Éducation sentimentale: Ilse

Die jungen Mädchen heutzutage wissen gar nicht, wie gut sie es haben.«1 So der Stoßseufzer einer um 1910 geborenen Frau. Heute werden Mädchen in der Schule aufgeklärt; sie können sich frei ihr Wissen verschaffen, indem sie sehenden und lesenden Auges durch die Welt gehen; es gibt die Pille. Bis in die sechziger Jahre bestand Aufklärung für Frauen darin, dass »alles, was sich unterhalb der Taille tat, tabu war«, die Ratschläge der Mütter beschränkten sich auf den Hinweis, »man muß halt das tun, was der Mann will«, und der wollte üblicherweise »nur das eine«. Unterschiede gab es sicher, individueller und sozialer Art, und auch für die wenigen Jahre der Weimarer Republik mag der Umgang mit Sexualität in den großen Städten offener gewesen sein. Aber auch da galten für die meisten Frauen die Ideale ihrer Mütter: »Nachdem wir der Kindheit Flügelkleid mit dem rosigen Gewande der Jugend, dieses dann mit dem Brautgewand und dem Myrtenkranz vertauscht haben, gewinnt unser Leben eine andere Gestalt, eine höhere Bedeutung an der Seite des geliebten Gatten. Mit freudigem Herzen bringen wir die eigenen Wünsche und Neigungen den seinen zum Opfer und fühlen uns reichlichst belohnt durch den Ausdruck dankbarer Zufriedenheit, der uns aus seinen Augen entgegenstrahlt.« Jeanette Holthausen maßregelte so ihr Geschlecht im Frauen-Brevier (1876): »Nächst der Geduld, der Nachgiebigkeit, der heiteren Genügsamkeit, ist auch die Bescheidenheit eine Tugend, die das Weib dem Gatten lieb und teuer macht.«2 Frauen hatten sich sexuell passiv zu verhalten und Seitensprünge des Mannes zu tolerieren, »ein Mann ist da halt anders als eine Frau«, »diese Zwischendurchsachen tolerierte ich«, »zwischendurch gab es auch andere Frauen, er sah halt so unglaublich gut aus«.3 Gönnten sie sich selber einen, wurden sie verstoßen. Vor dem Hintergrund solcher Verhältnisse spielte sich das erotische Leben Erich Kästners ab, und es sollte im Gedächtnis bleiben, dass hier ja nicht nur Frauenrollen festgeschrieben waren, sondern auch die komplementären der Männer.

Ilse Julius dürfte Kästners erste Freundin gewesen sein, jedenfalls war sie seine wichtigste, insofern das Scheitern dieser Beziehung — neben der übermächtigen Mutterbindung — das Scheitern aller kommenden Beziehungen mitbestimmt hat. Sie wurde am 30. Januar 1902 in Essen geboren und nannte sich nach ihrer Großmutter auch Ilse Beeks-Julius. Als sie Kästner kennenlernte — wohl im Mai oder Juni 1919 —, lebte sie bei ihrer Mutter in Dresden. Die Konstellation ihrer Familie war der Kästners sehr ähnlich — auch Ilse Julius’ Verhältnis zu ihrer Mutter war sehr eng, wie bei Kästners gab es Untermieter. Allerdings ging man im Hause Julius mit der gescheiterten Ehe offen um, die Eltern ließen sich scheiden, und Ilse Julius’ Mutter lebte einige Jahre mit einem anderen Mann zusammen; begraben wurde sie wieder mit ihrem geschiedenen Mann.

Der Verlauf des frühen Kästner-Verhältnisses ist aus den Briefen, die Ilse Julius an ihn geschrieben hat, einigermaßen zu rekonstruieren; seine Briefe an sie sind nicht erhalten, über Kästners Sicht können wir nur aus den Briefen an seine Mutter etwas erfahren. Im ersten erhaltenen Brief von Ilse Julius, vom 11. Juni 1919, siezte sie ihn noch — die Siebzehnjährige bedauerte, dass sie Pfingsten nicht mit ihm verbringen konnte, und schlug vor, die Feier auf einem »Heidebummel« nachzuholen: »Ich muss mich so kurz fassen, da Wagner seine Sachen so lang geschrieben hat, ½6 Uhr Walküre.« (11.6.1919, JB)

Damit war ein Grundthema zwischen den beiden angeschlagen: Beide waren überaus kulturinteressiert, schrieben sich über Bücher, Theaterstücke, Kabarettabende, Vorträge; der Dresdner Spielplan der frühen zwanziger Jahre ließe sich anhand von Ilse Julius’ Briefen ziemlich genau rekonstruieren. Das Paar hatte auch sonst gleiche Vorlieben: Beide benutzten zahlreiche Niedlichkeitsformen — sie schrieb ihm »Briefel« und fragte, ob er auch wieder ein »schönes Gedichtel« gemacht habe —, beide waren Musterschüler, hatten eine Neigung zum Kaffeehaus, »Musik, Menschen, Zeitungen, Cigaretten« (5.3.1925, JB), sie waren sogar gleich groß. Zwei Wochen nach dem ersten, noch etwas schüchternen Brief waren die beiden anscheinend ein Liebespaar, sie bestellte ihn »pünktlich 5 Uhr« in die Kunsthandlung Emil Richter. (30.6.1919, JB) Ilse Julius verstand sich mit zunehmender Professionalisierung ihres Freundes auf literarischem Gebiet allerdings immer mehr als Dilettantin, zeigte sich am Ende auch unempfindlich für Botschaften, die sie geliehenen Romanen entnehmen sollte, und bat ihn, noch nach der Trennung, um Lektüreempfehlungen: »Es ist so schwer, wenn man im Hauptberuf auf einem ganz anderen Gebiete arbeitet, & dann den Büchermarkt betritt mit Reminiscenzen an einen bekannten Namen oder an eine Kritik & danach seine Lektüre wählt.« (7.2.1927, JB)

In der Frühzeit der Beziehung standen sexuelle Erfahrungen im Vordergrund, die für Kästner ziemlich sensationell gewesen sein müssen; Jakob Fabians renommierende Bemerkung, er habe vor seiner Einberufung 1917 in einem Ostseebad mit sechsen von zehn »passablen« Frauen geschlafen (III: 52), dürfte kaum auf seinen Autor übertragbar sein. Eine der ersten Gedichtveröffentlichungen Kästners, Deine Hände, in den Dichtungen Leipziger Studenten (1920) abgedruckt, spricht kaum verhüllt von diesen neuen Erfahrungen, es handelt sich unübersehbar um Masturbationstechniken. Das Gedicht beginnt und endet mit den Zeilen: »Lasse um mein heißes Herz / ​Deine kühlen Hände blühen!« Dazwischen spielt sich eine Entwicklung ab, die die zupackenden Hände in mancherlei Bilder fasst — sie sind »wie ein verschlossenes Mädchen«, aus dessen »schlanken Schritten« die »Sehnsucht zitternd« zu ihm schreitet, oder sie sind »eine blonde Mutter«; sie warten, sozusagen kurz vor dem Höhepunkt, »in schwüler Pracht auf runde Früchte«. Weint am Anfang lautlos eine »blasse[.] Mutter«, ist am Schluß von einer anderen Flüssigkeit die Rede: Jetzt sind die Hände »wie silberne Worte«, die »verheißend aus den Tiefen« — allerdings der Seele — »perlen«.4 Auch in anderen Gedichten aus dieser Zeit ist vom »Schaft in deinen Händen« die Rede; die Variation des immer gleichen Motivs — das sich schnell verliert — kann kein Zufall sein.5

Ilse Julius hatte dauernd Angst, dass »die Engländer« nicht kämen, »[e]rzähle aber ja Deiner Mutter nicht davon, niemandem« (n. dat. — 1924? —, JB); und vor der Erfindung der Pille, die dem Zyklus einige Regelmäßigkeit verleiht, kamen ›die Engländer‹ nun einmal bei den meisten Frauen nicht kalendergenau. Julius wusste, wovor sie sich fürchtete. Anfang 1920, während Kästner in Leipzig war, starb seine Kusine Dora Augustin an der Geburt ihres ersten Kindes, Ilse Julius besuchte des Öfteren Ida Kästner. Die schrieb über das Unglück einen reichlich verwirrten Brief an ihren Sohn, in dem vor allem von ihrer eigenen Herzschwäche die Rede ist, davon, dass Ilse einen eigenen Brief schreiben werde, und von einem Gespräch mit Emil Zimmermann. Der habe ihr versichert, »das Auto ist nicht schuld«, sondern »die Geburt allein«: »Zu schnell gegangen. Preßwehen u. die Därme haben sich verschlungen. Sie ist tot läßt sich nicht ändern«, Doras Vater »weiß es, hat durch Telephon angefragt. Wie wird alles sein u. ich liege hier«, das Kind sei schon begraben.6 — Aus Senftenberg, wo Ilse Julius einige Wochen im Jahr mit ihrem Vater zusammenlebte, schrieb sie Kästner spöttisch von einer anderen Unglücklichen: »Auf Brigitta ist das 6. Mädchen angekommen. Die arme Frau. Das Schaf.« (5.8.1921, JB)

Foto von Ilse Julius im dunklen Kostüm mit heller Bluse, einem flachen Hut und einer Handtasche beim Spaziergang. Im Hintergrund sind Blumenrabatten zu sehen.

Ilse Julius

Aus der anfangs noch unsicheren Schülerin entwickelte sich schnell eine selbstbewusste junge Frau, die ihr Leben sehr selbstständig in die Hand nahm. In den ersten Monaten ihrer Liebe hatte sie sich noch ganz im Stile des Frauen-Breviers auf Fichte berufen, »ein Weib« könne sich nie » — und hier liegt der gewaltige Gegensatz zum Mann — allein aus Trieb hingeben. Das Weib gibt in der Ehe nicht ihre Persönlichkeit auf, bringt sie eher auf eine höhere Stufe.« (27.6.1920, JB) In späteren Jahren brachte sie ihre erotischen Wünsche deutlich zum Ausdruck, auch vom ›rosa Hemdchen‹, das Kästner im Nachtgesang des Kammervirtuosen anrief, ist einmal die Rede.

Im Wintersemester 1920 begann sie ein Studium der Chemie, und seit 1923, dem Jahr der schlimmsten Inflation, zeigte sie ihre Geschäftstüchtigkeit und begann — noch als Studentin! — einen regen Handel. Sie vermittelte Häuser und spekulierte erfolgreich mit Devisen, ganz nach dem Muster des Feuilletons Max und sein Frack ihres Geliebten: »Wenn Du schön drüber schweigst, um Gottes Willen nicht meiner Mutter sagen, dass ich Dir davon erzählt habe (sie meint selbst Liebste könnten in dieser bösen Zeit es einmal als Waffen gebrauchen) will ich Dir erzählen, wie ich’s mache. Also 2 Kaufleute geben mir das Geld, ich kaufe auf, abends haben sie bereits ihre Devisen oder sonstiges in der Tasche und ich meinen Verdienst. Der Witz ist, dass man schnell arbeitet.« (27.7.1923, JB) Auf diese Weise unterstützte sie auch ihre chronisch an Geldmangel leidende Mutter; Kästner wollte sie mit einer sechsbändigen Flaubert-Prachtausgabe beschenken. Sie hatte sie vormittags gesehen, aber nachmittags, als sie ihren Gewinn gemacht hatte, war die Ausgabe bereits weg. (22.7.1923, JB) Sie legte ihm schon mal »Scheinchen« für einen Geburtstagskaffee bei, »trink ihn in Gesundheit« (22.2.1923, JB), Formulierungen, die in finanziell rosigeren Zeiten Kästner selbst benutzen wird. Ilse Julius wünschte ihm für die Verhandlungen mit dem Weller Verlag über den ersten Gedichtband, dass er »auch finanziellen Erfolg« haben möge, »denn da kommt es doch letzten Endes drauf an«. (n. dat., JB) Sie kritisierte auch Kästners Arbeitseifer, insbesondere nachdem er ihr im letzten Moment einen Dresden-Besuch abgesagt hatte: »Und fleissig bist Du, zu fleissig wie ich heute mit Tränchen merke, und dabei finanziell unproduktiv.« (28.11.1924, JB)

Überhaupt sprang sie mit Kästner nicht liebedienerisch um, kritisierte ihn privat wie beruflich: »Das Reitfeuilleton hat mir gar nicht gefallen. Aber immer kann man ja nicht Gutes schreiben, wenn man so viel schreibt, wie Du.« (6.5.1924, JB) Solche Bemerkungen konnte sie sich nur leisten, weil das Verhältnis sehr eng und für die Zeit ungewöhnlich gleichberechtigt war. Kleine Eifersuchtspausen gingen von ihm ebenso wie von ihr aus, dem anderen ganz ausliefern wollte sich keiner der beiden. Sie berichtete ihm von einem Tanzabend, um ihn gleich darauf zu beschwichtigen: »Überhaupt ohne Dich ist’s nirgends so nach meinem Herzen. Aber Du hast gesagt, wie Du an Dir arbeitest um einen tüchtigen, völlig nur auf sich selbst gegründeten Menschen aus Dir zu machen, & dass Du niemanden so eigentlich nötig haben willst. Und das will ich auch.« (2.6.1923, JB) Dennoch bemutterte sie ihn gehörig, tröstete ihn, wenn der Herr Redakteur unter Intrigen seiner Kollegen litt oder über Appetitlosigkeit klagte, rühmte ihm die Tage, an denen man »nur mit- & füreinander« lebte. (18.2.1923, JB) Besonders 1925 schrieb sie ihm lange, mütterlich besorgte Briefe, als er die Lessing-Dissertation aufgab und sich für das schmalere Thema entschied. Er sollte doch spazieren gehen, Obst und kräftiges Brot essen, »gesund aussehen & kleine rote Pausbäckchen kriegen«. (25.3.1925, JB) Sie war die einzige Frau in Kästners Leben — vielleicht durch ihre eigene, vergleichbar enge Mutterbindung —, der es gelang, in die Mutter-Sohn-Symbiose einzudringen und ein sehr gutes Verhältnis auch zu Ida Kästner aufzubauen. Beide besuchten sich häufig gegenseitig, lobten den abwesenden Kästner und spielten den Boten des Sohnes bzw. des Geliebten. Ilse trug die Wäsche zwischen Leipzig und Dresden hin und her, Muttchen brachte Ilse Maiglöckchen in seinem Auftrag (Feb. 1923, MB) und beschwerte sich bei ihm, wenn sie nicht oft genug von der Studentin besucht wurde. Aber der beruhigte sie: »Du mußt doch bedenken, daß sie jeden Tag bis in den Abend im Laboratorium steckt. Sie hatte mir letzthin über eine Woche fast nicht geschrieben.« (27.11.1924, MB)

Ilse Julius war eine ambitionierte Studentin. War es schon für Frauen in dieser Zeit ungewöhnlich, überhaupt zu studieren — noch dazu eine ›harte‹ Naturwissenschaft —, mochte sie sich damit nicht begnügen; wie Kästner wollte sie sich auszeichnen. Eine Heirat ohne beendetes Studium kam für sie nicht in Frage, allerdings wollte sie es »rasch« beenden, das »ewige Unfertigsein wird man leid«. (19.9.1924, JB) Sie berichtete ihm über ihre Arbeit, wie er das umgekehrt ebenfalls getan haben wird; aber da dürfte sie kaum einen verständnisvollen Leser gefunden haben, obwohl sie sich um eine allgemeinverständliche Ausdrucksweise bemühte. Sie habe ein »Büchlein über die neuere Atomtheorie« durchgelesen und es »im allgemeinen sehr gut verständlich« gefunden. (19.9.1924, JB) Kästner sollte ihr mehrfach Chemie- und Elektronikbücher besorgen. Ob ihre chemischen Analysen gelungen waren oder nicht, ließ sie ihn ebenfalls wissen: »Der Erfolg dieser Woche war, dass ich am Ende wenigstens weiss, dass ich wieder beim Ausgangspunkt angelangt bin, dass sämtliche Reaktionen eingetreten sind & dass ich es auf andre Art versuche.« (22.11.1924, JB) Der Professor, bei dem sie ihre Diplomarbeit schreiben wollte, Roland Scholl, behandelte sie zunächst reserviert, wollte wegen seiner Überlastung keine Diplomanden mehr annehmen und zog Erkundigungen ein; dabei soll er erfahren haben, Ilse Julius sei »die einzige Dame an der Hochschule, die etwas könnte«. (1.2.1925, JB) Obwohl andere Studenten tatsächlich abgewiesen wurden, akzeptierte Scholl sie; sie versuchte, Kästner den Gegenstand ihrer Diplomarbeit zu erklären: »Morgen beginnt die Praxis. Alles schön vorbereitet heut abend. Meine Arbeit besteht in einer sicher nicht ganz einfachen Synthese eines dem Indanthren verwandten Körpers, genannt Deltanthren. Etwas voreilig den Körper schon zu benennen. […] Im Gegensatz zum Indanthren, wo die Benzolkerne gewissermaßen eine Kette bilden, sind die Benzole beim Deltanthren dicht aneinandergelagert & es ist die Frage, ob so kompakte Gebilde überhaupt existenzfähig sind. Jedenfalls bilden sie auf dem Papier, wenn man ihnen ein so enges Beisammensein zutrauen darf ein griechisches Delta & als Anthracenderivat hat es den Taufnamen Deltanthren. Über seine Bedeutung hab ich bis jetzt keine Ahnung, aber man muss doch irgendwelche Erwartungen haben.« (9.3.1925, JB) Die Sächsische Technische Hochschule zu Dresden verlieh ihr am 19. März 1926 »den Grad eines Diplom-Ingenieurs«, alle weiteren gedruckten männlichen Formen des Zeugnisses sind mit Schreibmaschine durchgestrichen und durch die weiblichen ersetzt worden. Ihre Arbeit war ein »Beitrag zur Kenntnis der Ketone der Anthrachinonreihe und Isolierung eines neuen Farbstoffes«, die Diplomprüfung hatte sie »Sehr gut bestanden«. Sie reagierte darauf wie Kästner in vergleichbaren Situationen: Diese Art von Erfolg war »selbstverständlich & kaum der Erwähnung wert«. Ein Päuschen wollte sie schon machen, sein Muttchen zum Feiertagskaffee einladen und Jakob Wassermanns von Kästner empfohlenen Caspar Hauser lesen — aber in erster Linie freute sie sich doch »auf ein neues Ziel«, nämlich »wieder im Labor zu arbeiten & recht bald den Doktor zu machen, um dann mit Dir in die Welt zu fliegen«. (11.3.1926, JB) Ihr erklärtes Ziel, die baldige Heirat, hatte sie zugunsten einer weiteren Karrierestufe erneut hinausgeschoben; zumal es kein Anzeichen dafür gibt, dass die Heirat auch sein baldiges Ziel war.

Foto von Ilse Julius im Sommerkleid und mit Hut auf einer Bank sitzend.

Ilse Julius, Sommer 1934

Im Sommer 1924 fuhren Erich Kästner und Ilse Julius nach Italien, vorher diskutierten sie lange, ob denn nun Ida Kästner mitfahren solle oder nicht. Kästner wollte sie daheim lassen, seine Freundin stellte sich auf die Seite der Mutter. Sie halte es »für ausgeschlossen«, »mach Deiner Mutter nicht die Enttäuschung, lass uns zu Dritt fahren«. Schließlich habe sie sich wochenlang gefreut und »nur mit dem Gedanken an die Reise gelebt«, womöglich würde sie krank — er hätte ihr von vornherein sagen müssen, sein Geld reiche nur für ihn. Zwar wolle sie lieber mit ihm allein fahren, aber sie plädiere für eine Verschiebung auf nächstes Jahr: »Wir fahren also zu Dritt.« (6.8.1924, JB) Es wurde ein Kompromiss gefunden: Ida Kästner fuhr nur wenige Tage mit und sollte dann allein nach Tirol reisen; das Paar blieb noch drei Wochen am Gardasee. Julius schrieb vom Urlaub, er habe ihr ein »Leben gezeigt, schöner als ich es bisher kannte & ich möchte es so gern festhalten«. Die Wochen sollten ihr ein »Ansporn sein, recht schnell fertig zu werden & mir die Aussicht näherrücken immer mit Dir zusammenzusein«. (19.9.1924, JB)

1925 war Kästner mit seinen beiden Doktorarbeiten beschäftigt, ein Jahr später fuhr er dann mit seiner Mutter nach Italien, anschließend mit Ilse Julius nach Dänemark, wieder nach langen Diskussionen. Diesmal zweifelte sie, ob sie das nötige Geld aufbringen könne, meinte, sie müsse zusätzlich mit ihrer Mutter wegfahren, und war mit dem Anfangsstadium ihrer Doktorarbeit unzufrieden. Die Reise fand statt, sie schrieben Ida Kästner täglich Postkarten, aus dem Fährhafen Warnemünde, aus Kopenhagen, aus Gilleleje, wo sie in einem Badehotel eine Woche verbrachten, aus Sandvige und schließlich aus Berlin, eine Station auf der Rückfahrt; sogar Emil Kästner bekam einmal eine Karte für sich, aus dem »Land, aus dem die größten Ochsen in alle Welt verschickt werden und wo Franz [Augustin] die Pferde einkauft«. (10.8.1926, MB) Am 18. August war Kästner wieder allein in Leipzig angekommen, einen Tag später schrieb ihm Ilse einen Dankesbrief, um ihn wissen zu lassen, dass »alles sehr plastisch & nahe« vor ihr stehe und »nachträglich noch einmal« von ihr Besitz ergreife. (19.8.1926, JB)

Ihre Hymnen waren aber nicht mehr so enthusiastisch wie nach der Italienreise 1924. Auf ihre Veranlassung scheint gegen Ende der späteren Reise, in Gilleleje, eine Aussprache stattgefunden zu haben, über die Gründe der Trennung lässt sich wenig belegen, einiges mutmaßen. Ilse Julius hatte sich gegen ihre ›fraulichen Pflichten‹ aufgelehnt und nicht sexuell bereit sein wollen, wenn ihr Freund das wollte; das kann aber kaum mehr als der Auslöser des Konflikts gewesen sein. Bei aller Nähe war doch die räumliche Nähe eher die Ausnahme: Nicht einmal ein halbes Jahr nach dem Beginn der Liebesbeziehung ging Kästner nach Leipzig, kurzzeitig war er in Rostock und Berlin, kam nur auf einige Wochen nach Dresden. Ilse Julius war dann nicht immer da, weil ihr Vater erwartete, dass sie sich wochenlang in Senftenberg aufhielt. »Man schreibt sich immer so endlos lange Fetzen & hat wenig davon«, klagte sie schon 1924 und beteuerte ihre »ganz grosse Sehnsucht«. (6.8.1924, JB) »Wir müssen bald heiraten, dann hört es von selbst auf«, schrieb sie ihm ein paar Monate später; war aber auch so ehrgeizig, dass sie nicht hinter ihm zurückstehen wollte: »Nächstes Jahr noch nicht, da muss ich noch sehr fleissig sein & sehen, dass ich fertig werde. Übernächstes vielleicht. Wie denken Du? Oder 1927? Oder wollen wir unverheiratet beieinander wohnen? Jedenfalls lang lass ich Dich nicht mehr allein.« (13.12.1924, JB) Die langen Trennungen gingen mindestens ihr zunehmend auf die Nerven: »Also wieder mal in Dresden abgesetzt, 3 Wochen Wartezeit, um dann wieder ein paar flinke schöne Stunden mit Dir in Leipzig zu verleben. Ist das das Leben? Nicht ganz und doch zu einem grossen Teil.« (7.1.1925, JB) Es müssen große Sympathien zwischen Ida Kästner und Ilse Julius bestanden haben, aber gelegentlich hatte die Studentin doch den Eindruck, dass sie nur Küsterdienste in der Kathedrale seines Herzens verrichtete, Hohepriesterin war die Mutter geblieben. »Warum erzählst Du ihr jede kleinste Kleinigkeit, ehe Du Dich mit mir verständigst?«, beschwerte sie sich. (18.2.1926, JB)

Die Mutter scheint — und das hat wegen seiner Einzigartigkeit schon viel Gewicht — in den ersten Monaten der Krise nicht auf Seiten ihres Sohnes gestanden zu haben. Sie sagte einen bereits vereinbarten Besuch bei ihm in Leipzig kurzfristig per Telegramm ab, so dass er seinen Besuch in Dresden ankündigte — »ich weiß nicht, was wird, bevor I. nicht anders wird! Ich hab ihr heute früh einen langen Brief geschrieben. Aber Briefe schreiben in solchen Fällen ist furchtbar. Alles kann mißverstanden werden. — Dabei meine ich’s mit ihr besser als mit mir!« (21.8.1926, MB) Auch nach der endgültigen Trennung blieben die beiden Frauen noch einige Zeit in lockerer Verbindung, obwohl Ilse »gefürchtet« hatte, »daß Sie innerlich böse auf mich wären & gewiss schon jede Erinnerung an mich aus dem Wege geräumt hätten, da ich Erich & Ihnen so weh getan habe. Dass dem nicht so ist, macht mich froh & will mir ganz unverdient erscheinen. Zu all dem, was Sie im Leben durchmachen mussten, haben Sie nun auch noch Erichs & mein Leid miterleben müssen.«7

Erich Kästner versuchte, seine Mutter zu beruhigen, die ihm einen Seitensprung mit einer Leipzigerin vorwarf und darin den Grund für das Zerwürfnis mit Ilse vermutete: »Sie ist an allem schuld. Sie hat sich vorgenommen dir Ilse aus dem Herzen zu reißen. Es ist ihr gelungen […] Sie ist zügellos leidenschaftlich. Ilse war das Gegenteil.« (n. dat., MB) Kästner schrieb zurück, Ilse wolle einer Aussprache aus dem Weg gehen; sie habe ihm aber zugegeben, dass sie schon seit einem Jahr eine Abneigung gegen ihn empfinde, also nicht erst, seit er sie betrogen hatte. »Und den Grund oder die Gründe, die sie haben muß, gibt sie nicht an! Vielleicht gefällt ihr, seit dieser langen Zeit, jemand anderes besser, und sie gibt’s nur nicht zu, weil er etwa verheiratet ist, oder sonst unerreichbar. Und da sagt sie sich: Ich sag Erich nichts davon. Den andern krieg’ ich doch nicht. Und an Erich gewöhn’ ich mich vielleicht doch wieder, da er ein guter Kerl ist. Schrecklich, dieser Gedanke! Ich bin doch kein Almosenempfänger!« (28.8.1926, MB)

Er war sich der Tragweite dieser Trennung durchaus bewusst: »Wenn meine Beziehung zu Ilse, durch ihre Fremdheit, ganz aufhören sollte, so hab ich Jahre daran zu kauen. Und werde wohl nie wieder eine finden, die mir gleichwertig erscheint. Also: das heißt zugleich, dann werde ich niemals heiraten.« (28.8.1926, MB) Die Mutter schien nicht recht überzeugt, kündigte ihm an, sie werde ihm nun seltener schreiben, er lasse ja auch wenig hören. Er beteuerte, ihre Briefe seien »das einzige, was mich in dieser bösen Zeit, die ich durchmache, noch hochhält«. Er könne nicht mehr schreiben wegen seiner vielen Redaktionsdienste, es sei keine Gleichgültigkeit, und Ilse habe er nicht geschrieben »und werde es auch nicht tun. Höchstens später noch ein einziges Mal.« (4.10.1926, MB) Die Beziehung schleppte sich noch einige Monate hin, Bemerkungen über Ilse in den Briefen an die Mutter finden sich noch länger, Kästner wertete sie — schon aus Selbstschutz — immer stärker ab, schrieb von einer »Backfischkorrespondenz«, die ja einmal ihr Ende finden müsse, Ilse habe »zuviel mit Tanz und Nichtigkeiten zu tun«, und wenn sie »plötzlich nochmal mit Besuchen und Weinereien anfinge, wär das wenig schön, müßte aber unbedingt durchgemacht werden; denn sie und ich sind es den 8 Jahren, die wir uns kennen, schuldig, ehrlich und offen wie anständige Menschen auseinanderzugehn. Und nicht wie kleine Dienstmädchen, die sonst aber das große Maul haben und sagen, die moderne Frau sei dem Mann ebenbürtig. Ilses Betragen hat gezeigt, daß sie ein kleines dummes Ding ist wie jedes andere beliebige Mädchen.« (5.10.1926, MB) Seine Schelte klingt nicht sehr überzeugend; eher wie Pfeifen im Dunkeln. In einem einzigen Brief an die Mutter beteuerte er, er sei »ruhiger geworden«, »finde [s]ich darein«, sei »bereits über den Berg«, er habe »nicht einmal graue Haare drüber gekriegt, obwohl ich manchmal dachte, sie müßten weiß werden«, der Mensch »verträgt verdammt viel«, jetzt sei »das also, Gott sei Dank, vorüber«, »das gibt sich alles«, und die Arbeit sei »jetzt für mich das Klügste«. (9.10.1926, MB)

Aber er konnte noch nicht lockerlassen, mochte ihr »noch einmal gründlich die Meinung sagen« (13.10.1926, MB), obwohl ihn der Gedanke an ein Wiedersehen schmerzte: »Man wird eben nur ganz allmählich gesund.« (13.10.1926, MB) Bei allen Gefühlsschmerzen, trotz allem Seelenkäse war er erotisch nicht faul in dieser Phase der noch nicht ganz vollzogenen Trennung; in seinen Briefen an die Mutter erwähnte er des Öfteren »Karin«, eine Zahnarzthelferin und Laborantin, die von Ilse wisse, aber nichts von der anstehenden Trennung. Einmal vermeldete er, er habe sich mit zwei »Tanzfräuleins« verabredet, die ihn versetzt hätten: »So eine Frechheit! Man ist doch wohl nicht mehr albern genug für solche Backfische.« (13.10.1926, MB)

Er scheint Ilse Julius den ›offenen‹ Brief geschrieben zu haben, die Antwort fiel aber nicht aus wie erwünscht. Es existiere kein anderer Mann neben ihm, und sie sei »auf dem letzten Teil der Reise froh und heiter« gewesen, weil sie sich befreit gefühlt habe: »Sie sei froh gewesen, nicht mehr Gattin sein zu müssen auf Kommando.« Der Sohn berichtete seiner Mutter, schwer irritiert: »Sie macht Unterschiede zwischen Liebe und Bett. Ich kann hierin keinen Unterschied machen.« Er schrieb in schöner Offenheit, er sei »so stolz in solchen Fragen« — und in diesem Stolz ist er empfindlich verletzt worden. Er war nun mit Karin »12 mal« in der Woche zusammen und »über den schlimmsten Gram weg«, hatte zu diesem Zeitpunkt doch schon endgültiger abgeschlossen als Ilse Julius. »Und nun soll ich weiter auf Ilse warten, wo sie zugibt, daß ihr ›die sexuelle Bereitschaft‹ (so nennt sie’s wissenschaftlich) unangenehm ist; daß sie wie unter einem Druck stand, solange sie wußte: ich verlange und erwarte von ihr Hingabe. Es mag ja sein, daß manche Frauen jemand liebhaben und doch von ihm nichts wissen wollen! Aber das ist mir zu kompliziert! Solch eine Ehe würde das Gräßlichste, das sich ausdenken läßt.« (19.10.1926, MB)

Sie verabredeten sich zu einem weiteren Treffen in Leipzig, von ihm als klärendes und endgültig trennendes Gespräch gedacht, für Ilse Julius lässt sich das so klar nicht belegen. »8 Tage vorm Totensonntag«, am 14. November 1926, fand dieses Gespräch statt. Es dauerte knapp sechs Stunden, Kästner fand das »schnell vom Zaun gebrochen«. Das Resultat berichtete er in derselben Nacht seiner Mutter, es war wie erwartet: »Zwischen Ilse und Erich ist’s aus.« (14.11.1926, MB) Der »Vorhang ist unter den letzten Akt des kleinen Trauerspiels gefallen«. (16.11.1926, MB) Er habe ihr gesagt, »wie es wirklich war« (14.11.1926, MB): »Du hast mich nie liebgehabt. Die erste Zeit war’s sexuelle Neugierde der 18jährigen. Und seit 6 Jahren etwa weißt Du, daß Du mich nicht liebst und nie geliebt hast. Aber Du hast Dir selber immer weisgemacht: Ich liebe ihn doch. Faktisch hast Du mich nur gern gehabt, weil ich anständig, zuverlässig, ehrlich und gescheit bin. — Nur so erklärt sich, daß Du seit Gilleleje einfach nicht mehr wolltest, obwohl Du niemanden andern liebhast. Deswegen auch bist Du, trotz aller Tränen, froh, daß es aus ist.« (14.11.1926, MB) Sie habe ihm ungern recht gegeben, dann widerrufen, dann sei sie, unterwegs zum Bahnhof und weinend, »auch noch eifersüchtig auf meine zukünftige Geliebte oder Frau« geworden. Daß es bereits eine gegenwärtige Geliebte gab, wird er kaum in das ›klärende Gespräch‹ eingebracht haben; wohl aber beklagte er sich im selben Brief bei der Mutter über Karin, mit der er ebenfalls im Clinch lag. Natürlich war die Abgeklärtheit nicht echt; wenige Tage später stellte er Mutmaßungen über die neuen Bekannten an, mit denen Ilse nun wohl zusammen war, anstatt seine Briefe zu beantworten. (24.11.1926, MB)

Porträtfoto von Ilse Julius. Sie hat ihr kurzes dunkles Haar rechts gescheitelt und trägt eine weiße Bluse mit rundem Kragen und einer Schleife.

Ilse Julius in den dreißiger Jahren

Sie versprachen sich, lose in Verbindung zu bleiben; dann »war es Zeit, in den Zug zu steigen. Sie hat geweint und gewinkt. Und ich habe gewinkt und auch beinahe geweint.« Das Fazit war bitter: »Ich habe 8 Jahre verloren. Und Ilse hat es gewußt. Aber sie hat ja auch 8 Jahre eingebüßt. Und bei ihr ist das schlimmer.« (14.11.1926, MB) Für sie war es schlimmer, weil Frauen in ihrer Situation — nach einem jahrelangen unehelichen Verhältnis — kaum Chancen hatten, wieder ›ehrbar‹, soll heißen, geheiratet zu werden. Sie konnten darauf hoffen, dass ihre Geschichte in Vergessenheit geraten würde, oder, der sicherere Weg, die Stadt wechseln. Berlin war die größte Stadt der Weimarer Republik und versprach am ehesten Vergessen; die Romane Irmgard Keuns und Heinrich Manns sind wie die Lyrik Erich Kästners in den zwanziger Jahren übervölkert mit jungen und weniger jungen alleinstehenden Frauen; auch die heute noch gängige Witzfigur der alten Jungfer entstammt diesen Verhältnissen.

Kästners Verhältnis mit Ilse war stark utopisch besetzt gewesen, er jammerte, wie »wunderschön auf der Welt« es gewesen wäre, hätte sie ihn nur auch so geliebt wie er sie, »ein schöner Traum« seien die Jahre mit ihr zusammen gewesen; »hat nur zu lange gedauert. Das Aufwachen war häßlich.« (14.11.1926, MB) Er fühlte sich weiterhin »bißchen marode« und unterschrieb seine Briefe an die Mutter wochenlang mit »Glückallein«, die Formulierung eines Wunsches. Der gewesenen Geliebten fühlte er sich dennoch unendlich überlegen, war überzeugt, sie sei auf ihrer letzten Heimfahrt von Leipzig fröhlich und guter Dinge gewesen — ihr Leid bezeichnete er als »Kleinkinderschmerzen« und nahm sich vor, sie zu »verachten wegen ihrer Oberflächlichkeit«. (16.11.1926, MB) Ida Kästner warf ihm Übereilung und Herzenskälte vor und bedauerte Ilse Julius, was ihr Sohn nun überhaupt nicht vertrug. Er versuchte ihr klarzumachen, dass er doch viel mehr leide als sie, und wo er schon dabei war, erläuterte er auch gleich, dass die Nachfolgerin Karin ihm »nicht den Kopf beschweren« solle: »Als Frau kommt sie niemals für mich in Frage.« (16.11.1926, MB) Sie sei ihm nicht leidenschaftlich genug, habe sich »durch jahrelange Dummheiten, die sie mit sich selber erledigt hat«, abgestumpft. Überhaupt glaubte er, »es gibt keine leidenschaftlichen Mädchen mehr. Sie haben sich alle schon so zugrunde onaniert, dass sie Männer einfach nicht mehr brauchen können.« (18.11.1926, MB) Die »Sache« mit ihr lief noch ein paar Wochen weiter, wurde aber »immer ungefährlicher«. (16.2.1927, MB)

Er litt noch einige Wochen mehr oder weniger leise vor sich hin, stürzte sich in Arbeit, um Ilse zu vergessen, ließ die Symbiose zwischen Mutter und Sohn wieder aufleben: »Wir tragen ihr ja nichts nach, da sie sich ja nicht leichtsinnig sondern unter Schmerzen von mir trennte.« (24.11.1926, MB) Er grollte, träumte von »Revanche für die mir angetanen Beleidigungen« (26.11.1926, MB), und es kam ihm »immer mehr der böse, quälende Gedanke, daß ihre ›Krankheit‹ im Frühjahr mir und uns ein wohl nur zur Hälfte bekanntes Kapitel ist. Ich hab mich hier sehr damit abgequält, ihr meinen Verdacht zu verschweigen, um im Guten auseinanderzukommen. Aber — irgend einmal sag ich ihr’s noch! Sie soll nicht in ihrer Erinnerung an mich glauben, ich sei ein Hanswurst gewesen, den man zum Narren halten konnte und der ihr mühsam gespartes Geld gab, damit sie sich kurieren konnte, während vielleicht ein anderer — « (26.11.1926, MB) Es wird nicht klar, wovon hier die Rede ist; es ist zumindest nicht abwegig, an eine Abtreibung zu denken — eine »Krankheit«, an der ein anderer beteiligt sein könnte und zu deren Abhilfe man Geld brauchte. Abtreibungen waren in der Weimarer Republik nach dem § 218, der noch aus dem Kaiserreich stammte, streng verboten; dennoch fanden nach zeitgenössischen Schätzungen 800.000 bis 1.000.000 pro Jahr statt. Verhütungsmittel wurden von Ärzten kaum verschrieben, am ehesten noch für unverheiratete Frauen; am verbreitetsten war der Coitus interruptus, auch Kondome waren gebräuchlich.8

Emotional am Ende war die Bindung für Kästner an Silvester 1926/27. Er hatte ihr den Roman Jenny (1921) von Sigrid Undset geschickt, in dem er die eigene Liebesgeschichte mit Ilse treffend und dramatisch beschrieben sah, und sie antwortete ihm zuerst überhaupt nicht, dann mit einem konventionellen Dank, der ihn in blinde Wut versetzte: »Ich leg Dir dieses herrliche Dokument einer Gans bei. Pfui Teufel, so schreibt mir das Mädchen, das mich 8 Jahre zu lieben vorgab! Als ob sie einem flüchtigen Bekannten, mit dem sie bißchen im Bett lag, paar verspätete Grüße schickte, die leider geschrieben werden müssen. Und dabei ist das Buch, von dem sie schreibt, derart verwandt mit dem, was Ilse und ich erlebten, daß sie hätte eine Woche weinen müssen.« (3.1.1927, MB) Dieses »Dokument« hat sich nicht erhalten, aber Ilse Julius schrieb ihm erneut, nachdem sie das Buch gelesen hatte: »Es ist ein ausgezeichnetes Buch, nach dem Kartenhaus das beste, was ich gelesen habe. Und in beiden allerlei Beziehungsreiches zu uns. Im Undset-Roman so deutlich, daß man ganze Seiten anführen könnte. Dir hat der Roman ja auch gefallen, & vielleicht hat er dazu beitragen können manches an mir zu erklären, was ich wohl nie in Worte werde bringen können.« (7.2.1927, JB) Jenny und Ein Kartenhaus (1913) von M. C. André haben gemeinsam, dass im Roman wie in der »Alltags-Komödie« unerträgliche Mütter eine Rolle spielen, die Ehen zum Scheitern bringen.

Aus den Briefen wird immer wieder deutlich, wie nah Julius und Kästner vor der Heirat standen. Sie war ein permanentes Thema, »wir sind ja auf dem besten Wege« (22.2.1923, JB), schrieb sie, »Warten, warten« (30.4.1923, JB), für seinen letzten Umzug innerhalb Leipzigs wünschte sie sich, dass es die »letzte Wohnung vor unsrer gemeinsamen« sein möge »oder schon der Anfang davon«. (1.8.1924, JB) Scherzhaft drohte sie ihm mit der Ehe, »die Liebste« könne ihm doch »als Hausgöttin & häusliche Gattin so sehr den Lebensgenuss vervielfältigen & verschönen […]. Warte nur balde.« (22.7.1923, JB) 1924 schrieb sie ihm häufiger über das Thema Heirat, das ihm nachgerade unheimlich geworden zu sein scheint; er reagierte indirekt und gab ihr einen Roman von Otto Flake zu lesen, der sie verunsicherte und einen düsteren Brief schreiben ließ, der gleichwohl einer emanzipatorischen Komponente nicht entbehrt: »Georg ist entschieden am sympathischsten & hat mir im Gedanken an meinen Liebsten Angst gemacht. Besonders wegen des Vorsprungs an erotischen Erlebnissen. Ist das für einen Mann so wesentlich? Dann auch für eine Frau. Nicht für alle, aber manche gewinnen, werden reicher. Und seine & des Liebsten Sorge vor der Ehe? Flucht nach Argentinien? Du! Ich lass Dich polizeilich holen! Wir haben einander die grösste Freiheit versichert & wüssten, dass im gegebenen Falle einer beinahe kaputt ging. Aber besser als beide. Dabei soll es bleiben. Nun aber Schluss, sonst werden wir noch beide schwermütig.« (12.1.1925, JB) Es handelte sich um Flakes Roman Der gute Weg (1924), in dem sich der Protagonist recht zeittypisch von einer ›rassigen‹ Geliebten zur nächsten hangelt, von der »Slawin« zu der »Amazone mit der delikaten Wade«. Eine der wichtigeren beschwert sich über die Dominanz Georgs und analysiert sein »Käthchenideal«: »man fragt den Gebieter, welchen Entschluß er gefaßt hat, und nimmt ihn als Gesetz entgegen.«9 Am Ende des Romans ist er in Mexiko verschollen.

Julius und Kästner waren nach acht Jahren natürlich auch im ferneren Bekanntenkreis ein bekanntes Paar, in der Trennungsphase musste der Ex-Bräutigam zu seinem Missvergnügen ertragen, dass »einen alle Menschen anquasseln, wie’s der Braut gehe, wann man heiraten wolle und solch dummes Zeug mehr — und man kann ihnen doch nicht gut auf die Nase binden, daß alles zu Ende ist.« (6.11.1926, MB) Es klingt eher so, als habe nach seiner anfänglichen Reserve sie sich gewehrt, als habe sie das nötige Gefühl nicht mehr aufbringen können — und ihm das offen gesagt, eine tiefe Verletzung. Immer wieder wurde behauptet, dass Kästner diese Verletzung in Sachliche Romanze verarbeitet hat. Das Gedicht wurde zuerst 1928 in der Vossischen Zeitung gedruckt, im zweiten Lyrikband Lärm im Spiegel (1929) setzte er die Sachliche Romanze an den Anfang:

»Als sie einander acht Jahre kannten

(und man darf sagen: sie kannten sich gut),

kam ihre Liebe plötzlich abhanden.

Wie andern Leuten ein Stock und ein Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,

versuchten Küsse, als ob nichts sei,

und sahen sich an und wußten nicht weiter.

Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.

Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier

und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.

Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café im Ort

und rührten in ihren Tassen.

Am Abend saßen sie immer noch dort.

Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort

und konnten es einfach nicht fassen.« (I: 65)

Nun gibt es sicher deutliche Anklänge an Kästners eigene Geschichte mit Ilse Julius, und es ist eher unwahrscheinlich, dass dieses ›authentische‹ Drama nicht bestimmend für die Sachliche Romanze sein sollte. Aber das Gedicht ist eine Fiktionalisierung, eine Formung — unfreundlicher: Verformung — der eigenen Geschichte. Der männliche Part im Gedicht kommt um einiges besser weg als Erich Kästner in seiner eigenen éducation sentimentale. Es ist hier nicht die Frau, der die Liebe allein abhandenkommt und die das dem Mann verschweigt, in der Hoffnung, es möge sich wieder ändern. Im Gedicht werden zwei synchrone Entwicklungen beschrieben, beiden kommt die Liebe abhanden. Auch der Versuch, dies zu überspielen, ist im Gedicht ein gemeinsamer Vorgang, der tatsächlich ja wohl zunächst nur einseitig stattgefunden hat. Sachliche Romanze spiegelt getreulich die üblichen Geschlechterrollen, nach denen nur die Frau weint; der Mann »stand dabei«, und er ist es auch, der das Schweigen bricht und Kaffeetrinken als Ersatzhandlung vorschlägt. In der Schlussstrophe heben sich die Geschlechterrollen wieder auf und wohl auch die Trennung von Fiktion und Realität — am Ende steht ein gemeinsames Verstummen.

Der letzte erhaltene Brief von Ilse Julius stammt vom 4. April 1927 und schlug ein erneutes Treffen in Dresden vor; sie hatte von Ida Kästner erfahren, dass ihr Sohn zu deren Geburtstag am 9. April kommen würde. Es ist nicht bekannt, ob das Treffen stattgefunden hat; sie besuchte ihn im Oktober 1927 in Berlin, er hielt das »bißchen Bauchweh, das ich dabei haben werde«, für eine »gute Erziehung« (1.10.1927, MB), »die beste Art zum Abgewöhnen«. (7.10.1929, MB) 1929 trafen sie sich nach größerer Unterbrechung wiederum in Berlin, waren zusammen im Theater und »ein Stündchen tanzen«: »Dann hab ich sie heimgebracht. Sie freute sich sehr. Werde sie manchmal mitnehmen. Sonntag ist sie in Dresden. […] Sie ist mir innerlich ganz fremd geworden. Aber das gefällt ihr, glaub ich, auch ganz gut. Zu Silvester hatte sie Besuch aus Dresden. Ihren Freund sicher. Aber wir sprechen nie darüber.« Das Treffen setzte bei ihm weiterreichende Reflexionen in Gang, er fragte sich, ob ihm die »Ilse-Affäre« nicht »alle Fähigkeit, ein Mädchen richtig liebzuhaben, vollständig ruiniert« habe. (10.1.1929, MB) Als unmittelbaren Reflex auf das Stelldichein schrieb er das Gedicht Repetition des Gefühls (Weltbühne, 29.1.1929), nach dem er ursprünglich seinen zweiten Lyrikband nennen wollte10 — er war tatsächlich mitten in Reisevorbereitungen zu einem Urlaub im Gebirge:

»Eines Tages war sie wieder da …

Und sie fände ihn bedeutend blässer.

Als er dann zu ihr hinübersah,

meinte sie, ihr gehe es nicht besser.

Morgen abend wolle sie schon weiter.

Nach dem Allgäu oder nach Tirol.

Anfangs war sie unaufhörlich heiter.

Später sagte sie, ihr sei nicht wohl.

Und er strich ihr müde durch die Haare.

Endlich fragte er dezent: ›Du weinst?‹

Und sie dachten an vergangne Jahre.

Und so wurde es zum Schluß wie einst.

Als sie an dem nächsten Tag erwachten,

waren sie einander fremd wie nie.

Und so oft sie sprachen oder lachten,

logen sie.

Gegen Abend mußte sie dann reisen.

Und sie winkten. Doch sie winkten nur.

Denn die Herzen lagen auf den Gleisen,

über die der Zug ins Allgäu fuhr.« (I: 92f.)

Sie sahen sich in den nächsten Jahren noch einige Male auf dieser neuen, distanzierten Basis, nachweisbar bis 1932; Mitte Mai 1929 fuhren sie sogar für eine Woche zusammen nach Paris (19.—24.5.1929, MB), wo Ilse Julius anscheinend ein kurzes Verhältnis mit einem Ägypter hatte. »Komische Sachen«, meinte ihr Ex-Freund. (12.10.1929, MB) Eine briefliche Äußerung Kästners, nach einem ihrer späten Besuche in Berlin, soll wegen ihrer Härte nicht verschwiegen werden: »Gott, ist sie dumm geworden. Man kann kaum mit ihr reden. Da haben Kästners seinerzeit wirklich Glück gehabt.« (15.3.1930, MB) Ilse Julius stürzte sich nach dem Ende der Verbindung in ihre Arbeit und wurde zu einer frühen ›Karrierefrau‹, kaum ein Zeichen für Dummheit; 1929 promovierte sie über Heterocyclische Polymethin-Farbstoffe aus α- und γ-Methyl-cyclammonium-Salzen. Sie scheint kein allzu glückliches Leben gehabt zu haben, lebte mit keinem Mann mehr dauerhaft zusammen, sondern blieb, von beruflichen Unterbrechungen abgesehen, bei ihrer Mutter. Seit 1930 arbeitete sie in Berlin, Kästner suchte ihr per Inserat ein Zimmer (20.3.1930, MB); flüchtige briefliche Verbindungen bestanden bis in die fünfziger Jahre.11 Ilse Julius arbeitete im zuständigen Ministerium für die Kinderlandverschickung, auch während des ›Dritten Reichs‹, als dieser staatlich organisierte Erholungsaufenthalt für Stadtkinder immer stärker ausgeweitet wurde. Ihr Cousin erinnert sich an das Gerücht im Verwandtenkreis, sie sei einige Zeit mit dem NSDAP-Reichspostminister Wilhelm Ohnesorge liiert gewesen. 1945 schickten sie die sowjetischen Besatzer aufgrund ihres Titels als Abteilungsleiterin eines Chemiewerks nach Wolfen bei Dessau, obwohl sie davor nie als Chemikerin gearbeitet hatte; sie starb in Dresden mit 62 Jahren an Darmkrebs, am 3. Mai 1964, vier Jahre vor ihrer Mutter.