine geborene Elijah Lovejoy ließ sich in St. Louis nieder, wo er Traktate der Abolitionisten druckte, deren Verbreitung in Staaten, in denen noch Sklaverei herrschte, verboten war, was die Abolitionisten veranlasste, ihre Forderung nach «Meinungsfreiheit» den Südstaatlerforderungen nach «Freihandel» entgegenzusetzen. Randalierende Befürworter der Sklaverei zerstörten 1836 Lovejoys Druckerpresse. Lovejoy zog über den Fluss und in den freien Staat Illinois, wo er und sein schwarzer Setzer John Anderson ihren Betrieb mit einer neuen Maschine wiederaufnahmen. Auch diese Presse wurde von einem Mob zerstört, und als eine dritte Presse eintraf, erhielt Lovejoy, der bewaffnet war, einen tödlichen Schuss in die Brust und starb als Märtyrer für die Meinungsfreiheit.

Zur Vermessung des Landes und zur Überwachung des Siedlungsprozesses gründete und konzessionierte der Kongress das General Land Office. Landvermesser teilten das Land in ein Gitternetz von je 640 Acres (256 Hektar) ein. Diese unterteilte man dann in 160-Acre-Parzellen (64 Hektar), die kleinste Einheit, die zum Kauf angeboten wurde. 1832 wurde, während eines Booms von Landverkäufen – das Land Office erhielt 40.000 Patenturkunden pro Jahr –, dieser Mindestkauf auf 40 Acres (16 Hektar) zurückgefahren. Der Kongress erhöhte die Zahl der Schreibkräfte des Land Office von 17 auf 88, doch auch die vergrößerte Behörde geriet mit der in großem Umfang anfallenden Schreibarbeit in Verzug.

Im Süden überquerten amerikanische Siedler die Grenze zu Mexiko, das 1821 die Unabhängigkeit von Spanien erlangt hatte. Mexiko hatte Schwierigkeiten mit der Verwaltung seines weit auseinandergezogenen nördlichen Staatsgebiets; ein großer Teil des Landes zwischen dem bevölkerungsreichen Süden, in dem auch die Hauptstadt Mexiko City lag, und dem davon am weitesten entfernten Landesteil Alta California war Wüste, die hauptsächlich von Apache-, Ute- und Yaqui-Indianern bewohnt wurde. Ein mexikanischer Gouverneur beschrieb die Situation so: «Unser Territorium ist riesig, und unsere Regierung ist schwach.» John Quincy Adams hatte bereits 1825 den amerikanischen Gesandten in Mexiko angewiesen, er solle versuchen, einen neuen Grenzverlauf auszuhandeln. Die mexikanische Regierung benötigte das Geld, wollte aber kein eigenes Land verkaufen. Ihr Gesandter Manuel de Mier y Terán erklärte dazu: «Mexiko könnte, wenn es dem Beispiel Frankreichs oder Spaniens folgen wollte, unproduktive Gebiete in Afrika oder Asien veräußern oder abtreten. Aber wie kann man nur erwarten, dass es sich selbst vom eigenen Grund und Boden abtrennt?»

Mexiko wollte kein eigenes Staatsgebiet verkaufen, aber die mexikanischen Territorien Coahuila und Texas – am Golf von Mexiko und westlich des Staates Louisiana gelegen – erwiesen sich als besonders attraktiv für amerikanische Siedler, die auf der Suche nach neuen Anbaugebieten für Baumwolle waren. Ein mexikanischer Regierungsvertreter warnte: «Wenn wir die gegenwärtige Gelegenheit, Texas zu besiedeln, nicht nutzen, wird die Stärke der Vereinigten Staaten Tag für Tag zunehmen, bis sie Texas, Coahuila, Saltillo und Nuevo León annektieren.» (Zu Texas gehörte damals noch ein großer Teil des späteren Staatsgebiets von Kansas, Colorado, Wyoming, New Mexico und Oklahoma.) Die Amerikaner in Texas rebellierten 1835 gegen die mexikanische Herrschaft und führten Krieg unter dem Kommando eines politischen Draufgängers namens Sam Houston. 1836 erklärte Texas seine Unabhängigkeit und rief die Republik Texas aus, mit Houston als Präsident. Mexikos Präsident General Antonio López de Santa Anna drohte, dass er, sollte er feststellen, dass die US-Regierung hinter dem Aufstand in Texas gesteckt habe, «mit seiner Armee nach Washington» marschieren «und die mexikanische Flagge auf dem Kapitol hissen» werde.[92]

Als Houston dem Kongress einen Vorschlag mit der Bitte um Annexion zukommen ließ, scheiterte dieses Anliegen aus drei Gründen. Erstens befürchtete Jackson, eine Annexion werde einen Krieg mit Mexiko auslösen, das die Unabhängigkeit von Texas nicht anerkannte. Zweitens war Texas aus der Sicht der Vereinigten Staaten, die ebenso wie Großbritannien und Frankreich die Unabhängigkeit von Texas anerkannten, ein fremdes Land, und das bedeutete, dass eine Annexion ein ganz anderes Problem war als noch im Jahr 1825, als John Quincy Adams versucht hatte, das Territorium zu kaufen. Und schließlich würde Texas im Fall einer Aufnahme in die Union dieser als Sklavenhalterstaat beitreten. Quincy Adams, der nach dem Verlust des Präsidentenamts Abgeordneter im Repräsentantenhaus geworden war, hielt drei Wochen lang Dauerreden gegen den Annexionsvorschlag. Er sagte, das Volk der Vereinigten Staaten «würde, so sehr es die Union auch liebt, ihre vollständige Auflösung der Annexion von Texas vorziehen». Die American Anti-Slavery Society deckte den Kongress mit Zehntausenden von Petitionen zur Abschaffung der Sklaverei ein. Als Quincy Adams versuchte, den Petitionen eine Anhörung zu verschaffen, brachten ihn Südstaatenabgeordnete nach den Bestimmungen einer «gag rule» zum Schweigen, eines Maulkorberlasses, der jegliche Diskussion über Petitionen gegen die Sklaverei im Kongress untersagte – ein weiterer Triumph für die Gegner der Rede- und Meinungsfreiheit.[93]

Die Sklavenhalter in den Südstaaten, eine winzige Minderheit unter den Amerikanern – sie machte nur etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus –, bedienten sich einer Rhetorik, die sich auf die «Rechte der Einzelstaaten» und den Freihandel berief (womit sie einen Handel ganz ohne Regulierung durch die Bundesregierung meinten), doch in Wirklichkeit benötigten sie ganz dringend die Macht der Bundesregierung und setzten auf sie, um die Institution der Sklaverei zu verteidigen und auszuweiten. Aus der Schwäche ihrer Position erklären sich die Bemühungen, abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen. Der Abgeordnete Thomas Morris, ein Demokrat aus Ohio, reichte ab 1836 Petitionen ein, in denen die Sklaverei verurteilt und ihre Abschaffung im District of Columbia verlangt wurde, außerdem drängte er auf die Aufhebung des Verbots, Abolitionistenliteratur mit der Post zu verschicken, doch die Petitionen wurden unterdrückt. Morris, ein ungehobelter Autodidakt, hatte von seinem Vater, einem Baptistenprediger, den Hass auf die Sklaverei übernommen. Im Frühjahr 1838 verurteilte er «die widerliche Menge von Vorurteilen, die aus dem Interesse entstanden sind, die farbige Rasse in Knechtschaft zu halten». Später in jenem Jahr sagte er einer Zeitung in Ohio, er habe «immer geglaubt, dass die Sklaverei falsch ist, im Prinzip, in der Praxis, in jedem Land und unter allen Lebensbedingungen». Es war keine Überraschung, dass er nicht wiedergewählt wurde. Im Februar 1839, im Wissen, dass er nie wieder ein öffentliches Amt ausüben würde, zog er vom Leder und hielt die schärfste Rede gegen die Sklaverei, die der Senat bis dahin zu hören bekam. Morris machte eine Anleihe bei Jacksons Verurteilung der «Macht des Geldes» («money power») und prägte den Begriff «Sklavenmacht«(«slave power»). Er beschrieb den Konflikt als Schlacht zwischen der Demokratie und zwei miteinander verbündeten Aristokratien: der «Aristokratie des Nordens», die aus seiner Sicht «mit der Macht eines korrupten Bankensystems» arbeitete, und der «Aristokratie des Südens», die sich «der Macht des Sklavensystems» bediente. Morris schloss mit dem Ausdruck seines Glaubens, dass die Demokratie sich durchsetzen und «DER NEGER DOCH NOCH FREIGELASSEN WIRD».[94]

Die Debatte um Texas veranschaulichte – im Zusammenwirken mit der Wahl von 1836 –, wie nachhaltig Andrew Jackson und John Quincy Adams die nationale Politik geprägt hatten, noch lange Zeit über das Ende ihrer jeweiligen Präsidentschaft hinaus. Jackson hielt die Fäden bei der Demokratischen Partei in der Hand, während Quincy Adams den unberechenbaren Kurs der Whig Party bestimmte. Jackson entschied sich gegen eine Kandidatur für eine dritte Amtszeit, aber er war entschlossen, seinen Nachfolger selbst auszuwählen, so wie er 1832 ein Manöver ersonnen hatte, mit dem er Calhoun loswerden konnte. Ein weiteres Mal bediente sich König Andrew der Maskerade eines Kämpfers für den einfachen Mann.

1835 veröffentlichte er einen Aufruf für einen Nominierungskonvent der Demokraten in Form eines außergewöhnlichen Briefes, der zunächst in einer Zeitung seines Heimatstaats Tennessee abgedruckt wurde:

Ich halte es für die richtige Politik der Freunde republikanischer Grundsätze, direkt aus dem Volk kommende Delegierte zu einem Generalkonvent zu entsenden, um dort Kandidaten für die Präsidentschaft und die Vizepräsidentschaft auszuwählen. Es ist ein Angriff auf die Rechtschaffenheit des Volkes und dessen Recht zu regieren, wenn man diese Auswahl infrage stellt, bevor sie getroffen wird, oder sich ihr widersetzt, wenn sie, in Ausübung der exekutiven Gewalt, korrekt erfolgt.[95]

Bei allem puddingsüßen Gerede über die Rechtschaffenheit des Volkes und dessen Recht zu regieren kam es Jackson mit dem Vorschlag für diesen Konvent vor allem darauf an, die Nominierung seines von ihm selbst ausgesuchten Nachfolgers Martin Van Buren zu sichern und diesem die Gelegenheit zu bieten, zugunsten von Richard Johnson zu intrigieren, seinem eigenen Favoriten für das Amt des Vizepräsidenten. Das Manöver blieb nicht unbemerkt. Aus Tennessee, wo die Unterstützung für Jackson schon seit längerem schwankte, kam eine Weigerung, eine Delegation zu dem in Baltimore stattfindenden Konvent zu entsenden. Der New Yorker Senator Silas Wright, Van Burens Konvent-Organisator, war jedoch nicht bereit, bei dieser Veranstaltung auf die 15 Wahlmännerstimmen aus Tennessee zu verzichten. In einem Gasthaus begegnete er Edward Rucker, einem Mann aus Tennessee, der sich gerade in der Stadt aufhielt – und der kurzerhand zu einer Einmanndelegation von 15 Stimmen aufgewertet wurde. («Ruckerize» wurde zu einer Verbneuschöpfung: Sie steht für einen politischen Schwindel, bei dem man eine Versammlung mit eigenen Leuten beschickt.)[96]

Aber die Partei von Quincy Adams befand sich inzwischen in noch größerer Unordnung. Die schlecht organisierten und in Auflösung begriffenen Whigs hatten es nicht fertiggebracht, einen Nominierungskonvent abzuhalten, und konnten sich auch nicht für einen einzigen Kandidaten entscheiden; vier verschiedene Whigs traten zur Präsidentenwahl an, spalteten die Partei und öffneten so einen breiten Weg für Van Buren, den Präsidentschaftsbewerber der Demokraten, auf dem dieser zum Wahlsieg ritt.

Van Buren trat sein Amt im März 1837 an. Fünf Wochen später ging das Finanzsystem des Landes zu Bruch. Es kam zur bis dahin schlimmsten Finanzkatastrophe der amerikanischen Geschichte, die nur noch vom Börsenkrach 1929 übertroffen wurde. «Der Aktienmarkt brach zusammen. Die Schwärze der Finsternis hängt immer noch über ihm», schrieb ein New Yorker aus der Wall Street in jenem April. Im Herbst 1837 hatten im Osten des Landes neun von zehn Fabriken ihre Pforten geschlossen. Die Armen brachen die Ladentüren von Geschäften auf, fanden aber nur leere Regale vor. Was mit der Panik von 1837 begann, endete erst nach einer sieben Jahre anhaltenden Wirtschaftskrise, die weit in ein von Verzweiflung geprägtes Jahrzehnt hineinreichte, die «Hungry Forties».[97]

Die Whigs bezeichneten den neuen Präsidenten als Martin Van Ruin, was unfair war, weil der Absturz das Ergebnis von Jacksons Entscheidungen und nicht das Werk Van Burens war, er war vor allem die Konsequenz eines nicht regulierten Bankwesens. Aber wenn das Leiden von Jackson’scher Machart war, galt das auch für die Abhilfe: Die Panik von 1837 demokratisierte den Schutz bei Zahlungsunfähigkeit und führte zur Abschaffung des Schuldgefängnisses. Ein New Yorker Rechtsanwalt namens Joseph Dewey Fay, der behauptete, 16 Jahre im Schuldgefängnis verbracht zu haben, hatte 1810 den Anteil der freien Männer New Yorks, die als Folge der Panik von 1809 wegen Schulden in Haft genommen worden waren, auf zehn Prozent geschätzt. «Die Amerikaner prahlen damit, dass sie die Folter abgeschafft haben», schrieb er, «aber das Schuldgefängnis ist eine Folter.» Fay war nach Albany gegangen und hatte dort im Parlament erfolgreiche Lobbyarbeit für die Verabschiedung eines erweiterten Insolvenzrechts zugunsten inhaftierter Schuldner betrieben. 2500 verschuldete Gefangene erreichten in den ersten neun Monaten nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ihre Freilassung. Das frühere Konkursrecht hatte nur Börsenmakler geschützt, aber das neue Recht schuf ein Präjudiz: Es war das weltweit erste Gesetz dieser Art, das allen Bürgern die Möglichkeit bot, sich für zahlungsunfähig zu erklären. Der Oberste Gerichtshof hatte dies noch 1819 für verfassungswidrig erklärt. Jetzt hatte sich das Blatt gewendet: Der Staat New York schaffte 1831 das Schuldgefängnis ab, und der Kongress verabschiedete 1841 ein Gesetz, das einen Gläubigerschutz für jedermann vorsah. Innerhalb von zwei Jahren erklärten sich 41.000 Amerikaner für zahlungsunfähig. Das Gesetz wurde zwei Jahre später wieder aufgehoben, aber Gesetze in den Bundesstaaten boten weiterhin Schutz für den Konkursfall, und, was noch wichtiger war, Schuldgefängnisse waren endgültig abgeschafft. In Großbritannien und in ganz Europa – mit Ausnahme von Portugal – wurden zahlungsunfähige Schuldner weiterhin ins Gefängnis geworfen (ein Sujet, das viele Romane des 19. Jahrhunderts inspirierte); in den Vereinigten Staaten konnten Schuldner sich für zahlungsunfähig erklären und neu beginnen.

Die Schuldenstreichung förderte eine Risikobereitschaft, die das amerikanische Unternehmertum antrieb. Tocqueville staunte über «eine eigentümliche Nachsicht», die «man in den Vereinigten Staaten dem Kaufmann, der Bankrott macht, … entgegenbringt», und stellte fest: «Darin unterscheiden sich die Amerikaner nicht bloß von den europäischen Völkern, sondern von allen handeltreibenden Nationen der Gegenwart.» Die Amerikaner, eine Nation von Schuldnern, kamen zu der Erkenntnis, dass die meisten Menschen, die in Schulden geraten, Opfer des Konjunkturzyklus sind und nicht das Schicksal, eine Strafe Gottes oder das Rad der Fortuna für ihre Lage verantwortlich ist. Die nationale Gesetzgebung für den Konkursfall machte, auch wenn sie kam und wieder ging, das Eingehen von Risiken weniger riskant für jedermann, was dazu führte, dass jedermann größere Risiken einging.[98]

Martin Van Ruin hatte 1840 keine großen Chancen auf eine Wiederwahl. Die Wähler gaben ihm und seiner Partei die Schuld für das von Jackson verursachte Elend. Die Whigs erklärten wenig überraschend, aber mit einem Schachzug, der zu einem typischen Merkmal amerikanischer Wahlkämpfe werden sollte, dass die Demokraten, die sogenannte Partei des Volkes, in Wirklichkeit das Volk im Stich gelassen hätten. Die Demokratische Partei, behaupteten die Whigs, sei zur Partei der Tyrannei und Korruption geworden, und die wahre Partei des Volkes seien sie selbst, die Whigs. «Die Whigs sind DIE Demokraten, wenn es denn eine Partei dieses Namens geben muss», betonte ein Whig.[99]

Als ihren Präsidentschaftskandidaten nominierten die Whigs den 68-jährigen William Henry Harrison, rühmten ihn als Kriegshelden und versuchten, ihn als Mann des Volkes nach Jacksons Art anzupreisen, ja sogar als Mann aus dem Grenzland, was die Wahrheit stark strapazierte. Harrison hatte zwar als Gouverneur des Indiana-Territoriums und als Senator von Ohio gedient, aber er stammte von bedeutenden Vorfahren ab: Sein Vater, ein Plantagenbesitzer in Virginia, hatte zu den Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung gehört. Harrisons für den Wahlkampf engagierter Biograf versuchte 1839 in The People’s Presidential Candidate den außerordentlich wohlhabenden Harrison als bescheidenen Farmer darzustellen, der «niemals reich gewesen» sei. Harrison strengte sich an und hielt in einem Hotel in Ohio die allererste Wahlkampfrede eines Kandidaten für das Präsidentenamt. Aber seine Wahlkampfhelfer drängten ihn, nicht zu viel zu sagen. «Lasst ihn sich ganz und gar auf die Vergangenheit stützen», rieten sie. «Lasst ihn kein einziges Wort über seine Grundsätze oder seinen Glauben sagen, lasst ihn nichts sagen, nichts versprechen.» Kritiker bezeichneten ihn als «General Mum» («General Stumm»). Demokraten verspotteten Harrison, indem sie andeuteten, so arm, wie er scheinbar sei, lebe er wohl in einer Blockhütte und trinke nur Apfelwein. Die Whigs nahmen das als politisches Geschenk. Sie bewarben Harrison als «Log Cabin Candidate», setzten im Wahlkampf auf Räder montierte und von Pferden gezogene Blockhütten als Werbemittel ein und verteilten auf ihren Reisen Krüge mit Apfelwein. Harrison wohnte natürlich in einem Herrenhaus, aber nach dem Blockhüttenwahlkampf von 1840 versäumten es nur noch wenige Bewerber um das Präsidentenamt, ob sie nun arm oder reich ins Rennen gingen, sich selbst als Kandidat aus der Blockhütte darzustellen.[100]

Weder die Whigs noch die Demokraten, die sich beide eifrig um das Mäntelchen der «Partei des Volkes» stritten, boten eine plausible Lösung für das Problem der Sklaverei an, ja sie befassten sich kaum damit. Dies führte zur Gründung neuer Parteien, einschließlich der 1839 ins Leben gerufenen evangelikalen Liberty Party. Diese Partei legte sich fest: «Wir müssen die Sklaverei abschaffen, und es ist so gewiss wie der tägliche Sonnenaufgang, dass wir in fünf oder sechs Jahren die Sklaverei in gestrecktem Galopp niederreiten werden, wenn sie sich nicht aufrafft und der Kavallerie der Freiheit von selbst Platz macht.» Das Angebot der Partei für evangelikale Whigs: «Wählt so, wie ihr betet.»[101]

Die religiöse Erweckungsbewegung, die Frauen in die moralischen Reformbestrebungen einbezogen hatte, brachte sie nun auch in die Politik. Zur Jackson-Demokratie gehörte in den 1820er und 1830er Jahren eine Vielzahl von Auseinandersetzungen. Als die Reformerin Fanny Wright 1836 an einem Konvent teilzunehmen versuchte, wurde sie «Mannweib» genannt. Doch während die Demokraten Frauen von ihren Kundgebungen ausschlossen, hießen die Whigs sie willkommen. In den 1840er Jahren «waren die Ladies Whigs», beobachtete ein Zeitgenosse.[102] Lange bevor Frauen das Wahlrecht erhielten, führten sie bei den Parteien – und an erster Stelle bei der Whig Party – einen politischen Stil ein, den sie zunächst als Abolitionistinnen und danach als Prohibitionistinnen perfektioniert hatten: den moralischen Kreuzzug, fromm und kompromisslos. Wahlen wurden damals etwas völlig Neues.

In den Jahren, in denen Demokraten gegen Whigs antraten, standen beide Parteien für einen Populismus nach Jacksons Vorbild (die endlosen Aufrufe, die sich an «das Volk» richteten) und den Geist der evangelikalen Reform (Wahlkampfkundgebungen entliehen ihren Stil und ihren Eifer bei den Erweckungsversammlungen). Walt Whitman klagte über «die nicht enden wollende Dreistigkeit gewählter Personen» und tadelte Politiker als Angehörige des Establishments, ganz gleich, wie sie bei den Menschen ankamen. Aber die Wirkung auf die Menschen war keineswegs bedeutungslos: Das Wesen der amerikanischen Demokratie hatte sich unbestreitbar verändert. Es waren jetzt nicht nur immer mehr Männer wahlberechtigt, immer mehr Männer übten dieses Recht auch aus: Die Wahlbeteiligung stieg von 27 Prozent im Jahr 1824 auf 58 Prozent im Jahr 1838 und schließlich auf 80 Prozent bei der Wahl von 1840.[103]

Harrison gelang ein Erdrutschwahlsieg, doch kurz nach seinem Erfolg starb er an einer Lungenentzündung. Sein Vizepräsident und Nachfolger John Tyler erhielt den Ehrentitel «Seine Zufälligkeit» («His Accidency»), aber die Blockhütte erwies sich, wie die weibliche Reformerin auch, als langlebig. Dasselbe galt für den Kampf um die Seele der Nation im Zeitalter der Maschinen.

Die Vereinigten Staaten seien «das Land der Zukunft», verkündete Ralph Waldo Emerson im Februar 1844 und schwärmte von «einem Land der Anfänge, der Projekte, der gewaltigen Entwürfe und Erwartungen». In jenem Frühjahr saß Samuel F. B. Morse an einem Tisch in den Räumlichkeiten des Supreme Court und tippte mit seinem neuen Telegrafengerät eine Nachricht, die über eine vom Kongress bezahlte Leitung zwischen Washington und Baltimore verschickt wurde. Seine erste, in einem nicht länger geheimen Code übertragene Mitteilung lautete: «What hath God wrought?«(«Was hat Gott getan?») Unterdessen erreichte eine von Boston ausgehende Eisenbahnlinie Emersons Heimatort Concord in Massachusetts. «Ich höre das Pfeifen der Lokomotive im Wald», schrieb Emerson in sein Tagebuch. «Es ist die Stimme der Zivilisation des 19. Jahrhunderts, die sagt: ‹Hier bin ich.›»[104]

Die Vereinigten Staaten waren als politisches Experiment gegründet worden; es wirkte ganz normal, dass sie durch andere Arten von Experimenten vorankommen und wachsen würden. Im Dezember jenes Jahres sollten bereits Telegrafenleitungen entlang der Strecken verlegt werden, die durch Eisenbahngleise gebahnt worden waren, durch Wälder und Wiesen, ja sogar durch Berge, und die Amerikaner begannen sich eine Zukunft vorzustellen, in der Eisenbahn und Telegraf den gesamten Kontinent erschließen würden. «Die größte Revolution der modernen Zeit – und tatsächlich aller Zeiten – bei der Verbesserung der Gesellschaft ist vom magnetischen Telegrafen bewirkt worden», verkündete die New York Sun und rief «die Beseitigung des Raumes» aus.[105] Auch die Zeit wurde jetzt aufgehoben: Nachrichten verbreiteten sich mit blitzartiger Geschwindigkeit. Der Penny-Presse-Drucker James Gordon Bennett vom New York Herald wies darauf hin, dass der Telegraf es scheinbar «der ganzen Nation» ermögliche, «den gleichen Gedanken zur gleichen Zeit» zu haben. Er werde dazu beitragen, die Staaten zu einer Nation zu machen. «Der Fortschritt des Zeitalters übersteigt fast die menschliche Auffassungsgabe», sagte Daniel Webster. «Die Zukunft kennt nur der Allwissende.»[106]

Der Fortschritt des Zeitalters – das rasche Wachstum der Bevölkerung, die unendliche Abfolge neuer Maschinen und die erstaunliche Menge von Waren – sorgte im Zusammenwirken für ein nicht nachlassendes und oft auch nervöses Fasziniertsein von der Zukunft: Was kommt als Nächstes? Vor allen anderen waren es die Nationalökonomen, die sich mit der Ausarbeitung eines Systems befassten, das ein Verständnis des Verhältnisses von Gegenwart und Zukunft ermöglichen sollte. In Paris traf ein Philosoph namens Karl Marx jetzt Vorhersagen zu den Konsequenzen des Kapitalismus. Er sah im Anwachsen der Warenproduktion eine Abnahme des Wertes der Lohnarbeit und eine sich vergrößernde Ungleichheit zwischen den Reichen und den Armen. «Der Arbeiter wird umso ärmer, je mehr Reichtum er produziert», schrieb Marx 1844. «Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu.»[107] Auch amerikanische Denker sannen über dieses Problem nach: die Herrschaft der Sachen. Emerson schrieb:

’Tis the day of the chattel,
Web to weave, and corn to grind;
Things are in the saddle,
and ride mankind.[108]

(Es ist der Tag des Eigentums,
Es gilt Stoff zu weben und Mais zu mahlen;
Die Dinge sitzen im Sattel
Und reiten die Menschheit.)

In den Vereinigten Staaten leistete die politische Debatte über die Menschenwelt und die Sachenwelt einen Beitrag zur qualvollen Debatte über die Sklaverei: Können Menschen Sachen sein? Die ungeheure geografische Ausdehnung der Vereinigten Staaten sorgte unterdessen dafür, dass die Ängste vor dem Räderwerk des industriellen Kapitalismus nicht die Form des Marxismus annahmen mit der Grundaussage, dass «die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte von Klassenkämpfen» sei, sondern zu einer Romanze mit der Natur, mit dem Land und mit allem, was für eine rustikal-einfache Lebensweise stand, umgearbeitet wurden. Als Gegenbild zur Fabrik stellten sich die Amerikaner kein sozialistisches Utopia vor, sondern die Blockhütte. «Es ist mir nicht widerfahren, in einer Blockhütte zur Welt zu kommen», seufzte Webster, ein dreimaliger Bewerber um das Präsidentenamt, und verzweifelte dabei an seinem biografischen Manko im Zeitalter der Blockhüttenpräsidentschaft.[109] Aber die berühmteste Blockhütte im Amerika des 19. Jahrhunderts war das 1844 von Emersons 27-jährigem Freund Henry David Thoreau errichtete Exemplar.

In dem Jahr, in dem die Eisenbahn nach Concord kam, baute Thoreau eine Blockhütte auf einem Stück Land, das Emerson am Walden Pond besaß, einem knapp zwei Kilometer außerhalb des Städtchens gelegenen Toteissee. Wo ein Waldmurmeltier seinen Bau hatte, hob er einen Keller aus. Er lieh sich eine Axt und hieb sich das Rahmenholz aus Weißtannen zurecht. «Wir rühmen uns, dem neunzehnten Jahrhundert anzugehören und von allen Völkern am schnellsten vorwärtszugehen», schrieb Thoreau in der drei mal viereinhalb Meter großen Hütte, die er über dem Keller errichtete, für Gesamtkosten in Höhe von 28,12 Dollar. Für die Außenverkleidung benutzte er Bretter einer alten Hütte. Er rührte seinen eigenen Mörtel an, aus Kalk (2,40 Dollar – «das war teuer») und Pferdehaar (0,31 Dollar – «mehr, als ich brauchte»). Seinen Neubau bezog er passenderweise am 4. Juli. Der Kamin, den er noch vor dem Winter aus alten Backsteinen errichtete, stand für echten Fortschritt, was man nach Ansicht des Baumeisters aber vom «schnellen Voranschreiten» und den «gewaltigen Plänen» des Landes nicht sagen konnte. Er empfand die größten Zweifel an dem, was die Maschinen mit der amerikanischen Seele, dem amerikanischen Volk und dem Land selbst anstellten. Der Telegraf? «In größter Hast konstruieren wir einen magnetischen Telegrafen zwischen Maine und Texas, aber Maine und Texas haben möglicherweise gar nichts Wichtiges miteinander zu besprechen.» Das Postwesen? «In meinem Leben erhielt ich nicht mehr als einen oder zwei Briefe, die ihr Porto wert waren.» Das vielgerühmte Netzwerk von Zeitungen im Land? «Wir sind ein verkrüppeltes Geschlecht von Zwergen, und unser geistiger Gedankenflug reicht nicht viel höher als die Spalten der Tageszeitung.» Banken und Eisenbahnen? «Die Menschen haben eine dunkle Ahnung davon, dass, wenn sie mit solchem Eifer mittels Aktiengesellschaften und Spaten lang genug fortarbeiten, schließlich jedermann in geringster Zeit und umsonst irgendwohin fährt; obgleich sich aber die Menge am Billetschalter drängt und der Schaffner ‹fertig›! ruft, wird sich, wenn Rauch und Dampf verweht sind, zeigen, dass nur wenige fahren, die übrigen aber überfahren wurden.»[110]

Anstelle eines Marx hatte Amerika Thoreau. Thoreaus Experiment war kein Geschäft; es war ein Antigeschäft. Er achtete darauf, was die Dinge kosteten, weil er bemüht war, niemals etwas zu kaufen. Stattdessen betrieb er Tauschhandel und lebte von 27 Cents pro Woche. Seine größte unternehmerische Leistung war, dass er ein Bohnenfeld anlegte und damit einen Gewinn von 8,71 Dollar machte. «Ich war entschlossen, Bohnen kennenzulernen», schrieb er in einem besonders schönen und elegischen Kapitel unter der Überschrift «Das Bohnenfeld». Nur sechs Wochen im Jahr ging er einer bezahlten Erwerbsarbeit nach und verbrachte den Rest seiner Zeit mit Lesen und Schreiben, dem Bohnenanbau und dem Pflücken von Heidelbeeren. «Mr. Thoreau befindet sich also im Kriegszustand mit der Nationalökonomie seiner Zeit», monierte ein Kritiker. Thoreau hatte sich dafür entschieden, nicht von der Maschine geritten zu werden, «nicht in diesem rastlosen, nervösen, geschäftigen, läppischen neunzehnten Jahrhundert zu leben, sondern, meinen Gedanken überlassen, abseits zu stehen oder zu sitzen, während es vorüberzieht».[111]

Eine drängende Frage weckte ihn jeden Morgen, so regelmäßig wie das Pfeifen der Zuglokomotive, die an seiner Hütte vorbeiratterte, auf Schienen, die auf dem Hügel oberhalb von Walden Pond verlegt worden waren, dem Ort, von dem er sich Seelenfrieden erhofft hatte. Lohnten sich all diese gewaltigen Pläne und dieses schnelle Vorwärtsgehen? Thoreau war nicht dieser Ansicht. Er gelangte zu dieser Wahrheit: «Unsere Erfindungen sind nur verbesserte Mittel zu einem unverbesserten Zweck.»[112] Und nach wie vor ratterten Züge über Gleise, und die Fabriken brummten, und die Banken öffneten und schlossen wieder, und die Druckerpressen druckten Zeitungen, und die Telegrafendrähte zogen sich durchs ganze Land, mit einem großen, niemals endenden Surren.