Im Wintersemester 1919 nahm er sein Studium in Leipzig auf. Er schrieb sich für Germanistik, Geschichte, Philosophie, Zeitungskunde und Theaterwissenschaften ein, aus Neigung und auch, weil diese Studienfächer außer ein paar Büchern keine großen Kosten erforderten. Sein erstes Untermieter-Zimmer suchte er zusammen mit seiner Mutter, dann setzte er sie in den nächsten Zug nach Dresden. Schon für Schulausflüge auf Elbdampfern hatte ihm seine Mutter Geld mitgegeben, das er immer wieder zurückbrachte, anstatt es auszugeben. Am Anfang seines Studiums hielt er das genauso und schränkte sich ein, wie es nur ging: »Auch erstes Semester in Leipzig. Mama fiel fast vor Schreck um, als sie mich wiedersah.« (AN)
Leipzig war eine anregende Stadt für den Studenten — eine der größten Verlagsstädte der Weimarer Republik, mit mehreren konkurrierenden Tageszeitungen. Hans Bauer hatte 1919 die satirische Wochenzeitschrift Die Pille gegründet, nach dem Vorbild des Münchner Simplicissimus. Nach einem Vierteljahr ging sie ein, das Publikum wollte nicht »allwöchentlich eine« schlucken. Mehr Glück hatte Hans Reimann mit Der Drache, die erste Nummer erschien pünktlich zu Kästners Studienbeginn am 1. Oktober 1919 mit dem Herausgeberkommentar: »Heutzutage gründet jeder hergelaufene Idiot seine eigene Zeitschrift. In allen Städten schießen sie wie die sauren Gurken aus der Erde. Warum solltest ausgerechnet du keine Zeitschrift gründen?«1 Reimanns mäzenatischer Verleger war der Inhaber eines Sportgeschäfts. Reimann, zehn Jahre älter als Kästner, hatte schon im Simplicissimus und in der Jugend veröffentlicht, mit seinen Bänden Sächsischer Miniaturen war er einer der ersten satirischen Erfolgsschriftsteller. Seine »ungemütliche Zeitschrift«, die sich später »republikanische satirische Wochenschrift« nannte, gab sich links und fortschrittlich, ohne an eine Partei oder auch nur an klare politische Vorstellungen gebunden zu sein. Zu den Mitarbeitern gehörten Hans Natonek als stellvertretender Redakteur und Reimanns Freund Hans Bauer, der von 1921 bis zum Ruin 1925 die Herausgeberschaft übernahm. Fritz Hampel (»Slang«) und Bruno Apitz hatten hier ihre ersten Veröffentlichungen, Joseph Roth schrieb Reportagen, Walter Mehring Großstadtlyrik, Joachim Ringelnatz Kurzprosa und Gedichte; Kästner hat in seinen letzten Leipziger Jahren im Drachen ebenso veröffentlicht wie seine Bekannten Erich Gottgetreu und Ossip Kalenter. Keiner der Beiträger außer Reimann hatte schon zu Drachen-Zeiten einen großen Namen.
Auch das Leipziger Kabarett war von der Gründungseuphorie der Nachkriegszeit betroffen. Es gab nicht nur die üblichen anzüglichen ›Cabarets‹ zur Abenderholung einsamer Messegäste, sondern auch ein deutschlandweit bekanntes literarisches Kabarett, bei dem wiederum Hans Reimann eine zentrale Rolle spielte: 1921 gründete er zusammen mit dem Regisseur Hans Peter Schmiedel, dem Schauspieler Hans Zeise-Gött und dem Pelzkaufmann Dr. Walther Franke als Finanzier die Retorte. Kästner konnte hier auf der Bühne neben den Gründern alle Leipziger Schauspieler von Rang sehen, darunter Lina Carstens, Fritz Reiff und Agnes del Sarto, das erste Programm brachte Texte Walter Mehrings, dazu Schwitters, Klabund und Weinert; Joachim Ringelnatz gastierte mehrfach auf seinen landesweiten Tingeltouren.
Man kann sich ein vages Bild von Kästners Studieninteressen machen — er verschaffte sich den Überblick über das gesamte Fach der deutschen Literatur, las wissenschaftliche Werke von der Deutschen Dichtung im Mittelalter bis zur unmittelbaren Gegenwart. Sein Schwergewicht scheint auf wissenschaftlichen Werken zu deutsch- und englischsprachiger Dramenliteratur gelegen zu haben, ausgiebig beschäftigte er sich mit den deutschen Bearbeitungen von Hamlet.
Helga Bemmann hat in ihrer Kästner-Biographie die einschlägigen Auszüge des Leipziger Vorlesungsverzeichnisses für Kästners letzte vier Semester bis zum vorläufigen Studienende am 24. Oktober 1924 abgedruckt, demnach las sein ausersehener Doktorvater Albert Köster in dieser Zeit über Goethe und die deutsche Literatur im 16. und 17. Jahrhundert, sein tatsächlicher Doktorvater Georg Witkowski über die deutsche Literatur in der gleichen Epoche und über ein sozialgeschichtliches Thema, die literarhistorische Gesellschaft nämlich; Kästners Zweitgutachter Friedrich Neumann war Mediävist und las über das mittelhochdeutsche Epos.2
Trotz dieser vielfältigen Leipziger Anregungen blieben seine Bindungen an Dresden stark, die Distanz wuchs erst langsam über die Jahre. Seine Mutter lebte dort, und auch die nach ihr wohl erste und wichtigste Frau in seinem Leben, Ilse Julius, lebte und studierte in Dresden. Wann und wo er sie kennengelernt hat, wissen wir nicht; jedenfalls nicht in Rostock, wie überall zu lesen ist. Dort verbrachte er das Sommersemester 1921, aber ihre ersten erhaltenen Briefe in Kästners Nachlass hat sie schon zwei Jahre vorher geschrieben. Er hatte also gute Gründe, mindestens die Semesterferien in Dresden zu verbringen; über das Rostocker Semester und das anschließende Wintersemester 1921 in Berlin gibt es kaum Informationen, außer dass Ilse »die Liebe selber« zu ihm war (8.7.1921, MB) und Muttchen ihn — wie üblich — gut versorgte und ihm Päckchen mit Kuchen, Nelken, Zigaretten und Geld schickte.
Seine Berufswünsche in dieser Zeit waren noch im Fluss: »Sollte ich — würde ich’s nämlich können — Schriftsteller werden, oder Journalist oder — das war nun eine Frage für sich […] — konnte ich denn nicht Regisseur werden?«3 In Dresden war er weiterhin häufig ins Theater gegangen und auch in den Semesterferien als Statist aufgetreten: am Sächsischen Landestheater in Schiller-Stücken wie Wilhelm Tell und der Braut von Messina, im Chor der Semperoper, auch habe er sich »mit Bärten bekleben lassen als Brabanter«. Eines seiner Vorbilder war Berthold Viertel. Der war Mitarbeiter an Karl Kraus’ Fackel gewesen und einer von Kraus’ ersten Unterstützern, sein Theater-Essay Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit wurde 1917 in zwölf Folgen aufgeführt. Viertel hatte zuerst an der Wiener Volksbühne als Dramaturg und Regisseur gearbeitet, von 1918 bis 1922 war er Regisseur am Sächsischen Landestheater in Dresden; einige der bedeutendsten Inszenierungen expressionistischer Dramen hat er hier erarbeitet. Kästner beschrieb Viertel als »von kleiner Statur, er war auch im Aussehen ein Feuerkopf, er wirkte imposant, so klein er war, und sein künstlerischer Ernst umgab ihn wie eine Stahlkarosserie«. Diesen Mann wollte er kennenlernen und von seiner Arbeit profitieren, indem er »möglichst unauffällig« an den Proben teilnahm. In der Zeitung hatte er gelesen, Walter Hasenclevers Stück Jenseits solle von Viertel im Beisein des Autors einstudiert werden, das muss 1920 gewesen sein. Den Bühneneingang kannte Kästner durch seine Statistenrollen, die Probentermine konnte er am Schwarzen Brett lesen. Am nächsten Morgen postierte er sich am Bühneneingang, um Viertel abzufangen. Er sah ihn kommen und zum gegenüberliegenden Friseur gehen, wo er sich rasieren ließ. Danach ging er an dem wartenden Studenten vorbei durch den Bühneneingang ins Theater und — wurde nicht angesprochen. »Ich hatte […] vor talentierten Menschen eine ausgesprochene Scheu und möchte ihre Kreise nicht im falschen Momente stören.« Auch am nächsten Morgen brachte Kästner es nicht fertig, den Verehrten zu stören, und dachte sich eine neue Strategie aus: Er würde sich gleichzeitig rasieren lassen. Kästner hat die Komödienszene dem Schauspieler Gerd Fricke erzählt: »Er setzte sich auf den rechten Stuhl, ich setzte mich auf den linken Stuhl. Der Meister rasierte ihn und der Gehilfe mich. […] haben Sie schon einmal jemanden ansprechen wollen, der rechts von Ihnen rasiert wird, während auch Sie rasiert werden? Es ist außerordentlich schwierig, ins Gespräch zu kommen. Zunächst wurden wir beide, geradeaus blickend, mit Seifenschaum umwölkt, in dieser Situation konnte ich ihn nicht ansprechen. Dann, etwa gleichzeitig, drehten die Friseure ihre Köpfe nach links und begannen, die rechte Seite unserer Schläfen und Backen zu rasieren. Viertel saß nun also hinter mir und schaute meinen Hinterkopf an, und ich schaute auf die Straße. Es war wieder keine Gelegenheit, ihn anzusprechen.« So ging es einige Zeit hin und her: »Aber die Natur ist hilfreich. Viertels Bartwuchs war stärker als meiner, und so wurde er länger auf der rechten Seite rasiert, während ich schon aufgefordert wurde, meinen Kopf zu wenden. Nun sah ich Berthold Viertel an! Er sah mich natürlich nicht an […], lag mit geschlossenen Augen da, überlegte sich wahrscheinlich den Fortgang der Proben. In dem Momente nahm ich mir ein Herz und sagte unter der Rasur: ›Herr Viertel‹ — nun hatte ich vor lauter Verlegenheit keine Hemmungen mehr —, ›ich möchte gerne Ihren Proben zu ›Jenseits‹ zusehen.‹ Da sagte er: ›Wir sprechen uns nachher.‹« Viertel ließ sich Kästners Anliegen erklären und schleuste ihn tatsächlich ins Parkett, unter strengen Auflagen: »Setzen Sie sich in die Mitte, geben Sie keine Geräusche von sich, nach dem Ende der Probe verlassen Sie leise auf dem Weg, den Sie nun kennen, das Theater, und morgen früh sehen wir uns wieder. Entweder, wenn Sie sich wieder rasieren lassen, beim Friseur, sonst kurz vor Neun am Bühneneingang.« Kästner ließ sich nicht rasieren, kam aber zur nächsten Probe, fand die Auseinandersetzungen und »vulkanischen Ausbrüche«, die Unterbrechungen von Autor und Regisseur »sehr lehrreich und interessant«.
Kästner war vom Dresdner Expressionismus der Zeit beeindruckt: Kokoschka, Dix, Segall, Heckel, Schmidt-Rottluff lebten in der Nachkriegszeit in Dresden; in der Kunsthandlung Emil Richter fanden Kunstausstellungen, Lesungen und Vorträge statt, an die Kästner sich in den fünfziger Jahren als »vorbildlich«, als »außerordentlich interessant« erinnerte. Er habe dort »als Schüler, Soldat und Student« auch zum ersten Mal Kandinsky, Klee, Beckmann, Chagall, Felixmüller, Macke und Marc gesehen; einmal erlebte er dort sogar eine Lesung Hugo von Hofmannsthals. Im Kunstsalon »traf sich die Elite. Dort durfte ich sie beobachten, bewundern und, in aller Stille, kritisieren.« (8: 206)
Auch Walter Hasenclever las im Kunstsalon Richter. Er war seit 1916 in Dresden, wie Kästner und viele ehemalige Soldaten in den alten, geringfügig umgearbeiteten Uniformen. Hasenclever hatte nach Kästners Erinnerung »aus dem Weltkrieg einen Nervenschock heimgebracht, aber auch sein erstes Stück, ›Der Sohn‹ — ein Stück, das — zur Uraufführung mit Ernst Deutsch gespielt […] — einen epochalen Erfolg hatte. Es beeinflußte das Theater und die Dramatiker jener Zeit.« Der Sohn war Hasenclevers erster großer Bühnenerfolg, geschrieben hatte er das Stück allerdings schon 1914. Auch Jenseits lobte Kästner im Rückblick: Es sei eine Chance gewesen, ein modernes Stück zu sehen, psychologisch und sprachlich interessant und mit zwei »ausgezeichneten Schauspielern«, Alice Verden und Walter Iltz, ein Zweipersonenstück, das sich darum bemühte, »eine nicht eben ungewöhnliche Dreiecksgeschichte ungewöhnlich vorzubringen«. In Jenseits spielte Hasenclever mit okkulten Elementen — die erst kurz verheiratete Jeane erfährt vom Tod ihres Mannes bei einem Grubenunglück, während dessen Freund Raul bei ihr ist, von einer magischen Gewalt geführt. Jeane zieht Raul ins Bett, weil sie ihn für den Toten hält; als er erfährt, dass sie von ihrem Mann schwanger ist, »tötet er Jeane und befreit damit sich selbst vom Geist des Toten und zugleich ihre Seele, die sich im Jenseits mit der ihres Mannes vereinigt«.4 Stefan Grossmann feierte das Stück im Tage-Buch nach Viertels Inszenierung, nie sei das »Eingesperrtsein in das eigene Ich phantastischer und bildhafter gemalt worden«; Siegfried Jacobsohn dagegen meinte in der Weltbühne, wer Jenseits empfohlen habe, verdiene »Entlassung ohne Kündigung«, hier sei Hasenclever »das letzte bischen Talent ausgeronnen«.5
Bei der dritten Probe mit dem heimlichen Hospitanten Kästner ereignete sich ein Zwischenfall, er wurde entdeckt. Alice Verden habe gerufen, »in der Haltung einer Medea, den Arm und die Finger weit ins Parkett gestreckt: ›Da hinten sitzt jemand! Vorhang!‹ Der Vorhang fiel, hinter dem Vorhang wurde gerufen, gemurmelt, es gab Auseinandersetzungen.« Kästner wartete den Ausgang nicht ab, sondern schlich sich aus dem Theater, »noch immer auf Zehenspitzen, wie ich’s nicht anders gewöhnt war«. Seine Lehre als Regisseur war vorzeitig beendet, er versuchte nicht einmal mehr, Viertel »für seine außerordentliche Freundschaft und Kameradschaftlichkeit zu danken«. 1948, als Viertel aus dem amerikanischen Exil nach Zürich zurückgekehrt war, sprach Kästner ihn auf die Episode an; für Viertel war sie aber weniger wichtig gewesen — Kästner hatte 1921 nur wenige und esoterische Publikationen vorzuweisen —, er hatte die Begegnung schlicht vergessen.
Viertel hatte Kästner vor einer der Proben gewarnt, ein akademischer Regisseur zu werden, und ihm empfohlen, sich erst einmal als Schauspieler zu versuchen, »ein schrecklicher Schlag«, meinte Kästner. Er war sich sicher, dass er für diesen Beruf ungeeignet sei. Immerhin versuchte er einige Zeit, »heimlich […] Hamletmonologe und Partien aus ›Tor und Tod‹, von Hofmannsthal« aufzusagen und sich »als Darsteller einer fremden Person zu fühlen«, resignierte aber rasch.
Als Autor war er hartnäckiger; 1920 wurden seine ersten Arbeiten gedruckt. Im Verlag der Akademischen Nachrichten und Leipziger Studentenzeitung erschien zur Weihnacht 1920 ein bibliophiles Heftchen mit Dichtungen Leipziger Studenten, die ersten drei der 26 Gedichte stammten von Erich Kästner — und sein Name ist auch der einzige späterhin berühmte. Seine Gedichte aber, Dämmerung, Heimkehr, Deine Hände, sind unberühmt, glatt, gefällig, dezent melancholisch, erinnern am ehesten noch an neuromantische Gedichte oder an die glatteren Arbeiten der Dresdner Expressionisten, die er gekannt haben mag, etwa A. Rudolf Leinerts oder Heinar Schillings. Bei diesen Gedichten drängt sich eine psychoanalytische Lesart fast auf. In Heimkehr etwa ist von einem lyrischen Ich die Rede, das in Städten gestanden hat »wie einer, der seine Mutter sucht«, das auf unendlichen Straßen an gleichgültigen Menschen vorübergeht, Kindern zunickt und in der letzten Strophe endlich fündig wird6:
»Jetzt aber lieg ich im Lied deiner Hände,
aus tausend stummen Stunden erlöst. —
Und wenn es mich wieder ins Dunkel stößt:
Ich weiß ja, daß ich dich wartend fände!«
Nach den kurzen Intermezzi in Rostock und Berlin studierte Kästner von 1922 bis zum Abschluss in Leipzig; der Geheimrat Prof. Dr. Albert Köster hatte ihm eine mäßig, aber doch dotierte Stellung als Famulus angeboten, eher einer wissenschaftlichen Hilfskraft als einem Assistenten im heutigen Sinn vergleichbar. Er wohnte in der Nähe des Kristallpalasts, im zweiten Stock von Czermaks Garten 7, bei einer Frau Erler. Luiselotte Enderle hat in ihrem Kästner-Anekdotenband überliefert, dass die Witwe ihre Zimmer vorwiegend an Artisten vermietete, in der Küche schlief und »nervzerreißend auf ihrer Geige« übte; außerdem habe sie keinen Anstoß an nächtlichem Damenbesuch genommen, sondern das Frühstück mit der herzlichen Bemerkung ans Bett gebracht: »Na, heute werden Sie aber Hunger haben!«7 Kästner hat sich ein groteskes Weihnachtsfest in einem derartigen — allerdings nach Berlin verpflanzten — Akrobatenhaushalt in dem Feuilleton Feier mit Hindernissen (1932) ausgemalt: Der Bekannte einer Frau mit Gummigelenken kommt unter die Zauberkünstler, Messerwerfer, Jongleure und Kraftakte und erlebt einen Heiligabend, dass ihm, »nur bildlich gesprochen, das Messer im Halse stecken« bleibt. (GG I: 308—312)
Albert Köster war Sohn eines Weingroßhändlers und hatte sich als Theaterwissenschaftler und Editionsphilologe einen Namen gemacht. Seine erste Berufung erhielt er nach Marburg, seit 1899 war er Professor für neuere deutsche Sprache und Literatur in Leipzig. Er untersuchte die Theaterbühnen vor allem im 16. Jahrhundert und konstruierte Bühnenmodelle vom 16. bis 19. Jahrhundert; seine einzigartige Sammlung ging an das Münchner Theatermuseum. Er konnte als Verfasser der Geharnschten Venus, einer wichtigen barocken Lyriksammlung, Kaspar Stieler nachweisen; er gab einzelne Bände großer Goethe- und Schiller-Ausgaben heraus, die Briefe von Goethes Mutter, den Briefwechsel von Theodor Storm und Gottfried Keller sowie eine textkritische Storm-Ausgabe. Für eine großangelegte Geschichte der deutschen Literatur bearbeitete er die Aufklärung, beendete die Darstellung aber nicht mehr bis zu seinem Tode 1924; das Fragment erschien als Die deutsche Literatur der Aufklärung 1925. Schon aus dieser knappen Zusammenschau werden einige Bezugspunkte für den Köster-Schüler Kästner deutlich — seine frühe Liebe zum Theater mag ihn angezogen haben, er hat sich immer wieder auf die deutsche Aufklärung berufen, auf Goethe (und dessen Mutter!) bezog er sich gelegentlich; nur den Realisten des 19. Jahrhunderts stand er eher skeptisch gegenüber.
Unter seinen Mitstudenten traf er im Gottsched-Hauptseminar Kösters (Sommer 1922) seinen Dresdner Schulfreund Paul Beyer wieder, der auch mit Ilse Julius befreundet war. Beyer war etwas jünger als Kästner und hat zu seinem Missfallen vor ihm promoviert. Einer von Kästners Dozenten, der Leipziger Nordist und Theaterkritiker Dr. Gustav Morgenstern, ließ die Studenten über Nacht Kritiken der aktuellen Premieren schreiben; Kästner soll einer seiner Lieblingsschüler gewesen sein, und wenn man die wenigen erhaltenen Besprechungen Kästners aus dieser Zeit liest, versteht man das gut. Ein frecher, brillanter Nachwuchskritiker zeigt sich hier, der seine Pointen setzen kann und keinen Respekt vor kulturellen Institutionen hat — wie etwa vor Gerhart Hauptmann. Zu dessen 60. Geburtstag spielten die Theater landauf, landab seine guten und auch seine weniger guten Stücke. Kästner hatte eine Rezension zu Einsame Menschen zu schreiben, einem damals dreißig Jahre alten Stück und nach Hauptmanns eigenem Bekunden sein liebstes. Schon nach der Uraufführung waren die nicht mehr recht zeitgemäßen Konflikte moniert worden, der Student Kästner hatte 1922 nur noch Spott übrig: Als Hauptmann das weiße Pferd in Ibsens Rosmersholm wiehern hörte, »regte er sich so auf, daß er mit den ›Einsamen Menschen‹ darnieder kam«. Kästner schrieb weiter: »Handlung? Nie sollst Du mich befragen!: Ein junges Ehepaar kriegt eine russische Studentin zu Besuch; 1. Stadium: Sie soll 8 Tage bleiben. Und bleibt; 2. Stadium: Sie will eigentlich nicht länger bleiben. Und bleibt noch 8 Tage; 3. Stadium: Sie soll nicht länger bleiben, läßt sich zur Bahn bringen, kommt wieder mit zurück. Und bleibt nochmals 8 Tage; 4. Stadium: Sie soll bleiben. Und bleibt nicht länger (Denn das Stück ist gleich zu End); 5. Stadium: Deswegen ersäuft sich der junge Gatte. — Charaktere? Das übliche Personal wird bemüht: Der junge Mann und Held des Stücks ist ein geistig hochstehendes Individuum (d.h.: Das muß man Hauptmann einfach glauben; denn innerhalb des Dramas merkt das kein Mensch); und ein rückgratloses feminines Geschöpf. Die junge Frau ist mit ›Nora‹ Ibsen eng verwandt. Anna Mahr, die Studentin, ist eine moralisch zensurierte u. verbesserte Auflage von Frl. ›Rebekka West‹. Die Eltern Vockerat sind herrnhutisch und bemerken mit Hebbel sehr richtig, daß sie die Welt nicht mehr verstehen. […] Man verzeihe mir die unehrerbietige Sprache, aber es geht nicht anders. 4 Akte Psychopathologie um ihrer selbst willen und einen Akt Detektivfilm — das hält kein — Mensch aus! Und will es auch nicht aushalten. Denn es glaubt heute keiner mehr, daß dialogisierte Psychologie u. Drama identisch sind. Denn wenn das wäre, dann könnten die Theater zumachen, und der Staatsgerichtshof wäre Kunstgenuß genug.
Ein Privatgelehrter, der sich über seine Frau und auch sonst über jeden Dreck ärgert, der einer Studentin auf dem Müggelsee das 3. und 4. Kapitel seines philosophischen Werks vorliest (Vockerat ist ein ebenso großer Philosoph wie Hauptmann selber, und seine enorm hochstehende Geistigkeit, die ihn zur Einsamkeit verurteilt, glaubt ihm kein Metallarbeiter) — also, ein Privatgelehrter, der sich ärgert, Manuskript vorliest und sich dann ertränkt, weil er niemanden mehr hat, der ihm zuhört — gewiß, über Geschmack läßt sich nicht streiten. Trotzdem hatte ich das brennende Bedürfnis, die Stufen zur Bühne hinaufzuklettern und Herrn Dr. Vockerat jun. eine herunterzuhauen. Wahrhaftig! Denn Dummheit und Schwächlichkeit werden auch dann nicht wirksam, wenn man die quantitative Absicht merkt, daß man mit ihnen 5 Akte ausmöblieren will. Wenn jeder, der mich ohne tieferen Sinn schindet, ein Künstler sein soll, dann ist mein Zahnarzt der zweite Shakespeare! Aber das bestreite ich eben!«
Kästners Furor lässt dann das Stück hinter sich und wendet sich literaturwissenschaftlichen Wahrnehmungsweisen zu; immerhin wurde sein Text im Rahmen einer literatur- bzw. theaterwissenschaftlichen Veranstaltung geschrieben, der junge Autor löckt also auch gegen diesen Stachel: »Man ist vor lauter historischem Training beinahe unfähig gemacht worden, ›nein‹ zu sagen. Vor lauter aesthetischer Relativitätstheorie u. Einfühlung! Der Teufel hole das historische Verständnis, wenn es charakterlos macht! Und wenn irgendwer über die Marlitt eine Toleranzpredigt hält und von Psychologie der Masse und Zeitcharakter faselt, dann soll er sich mit dieser Dame begraben lassen! Wir sollten wirklich einmal wieder ›Ja, ja‹ — oder ›nein, nein‹ sagen lernen, ohne dreifache Parenthese und zehn Fußnoten.«8
Dr. Morgensterns Hausaufgaben waren nicht auf Theaterrezensionen beschränkt, Kästner hat für ihn auch eine Protestversammlung gegen Arthur Schnitzlers Stück Reigen beschrieben. »Kunst und Entartung« hieß die Veranstaltung, sie dürfte 1922 stattgefunden haben. Schnitzler hatte das Stück 1896/97 geschrieben und hielt es für »vollkommen undruckbar«, »etwas Unaufführbareres hat es noch nie gegeben«. 1900 ließ er 200 Exemplare für seine Freunde drucken, 1903 erschien der Reigen in einem Publikumsverlag, bis 1914 waren an die 70.000 Exemplare verkauft. Schnitzler hatte nach einiger Überzeugungsarbeit seines Verlegers Samuel Fischer einer Uraufführung durch Max Reinhardt zugestimmt; nachdem Reinhardt 1920 die Leitung seiner Berliner Theater niedergelegt hatte, fand die Uraufführung am 23. Dezember 1920 im Kleinen Schauspielhaus in Berlin statt. Regie führte Josef Hubert Reusch, die Theaterleiter waren Maximilian Sladek und Gertrud Eysoldt. Sie und ihre Schauspieler wurden angeklagt, durch »unzüchtige Handlungen öffentlich ein Aergernis gegeben zu haben«, sie gewannen aber den Prozess vor dem Berliner Landgericht III nach knapp zweiwöchiger Verhandlung. Am 18. November 1921 wurde der Anstoß, den insbesondere rechtsradikale, antisemitische und katholische Vereinigungen genommen hatten, abgewiesen — es handle sich um ein moralisches und sittliches Stück, das nicht die Absicht gehabt habe, Lüsternheit zu erwecken. Als Sachverständige traten Kästners Lehrer Georg Witkowski und Albert Köster und vor allem die »gesamte Crème der Berliner Theaterkritik auf« — Alfred Kerr, Herbert Ihering, Arthur Eloesser, Ludwig Fulda; und auch Gerhart Hauptmann als »berühmteste[r] Dramatiker der Zeit« ließ sich befragen.9 Victor Schwanneke, in Berlin dann einer von Kästners Kneipiers, war als Schauspieler einer der Angeklagten und nach der Anklageschrift »hinreichend verdächtig […], durch unzüchtige Handlungen öffentlich ein Aergernis gegeben zu haben«.10 Nach dem Urteil wurde der Reigen in ganz Deutschland gespielt; die Kampagne von rechts wurde ungeachtet des Gerichtsurteils eifrig weiterbetrieben, Heinz Ludwig Arnold nennt einige Verbände: den »deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund, den deutschen Offiziersbund, den Bund nationalgesinnter Soldaten, den deutsch-völkischen Geselligkeitsverein, den Bund der Aufrechten«.11 Eine dieser Veranstaltungen also hat Kästner im Rahmen des Morgenstern-Seminars beschrieben; sie ist von mehreren — nicht genannten — Vereinen organisiert worden und war öffentlich. Kästner warf den Theaterdirektoren vor, sie benutzten das »allein Stoffliche dieses Kunstwerks, um aus der Geschmacklosigkeit des Publikums das ihnen so bitter nötige Kapital zu schlagen. Das Geschäft rentiert sich glänzend, denn das Publikum ist noch geschmackloser, als es sich selbst Theaterdirektoren träumen lassen.« Der Referent war ein »junger Privatdozent der Philosophie (man ist noch sehr unbekannt! ergo!)«, dessen Vortrag Kästner spöttisch zerlegte: Er »macht dem aufmerksamen dummen Zuhörer klar, daß da irgendwo eine Kunstanschauung existiere, deren Schlagwort sei: l’art pour l’art. Schon das fremdsprachliche Gewand dieses Mottos genügt, um zwingend darzutun, daß ein deutscher Privatdozent […] andrer, möglichst kontradiktorischer Ansicht zu sein hat. Nämlich: Die Kunst hat moralisch zu sein. Nun ist der Stoff des ›Reigen‹ höchst unmoralisch. Also ist das Ganze kein Kunstwerk. Nach diesem ergreifend schönen, ›wissenschaftlichen‹ System von Trugschlüssen gibt er sich natürlicher.« Der Dozent erzählte antiquarische und militärische Erlebnisse, wies darauf hin, dass Schnitzler Jude und Arzt sei und dass er seine Frau nicht zu ihm in die Sprechstunde schicken würde. Pikant an der Angelegenheit ist, dass dieser Privatdozent nicht unbekannt blieb: Hans Leisegang, damals 32 Jahre alt und für die Fächer Philosophie, Pädagogik und Psychologie frisch habilitiert, machte sich als Philosoph und Religionswissenschaftler einen Namen. Sein Buch über die Gnostiker (1924) ist ein bis heute immer wieder nachgedrucktes Standardwerk, er schrieb auch Bücher über Lessing, Goethe und philosophische Denkformen (1928). Der peinliche Auftritt gegen den Reigen passt nicht unbedingt in seinen bewegten Lebenslauf, er saß 1934 wegen »Beschimpfung des Nationalsozialismus« ein paar Monate im Gefängnis, wurde dennoch erst 1937 seines Lehrstuhls in Jena enthoben, 1945 wieder eingesetzt. 1948, nach erneuter Absetzung, floh er nach Westberlin; bis zu seinem Tod 1951 blieb er dort Ordinarius für Philosophie.
Die Diskussion über Leisegangs Thesen scheint, nach Kästners sprunghaftem Bericht zu urteilen, ziemlich bunt verlaufen zu sein. Man beklagte den Verkaufserfolg Courths-Mahlers, während die Werke Gerhart Hauptmanns — eines der Sachverständigen im Berliner Prozess! — unverkauft blieben. Ein »junger jüdischer Student plaudert von der Unsittlichkeit in Korps und Offizierskasinos; […] ein älterer jüdischer Herr wirft dem Referenten Unsachlichkeit und Unwissenschaftlichkeit vor; […] ergraute Handwerker und kleine Beamte benehmen sich, als ob sie noch Deckelhosen trügen.« Eine vorgefertigte Resolution gegen die Reigen-Aufführungen wurde verlesen, und »lustig hüpft das Stimmvieh auf der Weide der Nachäffung«. Kästners Besprechung schließt mit einer Tirade auf den Referenten: »Vielleicht hat Herr Leisegang die verdienstliche Liebenswürdigkeit, Richard III. in eine Tugendboldiade umzuformen, das Dekameron zu konfiszieren und aus dem Hamlet die Vergifteten, Gespießten und Verrückten herauszuwerfen. Ein moralisches Publikum würde ihm dadurch zu größtem Danke auf ewig verpflichtet. Auch auf dem horriblen Gebiet der Aktmalerei böte sich ihm ein ungemein fruchtbares Feld: Feigenblätter und Badehosen dürfte er schon malen können. Soviel trauen wir ihm noch zu.«12 Eine eigene Argumentation, ein Standpunkt Kästners ist in seinem Bericht kaum erkennbar. Er betont lediglich, bei dem Reigen handle es sich um ein Kunstwerk; und mit der Zuschreibung ›stofflich unmoralisch‹ reiht er sich in die Reihen der zeitgenössischen Verteidiger ein, für die offenbar Sexualität unmoralisch war und die Schnitzler die ›moralische‹ Behandlung des Themas zugutehielten. Ihre Einschätzung von Sexualität deckte sich also durchaus mit der ihrer Gegner.
Von seinem Einkommen als Famulus konnte Kästner keine großen Sprünge machen, er arbeitete daher noch nebenbei als Werkstudent, besonders zur Zeit der Messe. Die möglichen Tätigkeiten hat er in dem frühen humoristischen Feuilleton Mess-Ouvertüre (1923) beschrieben: Die Studenten konnten beim Messdienst arbeiten, als lebendige Wegweiser; sie konnten mit Bauchläden herumlaufen und Kekse verkaufen, in einer der vielen Tanzkapellen mitspielen, kellnern, mit Plakaten auf Bauch und Rücken »wandelnde Litfaßsäule« spielen: »Vielleicht werde ich auch Feuerwehrmann. Oder Portier im ›Nachtfalter‹. Oder Laufjunge. — Ich muß mal sehen …« (GG I: 9) Tatsächlich soll Kästner Adressen geschrieben und Standaufsichten geführt haben, jedenfalls konnte er sich zuletzt schon als Student einen überdurchschnittlichen Lebensstandard leisten. So vermeldete er der Mutter stolz, er habe in seinem Leipziger Stammcafé Felsche üppig zu Mittag gegessen — »Spargelsuppe & Kalbsbrust mit Leipziger Allerlei für 66 Pfg. & ein Glas Cognak, zur Verdauung, für 33 Pfg., 1 Pfg. Trinkgeld: Macht 1 Goldmark. Wenn Du wüßtest, was ich zusammenfresse! Manchmal esse ich sogar noch abends etwas warm! Eigentlich ist das unanständig, wie? Aber es bekommt mir gut. Wirklich ausgezeichnet. Ich glaube, meine Nerven haben sich ganz bedeutend gebessert. Und da bin ich doch recht froh drüber.« (Febr. 1923, MB)
Seine Bücher kaufte er sich noch auf Raten, zum Beispiel erwarb er 1924 eine 25-bändige Dostojewski-Ausgabe für 65 Mark, zahlte 5,— an und verpflichtete sich, jede Woche 15 Mark abzuzahlen. Aber ein endgültiger — auch materieller — Aufstieg war in Sicht, im selben Jahr wurde er, noch vor Abschluss des Studiums, Zeitungsredakteur.
In den älteren Biographien ist zu lesen, er habe spaßeshalber eine Glosse über die Inflation, Max und sein Frack, an das Leipziger Tageblatt geschickt, zwei Tage später sei sie als »Lokalspitze« erschienen und der damalige Verlagsdirektor — der Journalist und Reiseschriftsteller Richard Katz — habe ihm eine Redakteursstelle angeboten. Das Feuilleton ist am 7. Februar 1923 erschienen, seiner Mutter meldete er die Redaktionsstelle beim Leipziger Tageblatt wohl mit dem 4. Februar 1924; die originale Postkarte fehlt im Nachlass, ihr Abdruck in Enderles Ausgabe der ›Muttchen-Briefe‹ dürfte um ein Jahr rückdatiert (oder ein simpler Schreibfehler) sein. Max und sein Frack hat ihm jedenfalls die Stelle nicht verschafft. In der Glosse ist von einem Freund des Erzählers die Rede, der einen Frack besitzt und durch ihn mit Hilfe eines Leihhauses zeitweilig sein Leben bestreitet: Er löst den Frack aus, lässt ihn durch einen Freund gleich wieder abgeben, und in der kurzen Zwischenzeit ist der Wert des Fracks durch die Inflation von 3500 auf 15.000 Mark gestiegen.
Immerhin war dieser Text aber das Eintrittsbillett für regelmäßige Feuilleton-Arbeit. Ilse Julius beglückwünschte ihn an seinem Geburtstag: »Über die fabrikartige Herstellung & Nachfrage der Feuilletons freue ich mich sehr für Dich, vielleicht ein Anfang oder eine Vorbereitung für dermaleinst gewaltigere Taten.« (22.2.1923, JB) Um die gewünschte Redakteursstelle zu erlangen, begnügte sich Kästner nicht mit journalistischer Arbeit; er hatte spätestens in Leipzig das Nachtleben entdeckt und verstand es, als geschickter Lancierer auf sich aufmerksam zu machen. In einem Weinlokal, das nach der Polizeistunde noch geöffnet hatte, entdeckte er am Nebentisch den Chefredakteur der Zeitschrift Das Leben, Dr. Ploch: »Mit Frau, Schwägerin & einem Bekannten. Ich mache alle miteinander bekannt. Und es war recht fidel. Sekt &tc. Es wurde getanzt, & ich unterhielt mich mit Ploch & Frau. Er erzählte mir u.a., daß neben ihm noch ein Redakteur fürs ›Leben‹ angestellt wäre. ›Hallo! Weiß ich gar nicht, Herr Doktor. Wer ist das denn?‹ ›Ossip Kalenter!‹ Ich wunderte mich. Er sagte — aber ganz genau kann ich mich nicht mehr erinnern von wegen dem kleinen Schwips — Kalenter wäre viel krank &tc. Nun fing ich an zu flachsen: Wenn er schon noch einen Redakteur neben sich hätte, dann wäre ich der gegebene Mann. Seine Frau würde mir sicher beistimmen — Du weißt schon, wie ich sowas andrehe. War natürlich alles Spaß von mir.« (Febr. 1923, MB) Natürlich — aber am nächsten Tag fand Kästner einen Brief Plochs vor, der ihm eine Redakteursstelle anbot. Er hatte feste Vorstellungen, unter welchen Bedingungen er sie annehmen würde: »1) Kein 8-Stundentag, sonst wird meine Dr.-Arbeit nie fertig. 2) Mindestens zweimal 4 Wochen Ferien. 3) Etwa 200 M Gehalt mindestens.« (Febr. 1923, MB) Aus dieser Stelle scheint nichts geworden zu sein; die Zeitschrift Das Leben war erst im Gründungsstadium, in der ersten Nummer im Juli 1923 wurden immerhin Aphorismen von Kästner abgedruckt. Am 31. Januar 1924 dann lud Dr. Ploch Kästner ein, er möge einmal bei ihm vorsprechen, »da Aussicht besteht, daß wir Sie für den zweiten, bezw. dritten Redakteurposten engagieren«. (NL)
Jetzt ging Ploch auf Kästners Bedingungen ein: Er erhielt das gewünschte Gehalt, nur mit einem Probemonat musste er sich einverstanden erklären. Ploch war für Kästner auch deshalb so interessant, weil Das Leben in der Leipziger Verlags-Druckerei erschien; derselbe Verlag gab das Magazin Der Die Das, vor allem aber die beiden liberalen Tageszeitungen Leipzigs, die Neue Leipziger Zeitung und das Leipziger Tageblatt, heraus. Nach der Erinnerung Hilde Deckes war Kästner seit Mitte Februar 1924 auch schon Redakteur der Neuen Leipziger Zeitung. »Als ich engagiert wurde, sagte mir Katz, dass sie ausserdem einen jungen Mitarbeiter in Aussicht hätten, der wahrscheinlich ebenfalls mit mir beginnen würde. Erich kam dann 3 oder 4 Tage später als ich. An seinem Geburtstag sass er mir schon gegenüber.«13 Kästner schrieb seither kaum noch Feuilletons, dafür aber kontinuierlich Rezensionen über beinah alle kulturellen Gebiete, gelegentlich auch politische Artikel. Eine Gehaltsabrechnung vom August 1924 hat sich erhalten, danach verdiente Kästner 300 Mark, für Steuern und »Angestellten-Versicherung« wurden ihm 29,50 abgezogen; und Muttchen kaufte ihm vom Geld seiner Tante Lina Augustin eine Erika-Schreibmaschine für Hausgebrauch und Doktorarbeit.
Kästner gehörte nun dazu, er war nicht mehr der Zuschauer, der die wenig älteren Kollegen bewunderte — seit 1924 konnte er mit ihnen im Café Merkur am Dittrichring sitzen, mit Hans Bauer, Krell, Mehring, Natonek, Reimann, Weinert; auch die Maler Erich Ohser, Erich Hamm und Max Schwimmer gehörten dazu, auswärtige Gäste waren Andersen-Nexö, Kisch, Asta Nielsen, Joseph Roth und Rosa Valetti. Johannes Burkhardt war einer seiner näheren Freunde; er nannte sich als Publizist und Lyriker Ossip Kalenter und blieb Kästner bis auf kleinere Irritationen, die zwischen ›inneren‹ und ›äußeren‹ Emigranten allemal auftraten, bis in die letzten Jahre verbunden. Kästner ließ sich von dem ein Jahr jüngeren und früh erfolgreichen Dresdner beraten, an welche Zeitungen und Redakteure er seine Feuilletons noch schicken könnte. »Ich mache so gern Konzessionen«, schrieb ihm Kalenter vom Gardasee, wo er seit 1924 lebte: »Ich finde, Konzessionen zu machen ist an der janzen Kunst das Reizvollste. Schreiben was man will, ist garnischt; aber schreiben, was die anderen lesen wollen, das ist Kunst.«14 Eine Kunst, die Kästner vortrefflich beherrschte — zeitungsbezogen, abnehmerbezogen zu schreiben. In Leipzig legte er die Grundlagen für die spätere publizistische Vielfalt in Berlin. Kalenter lobte seine Theaterkritiken, vermerkte aber, ein »wenig Nachhall der Doktorarbeit« hafte noch daran, »aber wie Sie gebaut sind, wird sich das Seriöse wohl geben«.15
Das Zeitungsmilieu war überschaubar, Ploch wurde dann auch bei der Neuen Leipziger Zeitung Kästners Chef — er wechselte und konnte dort offenbar dem Feuilletonchef Natonek hineinreden, nicht unbedingt zu Kästners Vergnügen: »Er wird vieles selber machen wollen. Na, wennschon. Dann hab ich wieder mehr Zeit für mich.« (27.11.1924, MB) »Wir ›plochen‹ uns so herum«, schrieb Max Krell, nach Ploch der zweite Chef Kästners in der Hierarchie, seinem Kollegen.16
Hans Natonek »sah aus wie ein bleicher Mongole«.17 Er wurde 1892 in Prag geboren, seit 1917 war er in Leipzig und seit 1923 bei der NLZ. Er war mit seinem ironischen, sarkastischen, leichten Stil ein Vorbild Kästners; seine oft eminent politischen Arbeiten erschienen auch in der Aktion, der Schaubühne, der Weltbühne und im Stachelschwein. Natoneks Ehe wurde 1933 geschieden, seine Frau war eine hysterische Nationalsozialistin und hatte ihrem jüdischen Mann den Umgang mit seinen Kindern verboten. Natonek emigrierte über Paris nach New York und brachte sich dort zeitweise als Leichenwäscher durch, auch mit Autowaschen und Schneeschippen — an seine Karriere als erfolgreicher Schriftsteller und Romancier konnte er bis zu seinem Tod, 1963 in Arizona, nicht mehr anknüpfen; Kästner blieb ihm bis in die fünfziger Jahre verbunden.18
Sein Heimweh nach Dresden scheint sich mit zunehmender Entfernung gelegt zu haben. Das erste längere Dresden-Feuilleton in der NLZ, Märchen-Hauptstadt, zeichnet zwar auf den ersten Blick ein weithin verklärendes Bild, aber auch hier sind die Ironie- und Distanzierungssignale schon deutlich. Inmitten der Beschreibung poetischer Stimmungen und Sehenswürdigkeiten mit vielen schmachtenden Auslassungspünktchen (»weiße Federwolken hängen im Blau … Die Sonne neigt sich dem endlosen Wäldermeer entgegen …« usw.) fand Kästner, die Frauenkirche sehe aus »wie ein riesiger Kaffeewärmer«. (GG I: 13) Mit dem alten lieben Dresden sei es vorbei, »Leipzig ist das Heute. Und Dresden — das Gestern … Leipzig ist die Wirklichkeit. Und Dresden — das Märchen …« (GG I: 16) Sein zweites Dresden-Feuilleton machte der alten Heimat völlig den Garaus: Dresden im Schlaf. Inzwischen stimmte die Stadt den Besucher melancholisch: »Tief und unfasslich hängt die Dämmerung über dir. Wie ein schwermütiger Baldachin.« Es war ihm zumute, »als erführe man die unheilbare Erkrankung eines schönen Mädchens!« Kästner fand Dresden jetzt provinziell, und er begründete seine Überzeugung mit Theaterereignissen. Ernst Tollers Hinkemann, revolutionäres Stück einer neuen Generation, kam von Leipzig nach Dresden und wurde abserviert, »man drohte den Schauspielern mit Erschiessen«. Dagegen stehe zu befürchten, dass Hanns Johsts Wechsler und Händler, »diese hoffnungslos traurige Komödie«, ihre 50. Aufführung erleben werde. »Dresden schläft. Der Schlaf unterscheidet sich vom Tod nur durch die Dauer. Sollte Dresden schon gestorben sein? Sollte ich versehentlich eine Leichenrede gehalten haben? Das wäre sehr, sehr traurig.«19
Nach dem Ende des Studiums wollte Kästner noch seine Doktorarbeit schreiben. Köster hatte sich 1924 umgebracht, Kästner erfuhr von dessen Witwe, die ihm auch eine Fotografie ihres Mannes schenkte, »weil ihn jemand hätte verraten wollen. Gedacht hab ich mir’s ja gleich.« (8.11.1924, MB) Die Neue Deutsche Biographie spricht nur von »einer Phase schwerer Depression« Kösters — was außer einer verdeckten Homosexualität hätte verraten werden können?
Kästners Arbeit wurde nun vom außerordentlichen Professor Georg Witkowski betreut, den er schon länger auch privatim kannte — Ilse Julius erwähnte in einem ihrer Briefe einen Maskenball im Professorenhaushalt zur Faschingszeit 1925 (1.2.1925, JB), in seinem Promotionsantrag bedankte er sich »der menschlichen Güte und den wissenschaftlichen Anregungen« halber bei seinem Doktorvater.20 Witkowski hatte wie Köster zahlreiche Klassiker herausgegeben, darunter auch eine Reihe »Meisterwerke der deutschen Bühne«, eine Schiller- und eine Lessing-Werkausgabe. Er veranstaltete den ersten Neudruck des Stücks Graf Ehrenfried von Christian Reuter, anschließend auch eine Ausgabe Sämtlicher Werke des verschollenen Barockgenies. Witkowski bewegte sich oft am Rand seines Faches, untersuchte die Fragen Was sollen wir lesen und wie sollen wir lesen? (1904) und war ein Pionier auf sozialgeschichtlichem Gebiet; unter anderem schrieb er eine Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig (1909). Sehr spät erst, mit 67 Jahren, wurde Witkowski 1930 doch noch zum Ordinarius ernannt; im September 1933 wurde er zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Er durfte Bibliotheken nicht mehr benutzen, sein Ruhegehalt wurde ihm nicht gewährt; erst wenige Monate vor seinem Tod konnte er zu Verwandten seiner Frau nach Amsterdam emigrieren.21
Als Promotionsthema hatte sich Kästner zuerst Lessings Hamburgische Dramaturgie vorgenommen. Diese Arbeit scheiterte an der Fülle des Materials, die kargen Pläne und Skizzen im Nachlass zeigen ein ungeheures Unternehmen, den Entwurf für ein umfassendes theater- und literaturgeschichtliches Werk über die ersten sieben Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Ilse Julius bemitleidete ihn in der Krise — »noch immer weltfremd gestimmt, noch immer bös mit allem und jedem?« Sie empfahl ihm, eine Zeitlang nichts zu tun, zu bummeln, die Arbeit liegenzulassen, womöglich »besser Schluss & etwas Neues«. Ihr Brief stammt vom 17. März 1925; in dieser Zeit entschied er sich für ein eng umgrenztes Thema. Er ließ sich in der Redaktion vertreten und bearbeitete es in kürzester Zeit, innerhalb eines guten Vierteljahrs. Sein zuerst geschriebenes Buch sollte als sein letztes gedruckt werden, erst 1972 erschien die Dissertation unter dem Titel Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Sie beschäftigte sich mit den Erwiderungen auf seine Schrift »De la littérature allemande«. Friedrich II. hatte 1780 ein Pamphlet über die deutschsprachige Literatur in französischer Sprache veröffentlicht, in dem er behauptete, die deutsche Literatur stehe in ihren allerersten Anfängen, weise weder bedeutende Autoren noch Werke auf. Es versteht sich, dass kein deutscher Schriftsteller der Zeit dieses Urteil auf sich sitzen lassen mochte; Kästner referierte und kategorisierte in seiner Dissertation ihre Erwiderungen. Oft fielen die allerdings sehr knapp aus — es war schon 1780 deutlich, dass der frankophile Friedrich die deutsche Literatur seiner Zeit kaum kannte, und den bedeutendsten Autoren der Zeit — Wieland, Goethe — war die Schrift des Königs nur eine abfällige private Bemerkung wert, Lessing nicht einmal das. Unter den Verfassern ausführlicher Erwiderungen dürften sich nur noch Justus Möser, Johann Karl Wezel und Johannes von Müller eines gewissen Bekanntheitsgrades unter Germanisten und Arno-Schmidt-Lesern erfreuen. Walter Müller-Seidel, der spätere Herausgeber von Kästners Arbeit, lobte die »differenziert dargestellte Überlagerung des Alten mit dem Neuen, der Aufklärung und des Sturm und Drang«22; Kästners Zwischenbilanz wirkt beinahe emotionsgeschichtlich, eine Teildisziplin, die erst Jahrzehnte später als solche ›erfunden‹ wurde: Friedrichs Kritiker aus der Epoche der Aufklärung seien »dem alten System durch anderes als durch bloße Kenntnisse verbunden: durch Tradition, Instinkt, Sympathie, — und ihnen mangelt der Kerntrieb zum Neuen: lebendig treibendes Gefühl, Liebe und Haß, herzlicher Glaube.«23 Was die Doktorarbeit außerdem interessant macht, ist weniger ihr Stoff als Kästners argumentativer Stil. Seinen Schreibstil hatte er hier noch nicht gefunden, der ist noch über weite Strecken hölzern. Aber er urteilte sehr entschieden und oft scharfsinnig über die minor poets des 18. Jahrhunderts, warf dem einen »grobe[.] Taktlosigkeiten« vor (S. 94), dem anderen, sein Vortrag sei »als Ganzes ohne Wert« (S. 93), einem dritten, seine Schrift schwimme in einem »bilderwütigen Redestrom« davon, »ohne daß man dabei die asthmatischen Nebengeräusche des Phantasielosen vergessen kann«. (S. 48) Er bewunderte Möser und seine Gesinnungsgenossen, sie seien »eine Art Revolutionäre in Permanenz« gewesen (S. 62), gleichwohl sei Revolution in Permanenz »ein Unding«. (S. 14) Immer wieder artikulierte Kästner in seiner Arbeit die Grenzen der Ratio, betonte, dass Literatur und Sprache »rein intellektueller Annäherung widerstreben«. (S. 24) Sein Fazit könnte heute so nicht mehr in einer wissenschaftlichen Arbeit stehen, an der ›unwissenschaftlichen‹ Begrifflichkeit würde Anstoß genommen. Er schrieb über die neue Epoche, wie sie in den wenigen entstanden sei, »ist Geheimnis und Schicksal«. (S. 101) Das »Zeitalter der Aufklärung« herrsche weiter, »trotz subtilster Annäherungen an die irrationale Welt — […] denn […] eine Annäherung an jene andere irrationale, individuale, lebendige Welt des Gefühls ist menschlich verständlich und historisch notwendig, — aber sie ist weltanschaulich zwecklos; ohne Sinn, ohne Ergebnis und ohne Hoffnung.« (S. 101) Nicht nur die historische Aufklärung, auch die wissenschaftliche Erkenntnis hatte hier ihre Grenze; es ist, als habe Kästner sich in seiner Arbeit an die Grenze des Konzepts ›Wissenschaft‹ herangetastet, um sich nun sehr entschieden und fast ausschließlich der Literatur zuzuwenden, die für die ›Welt des Gefühls‹ ganz andere Möglichkeiten bietet, die nicht nur ›ohne Sinn, Ergebnis und Hoffnung‹ ist, sondern auch tatsächlich. Obendrein konnte Kästner von Justus Möser lernen, dass man bei einem »Volksstücke«, einem erfolgreichen Stück — Götz von Berlichingen war gemeint —, den »Geschmack der Hofleute bey Seite setzen« müsse. (S. 35)
Helga Bemmann vermerkt, auch hier sei es Kästner wieder gelungen, zum Klassenprimus zu werden: Das Promotionsbuch verzeichnete 1925 »in den literaturhistorischen und kunstgeschichtlichen Disziplinen keine weitere Eins«.24 Die Urkunde, in der die philosophische Fakultät der Universität Leipzig »auf Grund seiner sehr guten Dissertation« und der »mit gutem Erfolge bestandenen mündlichen Prüfung« Kästner den Doktortitel verlieh, ist auf den 4. August 1925 ausgestellt. Ossip Kalenter beglückwünschte den »Dr. Khasanova alias Kästner« und antwortete auf die Frage nach seiner eigenen Promotion, er werde sich bis zur Ernennung zum »h. c.« gedulden — den »hat ja sogar Ludendorff. Das kann doch nich schwer sein.«25
Die sprachlichen Schwächen der Dissertation dürften auf das hastige Schreibtempo zurückzuführen sein. Seinen ›Ton‹ hatte Kästner in den letzten Monaten des Jahres 1924 gefunden; damals wurden die ersten Gedichte veröffentlicht, die er in seine erste Sammlung Herz auf Taille (1928) übernahm. Die Ansprache einer Bardame beispielsweise stand zuerst unter dem Pseudonym »Peter Flint« im Drachen am 25. November 1924, gegenüber dem Buchdruck gibt es nur Varianten in der Interpunktion. Am deutlichsten sichtbar ist der Bruch in einem Heft Das Blaue, das zum »Bunten Fest der akademischen Jugend zum Besten der Leipziger Winterhilfe« am 27. November 1924 erschienen ist. Von den drei abgedruckten Gedichten Kästners sind zwei — Notturno fantastico und Phantasie in a-moll — noch im neuromantischen, neurilkeschen, kitschdunklen Stil gehalten. Das dritte, Hymnus an die Zeit, klingt völlig anders: keine verdeckt-verdruckste Sexualität mehr, nichts schwiemelig ›Empfundenes‹, sondern ein scharfer, satirischer Ton. Kästner spielt hier mit Sprichwörtern, Redensarten, Benimmregeln und deutschnationalem ›Volksgut‹ wie dem Max-Schneckenburger-Lied Die Wacht am Rhein. Hymnus an die Zeit hat Kästner als einziges der drei Gedichte in Herz auf Taille übernommen; die erste Strophe:
»Wem Gott ein Amt gibt, dem raubt er den Verstand.
In Geist ist kein Geschäft. Macht Ausverkauf!
Nehmt euren Kopf und haut ihn an die Wand!
Wenn dort kein Platz ist, setzt ihn wieder auf.« (I: 15)
Der frisch promovierte Germanist saß fest im Redakteurssessel und belieferte nicht nur seine eigene, die Neue Leipziger Zeitung. Hans Natonek hatte ihn an den Drachen vermittelt, Hilde Decke, die Chefredakteurin der Familienzeitschrift Beyers »Für alle« im Otto Beyer Verlag, bekam Geschichten und Gedichte für ihre Kinderbeilage Klaus und Kläre, Dr. Friedrich Michael, ebenfalls Mitarbeiter bei Für alle, orderte Rezensionen. Vor allem für Michael und Decke musste er »arbeiten wie ein Heupferd im Geschirr«, freute sich aber auch darüber: »Ist für junge Leute gesund.« (16.10.1926, MB) Mit Hilde Decke war er auch privat befreundet, er unternahm mit ihr Landpartien mit und ohne Muttchen-Besuch.
In der Zeitungsarbeit ging er auf, hier war er erfolgreich. Seine Stellung schien gefestigt, 1926 wechselte er ins politische Ressort der NLZ, schrieb »wie ein Kaninchen Artikel« und wurde in der Redaktionskonferenz öffentlich belobigt. »Ich bin ein bissel nervös«, gestand er seiner Mutter: »Das ist immer nur kurz nach dem die Zeitg. fertig wurde. So von ½7—½8. Dann bin ich wieder ganz ruhig und friedlich. Mir macht’s großen Spaß vorläufig, und ich glaube, alle sind sehr, sehr zufrieden mit meinen Fortschritten. […] In 8 Tagen arbeite ich wahrscheinlich schneller als fast alle andern polit. Redakteure. […] Na, am 30. April muß Marguth für 1. Juli 550 M kontraktlich zusagen. Sonst mach ich ihn kühl, den Kerl.« (1.4.1926, MB) Die Zeitungsdienste gingen straff weiter in dieser Zeit, gelegentlich von 10 Uhr früh bis 2 Uhr nachts: »Ein Tempo wie im Auto ununterbrochen.« (14.12.1926, MB)
Mit Dr. Georg Marguth hatte Kästner fortlaufend Querelen, sei es über Honorare oder über Kästners morgendliche Verspätungen; Fabians Chef »Breitkopf« dürfte eine Marguth-Karikatur sein, auch die Blinddarm-Episode (III: 205—210) soll sich tatsächlich ereignet haben. Marguth war 1918 bis 1920 politischer Redakteur beim Leipziger Tageblatt, 1921 wurde er Chefredakteur der Neuen Leipziger Zeitung, seit 1925 war er deren Verlagsdirektor.26 Als Kästner von ihm im Dezember 1926 in letzter Minute den Auftrag für eine Bildbeilage über Leipzig erhielt, forderte er ein Extrahonorar. Marguth wollte ihm das verweigern, Kästner erhalte doch für einen Neuling in der politischen Abteilung ohnehin ein reichlich hohes Honorar. (9.12.1926, MB) Auch zwischen Gleichrangigen gab es Unfrieden, vor allem über die Nachtdienste. Die Setzer schätzten ihn als »sicheren, schnellen und lieben Nachtredakteur«. (5.7.1927, MB) Ein Kollege sollte mit ihm zusammen die Nachtdienste übernehmen, die anderen beiden der politischen Abteilung sollten vor allem Artikel schreiben; auch dies schon ein Versuch, Kästner zu bremsen — der Chef, Marguth, warf ihm vor, er sei zu radikal. »Ich hab gelacht. So ein Grünling in Politik wie ich vergifte die alten erfahrenen Politiker!« (6.1.1927, MB) In einer mehrstündigen Disputation mit dem Direktor hatte Kästner erfolgreich seine Gegenintrige durchgesetzt: »Ich hatte ihn überzeugt, daß seine neue Maßnahme furchtbar dumm, ungerecht und gefährlich sei. Denn Heilgemayr könne auch sonst schreiben, so viel er wolle. Tue es aber nicht. Sei faul, unkollegial, hinterlistig usw. Er könne es ihm ruhig wiedersagen. Lorenz und ich würden verbittert, und bei den anderen beiden fördere er durch solche Anordnungen nur die schlechten Charaktereigenschaften.« Sein Chef sei am Schluss der Besprechung »klein wie ein dummer Junge« gewesen und habe die Neuordnung tatsächlich zurückgezogen. Kästner sollte lediglich ein Vierteljahr auf sie eingehen, damit der Direktor sein Gesicht wahren könne. Er erklärte sich einverstanden: »Nun, so habe ich gegen das ganze Kollegium einschließlich Direktor für Lorenz und mich gesiegt.« Beliebt hatte er sich damit bei seinem Chef und besagten zwei Kollegen, diesen »gefährlichen Waschlappen«, kaum gemacht, dafür aber sein Selbstwertgefühl entschieden verbessert: »Ich hab heute, wo ich so energisch und, bei aller Ehrlichkeit, gerissen vorging, direkt gemerkt, daß ich besser aussah. Richtig wie ein Mann. Haben mich alle Mädchen auch gleich angeschaut und gelächelt. Komisch.« (6.1.1927, MB)
Seinem ›Feind‹ Heilgemayr schwor er Rache: »Der hat mich nicht umsonst bei Marguth verklatscht. Dem besorg ich’s noch. — Ich bin eigentlich nicht rachsüchtig. Aber schlechte Menschen drängt mich’s, abzustrafen.« (14.1.1927, MB) Auch seinen ›Radikalismus‹ drängte er nicht zurück, obwohl er das dem Direktor versprochen hatte: Er schrieb Leitartikel gegen eine Rede des Oberbürgermeisters Dr. Karl Rothe. Damals war der Bürgermeister ein auf Lebenszeit angestellter, von den Stadtverordneten einmalig gewählter Beamter. Rothe hatte nach Kästners Meinung die Schullehrer Leipzigs zu Unrecht getadelt. Die Mutmaßung, der Bürgermeister sei »Sprachrohr reaktionärer Kreise«, wird zwar ausgesprochen, aber in diesem Artikel nicht geklärt. Seine Rede bedürfe aber »dringender Richtigstellung«. Einer der Vorwürfe scheint gewesen zu sein, dass die Vorkriegsgeneration, wohlgetrimmt, mit zehn Jahren das Einmaleins mit der 17 im Schlaf konnte. Kästner verteidigte die Methoden der zwanziger Jahre gegenüber der Kaiserzeit: Es möge ja sein, dass die Gedächtniskraft der Kriegsgeneration — durch ebenden Krieg verursacht — Mängel aufweise. Aber man solle doch der Lehrerschaft dankbar sein, »daß sie ihre pädagogischen Methoden änderte und — statt ein Gedächtnis zu belasten, das unterernährt ist — Denkkraft, Wissen, Phantasie und Gefühl der Kinder pflegte und pflegt. Denn diese Fähigkeiten zu bilden und selbständig urteilende und handelnde Menschen zu erziehen, scheint uns wichtiger, als die frühe Jugend mit Tornistern voller Ballast zu befrachten, unter dessen Druck sie nur leiden. Denn in jenen Tornistern waren mehr Steine als Brot!«27 In einem zweiten Artikel, Rechtschreibung und Politik, legte Kästner nach: Der »Kampf um die Volksschule« sei ein »Kampf gegen die Volksschullehrerschaft«, geführt durch die »Bataillone der Reaktion«. Die Eltern stünden leider großenteils auf Seiten der Reaktion, weil sie glaubten, die »›Bildungsgüter der Nation‹ und Einmaleins und Duden seien dasselbe. Daß Kultur etwas mehr und etwas anderes ist, hat ihnen niemand recht deutlich gesagt. Und die Briefe der Frau Rath Goethe haben sie nicht gelesen. Sonst wüßten sie, daß jemand sogar ohne jede Spur von Orthographie ›gebildet‹ sein kann.« Es gelte, »die allgemeine Unzulänglichkeit der Kriegsgeneration darzulegen«, dabei müsse auch über die Mängel der Gymnasien und Universitäten öffentlich gesprochen werden — es gehe nicht um die Volksschulen.28
In dem Leitartikel Die Jugend als Vorwand attackierte Kästner, kurz vor ihrer Verabschiedung, die Jugendschutzgesetze. Das »Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schmutz und Schund« sei die »Grundlage für eine künftige Buchzensur«, das »Gesetz über den Schutz der Jugend bei Lustbarkeiten« greife einer künftigen Theaterzensur und einem Versammlungsverbot vor, das neue Reichsschulgesetz »bedeutet eine indirekte Aufhebung der Trennung von Kirche und Staat«. Er sah die Kräfte der Reaktion am Werk, einen methodischen »Aufmarschplan«, entworfen von »Diplomaten, Militärs und geistliche[n] Routiniers«, deren Ziel »die Wiederaufrichtung der Hohenzollernkultur« sei. »Dieser Feldzug gegen die Jugend ist, von unserem Standpunkt aus, gewissenlos zu nennen; vom Standpunkte der Gestrigen aus ist er klug und wirksam begonnen. Denn nichts kann die Festigung der Republik mehr verzögern, und nichts kann die Möglichkeiten einer Gegenrevolution der Wirklichkeit näherbringen als eine Jugenderziehung im Stil der Kaiserzeit.« Kästner war selbst in diesem autoritätsgläubigen Stil erzogen worden; um dessen Renaissance zu verhindern, rief er zu einem Pakt zwischen Eltern und Lehrern auf, »einer freien, friedlichen, ehrlichen Zukunft entgegen: Schützt die Jugend vor ihren politischen Verführern! Schützt sie vor den reaktionären Gesetzen, die man vorbereitet!«29
Kästners genuin politische Eingriffe dieser Art waren bislang unbekannt; sie verändern das Bild des jungen Autors aber letztlich nur wenig. Man wusste bisher nicht, dass er sich überhaupt politisch engagierte, die ›linke‹ Richtung des Engagements war zu erwarten. Er griff in Debatten ein, die mit seiner eigenen Lebenserfahrung zu tun hatten — er war ein junger Schriftsteller und insofern von Zensurbestrebungen betroffen, und er hatte unter seiner schulischen Erziehung vor allem auf dem Lehrerseminar gelitten, wäre beinahe Lehrer geworden und unterstützte diesen Berufsstand wenigstens publizistisch. Seine ›radikalen‹ Analysen nannten selten Ross und Reiter, sie blieben allgemeine Appelle in allgemeinen Kategorien (Kirche und Staat, Reaktion gegen Fortschritt, Heute gegen Gestern usw.). Es handelte sich um eher literarische Eingriffe, die für damalige Sprechweisen aber offen genug waren, einigen Zorn hervorzurufen — sei es bei nationalkonservativen Konkurrenzblättern wie den Leipziger Neuesten Nachrichten oder bei der eigenen taktierenden Verlagsleitung. Linksdemokratische Aktivitäten dieser Art musste er vor seiner Mutter immer verteidigen, die politisch ziemlich weit rechts stand — soweit sie überhaupt einen politischen Standpunkt hatte: »Ja, Gutes, wenn soviel Schweinereien passieren, muß doch jemand aufstehen und die Dinge beim Namen nennen!« (14.1.1927, MB)
Kästner quoll in dieser Zeit über von Plänen und Projekten, die sich aber nur zum kleinsten Teil realisierten. Sein Redaktionskollege Max Krell schickte ihm »etliche Häufchen Dumas-Sardou etc. für das entscheidende Konversationsstück, das der deutschen Bühne 1925 geboren werden soll«30 — von Kästner, versteht sich. Zusammen mit Ernst John versuchte er einige Wochen lang, ein Theaterstück zu schreiben, aus dem wohl nichts geworden ist. Er war stolz darauf, dass Friedrich Michael ebenfalls ein Stück mit ihm zusammen schreiben wollte, auch dieses Projekt wurde im gegenseitigen Einverständnis fallengelassen. Auch allein unternahm er zahlreiche Versuche, wollte erst ein Stück schreiben, dann gleich ein »paar humorvolle Einakter«. (27.10.1926, MB) Er arbeitete an einem Weihnachtsmärchen fürs Theater, das »Klaus im Schrank« heißen sollte und mit Verkehrte-Welt-Motiven spielte wie später Der 35. Mai, und an einer Kindergeschichte, für die er auch schon einen Verlag suchte.31 Für ein Preisausschreiben des Reclam Verlags »fabriziert« er schnell eine Geschichte (29.6.1927, MB), ohne den Preis zu gewinnen. Sein Versuch, einen ersten Gedichtband im Verlag von Paul List unterzubringen, scheiterte, obwohl ein Kommilitone Kästners bei Köster Sohn des Verlegers war — »[d]amals gab es noch den Alten List und der Junge durfte hoechstens laecheln«.32 Die Gedichte waren sämtlich in Für alle vorveröffentlicht, und er beredete den Verlagsdirektor und List junior mit Engelszungen, es sei doch der rechte »Zeitpunkt für so ein Groteskbändchen«. (2.12.1926, MB) Beide hatten Einwände, behielten das Manuskript aber sechs Wochen, während deren der junge Autor in schönen Hoffnungen schwebte. Dann schickten sie ihm die Gedichte zurück, mit »einem honigsüßen Brief«. (14.1.1927, MB) Auch der Paul Zsolnay Verlag wollte Kästners Gedichte nicht haben.
Erfolgreicher war seine journalistische Arbeit, deren Umfang und thematische Vielfalt erst allmählich durch immer neue Funde deutlich wird. Kästners in Zeitungen publizierte Arbeiten in dieser Zeit sind zwar noch sichtlich Jugendwerke, enthalten noch viel Vorläufiges und Verlegenes zwischen Feuilletons im ›Kästner-Ton‹, den es gelegentlich auch schon gibt; das Repertoire der späteren Berliner Jahre ist bereits ganz da. Er schrieb amüsant-harmlose Gedichte und freundliche Feuilletons, berichtete von Antrittsvorlesungen neuer Professoren an der Universität, publizierte Theater-, Buch- und Kunstkritiken. Allerdings lagen ihm die bildenden Künste am wenigsten — er hatte keine eigene Sprache für sie und schrieb typische Provinzkritiken, lobend und beschreibend, von »rassigen Seeskizzen« war hier die Rede und von einem Maler, der »sanft geschwungene Hügel, bunt lächelnde Blumenwiesen und beherrscht rauschende Wälder empfand und gestaltete […] wie wenige sonst«. (GG I: 48)
Auch Erich Ohser lernte er in dieser Zeit in Leipzig kennen, als die Inflation »ihre letzten verrückten Papierblüten in die hektische Atmosphäre der Nachkriegszeit« trieb. (VI: 635) Kästner beschrieb ihn als »noch ein paar Jahre jünger als ich, groß, dunkelhaarig, tapsig und voller Übermut«, seine erste Redaktionszeit soll ebenfalls von einigem Überschwang gezeichnet gewesen sein: »Ohser zeichnete und ich schrieb, was das Zeug hielt. Unser Ehrgeiz und wir selber brauchten wenig Schlaf. Noch nachts, wenn ich in der Johannisgasse 8 ›Stallwache‹ hatte und, beim Dröhnen der Rotationsmaschinen, Spätnachrichten redigierte, hockten wir zusammen. Manchmal brachte er — aus dem Café Merkur oder, in selbstgeschneiderten Kostümen, von Faschingsbällen — andere junge Künstler und Weltverbesserer mit, und dann redigierten wir die korrekturbedürftige Menschheit.« (VI: 636) Kästner war geschickt und arbeitswütig, er bediente Leipziger Zeitungen, die Dresdner Neuesten Nachrichten, die Plauener Volkszeitung — dort war Ohsers Freund Erich Knauf Redakteur. Er wurde auch Kästners Freund, und er druckte die Arbeiten der beiden anderen Erichs, auch für die Zwickauer Volkszeitung schrieb Kästner unter Pseudonym (13.10.1926, MB) und ließ dort seine — von Ohser illustrierten — Kindergedichte aus Für alle zweitdrucken. Was immer sich an Verbindungen ergab, wurde genutzt, und es war absehbar, dass ihm nach Dresden nun auch Leipzig bald zu klein werden würde. Das Prager Tagblatt druckte Kästner und das Stachelschwein, eine neue — zunächst Frankfurter — Gründung Hans Reimanns. Er suchte vor allem nach Anknüpfungspunkten in Berlin, bei der Vossischen Zeitung und dem Berliner Tageblatt. Stefan Grossmann, Herausgeber des Tage-Buchs, war von einem unverlangt eingesandten Gedicht Kästners angetan und engagierte ihn, Beiträge für das Wochenblatt Montag Morgen zu schreiben: »wenn das so weitergeht und die Leute anständig bezahlen, kann ich bald soweit sein, daß ich mich selbständig mache.« (23.10.24, MB) Sein erster Tage-Buch-Beitrag erschien im Oktober 1924 (Hymnus an die Zeit), das wöchentliche Montag Morgen-Gedicht schrieb er erst seit 1928. Auch unselbstständig reichte es aber schon zum Umzug aus der lauten Artistenpension in die Hohe Straße, wo er bei einer Witwe Hübler zwei kleine Zimmer bewohnte.
Ein weiterer Schritt zur Selbstständigkeit war der Plan, mit Friedrich Michael zusammen eine eigene Agentur zu eröffnen, einen Feuilletondienst, der ihre eigenen Arbeiten und die von Max Krell und Hans Natonek vertreiben sollte. Es blieb beim Projekt, Kästners Erfolg wird in Berlin so groß werden, dass er seine eigene ›Firma‹ gründet und seine Sekretärin Elfriede Mechnig als »& Co.« zeichnen lässt.
Seine Ambitionen waren schon in Leipzig nicht gering: »Wenn ich 30 Jahre bin, will ich, dass man meinen Namen kennt. Bis 35 will ich anerkannt sein. Bis 40 sogar ein bißchen berühmt. Obwohl das Berühmtsein gar nicht so wichtig ist. Aber es steht nun einmal auf meinem Programm. Also muß es eben klappen! Einverstanden?« (26.11.1926, MB)
Silvester 1926 verbrachte er in Berlin. Im Neujahrsbrief für Muttchen standen offene Worte: Natürlich wünschte er ihr »Gesundheit sehr viel, Geld auch ein bißchen, gute Laune in Haufen. Und da mein Muttchen stets an mich denkt und für mich lebt, muß ich, falls ich ihr richtig Glück wünschen will, nicht zuletzt mir selber welches wünschen. Denn mein Muttchen, weißt Du, kennt kein Glück außer meinem.« (30.12.1926, MB) Und so wünschte er sich auch selbst Glück, Gesundheit, Erfolg, Geld und »ein liebes Mädchen, das mich nicht so enttäuscht wie ein gewisses andres« — die Beziehung zu Ilse war im August in die Brüche gegangen. (30.12.1926, MB) Berlin, das er von einem Studiensemester her kannte, begeisterte ihn aufs Neue: Diese Stadt sei »das einzig Richtige«. Als er nach zwei Tagen wieder zurück nach Leipzig musste, »gruselte« es ihn fast: »Nun, es wird schon mal klappen mit Berlin. Jedenfalls der einzige Boden in Deutschland, wo was los ist! Paar Tage da drüben machen einen herrlich mobil.« (3.1.1927, MB) Er wollte also weg, der ins Haus stehende Skandal um seine ›Neunte Sinfonie‹ kam ihm gelegen — obwohl ihm vielleicht die harte, ungerechte Form und die anfängliche materielle Unsicherheit nicht recht gewesen sein dürften.
Privat war der junge Kästner ein lustiges Haus, ein Kneipengänger und Festefeirer, und ein guter Tänzer. Auf seinem letzten Leipziger Faschingsball, dem Pressefest, ging’s von 1 bis 7 Uhr »ganz fidel zu«: »Wenn ich mit K[arin] tanzte, stand der ganze Betrieb: die Direktoren, Direktorsfrauen etc. am Parkett und rissen die Schnäbel auf. Klatschten sogar paar Mal, als hätten wir Theater vorgeführt.« (19.1.1927, MB)
Für Kästners Selbstverständnis sprechend ist sein Nachruf auf Rainer Maria Rilke, der am 29. Dezember 1926 starb. Der selbstbewusste Nachwuchsdichter musste hier einen Nekrolog über einen Autor verfassen, mit dem er nichts Rechtes mehr anfangen konnte; zudem hatte er eben genug Privates im Kopf. Er kleidete seine angebliche Verehrung in unpersönliche Worte: Er könne der Bedeutung des Verstorbenen nicht gerecht werden, denn dazu müsste man »allzu nachdrücklich sein Artistentum und sein mystisches Frommsein betonen«. Rilke sei der »Repräsentant eines erlöschenden Typus« gewesen, nach seinem Tode bleibe nur noch einer zurück, »härter, kühler und größer: Stefan George …« Außerdem repräsentierte Rilke eine Zeit, »die verging: die vergehen mußte, und der wir doch, nicht zuletzt um solcher Dichter willen, ein ehrfürchtiges Gedenken bewahren«. »Dichter« gebe es — außer George — überhaupt nicht mehr, »Beschwörer des Wortes, die […] wie verehrungswürdige Fremde unter uns anderen stehen und wandeln«. (VI: 52) Es gebe nur noch Schriftsteller. Rilke könne kein Ideal mehr sein, »unsere Wege eilen von ihm fort«; nur zu seinem Denkmal solle man »zuweilen zurückkehren«, in »Minuten der inneren Einkehr; in Stunden einsamen Friedens; in Zeiten, deren geschäftige Lebendigkeit einen seelischen Ausgleich fordert«. Mehr als konventionelle Affektation verrät Kästners Nachruf nur, wenn er Rilke gegen »nationalistische Kreise« verteidigt. Die hatten ihn angegriffen, weil er »aus dem München der Konterrevolution« (VI: 53) in die Schweiz ging und 1925 Gedichte in französischer Sprache schrieb.
Louise Babette Enderle war 1926 Volontärin, später Redakteurin bei der Illustrierten Beyers »Für alle«, auch bei der Kinderzeitschrift Klaus und Kläre. Kästners spätere Lebensgefährtin wusste, auf wen sie sich einließ — ihre Chefin Hilde Decke hatte sie und andere gewarnt, Kästner sei ein homme à femmes, »flirtet nicht mit Kästner!« 1927 hatte die Zeitschrift den 100.000. Abonnenten zu feiern, Kästner bot seine Wohnung zu diesem Zweck an. Enderle erzählte, als sie mit anderen Redakteurinnen dort eingetroffen sei, seien »die Jungs«, namentlich Kästner und Ohser, dort so »bedröpst und bekloppt« herumgesessen und hätten den Mund nicht aufgekriegt33; nach dem Grund befragt, erzählte Kästner, sie seien beide bei der NLZ gefeuert worden. Über die Affäre gibt es eine ausführliche Darstellung Kästners im Nachlass, ein aufgesetzter (und daher nicht datierter) Brief an einen »Herrn Doktor«, einen der Zeitungschefs, der in der Hierarchie über Marguth stand und sich anscheinend in Prag aufhielt. Die NLZ erschien in der Leipziger Verlags-Druckerei; deren Mehrheitsanteile gehörten nach der begründeten Mutmaßung Michael Meyens seit 1922 dem Prager Mercy-Verlag, der die größte deutschsprachige Zeitung der Tschechoslowakei herausbrachte, das Prager Tagblatt.34 Kästner muss also einen der Mercy-Verlagsleiter um Rat gebeten haben; er wollte sich mit der unberechtigten Kündigung nicht zufriedengeben und erwog weiterführende Schritte. Das Hin und Her seiner Kündigung stellte sich ihm so dar: »Dr. Marguth hat mir am Montag 12h gekündigt; eine Stunde später nahm er die Kündigung zurück, schlug mir freundschaftlich auf die Schulter; und Dienstag 2h kündigte er mir von neuem; erklärte, Gründe nicht angeben zu brauchen, und legte mir nahe, am 1. April von mir aus zu kündigen.«35 Als Grund gab Marguth einen von Kästners und Ohsers Faschingsscherzen an, das erotische Gedicht Nachtgesang des Kammervirtuosen, von Ohser illustriert; die ersten beiden Strophen lauten:
»Du meine Neunte letzte Sinfonie!
Wenn du das Hemd anhast mit rosa Streifen …
Komm wie ein Cello zwischen meine Knie,
und laß mich zart in deine Seiten greifen!
Laß mich in deinen Partituren blättern.
(Sie sind voll Händel, Graun und Tremolo.)
Ich möchte dich in alle Winde schmettern,
du meiner Sehnsucht dreigestrichnes Oh!« (I: 33)
Dieses Gedicht war 1925 in der Zeitschrift Stachelschwein erschienen. »Krell, der es damals im Manuskript las, riet mir, es [um] der Prägnanz willen zu kürzen. Ich brachte es auf vier Strophen; und in dieser Gestalt wurde es, außer im ›Stachelschwein‹, vor vier Wochen im Karnevalsheft der hiesigen Kunstakademie und, wenig später, in der Plauener Volkszeitung veröffentlicht. — Am letzten Sonntag druckten die Leipziger Neuesten Nachrichten die Verse ab und versahen sie mit der Überschrift ›Tempelschänder‹ und einem albernen Kommentar. Warum? Weil die erste Verszeile ›Du meine neunte, letzte Sinfonie!‹ lautet — eine Art hymnischen Ausrufs, quasi von einem Musiker ersonnen, der sein Verhältnis mit diesem Vergleich besonders auszuzeichnen hofft. Die LNN hofften auf etwas anderes: Sie wollten das Publikum glauben machen, mein ›Gedicht‹ sei eine Parodie auf Beethoven. Ob das Publikum der LNN derartig unklug war und sich düpieren ließ, weiß ich nicht. Aber — Dr. Marguth tat, was die LNN hofften: Er mißverstand die Verse von Anfang bis Ende, glaubte ernstlich — so unbegreiflich dies jedem andern auch scheinen mochte — ich persifliere die Neunte Sinfonie und kündigte mir.«36 Kästner sprach bei Marguth vor und erfuhr das Ausmaß des Missverständnisses — der Zeitungsdirektor hielt die Komponisten Händel und Graun für »Kommunisten«! —, stellte die Zusammenhänge richtig und wurde unter Gelächter wieder eingestellt. Am nächsten Tag entließ ihn Marguth erneut, wiederum wegen des Gedichtes und ohne sich weiter zu rechtfertigen — »ein solcher Mensch wie ich könne in der Verlagsdruckerei unmöglich Kulturpolitik machen usw.«, die Ressortleiter wollten nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten. Namen wollte Marguth nicht nennen, die beiden, mit denen Kästner zusammenarbeitete, standen aber hinter ihm. Eine sinistre Affäre also, die tatsächlich, soweit sie rekonstruierbar ist, nach politischer Intrige riecht.
Kästner kündigte am 1. April 1927, machte noch drei Monate Redaktionsarbeit, ohne in der Neuen Leipziger Zeitung unter seinem Namen zu veröffentlichen, und übersiedelte am 1. Juli nach Berlin. Er baute seine schriftstellerischen Aktivitäten aus, um »so etwas wie ein Existenzminimum zusammenzustoppeln«, und wollte zudem »größere literarische Dinge in Angriff nehmen«. Nachdem sein Budget vorerst mager aussah, wollte er gerne trotz des vergangenen Konfliktes weiterhin für die NLZ schreiben. Er schlug seinem ehemaligen Chef vor: »Und zwar auf Gebieten, die zur Zeit noch nicht oder nicht mehr besetzt sind. Es wäre beispielsweise, scheint mir, möglich, daß ich — knapp und unterhaltsam — über Berliner Theater, Film und bildende Kunst referierte, zuweilen sogenannte ›Berliner Briefe‹ schriebe u.a.m.« Natonek und Krell unterstützten sein Anliegen, er erhoffte sich ein Gleiches vom Angeschriebenen. Vor allem galt es, Marguth zu überzeugen, der sicherlich die Gefahr sähe, die Leipziger Neuesten Nachrichten könnten die »leidige Gedichtaffäre« wieder aufwärmen. Kästner erklärte sich bereit, diesem Einwand abzuhelfen, indem er seine Beiträge mit dem Pseudonym »Peter Flint« zeichnen würde. »Herr Dr. Marguth scheint es mir vorzuwerfen, daß er die Kündigung ohne plausible Gründe aussprechen mußte und daß dieser Kündigung im Lauf von 24 Stunden die ähnliche Kündigung und deren Widerruf vorangingen. Er projiziert seine Unzufriedenheit auf mich. Ich hoffe lebhaft, daß sich diese Reaktion allmählich mildert und daß er langsam wieder beginnt, sich der günstigen Urteile zu erinnern, die er im Laufe von vier Jahren über mich abgab.«37
Ganz unpassend kann ihm der Wechsel nach Berlin also nicht gekommen sein; er versuchte, auch seine Mutter von den Vorteilen der Metropole zu überzeugen: »Warum bist Du denn traurig, mein gutes Muttchen? In Berlin hab ich doch mehr Zeit als hier. Kann öfter nach Dresden kommen. Und Du hinüber.« (22.6.1927, MB)