Immer dasselbe Fressen: Lehrerausbildung und Soldat

Eine erstrangige biographische Fundgrube über Erich Kästner ist der Briefwechsel mit seiner Mutter. Er hat ihr über Jahrzehnte fast täglich geschrieben, ihr vom Fortgang der Arbeit und seiner Liebesaffären berichtet, wen er wann und wo getroffen hat, was er von seinen Freunden im Einzelnen hielt. Diese Briefe sind so detailliert, dass sie geradezu als Chronik seines Lebens bis zum Ende der vierziger Jahre gelesen werden können; mit signifikanten Einschnitten während des Nationalsozialismus. Seine Mutter war stets dankbare Zuhörerin und (manchmal unerwünschte) Ratgeberin, ihr Teil der Korrespondenz zeugt von einer praktisch denkenden, eher schlichten Frau, deren Befinden starken Schwankungen unterworfen war. Sie hat ihren Sohn vergöttert, und sie hat alles aufgehoben, was irgend mit ihm zu tun hatte, die ersten Schuhe und die obligatorische Locke, jede Zeile von ihm und über ihn. Umgekehrt gilt das nicht, und ohnehin ist Kästners gesamter Besitz mitsamt seiner Wohnung im Februar 1944 verbrannt. Aus Ida Kästners Briefen kann daher kaum zitiert werden — frühere haben sich selten erhalten, die späteren sind zwar in ihrer Weise sprechend, können aber kaum für typisch gelten. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon eine alte Frau, wiederholte sich ständig und litt zunehmend unter Verwirrungen. Ihre letzten vier Jahre verbrachte sie im Sanatorium, zuletzt nur mit Momenten der Klarheit.

Die ersten schriftlichen Zeugnisse sind Postkarten von einer Fahrt des Zehnjährigen mit dem Untermieter Paul Schurig nach Falkenhain bei Wurzen. »Euer dankbarer Sohn« beruhigt seine Mutter, man könne »höchstens von einem Mistwagen überfahren werden«, und er freut sich an den ländlichen Beschäftigungen: »Heute gehe ich mit Herrn Schurig und dem Kantor seinem Sohn zum Fischen. Heute nachmittag gehe ich mit beiden in die Pilze. Gestern haben wir Birnen abgenommen.« (29.9.1909, MB)

Dann zwei Postkarten des Vierzehnjährigen an seine Eltern. Er grüßte sie, wohl von einem längeren Seminaristenausflug, »von den Nollendorfer Höhen«, kurz und geschäftig: »Wahrscheinlich komme ich eher nach Hause als die Karte. Keine Zeit! Erich!« (2.6.1913, MB) Erich Kästner wollte von klein auf Lehrer werden. Von seinen Erfolgen als Schüler war bereits die Rede, der wichtigste Grund für diese Wahl waren aber die Untermieter in der Wohnung seiner Eltern. In Als ich ein kleiner Junge war erzählt er, wie er in seinem Gitterbett immer nachts vom Rattern der mütterlichen Nähmaschine aufgewacht sei. »Mir gefiel das soweit ganz gut. Doch meiner Mutter gefiel es gar nicht. Denn die Lebensaufgabe kleiner Kinder besteht, nach der Meinung der Eltern, darin, möglichst lange zu schlafen.« (VII: 53) Sie besprach sich mit Dr. Zimmermann, der derselben Meinung gewesen sei; und nachdem es ohne Nebenverdienst nicht ging, beschloss sie, ein Zimmer der kleinen Wohnung zu vermieten. »Der Papa war, wie fast immer, einverstanden.« (VII: 53)

Der erste Mieter war der Volksschullehrer Franke, und auch alle weiteren Mieter waren Lehrer. Die gemeinsamen Abende beschreibt Kästner, als sei die elterliche Küche das erste Café seines Lebens gewesen: Franke »war ein junger lustiger Mann. Das Zimmer gefiel ihm. Das Frühstück schmeckte ihm. Er lachte viel. Der kleine Erich machte ihm Spaß. Abends saß er bei uns in der Küche. Er erzählte aus seiner Schule. Er korrigierte Hefte. Andre junge Lehrer besuchten ihn. Es ging lebhaft zu. Mein Vater stand schmunzelnd am warmen Herd. Meine Mutter sagte: ›Emil hält den Ofen.‹ Alle fühlten sich pudelwohl.« (VII: 54)

Einer von Frankes Nachfolgern, Paul Schurig, wurde sogar »eine Art Onkel«. (VII: 55) Er blieb Untermieter bis nach Kästners Abitur und zog mit von der Königsbrücker Straße 48 nach der Nummer 38; mit einigem Verständnis für die materiellen Nöte seiner Wirtsfamilie bewohnte er zeitweise zwei der drei Zimmer und ließ Kästners sein Wohnzimmer gelegentlich mitbenutzen. Der Junge durfte dort auch Klavier üben und seine Schularbeiten machen, er unternahm seine erste Reise mit ihm, und beinahe wäre eine verwandtschaftliche Bindung entstanden: Schurig wollte Erich Kästners Kusine Dora Augustin heiraten, was am Widerstand ihres Vaters Franz scheiterte. Kästner wuchs also mit Lehrern auf, die üblichen Ängste im Umgang mit ihnen in der Schule entfielen. Verwandte schwatzten darüber, als sei es heute, wie gut es doch die Lehrer hätten mit ihren vielen Ferien, der Pensionsberechtigung und den paar Stunden Unterricht dazwischen, »immer dasselbe«. (VII: 61) Schon vor seiner eigenen Schulzeit wollte Kästner Lehrer werden, sozusagen aus Neid auf den »Vielfraß« (AN) Schurig: »[W]enn ich meiner Mutter dabei half für Herrn Schurig abends den Tisch zu decken, wenn ich den Teller mit drei Spiegeleiern auf Wurst und Schinken ins Vorderzimmer balancierte, dachte ich: ›So ein Lehrer hat es gar nicht schlecht.‹ Und der blonde Riese Schurig merkte überhaupt nicht, wie gern ich mein Abendbrot gegen seines eingetauscht hätte.« (VII: 61)

Foto von einem Ausflug: In der Bildmitte Kästners Mutter vor einer Felswand stehend, vor ihr sitzen seine Kusine Dora Augustin und zwei unbekannte Personen, alle in Wanderkleidung.

Ida Kästner (hinten Mitte) und Dora Augustin (vorne) mit Wanderfreunden, um 1910

Eine Lehrerausbildung war auch ein Gebot der Vernunft — sie war die einzige ohne weiteres erreichbare Aufstiegsmöglichkeit für intelligente Kinder, deren Eltern nicht das Geld hatten, Oberrealschule oder Gymnasium zu bezahlen; das Lehrerseminar war staatlich bezuschusst. »Der Junge ging bis zur Konfirmation in die Volksschule, und dann erst machte er seine Aufnahmeprüfung. Fiel er durch, wurde er Angestellter oder Buchhalter wie sein Vater. Bestand er die Prüfung, so war er sechs Jahre später Hilfslehrer, bekam Gehalt, konnte damit beginnen, die Eltern zu unterstützen, und hatte eine ›Lebensstellung mit Pensionsberechtigung‹.« (VII: 59f.) Kästner bestand die Prüfung, ging ein Jahr in eine Vorbereitungsklasse für das Seminar (»Präparande«) und konnte 1913 an das »Freiherrlich von Fletchersche Lehrerseminar zu Dresden-Neustadt« wechseln, ein Internat, nur wenige Straßen von der Königsbrücker entfernt.

Er war von einer Kinderkaserne in die nächste geraten; diese besuchte er fünf Jahre, bis er zur Ableistung seiner Wehrpflicht einberufen wurde. In seinen Notizen für Als ich ein kleiner Junge war zählt er einige Namen von Lehrern auf, zu denen ihm außer »Sadismus« nichts mehr eingefallen ist. (AN) Das Fletchersche Seminar war militärisch organisiert, Kästner hat es in einem Aufsatz, Zur Entstehungsgeschichte des Lehrers (1946), eine »Lehrerkaserne« genannt, dessen Erziehung sich auf der Ebene von Unteroffiziersschulen bewegt habe — obwohl der Stoff derselbe war wie an anderen höheren Schulen. Aber es waren eben die ärmeren Schüler, und sie kosteten den Staat Geld. »So war es nur folgerichtig, daß die Schüler, wenn sie auf den Korridoren einem Professor begegneten, ruckartig stehenbleiben und stramm Front machen mußten. Daß sie in den Arbeitszimmern, wenn ein Lehrer eintrat, auf das zackige Kommando des Stubenältesten hin aufspringen mußten. Daß sie zweimal in der Woche nur eine Stunde Ausgang hatten. Daß nahezu alles verboten war und daß Übertretungen aufs strengste bestraft wurden. So stutzte man die Charaktere. So wurde das Rückgrat geschmeidig gemacht und, war das nicht möglich, gebrochen.« (II: 77) Kästner schrieb es solchen Schulen zu, dass die Lehrer im ›Dritten Reich‹ versagt hatten, und wollte die falsche Erziehung ausdrücklich schon in einem Buch für Kinder — Als ich ein kleiner Junge war — thematisieren: »Man soll durch Überzeugen erziehen, nicht durch Drill und Zwang.« (AN)

Als einzige positive Erinnerung hat Kästner sich seine ersten Bälle notiert, die er als Seminarist erlebt haben muss, den »Fleischerball«, die »Bälle der Dtsch Werkstätten. Im ›Goldnen Anker‹.« Die seien »[w]underschön« gewesen, hatten »Fantasie« und »Geschmack«. (AN) Für einen Faschingsball hatte er sich mit Hilfe seiner Kusine Dora als Mädchen verkleidet — nie sei er so umschwärmt worden »wie als angeblicher Backfisch in der festlich geschmückten Turnhalle des Freiherrlich von Fletcherschen Lehrerseminars!« (VII: 143)

Auch den Kriegsbeginn erlebte er zusammen mit Dora. Ihre Mutter Lina Augustin hatte die beiden zusammen mit Kästners Mutter in die Sommerfrische nach Müritz an die Ostsee geschickt. Es war seine »erste große Reise« (VII: 145), und auf dem Weg kam er ein erstes Mal durch Rostock und durch Berlin — man musste vom Anhalter zum Stettiner Bahnhof durch die Stadt. Das Meer scheint ihm großen Eindruck gemacht zu haben, er schrieb vom »atemberaubend grenzenlosen Spiegel aus Flaschengrün und Mancherleiblau und Silberglanz« (VII: 146) und stellte sich versunkene Schiffe mit toten Matrosen vor, Nixen und die versunkene Stadt Vineta. Die Küstenlinie gefiel ihm sehr viel weniger, man sei dort noch enger zusammengehockt als in den Großstädten, die Mietskasernen lägen während der Ferien am Ozean. Noch bissiger beschreibt er den Strand von Warnemünde, Ziel eines Fahrradausflugs von Müritz: »Sie schmorten zu Tausenden in der Sonne, als sei die Herde schon geschlachtet und läge in einer riesigen Bratpfanne. Manchmal drehten sie sich um. Wie freiwillige Koteletts. Es roch, zwei Kilometer lang, nach Menschenbraten. Da wendeten wir die Räder um und fuhren in die einsame Heide zurück.« (VII: 147) Am 1. August 1914 erklärte das Deutsche Reich Russland den Krieg, alle Urlauber brachen panikartig auf und fuhren nach Hause.

»Wir flohen, als habe hinter uns ein Erdbeben stattgefunden. Und der Wald sah aus wie ein grüner Bahnsteig, auf dem sich Tausende stießen und drängten. Nur fort! Der Zug war überfüllt. Alle Züge waren überfüllt. Berlin glich einem Hexenkessel. Die ersten Reservisten marschierten, mit Blumen und Pappkartons, in die Kasernen. […] Extrablätter wurden ausgerufen. Der Mobilmachungsbefehl und die neuesten Meldungen klebten an jeder Hausecke, und jeder sprach mit jedem. Der Ameisenhaufen war in wildem Aufruhr, und die Polizei regelte ihn.« (VII: 148) Dora kommentierte lakonisch: »Jetzt wird mein Vater noch viel mehr Pferde verkaufen.« (VII: 148) Paul Schurig und dessen Freunde und Kollegen, die Brüder Tischendorf, wurden Reserveoffiziere.

Trotz seiner relativen Armut als Seminarist spendete Kästner Geld — im August und September 1914 fünf und sieben Mark an die »Genossenschaft freiwilliger Krankenpfleger im Kriege vom Roten Kreuz«, im Oktober 1916 zeichnete er sogar eine Kriegsanleihe über den Nennwert von zehn Mark, die ihn 9,58 Mark kostete.1

In Ida Kästners Nachlass haben sich auch die Schulhefte des Sohnes in großer Zahl erhalten. Sie sind nicht allein für Kästners Biographie von Interesse, sondern mehr noch ein mentalitätsgeschichtliches Dokument. Damit kein Missverständnis entsteht — es kann hier nicht darum gehen, Kästner für Aufsätze zu kritisieren, die er als Sechzehnjähriger geschrieben hat. Vielmehr gilt es vorzuführen, was damals gelehrt wurde, welche harte Schule er durchlaufen musste, wovon er sich befreien musste, um der Autor zu werden, den wir kennen.

Es gibt im Nachlass ein Heft »Deutsche Arbeiten« des Tertianers, also von etwa 1915. Darin findet sich eine Hausarbeit über »Das Auge im deutschen Sprachgebrauch« und eine über das Goethe-Zitat »Was du ererbt von deinen Vätern hast, / ​Erwirb es, um es zu besitzen«. (Faust I, 682f.) Auf 24 eng beschriebenen Seiten sind die Antworten eines Musterschülers auf Detailaspekte wie »Warum enthält Goethes Wort für unser Volk gerade eine solch tiefe Wahrheit?« und »Inwiefern sagt Goethes Wort zuviel« bzw. »zuwenig« zu lesen. Als Quelle gab er »›Das deutsche Volkstum‹ von Prof. Mayer« an, sein Aufsatz klingt oft referierend und strotzt von völkerpsychologischen und deutschnationalen Phrasen, der »deutschen Gemütstiefe«, dem »deutschen Volkscharakter«, der »Zeit, die ganze deutsche Männer und Frauen verlangt«, und so fort. Dem Einzelnen »als Glied der Volksgemeinschaft« tue sich »mit erdrückender Gewalt die Frage auf: ›Warum haben wir nur, wohin wir auch blicken mögen, nichts wie Feinde? — Warum?‹« Die Antwort im Aufsatz lautet, die »deutsche Art« habe eben noch nie Freunde gehabt, und »[w]ir haben das Erbe unsrer Väter angetreten«. Was man davon nicht nutze, sei eine schwere Last, zitierte Kästner den nächsten Goethe-Vers. Eine der zu nutzenden deutschen Tugenden, die der Seminarist feierte, ist die Sentimentalität: »glücklich wollen wir uns preisen, die wir sie noch unser Eigentum nennen dürfen, — sie, die unser Volk jung und rein erhält, die uns davor bewahrt, angewidert der Welt den Rücken zu kehren oder zynisch über das tiefe deutsche Fühlen anderer zu belustigen und so deren Innerstes und uns selbst zu entheiligen, zu beschmutzen, — das deutsche Volk ist noch ein unverdorbenes, kindliches Volk, das nie aus der Reinheit und Tiefe seines Gefühls ein Hehl machen wird.« Unter die Eigenschaften der Väter, die beerbt werden sollten, zählte Kästner »Kindlichkeit, Ehrlichkeit, Mitleid, Offenheit und Gutmütigkeit«, auch die »deutsche Gründlichkeit« darf nicht fehlen. Später ist von Beweisen »der unerschrockensten Tapferkeit und von der erschütterndsten Vaterlandsliebe und Kameradschaftlichkeit« die Rede, gerade in der »Jetztzeit, die die schrecklichsten Kämpfe heraufbeschworen, die jemals die Welt gesehen hat«. Es sei auch »verständlich«, dass der Deutsche »im allgemeinen Idealist ist«, viel eher als »der Engländer zum Beispiel, der nüchtern und kalt den Willen fast nur vom Verstand leiten läßt«. Auch die Religion sei dem Deutschen »Herzenssache«. Die einzige leise Distanzierung, die man aus der Arbeit herauslesen mag, ist Kästners Feier der »Innerlichkeit als höchstes, unschätzbares Erbgut« mitten im Krieg, die sich in Dichtkunst, Musik und auch Kulturarbeit ausdrücke; auch diese Art der Fluchtbewegung freilich war eine zeittypische und tolerierte.2

Aufnahme von Mutter und Sohn: Ida steht in langer schwarzer Kleidung mit Hut und Handtasche vor einer Balustrade, rechts daneben sitzt der Sohn im Anzug und mit Mütze. Den linken Arm hat er in die Seite gestützt, in der Rechten hält er ein Buch.

Ida und Erich Kästner zur Seminaristenzeit, um 1916

Kästners Entlassungszeugnis »über die wissenschaftliche Befähigung für den einjährig-freiwilligen Dienst«, datiert auf den 20. Juni 1917, ist ein Kriegsabgangszeugnis; er hätte noch ein weiteres Jahr bis zum Ende der Ausbildung absolvieren müssen. Ein Einjährig-Freiwilliger meldete sich nicht freiwillig zum Militär, vielmehr verpflichtete er sich, für Unterhalt und Ausrüstung selbst aufzukommen, und musste dafür nur ein Jahr Dienst ableisten.

Dass die Einberufung etwas Bedrohliches war, musste jedem Seminaristen klar sein. Seit 1914 war Krieg, im selben Jahr gab es die »ersten Gefallenen im Seminar, bald in der eigenen Klasse«. (AN) Kästner hat darüber 1929 das Gedicht Primaner in Uniform veröffentlicht, in dem er wohl authentische Namen des Lehrerseminars einsetzte; zumindest der Name des Direktors Jobst, »Theolog / ​für Gott und Vaterland«, stimmt überein, wahrscheinlich dann auch die Namen der Gefallenen Rochlitz, Braun und Kern.

»Der Rektor dankte Gott pro Sieg.

Die Lehrer trieben Latein.

Wir hatten Angst vor diesem Krieg.

Und dann zog man uns ein.

Wir hatten Angst. Und hofften gar,

es spräche einer Halt!

Wir waren damals achtzehn Jahr,

und das ist nicht sehr alt.

Wir dachten an Rochlitz, Braun und Kern.

Der Rektor wünschte uns Glück.

Und blieb mit Gott und den andern Herrn

gefaßt in der Heimat zurück.« (I: 140)

Kästner hatte Glück, auch er durfte in der Heimat zurückbleiben; er war in Dresden und einige Wochen in Köln stationiert. Allerdings unter ungleich härteren Bedingungen als seine Lehrer, er muss mindestens in der ersten Zeit ein schwer geschundener Rekrut gewesen sein. Der habituelle Langschläfer musste vor der übrigen Stadt aus den Federn: »Das Reiten und der Stalldienst. Morgens 4h nach der Kaserne. Reitstiefel über der Schulter. Die Wecker in den stillen Straßen.« (AN) Als Ziel der Ausbildung sah er den Versuch an, »den Stolz zu brechen, um brauchbare Lehrer und Offiziere zu erzeugen. Der Gehorsam als Staatsziel. Die Kadettenanstalten. Die Seminare.« (AN)

Das einschneidendste Erlebnis scheint aber einer der Ausbilder gewesen zu sein, Sergeant Waurich, über den Kästner das gleichnamige Gedicht geschrieben hat.

»›Die Knie beugt!‹, war sein liebster Satz.

Den schrie er gleich zweihundert Mal.

Da standen wir dann auf dem öden Platz

und beugten die Knie wie die Goliaths

und lernten den Haß pauschal.

[…]

Er hat mich zum Spaß durch den Sand gehetzt

und hinterher lauernd gefragt:

›Wenn du nun meinen Revolver hättst —

brächtst du mich um, gleich hier und gleich jetzt?‹

Da hab ich ›Ja!‹ gesagt.

Wer ihn gekannt hat, vergißt ihn nie.

Den legt man sich auf Eis!

Er war ein Tier. Und spie und schrie.

Und Sergeant Waurich hieß das Vieh,

damit es jeder weiß.

Der Mann hat mir das Herz versaut.

Das wird ihm nie verziehn.

Es sticht und schmerzt und hämmert laut.

Und wenn mir nachts vorm Schlafen graut,

dann denke ich an ihn.« (I: 65f.)

Aus Kästners Militärpass ist kein Zeichen der Auflehnung gegen den Drill oder gegen Waurich im Besonderen herauszulesen, das kann aber an der Form des Dokuments liegen. Seinen unveröffentlichten Erinnerungen nach hat er durchaus die spärlichen Möglichkeiten genutzt, und das nicht erst gegenüber diesem Sergeanten; ausformuliert und publiziert hat er diese Notizen möglicherweise nicht, weil sie ihm zu sehr nach Eigenlob klangen, das er auch selbst vermerkt hat: »Mein Sinn für Gerechtigkeit, gegen Zwang. In der Schule, beim Spielen, im Seminar, beim Militär. Nie für mich. Ich war ja fleißig, gescheit, guter Turner. Klingt sehr nach Selbstlob. Soll aber nur charakterisieren. War ja auch die Triebfeder meiner ›engagierten‹ Gedichte.« (AN)

Er kam als Einjährig-Freiwilliger zur Fußartillerie, ist am 21. Juni 1917 eingetreten und wurde einen Monat später vereidigt. Zunächst gehörte er zum »III. Rekruten-Depot Ersatz-Bataillon Fußartillerie-Regiment Nr. 19«, während seiner Dienstzeit wurde er einige Male innerhalb des Regiments versetzt. Er wurde am Karabiner 98 ausgebildet, als Richtkanonier und als Geschützführer, und außerdem gegen Pocken, Typhus und Cholera geimpft. Am 6. Juli 1918 beförderte man ihn zum »überzähligen Gefreiten«. Kästners Militärpass vermeldet mehrfach gute Führung und keine Strafen.

Im September 1918, nach der relativen Genesung von seinen beim Militär erworbenen Herzschäden, wurde er an die Artillerie-Messschule in Köln-Wahn kommandiert. Er nahm an einem »Beobachtungs-, im Anschluß daran auf Vorschlag an einem Auswerterkursus für Schallmeßwesen teil«.3 Ein kleines Konvolut mit Briefen an die Mutter aus der Soldatenzeit hat sich erhalten, sie stammen aus Köln-Wahn, die datierten sind alle im Oktober 1918 geschrieben. Er strengte sich nicht mehr an, den militärischen Zumutungen zu genügen, seine Briefe wirken gelöst, manchmal fast albern, ein Davongekommener berichtet von Ausflügen in die Kölner Innenstadt und konzentriert sich verständlicherweise sehr aufs Essen. Er bedankte sich für die regelmäßigen Paketsendungen seiner Mutter, mit Socken, Pulswärmern und Lebensmitteln, er könne »ja leben wie der Herrgott in Frankreich«, schalt sie auch für ihre aufopferungsvollen Gaben, weil sie sich selbst dabei ganz und gar vergesse: »Sieh mal, wenn man so ein Ei ißt, denke ich daran, wie nötig Du es selbst hättest. Und das ist nur ein Ei!« Meistens lobte er sie aber überschwänglich. »Also der Kuchen ist glänzend, sage ich Dir. Ich habe einigen Kostbissen gegeben. Die haben auch geschmunzelt. Na, ich habe gleich alles gut verpackt, daß kein Zausel ran kann. Nun habe ich Vorrat für viele Jahre. — Ich bin Dir unendlich dankbar dafür. Die Blutwurst war etwas beschlagen. Ich habe sie gut abgewischt und im Schrank aufgebommelt.« (22.10.1918, MB) Auch bei den Ausflugsberichten ist von den Rationen die Rede und von den Versuchen, sich bei den Verpflegungsstellen mehrfach zu bedienen. Die Gruppe Kästners — ein weiterer Lehrer, »1 Architekt, 1 Obermonteur« — loste aus, wer sich für die anderen anstellen musste. »Nichts wie das Fressen hat der Mensch im Kopf. […] Im Rheinland scheint man sich nur vom Weißkraut nähren zu müssen. Hier heißt es allerdings ›Kappes‹. Ist das bei Euch auch so schlimm, immer dasselbe Fressen?« (27.10.1918, MB)

In einem nicht datierten Brief teilte er seiner Mutter mit, »woran ich eine Woche bereits deichsle. Nämlich: Ich wurde heute einem morgen beginnenden Auswerter-Kursus zugeteilt.« Kästner bewies hier sein strategisches Geschick; diese Kurse wurden nicht sehr häufig angeboten, und nur wenige Soldaten — in Kästners Fall ein Dutzend — konnten daran teilnehmen. Ursprünglich war er für einen Beobachter-Kurs vorgesehen, aber der hätte nur eine Woche gedauert. »Wer fertig ist, kommt ins Feld«, von Kästners Batterie 1000 Mann pro Woche, noch vor dem im September 1918 auch für den Gefreiten absehbaren Waffenstillstand. Der Auswerter-Kurs dauerte dagegen »mindestens 4 Wochen«. Ein weiterer Vorteil: Auswerter saßen »in der Centrale, dh. weit hinten, während die Beobachter immerhin dicke Luft riechen können. Die Centrale ist weit hinten, durch lange Telefonstrecken mit der Front verbunden in Unterständen.« Ein Trigonometrie-Lehrbuch des derzeitigen Untermieter-Lehrers bat er sich von seiner Mutter für den Kurs noch aus — was er machte, wollte er gut und gründlich machen.

Sein Herzfehler, der als lebenslange Malaise durch alle Biographien geistert, machte ihm einige Monate lang schwer zu schaffen: »Meine Eltern mußten ihren neunzehnjährigen Jungen, weil er vor Atemnot keine Stufe allein steigen konnte, die Treppe hinaufschieben.« (II: 57) In einem handschriftlichen Lebenslauf vom November 1918 beschrieb er die Krankheit: »Auf Grund meiner durch die anstrengende Ausbildung beim Militär stark verschlimmerten Herzleiden (Herz-Erweiterung, -Klappenfehler und -Neurose) lag ich 6 Wochen im Kasernenlazarett IV Dresden-Loschwitzberg.« Das verbliebene »nervöse Herz« setzte er jedenfalls taktisch ein. Während seiner Ausbildungskurse musste er weiterhin gelegentlich Kasernenwachen übernehmen. Er berichtete Ida Kästner, dabei habe er »über einen recht blödsinnigen Sergeanten ein bißchen gelächelt. Er wollte mich rumjagen. Ich sagte ihm von meinem Herzschaden. Er reagierte nicht. Da bin ich gemächlich losgerannt, dann habe ich mich ein wenig langgelegt. O jeh, dem Herrn Sergeanten war angst u. bange geworden. — Er wird mich zukünftig in Ruhe lassen. Auch merken sie mal, daß mit mir kein Krieg zu gewinnen ist.« (22.10.1918, MB) Vom Messtrupp mochte er sich trotz Heimweh nicht nach Dresden versetzen lassen, weil ihm seine Eltern nicht geschrieben hatten, welche Tauglichkeitsstufe dort ins Feld geschickt wurde. Deshalb blieb er lieber noch etwas in Köln: »Ich brauchte bloß über mein nervöses Herz zu wimmern; beim Stoppen (den Abschuß und Einschlag eines Geschosses mit Osram messen) muß man sehr schauen. Aber wie gesagt, hier scheint mir sicher.« (n. dat., MB)

In den zwanziger Jahren kurierte er sein Herzleiden in Bad Nauheim aus, das daraufhin entstandene Gedicht Brief aus einem Herzbad nahm er in die Sammlung Gesang zwischen den Stühlen (1932) auf. Dort beschrieb er die diätetischen Einschränkungen der Kur mit dem Fazit: »Wer da nicht krank wird, darf für trotzig gelten.« (I: 207) Auf spätere Anfragen der Kurdirektoren, ob sein Gedicht tatsächlich in Bad Nauheim spiele, antwortete er stets gutgelaunt und offensichtlich mit guten Erinnerungen: »Sehr wichtig waren für mich drei Faktoren: 1. behandelte mich Professor Grödel, der ja für Nauheim und für die Patienten sehr wichtig war. 2. befolgte ich seine Kuranforderungen nicht, sondern lernte stattdessen auf den Plätzen hinter dem Kurhaus Tennis spielen. Und 3. verschönte ich mir die späten Abende durch nahezu regelmäßige Besuche der Hupfelbar. Diese etwas ungewöhnliche Kurkombination bewirkte endlich, daß ich meine lädierte Gesundheit wieder in Ordnung brachte.« Es sei die für ihn »angemessenste Herzkur« gewesen, er habe seitdem »nie wieder ein Herzbad aufgesucht«, aber »immer wieder Tennis gespielt«.4

Durch den Ersten Weltkrieg verursachte Herzleiden sind übrigens auch ein literarischer Topos, am ausführlichsten vielleicht in Georg von der Vrings Roman Soldat Suhren (1927) nachzulesen. Der Titelheld versucht sich dort ein Kapitel lang als Simulant. »Ich […] gewöhne mir einen schlappen Gang an, lasse die Augenlider hängen und bringe mein Herz mit Antipyrin in ein überheiztes Tempo. Sodann eines Morgens: Krankmeldung.« Am Kneipentisch wird Suhren gefragt, was der Herzfehler mache, sein Freund hat tatsächlich einen und präpariert ihn für die nächste ärztliche Untersuchung. Er schüttet ihm ein Pulver in den Wein und Bohnenkaffee ins Bier, als Suhren alles getrunken hat, verliert er das Bewusstsein. In der darauffolgenden Nacht kotzt er auf seine Decke, geht hinaus und bricht Galle in den Schnee; es geht ihm so schlecht, dass er beschließt, er könne kein Simulant mehr sein.5 In Soldat Suhren gibt es übrigens auch einen Sergeanten Waurich — zwei Jahre vor dem Erstdruck des Kästner-Gedichts in Lärm im Spiegel —, der hier Zutschky heißt, ein seit Jahren berüchtigter Leuteschinder und Ausbildungsunteroffizier ist und allgemein die Mordlust seiner Rekruten auf sich zieht.6 Kästner kannte von der Vrings Buch, er rühmte dem Roman nach, er trage »Deutschlands dichterische Schuld ab«. (GG I: 326)

Etwa um die Jahreswende 1918/19 wurde Kästner nach Dresden zurückversetzt, am 8. Januar 1919 entlassen. In einem alten Rechenheft machte er sich Notizen über »Schwerwiegende Fragen«. (NL) Aus ihnen geht hervor, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Lehrer werden, sondern studieren wollte. Nur über den Weg war er sich noch nicht im Klaren. Zweifel am Lehrerberuf waren ihm an der Übungsschule gekommen, noch während der Zeit am Fletcherschen Seminar; als »größte[n] Irrtum meines Lebens« hat er die frühe Berufsentscheidung später bezeichnet. Er sei vor der Klasse gestanden und habe das genauso begriffen wie die Kinder in den Bänken. Nur die Professoren, die pädagogischen Beobachter, hätten nichts gemerkt: Die Kinder »blickten mich verwundert an. Sie antworteten brav. Sie hoben die Hand. Sie standen auf. Sie setzten sich. Es ging wie am Schnürchen. Die Professoren nickten wohlwollend. Und trotzdem war alles grundverkehrt.« (VII: 57) Er habe Lehrer werden wollen, um möglichst lange ein Schüler bleiben zu können, und er sei zu ungeduldig und unruhig gewesen, um Erzieher werden zu können. Dass seine Mutter ihn verstanden hat, rechnete er ihr immer hoch an, die Szene in Schurigs Zimmer ist in Als ich ein kleiner Junge war beschrieben. Er sei, noch in Uniform, vor sie hingetreten und habe ihr »bedrückt und schuldbewußt« gesagt: »›Ich kann nicht Lehrer werden!‹ Sie war bald fünfzig Jahre alt und hatte geschuftet und gespart, damit ich Lehrer werden könnte. Nun war es so weit. Nun fehlte nur noch ein Examen, das ich in ein paar Wochen spielend und mit Glanz bestanden haben würde. Dann konnte sie endlich aufatmen. Dann konnte sie die Hände in den Schoß legen. Dann konnte ich für mich selber sorgen. Und da sagte ich: ›Ich kann nicht Lehrer werden!‹ […] Paul Schurig saß schweigend auf dem grünen Sofa. Mein Vater lehnte schweigend am Kachelofen. Meine Mutter stand unter der Lampe mit dem grünen Seidenschirm und den Perlfransen und fragte: ›Was möchtest du denn tun?‹ ›Auf einem Gymnasium das Abitur machen und dann studieren‹, sagte ich. Meine Mutter dachte einen Augenblick nach. Dann lächelte sie, nickte und sagte: ›Gut, mein Junge! Studiere!‹« (VII: 58f.)

Auf dem Blatt »Schwerwiegende Fragen« hatte er sich vor dieser Unterredung die möglichen Wege zum Studium überlegt. Sollte er auf ein Lehrerseminar gehen, 1919 abschließen, vier Jahre als Hilfslehrer arbeiten und nach der 2. Prüfung bis 1927 studieren; oder sollte er statt des Lehrerseminars das Realgymnasium in Glauchau besuchen, 1920 die Matura ablegen und bis 1924 studieren? Als Hilfslehrer hätte er ein paar Jahre ein Gehalt bekommen, das dann während des Studiums wieder weggefallen wäre. Im Falle des gymnasialen Weges wäre er drei Jahre eher mit dem Studium fertig, hätte »bessere Vorbildung« und wäre »Vollakademiker«. Auf dem Blatt sind drei Namen notiert, die er offenbar um Rat fragen wollte: seinen ehemaligen Direktor im Fletcherschen Lehrerseminar Jobst — die kritische Einschätzung des Rektors in Primaner in Uniform ist also eine spätere Setzung — und Dr. Zimmermann, der dritte Name ist unleserlich.7 Es folgt eine pathetische Einschätzung seiner Situation: »Ich weiß es genau: Ich stehe am Scheidewege. An einem, vielleicht dem bedeutungsvollen Wendepunkte klarste Überlegung und festeste Willensanspannung täten not. Statt dessen hält mich eine Lethargie umfangen, die den Wert der Persönlichkeit, meiner Persönlichkeit erstickt. Fatalist und Pantheist bin ich jetzt weit mehr als ein egoistischer, vorwärtsdrängender Mensch, der ich sein wollte. Es ist zum Kotzen gnädige Frau.

Aber schließlich ist es doch nur ein Gefühl richtiger, maßstabgerechter Selbsteinschätzung. Was liegt denn am einzelnen? Nichts. Nicht das Mindeste! Wozu all dieses Hetzen, diese Treibjagd, diese Entbehrungen für nur scheinbar hohe Ziele! Laßt uns essen u. trinken! Laßt uns unserm Steckenpferd leben! Und wenn es Schmetterlingsfang oder seidene Strümpfe wären! — Denn wir sind wenig — und schon morgen können wir nicht mehr sein. Après nous le déluge!«

Die sehr konkreten Fragen passen wenig zum Beschwörungspathos, und dass ihm das selber bewusst war, zeigen diese Notizen und ihr koketter Ton. Nietzsches Idealbild eines Übermenschen ist ihm zwar vertraut, Kästner kann es aber nicht leben und bricht sein Ideal ironisch mit der komisch-verzweifelten Anrufung der Gnädigen Frau. Übrig bleiben wenig hehre dionysische — eher hedonistische — Ziele, Essen, Trinken, ›Hobbys‹. 

Tatsächlich besuchte er dann kurz das Realgymnasium in Glauchau, noch während seiner Dienstzeit legte er einen Sonderlehrgang und die Übergangsprüfung zur nächsthöheren Stufe ab, bevor er am 15. Januar 1919 Hospitant des König-Georg-Gymnasiums in Dresden-Johannstadt werden konnte, ein »Reformgymnasium«. Er besuchte bis Ostern 1919 die Unter-, bis 20. September die Oberprima, nach einer schriftlichen und mündlichen Prüfung erhielt er ein Kriegs-Reifezeugnis mit »vorzüglichen« Leistungen und »völlig befriedigendem« Betragen. »Er erklärt bei seinem Abgang die Absicht, Germanistik, Geschichte und Französisch zu studieren.« Bemerkenswert unter all den einzelnen »Vorzüglich (1)« seines Zeugnisses ist das »Gut (2a)« in Englisch — diese Sprache hatte er innerhalb eines Dreivierteljahres nachgelernt. Später hat er sein Gymnasium in den höchsten Tönen gerühmt, weil ihm hier zum ersten Mal andere als autoritäre Strukturen begegneten — er war auf Dauer den Kasernen entkommen und wusste sein Glück zu schätzen. Er habe »nie wieder im Leben so gestaunt« wie an den ersten Tagen des Unterrichts, »als ich plötzlich Professoren erlebte, die sich während des Unterrichts zwischen ihre Schüler setzten und diese, auf die natürlichste Weise von der Welt, wie ihresgleichen behandelten. Ich war überwältigt. Zum ersten Mal erlebte ich, was Freiheit in der Schule war, und wie weit sie gestattet werden konnte, ohne die Ordnung zu gefährden. Die anderen, die wieder ins Seminar zurückgemußt hatten, wurden weiter zu Gehorsamsautomaten gedrillt.« (II: 77) Mit seinem Deutschlehrer, Walther Hofstaetter, korrespondierte er noch in den fünfziger und sechziger Jahren; er erinnerte sich gern an sein Kriegsabitur, »nicht ohne Rührung«, weil Hofstaetter ihm ein Einzelthema stellte, »Der junge Goethe und wir«: »Ich weiss auch noch, dass Sie mir gestatteten, den Prüfungsraum zu verlassen und vor der Schule auf einer der Parkbänke, Zigaretten rauchend, Notizen zu machen.«8 Am König-Georg-Gymnasium lernte er auch seine Freunde Ralph Zucker und den ebenfalls an einem 23. Februar — allerdings 1901 — geborenen Werner Buhre kennen.

Aus dieser Zeit sind erste Gedichte überliefert, die noch stark den eigenen Lektüren hörig waren und einer zeitüblichen ›Weltanschauung‹ entsprachen. In einem Schulheft aus der Gymnasialzeit verteidigte Kästner den »übertriebenen Ich-Kultus« der Jugend, aus dieser Quelle bilde sich »nach kurzen Jahren, in denen das Ich wohl einem wilden Geißbock gleichen mag, der breite faßbare Strom, an dem so mancher seine Mühle bauen kann«. Zur Illustration dieses Ich-Kults schrieb er ein mehrere Seiten langes Gedicht, in dem das Ich noch recht bescheiden beginnt:

»Ich!

Kleiner Vogellaut

einst

in grünem Hag;

blauer Frühlingshauch

einst

am Maientag«

Dieses Ich wächst aber gewaltig an, es ist »Nicht mehr zu streichen« und sieht die ältere Generation erbleichen, die ganze Welt wird als »Nicht-Ich« zum Feind. Dagegen hilft nur »Schwert heraus«, mit dem sich das lyrische Ich beweisen und die eigene »gärende Macht« spüren will:

»Schwertkampf, Schreien und Blut!

Blute ich? — Blutet die Welt?

Wer fällt, der fällt!

Eine Flut

zuckender Leichen.

Ich muß es erreichen!

Ich will vom Bösen

vom Faulen und Schlechten

die Welt erlösen.

Drum muß ich empor!

Hinein in die Wolken!

Jetzt bin ich Thor!«

Der Germanengott, zu dem sich das Ich nun entwickelt hat, wirft dem Mythos entsprechend mit Blitzen und donnert, er beschuldigt die Menschen, dass sie feige, »von Schwächen und Ängsten umstellt« sind. »Erwacht!«, heißt es, auch »eure Brust« besitze dieses »unendliche Ich«, und wenn es allen bewusst geworden sei, wolle sich das Ich opfern, »aus zerfetzter Brust« das Herz herauszerren und das Alte zerbrechen.

»Für euch geflossen,

für euch vergossen!

Für euch, ihr Menschen,

vergießt ein Ich

sein brennendes Blut!

Indessen ihr ruht

und schlummert und gähnt

und euch auf wollüstigen Lagern dehnt.

[…] Menschen! Erhebt euch! Werdet groß!

Schlürft

mein für euch verströmendes Blut!

Menschen! Umarmt euch! Und werdet gut!«

Dieses Gedicht ist sozusagen eine Stegreifarbeit, wohl in der Schule unter Klausurbedingungen geschrieben. Man sollte es also nicht allzu genau analysieren und die manchmal läppischen Reime mit Stillschweigen übergehen. Eher wäre die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit zu notieren, mit der Kästner als knapp Zwanzigjähriger schreiben konnte, formal immerhin am naturalistischen Experimentellen Arno Holz orientiert. Seine Arbeit ist tatsächlich von einem Lehrer korrigiert worden; freilich beschränkte der sich auf die Bemerkung »Engführung u. Aufbau fesseln«. Das Gedicht zeigt einen schlichten Nietzsche-Adepten, der dessen abrupte Sprünge seit dem Zarathustra nicht nachvollziehen mochte; das Ziel, die Menschheit groß und gut zu machen, wirkt einigermaßen unscharf neben dem doch recht konkret ausgemalten Weg dorthin, der ja viele Familien im just vergangenen Krieg ganz unmetaphorisch betroffen hatte, freilich ohne das gewünschte Resultat.

Im Nachlass hat sich ein langer Brief von Kästners Freund Ralph Zucker erhalten, der ebenfalls die erhabene ›Lebensanschauung‹ zeigt, in der sich die jungen Männer nach dem Krieg bewegten; Nietzsche, Schopenhauer, Dostojewskis Dämonen und vor allem Oswald Spengler werden permanent zitiert, mit dem Zucker die »Vaterlandsliebe« erklären wollte. Es lässt sich kaum definitiv beurteilen, inwieweit Zuckers und Kästners Gedanken zu jener Zeit übereinstimmten, ein Antwortbrief fehlt; immerhin hat Kästner gegenüber Luiselotte Enderle seinen Freund zum »Frühvollendeten« erklärt, er sei »der Klügste von allen« gewesen9, und Zucker ist Vorbild für Labude in Fabian. In Zuckers Brief werden Völker individualisiert, jedes Volk habe seinen eigenen Gott, sei nicht »Rassen-«, sondern »Schicksalsgemeinschaft«, und habe seine eigene Aufgabe, nach deren Erfüllung es absinken könne. Auch die Juden seien eine solche Schicksalsgemeinschaft; Zucker war Jude aus einer reichen bayerischen Familie. Jedes Volk habe unbestechliche, uneigennützige »Führer, die Vertrauen besitzen, die auch im Einzelnen irren aber im Ganzen dem Volke helfen werden, zu werden was es ist, zu erfüllen was es soll und glücklich zu sein«. Zucker hat diese optimistische Variante selbst bezweifelt und war eher geneigt, an den »Untergang des Abendlandes« zu glauben, »Hauptsymptom: Der Sozialismus als allg. Unfallversicherung, die Nächstenliebe ohne Opfer auf Grund des ›do ut des‹, die anonyme Majorität die die Verantwortung der Staatslenkung übernehmen soll«. Auch »der Mensch«, der einzelne, sei nur »ein Mittel zu Übermenschlichem«, »Übermenschliches« aber »Selbstzweck«. In dieser Gedankenwelt stecke »die Kraft einer ungeheuren Bejahung des Lebens und zugleich einer ungeheuren Verneinung des Todes«; konsequenterweise studierte Zucker Medizin und fühlte sich von seinem Anatomieprofessor darin bestätigt, dass alle »geistigen und seelischen Regungen nervöser Natur sind«.10

Foto Kästners aus der Schulzeit. Er sitzt an einem Tisch mit gemusterter Tischdecke und einer Blumenvase vor einer großformatig geblümten tapezierten Wand.

Der Abiturient

Ein weiteres frühes Gedicht Kästners, Die Jugend schreit!, ist in einer Schulzeitung des König-Georg-Gymnasiums abgedruckt, erschienen am 1. Juni 1919.11 Hier zeigt sich der Verfasser frei von jedem Welterlösungspathos und beklagt vielmehr das durch den vergangenen Krieg vertane Leben. Das Gedicht zeigt sich stark von frühmoderner (hier auch expressionistischer) Emphase beeindruckt: wie im vorigen zahlreiche aneinandergereihte Ausrufe, auf Mitte gesetzt, die dem vergangenen Grauen Herr zu werden suchen; der Beginn:

»Blutige Sonne

quält sich

durch blutende Nacht!

Wir atmen den giftigen Tag.

Tödliche Nebel

ballen sich hoch,

schwellen,

schwanken,

wanken,

quellen

in scheußliche, zerrzuckende Fratzen —

Laßt uns —

Krallende, greifende Finger

kreisen uns um die Kehle.

Wir werden — ersticken! — Ersticken!

Laßt uns —

den Atem!

Denn wir —

wir sollten,

wir wollten

das Morgen sein!

Hin — weg ihr!

Hinweg!

Schielende, tanzende Teufel!

Erdrückend gestaltloser, grauer Berg,

auf uns sich wälzend,

nah — näher — näher — grau!

Mütter!

Litten wir einzig deshalb Geburt,

um betrogen zu werden

um unser Leben?«

Die Kürze der Verse, der verknappende Satzbau deuten auf den 1915 gefallenen August Stramm; dessen Gedichte aus dem Krieg Tropfblut erschienen zuerst 1915 in Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm. Stramms Gedichte sind um einiges härter, interpunktionslose Reihungen, in denen die Mitteilung mitunter auch die Sprache selbst destruiert. Die Jugend schreit beim jungen Erich Kästner immer noch in korrekten Sätzen, nur der Neologismus »zerrzuckend« überschreitet die Konvention. Kästner schrieb hier über etwas, was er nur mittelbar erlebt hat, und das in den Gedichten mitgeteilte Weltbild ist noch unklar, auch widersprüchlich — eher Fingerübungen als Gedichte.

Sein Schulabschluss soll so erfolgreich gewesen sein, dass er das Goldene Stipendium der Stadt Dresden erhielt, er selbst schreibt ohne nähere Bezeichnung von einem »monatliche[n] Stipendium«, für das er sich bald durch die Inflation nur noch »knapp eine Schachtel Zigaretten« habe kaufen können. (II: 57f.) In einem Stipendiengesuch vom 5. Mai 1920, das sich im Nachlass befindet, ist in der entsprechenden Spalte — »ob der Bittsteller bereits ein Stipendium, oder die Zusicherung eines solchen erhalten habe und wieviel es betrage« — allerdings ein Strich gezogen. Es bleibt also offen, ob er tatsächlich wegen dieses Stipendiums, das zum Studium an der einzigen sächsischen Universität in Leipzig verpflichtete, die Stadt wechselte; jedenfalls zog er nach Leipzig um.