Ein Kind als Spielkarte: Der beste Schüler und der bravste Sohn

Einer Erzählung von Erich Kästners Kindheit und Jugend steht ein großes Hindernis entgegen: Er hat sie selbst in Als ich ein kleiner Junge war (1957) beschrieben, in einem seiner lebendigsten Bücher, das er »ein bißchen für mich selber« (AN) verfasst haben will. Die soziale Welt seiner Kindheit ist durch die zeitliche Distanz für einen noch größeren Leserkreis von Interesse als damals: »Ich wollte erzählen, wie ein kleiner Junge vor einem halben Jahrhundert gelebt hat.« (VII: 149) Die bisherigen Biographen mussten sich zum größten Teil damit begnügen, zu erzählen, was Erich Kästner erzählt hat — nicht nur seine subjektiven Erinnerungen, sondern auch deren eingeschränkte Auswahl und die Wertungen, die er als knapp Sechzigjähriger vorgenommen hat. Das hat aber über weite Strecken auch sein Gutes: So detailliert wie Kästner selbst konnte niemand über seine frühen Jahre erzählen, und das soll deshalb hier nur gelegentlich geschehen; eher soll seine Auswahl akzentuiert und kommentiert werden.

Über die Herkunft seiner Eltern wusste er ziemlich genau Bescheid, weil er zusammen mit ihnen in der Mitte der dreißiger Jahre den zeitüblichen ›Ariernachweis‹ führen musste. Er recherchierte also in sächsischen Kirchenbüchern nach den Vorfahren Emil Kästners und fand deren Namen sowie die Daten von Geburt, Tod und Hochzeiten. »Meines Vaters Vater, Christian Gottlieb Kästner, lebte als Tischlermeister in Penig, einer sächsischen Kleinstadt an einem Flüßchen, das die Mulde heißt, und hatte mit seiner Frau Laura, einer geborenen Eidam, elf Kinder, von denen fünf starben, ehe sie laufen gelernt hatten. Zwei seiner Söhne wurden, wie der Vater, Tischler. Ein anderer, mein Onkel Karl, wurde Hufschmied. Und Emil Kästner, mein Vater, erlernte das Sattler- und Tapeziererhandwerk.« (VII: 16) Unter seinen Vorfahren finden sich auch Bauern und ein Gärtner; Emil Kästner wurde am 5. März 1867 in Penig geboren. Kästner schrieb ihm und seinen Vorfahren die »handwerkliche Sorgfalt« zu, »mit der ich meinem Beruf nachgehe«; außerdem seine »echte und unbelehrbare Abneigung vorm Reisen«. (VII: 16)

Die Quellenlage zur Herkunft seiner Mutter war sehr viel besser. Kästner konnte auf eine Chronik von Emil Reinhold aus Großweitzschen zurückgreifen: Geschichte der Familie Augustin und vom Obergasthof »Goldne Sonne«. 15681927 (1927). Der Gasthof lag zur Reformationszeit am oberen Tor von Döbeln, im Unterschied zum Niedergasthof. Kästner hatte das Buch aus dem Besitz seines Onkels Franz Augustin, der in seinem Werk und Leben eine größere Rolle spielen wird. In dieser Chronik werden Anekdoten über die aus Meißen nach Döbeln eingewanderten Augustin-Bäckermeister im 16. und 17. Jahrhundert mitgeteilt, die zu kleine Brötchen buken und vom Stadtkämmerer mit einer Geldstrafe belegt wurden. Später verstießen sie gegen so komplizierte Regelungen wie das Verbot, Semmeln oder Butterwaren herzustellen, wenn sie Fastenbrezeln buken. Wer keine Fastenbrezeln verkaufte, durfte zwar Semmeln, aber weder Kuchen noch Zwieback, weder Butterwaren noch Mohnsemmeln backen.1 »Ja, die Augustins waren ein verwegenes Geschlecht!« (VII: 19) Die 1568 begonnene Kette der Bäckermeister und Bierbrauer wurde von Erich Kästners Urgroßvater Johann Carl Friedrich Augustin unterbrochen. Er zahlte seit 1843 keine Innungsbeiträge mehr, 1847 wurde er aus der Innung gestrichen, weil sich der Bäckermeister in einen Fuhrwerksbesitzer verwandelt hatte.2 Seitdem »haben die Vorfahren meiner Mutter mit Pferden zu tun«. (VII: 20)

Carl Friedrich Louis, Kästners Großvater, war Schmied und Pferdehändler in Kleinpelsen. Er heiratete 1840 Amalie Rosalie Berthold, ein Jahr nach ihrem Tod 1876 wurde Christiane Emilie Lauenstein seine zweite Frau. Mit beiden hatte er elf Kinder, sieben Jungen und vier Mädchen. Kästners Mutter Ida Amalie Augustin wurde am 9. April 1871 in Kleinpelsen geboren. Sie wird eine erdrückende Mutter werden — vielleicht auch, weil sie als Fünfjährige die eigene Mutter verloren hatte. Kästner spielt diese einschneidende Erfahrung herunter, wenn er schreibt, ihre Stiefmutter sei »eine gütige noble Frau« gewesen. (VII: 25) Er verschweigt die Namen seiner Großmutter wie seiner Stiefgroßmutter, der gütigen, obwohl er sie »noch gekannt« hat (VII: 25); ebenso wie er das Alter seiner Mutter zum Zeitpunkt des Verlustes verschweigt.

Dagegen hat Kästner ausführlich Idas Kindheit und Lebenslauf idyllisiert: Sie sei auf einem Bilderbuchbauernhof aufgewachsen und habe sich in der Dorfschule von Börtewitz gelangweilt. Für die vorgeschriebenen acht Jahre Schule gab es nur zwei Klassen bei ein und demselben Lehrer, und da »war außer Lesen, Schreiben und Rechnen nichts zu holen«. (VII: 21) Ihre Zeugnisse haben sich erhalten; mit dem Abschluss Ostern 1885 stand sie auf Platz 4, mit einer Notenreihe wie später bei ihrem Sohn, eine Eins neben der anderen. Die Reihen davor sehen allerdings anders aus, sie begann mit Platz 26 und arbeitete sich langsam hinauf. Für das zweite Halbjahr 1883 sind 57 Fehltage eingetragen, »Versäumnisse wegen Krankheit in der Familie«. Unter den benoteten Fächern finden sich neben bürgerlichen Sekundärtugenden wie »Sittliches Verhalten«, »Fleiss« und »Ordnungsliebe« auch Fächer wie »Denken u. Urtheil« und »Gedankenausdruck«.

Anstatt brav in diese Schule zu gehen, handelten drei der Augustin-Brüder schon als Kinder mit Tieren, allerdings vorerst nur mit Kaninchen. Daraus entstand so etwas wie eine familiäre Grundkonstellation, die das Verhalten Ida Augustins charakterisiert. Als ihr Vater hinter den Handel kam, verprügelte er seine Söhne, erfuhr aber nichts weiter von ihnen. Da »knöpfte er sich die kleine Ida vor. Sie erzählte ihm, was sie wußte. Und sie wußte allerlei. Dem Robert, dem Franz und dem Paul gefiel das ganz und gar nicht. Deshalb unterhielten sie sich anschließend in aller Stille mit der Schwester, und sie hatte nach dieser Unterhaltung noch sehr lange blaue Flecke.« (VII: 23) Kästner billigte ihr einen moralischen Konflikt zu und mochte niemandem recht geben. Ihr Vater habe die Wahrheit wissen wollen, und sie hätte in der Schule und zu Hause gelernt, die Wahrheit müsse man sagen. Die Brüder dagegen waren der Ansicht, ihre Schwester habe »geklatscht«, sie sei »kein guter Kamerad und keine ordentliche Schwester. Und sie solle sich schämen.« (VII: 23f.) Ihr Leben lang habe sie darunter gelitten, dass sie die Wahrheit gesagt habe, und ihr Bruder Franz, »längst der steinreiche Pferdehändler Augustin samt Villa, Auto und Chauffeur« (VII: 25), konnte sie immer wieder damit aufziehen, sie sei jedes Mal wieder rot vor Ärger geworden. Sie hatte starre, abstrakte Moralbegriffe internalisiert, bei denen sie ihr Leben lang blieb, ganz anders als ihre flexiblen Brüder; und sie hat diese doch sehr allgemeinen Begriffe, mit denen sich im sozialen Leben wenig ausrichten lässt, ihrem Sohn zum eigenwilligen Gebrauch weitergereicht.

Die Gebrüder Augustin lernten das Fleischerhandwerk, bei dem aber nur Kästners »Lieblingsonkel« Hugo blieb, »nach mehreren verlustreichen Ausflügen ins Land der Pferde«. (VII: 28) Die drei Kaninchenhändler hatten mehr Glück, sie betrieben neben der Fleischerei immer größere Pferdeställe, bis sie auch auf den großen europäischen Pferdemärkten mitmischten. Ida Augustin wurde Dienstmädchen wie ihre älteren Schwestern, zunächst kurze Zeit auf einem Rittergut. Kästner schreibt, sie sei nachts nach Hause gerannt, als der Rittergutsbesitzer »zärtlich werden« wollte (VII: 30) — wieder eine Formulierung, die der Gattung Kinderbuch geschuldet sein mag und viel Raum zur Spekulation offenlässt. Vor die Wahl gestellt, ein alterndes Dienstmädchen zu werden oder zu heiraten, ließ sie sich von ihren älteren Schwestern einen Bräutigam aussuchen. Der Kandidat »war vierundzwanzig Jahre alt, arbeitete bei einem Döbelner Sattlermeister, wohnte in der Nachbarschaft zur Untermiete, war fleißig und tüchtig, trank nicht über den Durst, sparte jeden Groschen, weil er sich selbständig machen wollte, stammte aus Penig an der Mulde, suchte eine Werkstatt, einen Laden und eine junge Frau und hieß Emil Kästner«. (VII: 32) Sie liebte ihn zwar nicht, heiratete ihn aber mangels besserer Möglichkeiten; am 31. Juli 1892 fand die Trauung in der Dorfkirche von Börtewitz statt.

Die Ehe blieb nicht nur jahrelang kinderlos, sondern auch wirtschaftlich glücklos. Die in Döbeln gegründete Sattlerei musste das Paar nach nur drei Jahren mit Verlust verkaufen; Kästner schreibt, sein Vater sei ein »Lederkünstler« gewesen, »aber ein schlechter Geschäftsmann«. (VII: 34) Seine Portemonnaies, Hundeleinen, Schulranzen, Zaumzeuge und Sättel waren unverwüstlich und deshalb etwas teurer als anderswo. Wer »Schulranzen macht, die nie kaputtgehen, verdient zwar höchstes Lob, aber es ist für ihn und seine Zunft ein schlechtes Geschäft«. (VII: 35) Die Rivalität der Eltern führte Kästner parteiisch in seinem Erinnerungsbuch fort. Er berichtete nach einer Erzählung seiner Mutter, sein Vater habe einmal einen besonders schönen Sattel einem Husarenrittmeister nicht verkaufen wollen: »Er gefiel ihm selber zu gut! Dabei konnte er nicht reiten und hatte kein Pferd, — ihm war nur eben zumute wie einem Maler, der sein bestes Bild verkaufen soll und lieber hungert, als es fremden Menschen für Geld auszuliefern!« (VII: 35) Emil Kästner soll zu der Geschichte gesagt haben, an ihr sei kein wahres Wort. »Aber ich möchte trotzdem wetten, daß die Geschichte stimmt«, lautet das Fazit Erich Kästners, einmal mehr auf Seiten Ida Kästners. Seine Notizen »zur Vorordnung« des Buches Als ich ein kleiner Junge war, datiert auf »St. Moritz, Jahresende 1955«, unterscheiden sich an einigen Stellen deutlich von der Ausarbeitung. Generell wird das Bild der Mutter im fertigen Buch gegenüber den Stichworten geschönt, Emil Kästner wird etwas reduziert dargestellt; so auch hier. Das Kaiserreich war ein autoritärer Staat mit ausgeprägten Klassengrenzen: Der elterliche Konkurs lag auch an den Kavallerieoffizieren — Husaren und Ulanen —, die »auch manchmal nicht« (AN) zahlten und deren Schulden, so muss man wohl ergänzen, kaum einzutreiben waren.

Auf Anregung eines Onkels von Emil Kästner zog das Paar 1895 nach Dresden, in die Königsbrücker Straße. Der Ehemann arbeitete zuerst in der Kofferfabrik Lippold, während des Kriegs im Dresdner Arsenal, den Militärwerkstätten, später in verschiedenen Dresdner Fabriken, zuletzt, vor seiner Pensionierung, als Heimarbeiter. Nebenher reparierte er Bekannten ihre Lederwaren, selbstständig war er nie mehr, und er entwickelte wohl auch keinen entsprechenden Ehrgeiz. Ganz anders seine Frau. In Kästners Notizen heißt es: »Viel lebhafter, sehnsüchtiger, ehrgeiziger, wollte Aufstieg. Wollte ihn dann, kurz entschlossen, für mich. Investierte auch ihre Gemütskräfte restlos in den Sohn. Für andre, auch für Papa, blieb nichts übrig. Nur Strenge, Egoismus (für mich), Sparsamkeit.« (AN) Sie versuchte, den Aufstieg zu erzwingen. In Heimarbeit nähte sie an der Maschine schlecht bezahlte Leibbinden für dicke Damen, dann Babywäsche für den Eigenbedarf: Am 23. Februar 1899 wurde Erich Kästner nach sieben Jahren Ehe in der Königsbrücker Straße 66 geboren. Jahre nach Kästners Tod wurde das Gerücht veröffentlicht, der leibliche Vater sei nicht Emil Kästner gewesen, sondern der Hausarzt der Familie, Dr. Zimmermann; davon wird in einem späteren Kapitel die Rede sein.

Kästner hat die wirtschaftliche Konsolidierung der Eltern an ihren Umzügen innerhalb der Königsbrücker Straße in Dresden-Antonstadt festgemacht: »In diesem Viertel lagen die drei Häuser meiner Kindheit. Mit den Hausnummern 66, 48 und 38. Geboren wurde ich in einer vierten Etage. In der 48 wohnten wir im dritten und in der 38 im zweiten Stock. Wir zogen tiefer, weil es mit uns bergauf ging.« (VII: 46) Die Familie rückte dem Albertplatz näher, wo die wohlhabenden Bürger lebten; auch Franz Augustin. Zu den ganz Armen haben Kästners nie gehört. Alle drei Wohnungen gehörten zu den besseren der Häuser, weil sie nach vorne hinaus, zur Straße hin gingen. Das Geburtshaus Kästners war damals neu, die Fassade dürfte etwa wie heute ausgesehen haben, wo sie frisch renoviert ist. Jeder Umzug bedeutete eine Verbesserung, sowohl der sanitären Ausstattung als auch der Wohnungsgröße. Das Geld war knapp, weil die Mieten sehr hoch waren; dennoch blieben Kästners nicht in der jeweils billigeren Wohnung und gaben stattdessen, zum Beispiel, mehr Geld für ihr Essen aus — der äußere Eindruck war ihnen wohl wichtiger. Im Mai 1920 mussten die Eltern für einen Stipendiumsantrag ihre Vermögensverhältnisse offenlegen, sie ließen sich die Summen von ihrem Untermieter Schurig und dem Bäckermeister Hermann Ziesche beglaubigen. Demnach hatten sie mitten in der Hyper-Inflation nach dem Ersten Weltkrieg 5000 Mark gespart und verdienten im Jahr zusammen 6000 Mark, Geld, das bis zum Höhepunkt der Inflation 1923 immer weniger wert war.

Kästner hat immer ein Hohes Lied auf die Schönheit Dresdens gesungen, »eine wunderbare Stadt« sei das gewesen, »Kunst und Natur schwebten über Stadt und Tal«. (VII: 38) Er habe Schönheit nicht erst aus Büchern lernen müssen, sondern durfte sie »einatmen wie Försterkinder die Waldluft«. (VII: 39) Eine verbale Beschreibung der »stillen Musik« Dresdner historischer Bauten hielt er für unmöglich und bat daher »den Herrn Illustrator«, doch »eine Reihe Zeichnungen« zu machen. (VII: 39) Kästner steht mit seinem Enthusiasmus über die Silhouette seiner Geburtsstadt in einer Reihe von Poeten von Herder bis Thomas Rosenlöcher. Von Herder stammt die Bezeichnung »Elbflorenz«, und in Reiseführern lässt sich nachlesen, dass hier zwar nicht das Pulver erfunden wurde, aber doch so schöne und unverzichtbare Dinge wie Teebeutel, Bierdeckel, Dominostein und Gartenstadt. Nur Heinrich von Kleist zeigte sich nicht ganz so überzeugt von der Stadt im Bergkessel, die er aber immerhin »reizend« fand: »Der Kessel ist fast zu weit. Unzählige Mengen von Häusern liegen so weit man sieht umher, wie vom Himmel herabgestreut. Die Stadt selbst sieht aus, als wenn sie von den Bergen herab zusammengekollert wäre. Wäre das Tal enger, so würde dies alles mehr konzentriert sein.«3

Die wilhelminische Königsbrücker Straße war das Kasernenviertel, in dem nicht nur die Regimenter von Grenadieren, Infanteristen, Schützen, Jägern und Gardereitern lebten. Die zivilen Mietshäuser sahen nicht viel anders aus, und die rechte Auflockerung boten Kommissbrotbäckerei, Gefängnis und Exerzierplatz auch nicht. Einige der Kasernen stehen heute noch. Die ersten körpernahen Erinnerungsbilder aus Kästners Kindheit nach all den von ihm selbst kühl rekonstruierten Jahren vor seiner Geburt stammen aus der Königsbrücker Straße 48. ›Gedächtnis‹ war für ihn nur ein individuellen Schwankungen unterworfener Speicher im Kopf. ›Erinnerung‹ schien ihm geheimnisvoller, weil sie nicht dem Willen unterworfen scheint und von jedem Körperteil wachgerufen werden kann: »Wenn ich, in diesem Augenblick, in München und als, wie man so sagt, älterer Herr, die Augen schließe, spüre ich die Treppenstufen unter meinen Füßen und die Treppenkante, auf der ich hockte, am Hosenboden, obwohl es, mehr als fünfzig Jahre später, wahrhaftig ein ganz andrer Hosenboden ist als der von damals. Wenn ich mir die vollgepackte Einkaufstasche aus braunem Leder vorstelle, die ich treppauf trug, zieht es zunächst in meinem linken Arm und dann erst im rechten. Denn bis zur zweiten Etage hielt ich die Tasche mit der linken Hand, um an der Wand nicht anzustoßen. Dann nahm ich die Tasche in die rechte Hand und hielt mich mit der linken am Geländer fest. Und schließlich seufze ich, genau wie damals, erleichtert auf, als ich die Tasche vor der Wohnungstür niedersetzte und auf den Klingelknopf drückte.« (VII: 49)

Im dem Gedicht Kurzgefasster Lebenslauf schrieb Kästner über seine Schulzeit: »Ich war ein patentierter Musterknabe. / ​Wie kam das bloß? Es tut mir jetzt noch leid.« (I: 136) Er war ein vielfältiger Musterknabe: Mit sechs, ein Jahr früher als üblich, wurde er in den Turnverein Neu- und Antonstadt aufgenommen, er war ein »begeisterter«, ein »ziemlich guter« Turner und »glänzte beim Schauturnen«. (VII: 63) Seinen Turnlehrer Paul Zacharias, einen seiner Lieblingslehrer, traf er im Fletcherschen Lehrerseminar wieder. Eine lose Verbindung hielt sich über die Zonengrenze hinweg bis zu Zacharias’ Tod 1961. Ein Musterknabe war er als Sohn seiner Mutter, als Zimmerkellner und Schüler der Lehrer, die zur Untermiete in der elterlichen Wohnung lebten, und natürlich als Einserschüler an der IV. Bürgerschule in der Tieckstraße. Alle Schulen hätten ausgesehen »wie Kinderkasernen«, und auch diese sei ein »vornehm düsteres Gebäude« gewesen.4 Nach einer Woche sei es Kästner gelungen, die mütterliche Begleitung bis zur Schule zu verhindern: »Man war doch, mit seinen sieben Jahren, kein kleines Kind mehr!« (VII: 67) Er fand die Schule so langweilig, dass er sich während des Unterrichts die Wimpern auszupfte, sie »in Reih u Glied auf die Schulbank« legte und »mit Gerstenkörnern reich gesegnet« war.5 Trotz der Langeweile ließ er sich nicht vom Schulbesuch abhalten — nicht einmal, als er sich bei einem Sturz auf der Haustreppe die Zungenränder durchgebissen hatte und nicht sprechen und kaum schlucken konnte. Nach zwei Jahren bei dem eher gemütlichen Lehrer Bremser und zwei Jahren bei den Herren Neumann und Leupolt, über die er sich ebenso wenig geäußert hat wie über seinen Präparandenlehrer Dr. Scheinert (1912/13), kam er für drei Jahre, von Michaelis 1909 bis Ostern 1912, unter die Fuchtel des gefürchteten Lehrers Paul Lehmann. Man habe bei ihm zwar in einem Jahr mehr gelernt als bei anderen in zweien, aber Lehmann war »auf tägliche Zornesausbrüche fest abonniert«. »Er gab uns Ohrfeigen, daß die Backen anschwollen. Er nahm den Rohrstock, ließ uns die Hand ausstrecken und hieb uns fünfmal oder zehnmal über die geöffnete Handfläche, bis sie brandrot anlief, wie Hefeteig schwoll und niederträchtig schmerzte. Dann kam, da der Mensch auch als Kind schon zwei Hände hat, die andre Hand an die Reihe. Wer die Hände vor Schreck schloß, dem schlug er auf die Faust oder auf die Finger. Er befahl einem halben Dutzend von uns, sich nebeneinander über die vorderste Bankreihe zu legen, und vermöbelte sechs strammgezogene Hosenböden in gerechtem Wechsel und rascher Folge, bis ein sechsstimmig schauerlicher Knabenchor die Luft erschütterte und wir übrigen uns die Ohren zuhielten.« (VII: 127) Er arbeitete Rohrstöcke bündelweise auf, und das nicht aus Sadismus, sondern »aus Verzweiflung. Er verstand nicht, daß wir nicht verstanden, was er verstand. Er begriff nicht, daß wir ihn nicht begriffen. Darüber geriet er außer sich. Darüber verlor er den Kopf und die Nerven und schlug wie ein Tobsüchtiger um sich. Es war zuweilen wie im Irrenhaus.« (VII: 128) Trotz protestierender Eltern, Schadensersatzforderungen und ärztlicher Atteste blieb Lehmann Lehrer. Dabei fehlte ihm »die wichtigste Tugend des Erziehers, die Geduld«. (VII: 128) Er habe das Klassenzimmer zum Raubtierkäfig gemacht, aber dem Musterschüler gelang die Zähmung des Dompteurs. Kästner und zwei Mitschüler hatten die Aufnahmeprüfung für die Vorbereitungsklasse zur Lehrerausbildung »mit Glanz und Ehre« (VII: 129) bestanden und wurden seither verschont. Als weitere Auszeichnung durfte der Schüler mit seinem Lehrer einen Sonntag in der Sächsischen Schweiz eine halsbrecherische Klettertour unternehmen. Dort lernte er die angenehmeren Seiten des »zwiefachen Herrn Lehmann« kennen. Er »verstand den Steinen zuzuhören«, »begriff die Dialekte der Vögel« und »kannte die Gräser beim Vornamen« (VII: 131); er scheint auch etwas politischer als die übrigen Lehrer gedacht zu haben, erzählte seinem Schüler von der »unheilvollen und unheilbaren Rivalität zwischen Preußen und Österreich« und meinte am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Europa begehe immer wieder »Selbstmordversuche«. »Die Besseres wüßten, schimpfe man Besserwisser. Und so werde Europas krankhafter Plan, sich selber umzubringen, eines Tages endlich glücken.« (VII: 132) Auf dieser Wanderung soll Lehmann auch sein verfehltes Leben gestanden haben: »›Ich wäre ein ganz brauchbarer Hofmeister geworden‹, meinte er, ›ein Hauslehrer und Reisemarschall für drei, vier Kinder. Das brächte ich zuwege. Doch dreißig Schüler, das sind für mich fünfundzwanzig zuviel.‹« (VII: 132) Als Kästner dieses Porträt seines Lehrers veröffentlichte, wusste er nicht, dass Lehmann noch lebte. Er erhielt einige Zuschriften, die dem negativen Teil seiner Charakterisierung zustimmten, aber auch Proteste gegen die Verzeichnung des Lehrers; in der Tat dürfte die Beschreibung der Prügelorgie in ihrer Konzentriertheit stilisiert sein. Kästner ließ sich hier wohl nicht nur von seiner Schulzeit, sondern auch von William Saroyans Ich heiße Aram anregen, das ihm viel bedeutete.6 Lehmann selbst hat Als ich ein kleiner Junge war wohl gelesen, aber Kästner keinen Kommentar dazu geschrieben. Das Porträt schließt ja versöhnlich, und Kästner war der Ansicht, dass er Lehmann »trotz allem so sehr viel verdanke«.7

Erich Kästner war sich sehr klar darüber, wie es kam, dass er zum Musterknaben wurde. Trotz aller guten Erinnerungen war seine Kindheit ein Alptraum, und das nicht aus materiellen Gründen: »Ida Kästner wollte die vollkommene Mutter ihres Jungen werden. Und weil sie das werden wollte, nahm sie auf niemanden Rücksicht, auch auf sich selber nicht, und wurde die vollkommene Mutter. All ihre Liebe und Phantasie, ihren ganzen Fleiß, jede Minute und jeden Gedanken, ihre gesamte Existenz setzte sie, fanatisch wie ein besessener Spieler, auf eine einzige Karte, auf mich. Ihr Einsatz hieß: Ihr Leben, mit Haut und Haar! Die Spielkarte war ich. Deshalb mußte ich gewinnen. Deshalb durfte ich sie nicht enttäuschen. Deshalb wurde ich der beste Schüler und der bravste Sohn. Ich hätte es nicht ertragen, wenn sie ihr großes Spiel verloren hätte.« (VII: 102) In der Tat unterstützte Ida Kästner ihren Sohn enorm und entwickelte ein Engagement, das kaum in das weibliche Rollenklischee des Kaiserreichs passt. Sie ließ sich zur Friseuse ausbilden: »Als sie meine Talente merkte, lernte sie, Ende 30, bei Schuberts Frisieren, Kopfwäsche, Ondulieren, Schwedische Gesichtsmassage. Porzellanschild neben der Haustür. Visitenkarten für Kundschaft (ich hab noch eine Karte!). Ging im Abonnement frisieren, morgens 6 Uhr.« (AN) Sie wollte ihrem Sohn die einzig erreichbare Aufstiegsmöglichkeit verschaffen, den Besuch eines Lehrerseminars; und Emil Kästner verdiente zu wenig. Zu einem eigenen Laden reichte das Geld nicht, sie richtete »das linke Vorderviertel des Schlafzimmers« (VII: 84) als Frisierecke ein. Kästner hatte denn auch einige ›Erlebnisse eines Frisiersalons‹ zu erzählen, denn dank der Geschäftsfrauen der Umgebung florierte das Unternehmen: Er schleppte das warme Wasser eimerweise aus der Küche ins Schlafzimmer, kochte das Mittagessen, begleitete seine Mutter zu auswärtigen Kundinnen. Kästner hat diese Arbeit seiner Mutter im ersten Kapitel von Emil und die Detektive beschrieben.

Viel Geld bedeuteten Hochzeiten. »Da galt es, in der Wohnung der Brauteltern zehn, zwölf, wenn nicht gar fünfzehn weibliche Wesen herzurichten.« (VII: 87) An zwei Hochzeiten erinnerte sich Kästner besonders gut. Die eine fand in einem strengen Winter »hinter Wachwitz oder Niederpoyritz« (AN) statt, »weit draußen im Elbtal«. (VII: 93) Die nach stundenlanger Arbeit völlig erschöpfte Mutter und ihr Sohn verpassten die Straßenbahn und mussten in der Kälte 20 Minuten auf den nächsten Zug warten, der ungeheizt war. Ida Kästner war nach dieser Strapaze zwei Monate krank, in den Vornotizen erinnert sich Erich Kästner, sie sei überhaupt »oft krank« gewesen. Er musste sich dann »aus der Volksküche ›Volkswohl‹« (AN) verpflegen oder selber kochen, sein Vater fiel aus — die Fabrik lag weitab in Johannstadt, es gab damals noch keine Achtstundentage, und abends und nachts saß er im Keller, um bezahlte Lederarbeiten für Bekannte auszuführen.

Dann erzählt Kästner noch von einer »fingierte[n] Hochzeit«. (AN) Ein älteres Fräulein bestellte Frau Kästner in die Oppelstraße, um zehn Frauen zu frisieren, und als die Friseuse mit ihrem Sohn kam, war niemand da: »Hier wohne kein Fräulein Strempel, und niemand denke daran, mittags in der St.-Pauli-Kirche zu heiraten!« (VII: 89) Sie waren angeführt worden. Kästner sah das Fräulein ein paar Wochen später auf dem Heimweg von der Schule wieder und verfolgte sie. Den Musterknaben als Detektiv hat Kästner in Emil und die Detektive verarbeitet, und er selbst war ähnlich erfolgreich wie seine Figur. Das Fräulein erkannte ihn nicht, es fiel ihm daher leicht, ihr quer durch die ganze Stadt bis zum Altmarkt zu folgen, wo sie »hinter den gläsernen Flügeltüren von Schlesinger & Co., feinste Damenkonfektion« (VII: 90), verschwand (in seinen Notizen bei Messow & Waldschmidt). Sie arbeitete dort unter anderem Namen als Verkäuferin, und der Junge erzählte seine Geschichte flugs dem Geschäftsführer. Der entließ sie nicht, zwang sie aber, mit dem Schüler mitzugehen und mit Frau Kästner die Modalitäten auszuhandeln, nach denen sie der den entgangenen Gewinn abzahlen musste. »Sie verzog keine Miene. Der Schaden ließ sich verschmerzen. Und trotzdem war es eine Katastrophe. Wir erfuhren es mit der Zeit. Die Gläubiger kamen von allen Seiten. Das Hotel, die Weinhandlung, der Fuhrhalter mit der Hochzeitskutsche, der Blumenladen, ein Wäschegeschäft, alle fühlten sich geschädigt, und alle wollten einen Teil des Schadens ratenweise ersetzt haben. Und Fräulein Nitzsche zahlte ihn ab. Monatelang.« (VII: 92f.) Die Witzfigur der alternden Mamsell war ein Beispiel dafür, was damals Frauen passieren konnte, die vielleicht in ihrer Jugend ein Verhältnis hatten, aber dann doch nicht heirateten — kein Mann wollte sie mehr haben, die Traumhochzeit fiel aus, und dieses Fräulein hatte sich ihren Traum durch Ersatzhandlungen erfüllen wollen. »Es war ein teurer Traum. Ein vergeblicher Traum. Und als sie erwacht war, bezahlte sie ihn ratenweise und wurde mit jeder Monatsrate ein Jahr älter. Manchmal begegneten wir uns auf der Straße. Wir sahen einander nicht an. Wir hatten beide recht und unrecht. Doch ich war besser dran. Denn sie bezahlte einen ausgeträumten Traum, ich aber war ein kleiner Junge.« (VII: 93)

Diese Zeit um 1910 hat Kästner in seinen Notizen als »die guten Jahre« bezeichnet, trotz der gegenseitigen Fixierung, in der Mutter und Sohn lebten. Anderen Menschen sei Ida Kästner »kalt, streng, hochmütig, selbstherrlich, unduldsam und egoistisch« erschienen (VII: 103), kaum eine vollkommene Mutter also oder eine der mütterlichen Idealgestalten, die Kästners Werk bevölkern. Der Erwartungsdruck und die Dominanz Ida Kästners wurden durch ihre emotionale Unberechenbarkeit noch gesteigert. In depressiven Phasen unternahm sie Selbstmordversuche; der Schüler fand »hastig bekritzelte[.] Zettel« auf dem Küchentisch: »Ich kann nicht mehr!« oder »Sucht mich nicht!« Das Kind lief, »von wilder Angst gehetzt und gepeitscht, laut weinend und fast blind vor Tränen, durch die Straßen, elbwärts und den steinernen Brücken entgegen«. (VII: 103) Es kamen die Marien-, die Augustus-, Königin-Carota- und die Albertbrücke in Frage, eine Strecke von gut fünf Kilometern; ein Achtjähriger wird dazu eineinhalb Stunden gebraucht haben. Er habe sie fast jedes Mal gefunden, auf einer der Brücken, bewegungslos in den Strom starrend. Er musste sie aus ihrer Apathie aufrütteln und sie nach Hause bringen. Es sei auch vorgekommen, dass er sie nicht fand; sie saß dann zu Hause an seinem Bett, wenn er aus dem Erschöpfungsschlaf erwachte. In den Notizen für Als ich ein kleiner Junge war nimmt diese Episode nur einen ganz geringen Stellenwert ein, Kästner hat nur einen Satz notiert, der beinah nach dem üblichen Resultat eines Ehekrachs klingt oder gar wie ein Spiel: »Mamas [1 Wort unleserlich]: ›Ich gehe.‹ Und [1 Wort unleserlich] ich sie suche!« (AN)

Die Prügelstrafe war nicht nur in der Schule verbreitet: »Mama, wenn sie mich schlug: Es tut ihr weher als mir.« (AN) Kästner unterlag auch den zeitüblichen Disziplinierungsmaßnahmen, sollte mit ›Haltung‹ gehen (»Geh auswärts! Halte dich gerade!«, AN), sich im Winter mit kaltem Wasser abhärten, mit Salzwasser gurgeln — wahrscheinlich eine billigere Form des Zähneputzens. Kästners lebenslang angebotenes probates Erziehungsmittel, im literarischen Werk wie schließlich auch dem eigenen Sohn gegenüber, waren gemäß der eigenen Sozialisation Ohrfeigen — trotz seines Lehrers Lehmann, trotz der Prügel von Muttchen. Sein Vater wirkt wie nicht recht präsent, ein wegen seines stinkenden Leims aus der Küche in den Keller verbannter Nicht-Vater, der im Unterschied zur Mutter den Nachteil hatte, seinen Sohn nicht zur Arbeit mitnehmen zu können. Aber auch Emil Kästner, der »bravste Mann, den ich je kannte«, nur »manchmal jähzornig«, hatte seine Ressorts, sie sind nur nicht in die endgültige Fassung von Als ich ein kleiner Junge war übernommen worden: »Varieté Königshof in Strehlen: Papa führte mich hin. Das war sein Revier.« (AN) Und die Spaziergänge in der Umgebung Dresdens, an den Wochenenden, mit Einkehr in diversen Gasthöfen, hat die Familie zusammen unternommen.

Am heftigsten trugen die Eltern ihre Rivalität um die Gunst ihres Kindes an Heiligabend aus. Sollte das Fest gelingen, musste das Kind an diesem Abend erwachsener sein als die Erwachsenen. »Ich hatte Angst. Ich fürchtete mich vor der Bescherung! Ich hatte Furcht davor und durfte sie nicht zeigen.« (VII: 97) Sein Vater hatte wochenlang im Keller gearbeitet, »geschnitzt und genagelt, geleimt und gemalt« (VII: 97), ihm einen Pferdestall oder einen Bierwagen mit vielen Details gebaut, »Geschenke, bei deren Anblick sogar Prinzen die Hände überm Kopf zusammengeschlagen hätten«. (VII: 98) Seine Mutter hatte ebenfalls in wochenlanger Rennerei Geschenke gekauft, »bis sich deren Versteck, die Kommode, krumm bog«. (VII: 98) Erich Kästner musste beiden das glückliche Kind vorspielen und sich paritätisch über beide Geschenktischhälften freuen, im Pendelverkehr: »Ich freute mich rechts, zur Freude meiner Mutter. Ich freute mich an der linken Tischhälfte über den Pferdestall im Allgemeinen. Dann freute ich mich wieder rechts, diesmal über den Rodelschlitten, und dann wieder links, besonders über das Lederzeug. Und noch einmal rechts, und noch einmal links, und nirgends zu lange, und nirgends zu flüchtig. Ich freute mich ehrlich und mußte meine Freude zerlegen und zerlügen.« (VII: 100) Diese Darstellung hat Kästner sechs Jahre nach dem Tod seiner Mutter geschrieben. Er beherrschte seine emotionalen Register in literarischen Texten mit völliger Sicherheit. 1945, noch zu ihren Lebzeiten, beschrieb er die Weihnachtsabende als herzbrechend schöne Erinnerungen, am ersten Heiligabend, den er wegen der Reiseverbote ohne seine Eltern verbringen musste. Die »sieben Sachen«, die er einmal seiner Mutter schenkte, werden in beiden Texten aufgezählt: »eine Rolle schwarzen Zwirn, eine Rolle weißen Zwirn, eine Spule schwarzer Nähseide, ein Briefchen Sicherheitsnadeln, ein Heftchen Nähnadeln und ein Kärtchen mit einem Dutzend Druckknöpfchen.« Im älteren Feuilleton Sechsundvierzig Heiligabende vermerkte er, sie habe sich sehr gefreut, »und ich war stolz wie der Kaiser von Annam«. (II: 20) In Als ich ein kleiner Junge war heißt es dagegen: »ich wäre stolz darauf gewesen, wenn ich mich nicht so gefürchtet hätte.« (VII: 99) An diesen Abenden zeigte sich am stärksten, wie sehr das Kind der elterlichen Situation vollständig ausgeliefert war. In den Notizen heißt es — man beachte die Reihenfolge — : »Die Kindheit ohne Balkon. Die Kindheit ohne Haustier. Als Mama mir schon fast einen Hund schenken wollte, sah und hörte ich, wie einer überfahren wurde. Damit war es aus! (Tami.) Ohne Geschwister.« (AN)

Bei einer solchen häuslichen Situation mussten die auswärtigen Abwechslungen mehr als nur ein erfreuliches Kontrastprogramm sein. Sie klingen bei Kästner fast ein wenig wie utopische Räume, Orte eines anderen, besseren Lebens. Dazu gehörte die Villa seines Onkels Franz in der Antonstraße 1, an der Ecke zum Albertplatz, der bis 1910 Bautzner Platz hieß. Kästner konnte dort abends mit seinen Eltern in der Küche sitzen, reich bewirtet von Tante Lina, seiner Kusine Dora und der Wirtschafterin Frieda, mit zeitweiligen Unterbrechungen des Hausherrn. Sollte er einmal kurz nach Hause kommen, verfrachtete er sie ins Wohnzimmer und schalt seine Frau für den dienstbotenhaften Umgang mit den Verwandten. Nachmittags war der Schüler öfters alleine dort, fühlte sich als Hausherr, verzehrte vergnügt die vorgesetzten Wurstbrote, trank Kaffee in der Gartenlaube, beobachtete von der Gartenmauer aus das Treiben auf dem Albertplatz, erntete im Garten Nüsse und Johannisbeeren; ging einkaufen für Frieda, erledigte Botengänge für die Tante. Die reichen Verwandten retteten auch die Heiligabende, nach der Bescherung in der Königsbrücker Straße gingen sie in die Villa, die Kinder klimperten auf dem Klavier herum und sangen Weihnachtslieder, Frieda »schleppte Stollen, Pfefferkuchen, Rheinwein oder, wenn der Winter kalt geraten war, dampfenden Punsch herbei und setzte sich mit an den Tisch«. (VII: 101) Franz Augustin hänselte seine Schwester für die Kaninchen-Geschichte, und Emil Kästner »genoß es von ganzem Herzen, daß meine Mutter endlich einmal nicht das letzte Wort haben sollte. Das war für ihn das schönste Weihnachtsgeschenk!« (VII: 101) Franz Augustins Villa steht noch am Albertplatz, zeitweilig eine Ruine, heute das Erich Kästner Museum.

Kästner notierte, er habe eine Herkunft »ohne Tradition« (AN), also keine ›gebildeten‹ Vorfahren. Sein Stolz, sich hervorgetan zu haben, ist spürbar — unter einer Sippschaft aus Handwerkern, Fleischern, Pferdehändlern ist »ein einziger von ihnen allen« Schriftsteller geworden, »der kleine Erich, das einzige Kind der kleinen Ida …« (VII: 28) Aber ausgerechnet der von ihm stets als grob und laut beschriebene Onkel Franz hat ein Bändchen Gedankenlyrik verfasst, »Ersehntes, Erfülltes und Unerfülltes«. Es ist allerdings nie gedruckt worden, Kästners Kommentar dazu: »Ein Leipz. Verleger, der 500 M Druckkostenbeitrag verlangte! Onkel F. lehnte rundweg ab. (Welch ein Glück!)« (AN)

Seine Mutter wollte ihm alle Bildung vermitteln, die ihr selbst nicht zuteilgeworden war. Sie besuchte mit ihm die Dresdner Gemäldegalerie, Giorgiones »Schlummernde Venus« ist als bleibender Eindruck in den Notizen vermerkt. In der Hofkirche hörte er Messen, und vor allem gingen Mutter und Sohn regelmäßig in die Dresdner Theater, ins Alberttheater (das spätere »Theater des Volkes«), das Schauspielhaus und die Oper, meist auf billigen Stehplätzen. »Wer jemals den ›Faust‹ oder eine Oper von Richard Wagner buchstäblich durchgestanden hat, wird uns seine Anerkennung nicht versagen.« (VII: 80) Seine Liebe zum Theater sei eine Liebe auf den ersten Blick gewesen. Wenn auch die Ansichten über seine Versuche als Theaterkritiker und Dramatiker auseinandergehen könnten, meinte er, als Zuschauer sei er »nicht zu übertreffen«. (VII: 80) Abgesehen von ihren depressiven Schüben und den Heiligabenden wird die Mutter-Kind-Beziehung in Als ich ein kleiner Junge war stets als ideal beschrieben, durchgängig, nicht ein Pubertätskonfliktchen ist erwähnt, nicht einmal ein ganz kleines. Ein solches scheint sich anlässlich von Theaterbesuchen ereignet zu haben, und zwar im Alberttheater: »Ibsen, Strindberg. Ich: schweigsam und reizbar zu Mama, die das nicht verstand.« (AN) Und das trotz ihrer vorbildlichen Strindberg-Ehe.

Glücksorte auch schon von Kästners Kindheit waren die öffentlichen Orte, die Cafés, Gastwirtschaften, Ausflugslokale. In seinen Aufzeichnungen sind aufgezählt: »Der Weiße Hirsch, Luisenhof, Schillerhäuschen, Antons, die Saloppe, Lehmanns und die Fremden. Café Wachendorf. Waldschlößchen.« (AN) Das glückliche Nicht-zu-Hause-Sein hatte viele Gesichter, schlichtes Einkaufen gehörte ebenso dazu wie das Spielen mit Freunden oder mit der Tochter des Schneiders Großhennig; die Blumenausstellungen im Großen Garten wie der regelmäßige Besuch des Zoologischen Gartens, für den er eine Dauerkarte hatte; auch das Baden im König-Friedrich-August-Bad in Klotzsche. Dort gab es eine Umkleidekabine mit Krone für den sächsischen König, wie sich Kästner erinnerte, dort nahm er an einer Frühform des Bodybuildings teil, dem »Müllern«, brachte sich selbst das Schwimmen bei, und es gab »Damenbad und Familienbad. Mittagessen vor der Kantine, Bratwürste. Schmetterlingsjagd.« (AN) Auch die Ferien durchlüfteten die drangvolle häusliche Situation, er fuhr allein mit dem Untermieter Schurig, oft auch allein mit seiner Mutter oder mit ihr und der Kusine Dora Augustin. Seine Mutter lernte schwimmen und notdürftig Rad fahren, sie erwanderten sich die Umgebung Dresdens, den »Thüringer Wald und die Lausitzer Berge, die Sächsische Schweiz und das böhmische Mittelgebirge, das Erzgebirge und das Isergebirge«. (VII: 135)

Am allmorgendlichen Einkaufen des Jungen zeigt sich, dass man sich damals noch anders ernährt hat. Kästner hat sich einen typischen Einkauf aufgeschrieben: »Morgens vor der Schule: ¼ Pfd. Blut- und Leber- oder Mettwurst. ½ Pfund Querrippe und Gehacktes, etwas Schweinsniere. / ​Studium des Einwickelpapiers. Im Konsum: Zwölferlei. Noch warmes 4 Pfd-Brot. Schön, wenn gerissen. Petroleum.« (AN) Noch in dieser handfesten Liste ist die wohl wichtigste Fluchtwelt genannt, das Lesen, seine »Lesewut«. (AN) Die ersten Erfahrungen mit dem »Reich der Buchstaben«, dem »Land des Lesens«, das ein »geheimnisvoller, unendlicher Erdteil« sei, hat uns der Autor nicht überliefert, Huckleberry Finn und griechische Mythologie hat er erwähnt, seinen Mitdresdner Karl May konnte er schon als Kind nicht ausstehen.8 Er las alles, was ihm vor die Augen kam: »Ich las und las und las. Kein Buchstabe war vor mir sicher. Ich las Bücher und Hefte, Plakate, Firmenschilder, Namensschilder, Prospekte, Gebrauchsanweisungen und Grabinschriften, Tierschutzkalender, Speisekarten, Mamas Kochbuch, Ansichtskartengrüße, Paul Schurigs Lehrerzeitschriften, die ›Bunten Bilder aus dem Sachsenlande‹ und die klitschnassen Zeitungsfetzen, worin ich drei Stauden Kopfsalat nach Hause trug. Ich las, als wär es Atemholen. Als wär ich sonst erstickt.« (VII: 69f.) Und er las Wilhelm Scharrelmann und Gustav Nieritz. (AN)

Scharrelmann war ein norddeutscher Heimatdichter, der auch für die Jugend schrieb; in Großmutters Haus und andere Geschichten (1913) gibt es einige Episoden, die Kästner ähnlich erzählt hat — Theater über Heimvorstellungen von Kindern, Der kleine Flüchtling über eine Flucht aus dem Internat. Wesentlich wichtiger sind die Bücher von Gustav Nieritz (17951876), der es bis zu einem kleinen Auftritt in Kästners Buch brachte: Er habe in der Nähe der Augustin-Villa am Albertplatz gewohnt, »war Lehrer und Schulinspektor gewesen, hatte viele, viele Kinderbücher geschrieben, und ich hatte sie alle gelesen«. (VII: 117) Sein Häuschen wurde zum Museum, auch eine Marmorbüste bekam Nieritz in Dresden. Ein ungeheuer populärer Volksschriftsteller, erreichten seine mehr als 110 Jugendbücher Millionenauflagen. Er litt unter seiner niedrigen Herkunft aus der Dresdner Neustadt, seine Produktivität soll den Geldnöten seiner Großfamilie geschuldet gewesen sein. Arm sind meistens auch seine Helden, die er in rührseligen Geschichten feierte; er propagierte Zufriedenheit »als das unfehlbarste Glücksrezept für die niederen Klassen«. Friedrich Schnorr von Carolsfeld meinte zehn Jahre nach Nieritz’ Tod, seine tüchtige und liebenswürdige Persönlichkeit sei »über die niedrigen Regionen des Lebens […] nie ganz hinausgewachsen«; spätere Enzyklopädisten sehen ihn als »Vertreter einer epigonalen Gefälligkeitsliteratur« mit erzieherischer Tendenz, der dürren deutschen Spätaufklärung verbunden, ein »Rationalist positivistischer Prägung«, der stets auf eine »platte Verständlichkeit« bedacht gewesen sei.9

Die Lektüre von nur wenigen seiner schematischen Bücher hält einige Überraschungen bereit — man könnte sich in die Kinderwelt Erich Kästners versetzt fühlen, in anderer zeitgeschichtlicher Draperie. In allen Nieritz-Geschichten gibt es den gleichen Stich ins Sentimentale, die gleichen ›kleinen‹, unerkannten Leute, die zeigen, was ›wirklich‹ in ihnen steckt, unerträglich gute Menschen, die in besonders enger Beziehung mit ihren Müttern leben. Sie haben keine Väter oder unfähige, die ihre Familien nicht ernähren können; solche Väter sind nötig, sonst könnten sich die Musterknaben im Kontrast nicht so hervortun. In Der Kantor von Seeberg rettet der Schüler Paul Grundmann seinem verehrten Kantor und Lehrer während der napoleonischen Besatzung das Leben, indem er mit seinen Freunden französische Wachsoldaten belagert: »In kurzem sahen die erstaunten Seeberger das Schauspiel, wie ein paar hundert Kinder jene zwölf französischen Soldaten umringten, an deren Armen und Beinen hingen, welche sie auch auf wiederholtes Schütteln nicht losließen.«10 Einige Kinder stehlen die Gewehre und ziehen den Kantor fort, während die anderen die Soldaten von der Verfolgung abhalten; die Kinderschar hat Macht über die Erwachsenen wie in Emil und die Detektive. In NieritzDer Lohn der Beharrlichkeit heißt der Primus Karl Schwarz, und hier liegen die Parallelen zu Kästners Erzählungen auf der Hand: Schwarz ist ein »Wunderkind […]«, »die Freude seiner Lehrer, der Neid seiner kleinen Mitschüler, das Staunen der Erwachsenen«. Wie Emil ist er trotzdem ein ›richtiger‹ Junge, der schon auch mal Streiche macht; er bemalt zwar keine Denkmäler wie dieser, aber er sperrt Mäuse hinein. Karls Vater kann die Familie nicht versorgen, weil er ein leichtlebiger Nichtsnutz ist. Die Mutter sucht durch »Fertigung weiblicher Handarbeiten […] für sich und ihre Kinder einen allerdings sehr kärglichen Unterhalt zu verdienen, weshalb sie vom frühesten Morgen bis in die späte Nacht hinein am Nähtische saß«. Den geringen Erwerb muss sie mit ihrem Mann teilen. Wegen des dauernden Gezänks zu Hause ist die Schule für den kleinen Karl »sein liebster Aufenthalt, seine einzige Freude«. Sein Tag ist wie der des kleinen Kästner »ausgefüllt wie der Terminkalender eines Generaldirektors« (VII: 71): Er schreibt »Kirchenstuhlzettel, Noten, Empfehlungskarten, tat Botengänge und wies keinerlei Arbeit zurück«, außerdem ist er noch »Kirchenknabe«. Seine Aufstiegschance liegt darin, Lehrer zu werden; er bekommt eine Freistelle und geht auf die »Präparande«, sogar der Kauf des unumgänglichen Lehrerklaviers wird beschrieben.11 Auch der kleine Karl begnügt sich nicht mit dem Lehrerdasein und kommt groß heraus — er wird zwar nicht Schriftsteller, aber immerhin kann er als Seidenfabrikant seiner geliebten Mutter Rente zahlen.

Es soll nicht unterstellt werden, dass Kästner Nieritz plagiiert oder gar seine Biographie für Als ich ein kleiner Junge war erfunden hat. Aber mit diesen Kisten von Büchern hat er als Kind an seiner inneren Welt gebaut, und aus ihr heraus sind seine Bücher geschrieben. Nieritz’ Ängste und Wünsche liegen offen da, wie bei aller Trivialliteratur; Kästner konnte sie viel besser kaschieren — dennoch gehören Nieritz’ Motive zu seinem eigenen Fundus, und sie haben ganz unwillkürlich Kästners Stilisierungen mitbestimmt.

Seine Kindheitserinnerungen schließen mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Aufzeichnungen weisen etwas über das Buch hinaus. Dort hat er »Drei starke Eindrücke« aufgelistet, die in erster Linie eine politische Dimension haben. Zwischen 1903 und 1909 fanden in Dresden 185 Streiks statt, es gab mehrfach Straßenkämpfe.12 Kästner erlebte die Niederschlagung eines Streiks durch berittene Polizisten: »Gaslaternen in Splitter. Steine. Gezogene Säbel.« (AN) Diese Episode hat er in dem Feuilleton Die chinesische Mauer ausführlich berichtet; die Gendarmerie habe mit den Säbeln auf die Menge eingeschlagen. »Ich stand am Fenster, und meine Mutter zerrte mich weinend weg.« (II: 57) Früh während des Krieges explodierte das Arsenal, während Emil Kästner dort arbeitete: »Flammen und Rauch bedeckten den Himmel. Die Feuerwehr, die Polizei und die Sanitätswagen der Stadt und der Umgebung jagten in Kolonnen den Flammen und dem Rauch entgegen, und hinter ihnen, außer Atem, meine Mutter und ich. […] Die Flammen fraßen sich weiter, und immer neue Munitionslager und -züge explodierten. Die Gegend wurde abgesperrt. Wir durften nicht weiter. Nun, am Abend kam mein Vater verrußt, aber heil nach Hause.« (VII: 46f.) Der dritte »Eindruck« war dann schon das Kriegsende 1918. Während der Revolutionswirren traute sich niemand auf die Hauptstraße. Der Heimkehrer ging durch die Altstadt und wunderte sich: »Allein durch die Johannstraße. Vom Pirnaischen Platz bis Altmarkt ganz leer. In Nebenstraßen gestaute Menge. Maschinengewehre.« (AN)