Kästner hatte 1932 einen »Dringenden Appell!« unterzeichnet, zusammen mit Albert Einstein, Heinrich Mann, Kurt Hiller, Ernst Toller, Käthe Kollwitz und Arnold Zweig. Er wurde plakatiert und empfahl »ein Zusammengehen der SPD und KPD für diesen Wahlkampf« und den »Aufbau einer einheitlichen Arbeiterfront«.1 Im Fragebogen der amerikanischen Militärregierung 1945 gab Kästner an, er habe im November 1932 und im März 1933 SPD gewählt. Emigrieren mochte Kästner trotz der jahrelangen Angriffe rechtsradikaler Zeitungen und der damit überdeutlichen Gefährdung nicht. Er glaubte, sicher zu Recht, dass seine Mutter ein Abreißen des »Wäschebands« nicht überstehen würde, aber zumindest im ersten Jahr der NS-Diktatur erlag Kästner einer Fehleinschätzung nach der anderen, trotz Reichstagsbrand und Bücherverbrennung.
Seine erste Fehleinschätzung war das weithin verbreitete ›Es wird schon nicht so lange dauern‹, und die zweite: ›Es wird schon nicht so schlimm werden.‹ Während des Reichstagsbrandes war er in Zürich, erinnerte er sich; Anna Seghers und andere versuchten vergeblich, ihn zum Bleiben im Ausland zu bereden. Er habe im Gegenteil die Emigranten zur Rückkehr aufgefordert: »Es sei unsere Pflicht und Schuldigkeit, […] auf unsere Weise dem Regime die Stirn zu bieten.« Nach dem Krieg wird er öffentlich bekennen, dass ihm »heiß und kalt« werde bei der Vorstellung, dass nur ein Einziger auf ihn hätte hören können. (II: 99f.) Noch nach dem Reichstagsbrand schrieb er aus dem Urlaub in Meran einen beruhigenden und allzu nassforschen Brief an die Mutter: »Also, mit dem Draußenbleiben, das kommt gar nicht in Frage. Ich hab ein gutes Gewissen, und ich würde mir später den Vorwurf der Feigheit machen. Das geht nicht. Außerdem bekommt mir das Fortsein immer nur paar Wochen.« Man solle »nie sagen, ich hätte mich gedrückt. Das wäre mir mein Leben lang unerträglich.« Nach Berlin wollte er immerhin so schnell nicht fahren, das habe »Zeit, bis es ruhiger geworden ist«, und der Berichterstattung in ausländischen Zeitungen wollte er nicht glauben. Die machten »mit ihren Lügen nur das Treiben verrückt. So ein Quatsch!« (27.3.1933, MB) Dort sei auch zu lesen gewesen, man habe Tucholskys »Berliner Wohnung durchsucht. Ich wette, er hat seit Jahren keine Berliner Wohnung mehr. Wieder so eine Gerüchtgeschichte. […] Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.« (17.3.1933, MB) Kästner hatte recht, insofern Tucholsky sich schon 1930 in Hindås niedergelassen hatte; aber Mary Tucholsky, zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschieden, lebte weiterhin in Berlin, und sie musste sogar mehrere Haussuchungen über sich ergehen lassen. So ganz hat Kästner den eigenen Beschwichtigungen doch nicht geglaubt, er war das Jahr 1933 über ungewöhnlich viel auf Reisen. Unter den wenigen erhaltenen Korrespondenzen findet sich kaum ein Brief aus Berlin, im Januar war er in Garmisch (mit Cara Gyl), im Februar in Kitzbühel (anscheinend allein), im März in Südtirol (mit einer »Prager Studentin«, 27.3.1933, MB), im Juli und August schrieb er vom Eibsee (mit Gyl), wo er am Fliegenden Klassenzimmer saß. Die Studentin konnte inzwischen identifiziert werden: Maria Anna Karolina Durta, die sich Marianne rufen ließ, studierte 1930 bis 1932 in Prag Medizin. Sie hatte Kästner in Kitzbühel kennengelernt, einige Urlaube mit ihm verbracht, 1935 aber den Kaufmann und Juristen Ernst Hirsch geheiratet. 1938 musste das Paar wegen seiner jüdischen Herkunft fliehen, sie gingen nach Brasilien. 1971 schrieb Marianne Hirsch-Durta Kästner noch einen Erinnerungsbrief aus São Paolo, Angelika Pedron hat die Geschichte ihres so repräsentativen jüdischen Schicksals recherchiert.2
Am 31. März wurde Kästner mit einer »Reihe kommunistischer und linksradikaler Mitglieder«, darunter auch Rudolf Arnheim, Axel Eggebrecht, Lion Feuchtwanger, Magnus Hirschfeld, Alfred Kerr, Egon Erwin Kisch, Peter Martin Lampel und der Verleger Willi Münzenberg, aus dem »Schutzverband deutscher Autoren« ausgeschlossen. Der Schutzverband (SDA) und der PEN-Club wurden gleichgeschaltet, Kästner hat die erpresserische Prozedur in Briefe in die Röhrchenstraße beschrieben. (VI: 558—563) In die Reichsschrifttumskammer wurde er trotz mehrerer Anträge nicht aufgenommen. Im Präsidialrat der Schrifttumskammer hatte Hans Grimm am 16. Januar 1934 vorgeschlagen, die Aufnahme einiger zweifelhafter Schriftsteller von ihrem weiteren Verhalten im Laufe eines Jahres abhängig zu machen; unter den 32 solcherart in Quarantäne gestellten Autoren war auch Kästner, als »Berthold Bürger« sollte er schreiben dürfen.3 Eine Börsenblatt-Anzeige für Drei Männer im Schnee — den Verwandlungen dieses Stoffs bleibt das nächste Kapitel reserviert — schadete ihm, die Schrifttumsabteilung des Propagandaministeriums schickte der Deutschen Verlags-Anstalt das erneute Verbot — man »habe ihm nur erlaubt, ›für sich‹ zu schreiben«.4 Dr. Heinz Wismann, der Referatsleiter dieser Stelle von 1933 bis zu seiner Entlassung 1937 und zeitweilige Vizepräsident der Reichsschrifttumskammer, soll Kästner »unter vier Augen« ein Schlupfloch angeboten und ihn gefragt haben, ob er in der Schweiz nicht eine Zeitschrift gegen die deutschen Emigranten herausgeben wolle. »Das Propagandaministerium werde sie, getarnt, finanzieren.« Kästner lehnte ab — er sei mit zu vielen der Emigranten befreundet, niemand »werde ihm den Gesinnungswechsel glauben«.5 Das Angebot klingt glaubhaft, weil die Anekdote sich auch in Kästners unveröffentlichtem Tagebuch findet (BB: 244f.), vor allem aber, weil Wismann ein eigenartiger Nationalsozialist war: kein »goldene[r] Parteigenosse« (II: 16), wie Kästner meinte, sondern eher ein blecherner, der denn auch mit Eklat flog. Wismann war bis 1934 mit einer Halbjüdin verheiratet gewesen, ohne dass Goebbels davon wusste; er hatte einem jüdischen ehemaligen Schwager eine Stelle verschafft und sich ständig Vorschüsse und doppelte Reisekosten ausgezahlt.6
Während Kästner auf den Bescheid des »Reichsverbands deutscher Schriftsteller« wartete, konnte Das fliegende Klassenzimmer noch bei der DVA erscheinen, mit nur geringem Tarnaufwand — der Verlag nannte sich vorsichtshalber »Friedrich Andreas Perthes« nach einem Verlag des 19. Jahrhunderts, der neben anderem für seine Erbauungsliteratur bekannt gewesen war. Die Buchhandlungen stellten den Titel aus, Kilpper teilte Kästner eine Woche nach Erscheinen mit, er habe »noch etliche tausend Exemplare nachdrucken lassen. Für alle Fälle.« (8.12.1933, MB) Edith Jacobsohn war zwar nach Zürich emigriert, aber ihren Verlag Williams & Co. gab es noch, unter der Leitung von Cecilie Dressler. Er durfte weiterhin Kästner-Bücher verkaufen, und sie gingen auch Ende 1933 noch gut, besonders »der Emil. Ein Glück, daß wir den geschrieben haben, was?« (4.12.1933, MB)
Noch vor der Bücherverbrennung erschien in den Berliner Tageszeitungen die erste Schwarze Liste mit »jener Literatur, die aus den Städtischen Büchereien verschwindet«.7 Die Listen zeigten regionale Differenzen; die Berliner Stadtverwaltung wollte die Werke von Brecht, Feuchtwanger, Kisch, Klaus Mann, Robert Neumann, Remarque, Schnitzler, Seghers, Tucholsky, Arnold und Stefan Zweig und anderer vollständig eliminieren. Von Döblin, Edschmid, Traven und Wassermann konnten einzelne Titel eingestellt bleiben, auch Heinrich Manns Novellenbändchen Flöten und Dolche wurde verschont; von »Kaestner, Erich« Emil und die Detektive. Thomas Mann erschien übrigens in dieser Liste nicht. In der Berliner Börsen-Zeitung verlangte Christian Jenssen, man solle auch den Emil noch verbieten; dieser Forderung ging eine ›Würdigung‹ Kästners voraus, die ihresgleichen sucht. »Die Hemmungs- und Schamlosigkeit, für die Gotteslästerung schon ›Lyrik‹ war, ist seines Wesens bestimmender Teil geblieben. Ihr hat er eine geradezu teuflische Phantasie und Wortwendigkeit nutzbar gemacht«, heißt es da über die Gedichtbände; und über den Roman: »Ein anarchischer Intellekt tobt sich bis zum Wahnwitz auch in dem Roman ›Fabian‹ aus […] übrigens geht Fabian ohne Ahnung vom wirklichen Leben wie eine Leiche hindurch, die nur noch nicht weiß, wo sie sich begraben lassen soll.« Jenssen war als Schriftsteller und Pädagoge nach dem Krieg unangefochten Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, vom Gründungsjahr 1949 bis zu seinem Tod 1996.
Am 10. Mai 1933 wurden Kästners Fabian und die Gedichtbände verbrannt, unter den NS-»Feuersprüchen« fiel er in eine Rubrik mit Werken Heinrich Manns und Ernst Glaesers. »Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat!«, riefen die Studenten, während sie die Stapel in die Flammen warfen. Die Bücherverbrennung fand in Berlin bei starkem Regen statt, und sie war ›vorbildlich‹ organisiert. Die NS-Studentenschaft hatte zuvor einen Fackelzug veranstaltet, die Transparente riefen zum »Kampf dem undeutschen Geist« und zum »Kampf dem schlechten Buche« auf. Der Deutsche vermeldete stolz, dass sich auch »zahlreiche Studentinnen beteiligten«; eines der »Kampflieder« hatte den Text »Deutsche Mädchen, deutsche Frauen nehmen wir in unsern Schutz«. Damit auch feuerpolizeilich alles seine Ordnung hatte, bestand der Scheiterhaufen auf dem Opernplatz aus Buchenstämmen mit einer Sandunterlage. Die Züge warfen im Vorüberziehen ihre Fackeln auf den getränkten Holzstoß. Kästner stand — als einziger der verbrannten Autoren, die zum Großteil bereits emigriert waren — zusammen mit seinem Freund Hans Wilhelm in der Menge und beobachtete den Vorgang. Eine junge Kabarettistin erkannte ihn und rief, wohl nicht in denunziatorischer Absicht, »dort steht ja Kästner!« Er schrieb: »Ihre Überraschung, mich sozusagen bei meinem eigenen Begräbnis unter den Leidtragenden zu entdecken, war so groß, dass sie auch noch mit der Hand auf mich zeigte. Das war mir, muß ich bekennen, nicht angenehm. […] Hans Wilhelm und ich musterten die SA-Studenten ringsum. Sie blickten unverwandt zu dem lodernden Flammenstoß hinüber. Trotzdem beschlossen wir zu gehen. Nach ein paar Minuten, die wir, quasi anstandshalber, noch blieben, machten wir uns auf den Heimweg.«8 Peter de Mendelssohn, auf seinem langen Exilweg anfänglich auch in Paris, will in einem Wochenschau-Bericht im Kino Kästner in der Menge um den Scheiterhaufen gesehen haben.9 Klaus Kordon konnte einen Polizeiwachtmeister interviewen, der damals mit anderen Polizisten »diesen Gewaltakt wider den menschlichen Geist schützen« sollte und der Kästner in der Menge sah: »Als Kästners Name fiel, habe ich wieder zu ihm hingeschaut. Er hat mit keiner Wimper gezuckt, war nur sehr bleich.«10 In seiner Gedenkrede Über das Verbrennen von Büchern (1958) fragte Kästner sich öffentlich, warum er damals den Feuersprüchen nicht widersprochen oder gar zurückgebrüllt habe. Er war kein Held wie Carl Ossietzky oder der befreundete Schauspieler Hans Otto, den die Gestapo umgebracht hatte; er habe die Faust nur in der Tasche geballt. Ein Aufbegehren in der Menge schien ihm — wenigstens im Rückblick — nutzlos. Ein Held »ohne Mikrophone und ohne Zeitungsecho wird zum tragischen Hanswurst. Seine menschliche Größe, so unbezweifelbar sie sein mag, hat keine politischen Folgen.« Das ›Dritte Reich‹ hätte »spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird.« (VI: 646) Dass er das 1933 nicht wusste, sondern diese Lehre erst nach dem Krieg ziehen konnte, gab Kästner in seiner Rede zu.
Unter Kästners neuen Freundinnen war die Schauspielerin Cara Gyl, er nannte sie »Karlinchen« oder »Cara«. Sie stammte aus einer Schifferfamilie, ihr eigentlicher Name war Käthe Hörnemann. Sie wurde 1903 in Duisburg geboren; Kästner kann sie in Berlin kennengelernt haben, wo sie 1928/29 an den Barnowsky-Bühnen engagiert war, oder in Dresden, wo sie von 1929 bis zum Sommer 1934 am Sächsischen Staatstheater spielte. Kästner hatte 1933 ein paar Monate ein Verhältnis mit ihr, das bald zur Freundschaft verblasste und in den Monaten bis zu ihrem neuen Engagement in Frankfurt am Main einen ungewöhnlich fürsorglichen Kästner zeigt. Im Vorwort des Fliegenden Klassenzimmers kommt sie vor; die Weihnachtsgeschichte schreibe er »am Fuße der Zugspitze«, heißt es dort, »an einem großen dunkelgrünen See, und wenn ich nicht gerade schwimme oder turne oder Tennis spiele oder mich von Karlinchen rudern lasse, sitz ich mitten in einer umfangreichen Wiese auf einer kleinen Holzbank«. (VIII: 44) Der Eibsee liegt bei Garmisch-Partenkirchen, und dort war er mit »Karlinchen« im Sommer 1933; ob das Kalb Eduard und das Pfauenauge Gottlieb ebenfalls dort waren, lässt sich leider nicht mehr nachprüfen.
Im Roman will eine Gruppe von Internats-Gymnasiasten zu Weihnachten das Theaterstück Das fliegende Klassenzimmer aufführen. Einer der Schüler hat sich ausgedacht, wie die Klasse mit dem Geographielehrer den jeweiligen Stoff an Ort und Stelle besichtigt, den Vesuv, die Pyramiden und den Nordpol; die letzte Station ist durch ein Versagen des Höhenruders der Himmel, wo die Schüler auf Petrus treffen. Bevor die Aufführung stattfinden kann, müssen die Jungen allerdings noch einige Abenteuer bestehen; vor allem hat eine traditionell verfeindete Bande von Realschülern einen Gymnasiasten mitsamt einem Stapel Diktatheften entführt, der in einer aufregenden Aktion samt Schneeballschlacht befreit wird. Justus Bökh, der verehrte Lehrer der Jungen, verurteilt die Rauferei nicht, sondern erzählt ihnen aus seiner eigenen harten Schulzeit. Zur Belohnung führen sie ihn wieder mit seinem verschollenen besten Freund zusammen, der ganz in der Nähe in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon lebt. Am Schluss können fast alle zu ihren Eltern nach Hause fahren und Weihnachten feiern; auch der Primus Martin Thaler, nachdem ihm »Ein Weihnachtsengel namens Bökh«, der Lehrer, das Fahrgeld geschenkt hat.
Kästners untrüglicher Freund Werner Buhre beurteilte den neuen Kinderroman euphorisch: »Buhre sitzt neben mir, liest das ›Fl. Klassenz.‹, grüßt Dich und läßt ausrichten, es sei mein schönstes Kinderbuch und er hätte paarmal beinahe geweint.« (4.12.1933, MB) Walter Trier steuerte zehn ganzseitige Illustrationen und den Umschlag bei, mit denen er erst Anfang November fertig war. Das fliegende Klassenzimmer erschien zu Weihnachten, am 30. November bekam Kästner seine ersten Exemplare: »Sehr hübsch. Triers Namen hat man auf dem Umschlagbild entfernt. Gemein, was?« (30.11.1933, MB) Auch Robert A. Stemmle war von dem Kinderroman begeistert und versuchte, eine Verfilmung bei der UFA zu lancieren, vergeblich. Mit Kästner war gerade kein Staat zu machen; Stemmle konnte erst 1954 ein Kästner-Buch verfilmen, den Emil. Immerhin gab es 1934 eine englische Ausgabe des Klassenzimmers bei Jonathan Cape.
Die Qualität gerade dieses Kinderbuchs ist kaum nur mit der ›authentischen‹ Unterfütterung aus Kästners eigener Internatszeit zu erklären. Es dürfte eine Rolle spielen, dass nicht der Primus allein im Mittelpunkt steht (wie sonst Emil oder Anton); seine vielen Freunde sind mindestens genauso wichtig, und jeder hat seine charakteristischen Eigenschaften, nicht mehr nur ein Accessoire wie im Emil. Die Schwarz-Weiß-Malerei ist nicht so ausgeprägt wie in den vorangegangenen Kinderromanen, es gibt keine »Schweinehunde« wie Gottfried Klepperbein in Pünktchen. Der ›Anführer‹ der verfeindeten Realschüler ist deshalb noch kein schlechter Mensch, seine Bande — unter der möglicherweise welche wären — wird nie detailliert beschrieben. Die Erwachsenenfiguren des Buchs sind reine Wunscherfüllung, vor allem die Freunde Justus Bökh und Robert Uthofft: Der grundgütige Bökh war wie Kästner als Schüler ausgerissen, um seine kranke Mutter zu besuchen. Uthofft, der »Nichtraucher«, zeigt einen fast utopischen Lebensentwurf; seit er Frau und Kind verloren hat, lebt der ehemalige Arzt zurückgezogen in einem stillgelegten Eisenbahnwaggon (»Nichtraucher«-Abteil, daher sein Name), liest, züchtet Blumen und spielt nachts in einer Spelunke Klavier. Aber auch der Schuldirektor und der skurrile Deutschlehrer Kreuzkamm sind sympathische Figuren. Sie alle haben den Appell des »Nichtrauchers« und seines Autors beherzigt: »Vergeßt eure Kindheit nie!« (VIII: 46)
Am 2. Januar 1933 wurde der erste Film mit Herta Kirchner aufgeführt, Kampf um Blond; er lief auch unter dem Titel Mädchen, die spurlos verschwinden. Die knapp Zwanzigjährige spielte eine Schülerin, die dem Erziehungsheim entflieht, sich in Berlin als Tänzerin verdingt und in einen Kriminalfall verwickelt wird. Sie war Kästners »Nauke«, und ihr Verhältnis zu Kästner dauerte bis zu ihrem frühen Tod an, mal enger, mal lockerer, aber doch sieben Jahre lang. Kirchner war auch mit Heinz Rühmann befreundet, neben dem sie im Florentiner Hut (1939) spielte; von einer Tournee aus fragte sie Kästner, ob sie nach Berlin kommen oder mit Rühmann einen Abstecher an die Nordsee machen solle. »Ich hab ihr zur Nordsee geraten. Hoffentlich folgt sie gut.« (27.7.1934, MB) Kästner stellte sie seiner Mutter als »nettes, frisches Mädel« vor: »Die späten Abendstunden vertreib ich mir mit einer blonden 20jährigen Schauspielerin, die mich seit dem 15. Jahre liest und liebt.« (1.12.1933, MB) Er musste auch diesmal seine Mutter beruhigen — die »kleine Schauspielerin« sei ein »süßes Mädel und, toi toi toi! gesund«. (4.12.1933, MB) Später nannte sie sich Herti Kirchner. Ihrer ersten Hauptrolle folgten Theaterarbeit und einige kleinere Filmrollen, dann spielte sie in Luis Trenkers Liebesbriefe aus dem Engadin (1938) und in Wolfgang Liebeneiners Der Florentiner Hut (1939). Die Premiere ihres letzten Films Wer küsst Madeleine? (1939) erlebte sie nicht mehr.
Im Dezember 1933 wollte Kästner auf einer seiner Banken Geld abheben und erfuhr, dass sein Konto beschlagnahmt sei. Die Gestapo hatte 44 Schriftstellern, die meisten bereits emigriert, die Konten sperren lassen.11 Mit einem Rechtsanwalt wollte Kästner einen neuen Versuch unternehmen; als er die Bank das nächste Mal betrat, wurde er verhaftet und von der Gestapo verhört. In einer Prager Emigrantenzeitung war ein altes Montag Morgen-Gedicht von ihm mit neuen Strophen erschienen, die das Regime angriffen. Er musste plausibel machen, dass die Strophen nicht von ihm stammten, und laut Luiselotte Enderle ist ihm das auch gelungen — schließlich lebte er noch in Berlin, das ursprüngliche Gedicht hatte sich finden lassen. Ein Beamter verließ den Raum, kam nach »bange[n] lange[n] Schweigeminuten« zurück, gab Kästner seinen Paß zurück und entließ ihn.12 Seiner Mutter schrieb er, als sei die Verhaftung eine Lappalie gewesen: »Die polizeiliche Vernehmung war nach 1½ Stunden schon vorüber. Man dachte also, ich lebe in Prag und sei heimlich da, um Geld zu beheben. So ähnlich.« (14.12.1933, MB) Ein Anonymus teilte Kästner nach dem Krieg die Namen der damals zuständigen Gestapo-Beamten mit; einer von ihnen sei »heute« — der Brief ist nicht datiert — Regierungsamtmann in der Oberfinanzdirektion Kiel.13 Als Kästner sich 1961 an die Verhaftung erinnerte, schien ihm die »infantile Indianerlust der Leute« ihr vordringlichstes Merkmal gewesen zu sein. Man empfing ihn mit »Da kommen ja Emil und die Detektive!«, es kam ihm vor, als hätten sich die Beamten am Telefon am liebsten mit »›Adlerfeder‹ und ›Falkenauge‹ tituliert«: »Europa als Kinderspielplatz, mutwillig zertrampelt und voller Leichen. Und die eintätowierte Blutgruppe als Aktenzeichen der Blutbrüderschaft und der Blutherrschaft.« (VI: 417)
So kurz die Verhaftung gewesen war, sie zeigte Kästner deutlich die Gefahr, in der er lebte. Er änderte dennoch nichts an seinem Lebensstil und ließ sich von seinen Stammtischbrüdern Ohser, Picard und Mörike umsorgen; besonders Buhre sei »außerordentlich nett und besorgt« gewesen (14.12.1933, MB), sein »Mit-Geburtstagler«. (17.2.1934, MB) Kästner schrieb in Notabene 45, das Geld sei »länger als ein Jahr« gesperrt gewesen (VI: 346); seiner Korrespondenz aus den dreißiger Jahren nach stimmt das nicht, es war fast postwendend wieder frei. Er beschloss aber, nur das Konto am Olivaer Platz aufrechtzuerhalten; »das Konto Nestorstraße heb ich ab, weil der Filial-Leiter so unverschämt zu mir war«. (14.12.1933, MB)
Obwohl er genug eigene Sorgen hatte, setzte Kästner sich sehr für Cara Gyls Theaterstück Die Tournee (1934) ein. Während sie schrieb, las er fortlaufend mit; aus einzelnen Redewendungen könnte man schließen, dass er ihr gelegentlich stillschweigend hineinredigiert hat, tatsächlich hat er nachweislich das Stück im Stück, Der neue Besen, selbst geschrieben.14 Elfriede Mechnig tippte fortlaufend das Manuskript. Das Stück folgt einer sechsköpfigen Theatergruppe und dem Inspizienten auf ihrer zweimonatigen Tournee durch ganz Deutschland. Jeder Schauspieler, jede Schauspielerin entspricht auch im ›Privaten‹ dem Fach, das er/sie auf der ›Bühne‹ hat; es gibt den Komiker, die komische Alte, die »jugendliche Liebhaberin«, Liebhaber, Salondame und den »Elegante[n] Väterspieler«. Alle verfeinden sich von Woche zu Woche mehr; ein auf den »Liebhaber« von seiner daheimgebliebenen Ehefrau angesetzter Detektiv verliebt sich in die jugendliche Liebhaberin; der Beschattete und der Detektiv erkennen einander als alte Freunde vom theologischen Seminar; am Schluss trennen sich alle, und der Zuschauer weiß, dass sie doch herzensgute Menschen sind und ihr Gezänk nicht bös meinen. Von dem auf der Tournee gespielten Stück Der neue Besen bekommt man einen Akt zu sehen, bei Kästners Werk handelt es sich um eine antikisierende Komödie, die sich ein bisschen wie eine schlechte Dürrenmatt-Parodie liest: Ein griechischer Kaiser und sein Schuhmacher tauschen für drei Tage die Rollen, und das bekommt den Regierungsgeschäften gut, den Schuhgeschäften weniger. Die Spannung der Tournee hält sich in Grenzen, obwohl die Dialoge gelegentlich gelungen sind — es passiert und passiert einfach so gut wie nichts.
Kästner gefiel das Konversationsstück gut, seiner Sekretärin noch mehr, den Theaterleuten, denen sie es eingereicht hatte, weniger. Das Warten auf deren Urteil machte ihn »zappliger, als ob ich’s geschrieben hätte«. (25.11.1933, MB) Auch die Verfasserin wird immer nervöser. Die Befragten, darunter Kästners Theaterverleger Martin Mörike, vermissten »eine spannende Handlung«, und Kästner dachte sich immer neue Strategien und Dramaturgen aus, um das Stück der Freundin zu fördern: »Wenn ich nur erst was für das Stück erreicht hätte!« (30.11.1933, MB) Zusätzliche Anstrengungen brachten die Fahrten, Gyl musste ja zwischen ihrem Engagement in Dresden und ihrem Berliner Freund pendeln. »Karlinchen sieht wirklich richtig elend aus und war sehr niedergeschlagen, daß sie allein zurückfahren mußte. Hoffentlich klappt irgend etwas mit dem Stück, damit sie nicht noch trauriger wird.« (28.11.1933, MB) Es ging ihr auch schlecht, weil sich ein Schauspieler, mit dem sie seit Jahren eng befreundet war, erschossen hatte, Vorbild für den »Väterspieler« im Stück. Kästner war dabei, »als sie unvorbereitet seinen Abschiedsbrief las. Fürchterlich! Wieder ein Opfer der neuen Epoche.«15 Umgekehrt hielt auch Cara Gyl zu Kästner; obwohl sie nur eine unbekannte Schauspielerin war, Fach »Salondame«, bekam sie ihre Freundschaft zu spüren: »Anscheinend schikaniert man sie neuerdings auch deswegen, weil sie mit mir befreundet ist. Sie macht so eine Andeutung.« (4.12.1933, MB)
Im Januar 1934 unterschrieb Cara Gyl einen Vertrag mit den Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main; sie war zwar noch in Dresden engagiert, konnte aber die ersten Proben für die Lady Milford (Kabale und Liebe) in Frankfurt im Mai 1933 beginnen. Im Juli hatte sie einen Nervenzusammenbruch. Kästner schrieb seiner Sekretärin, er sei »furchtbar deprimiert«16, seiner Mutter schilderte er die Situation in den schwärzesten Farben, »Karlinchen« habe »selber angeordnet, daß man sie zur Beobachtung in eine Anstalt bringt. Es ist ganz furchtbar! Das Erbe der Eltern scheint durchzubrechen.« Er wolle nach Frankfurt fahren und sie besuchen, überlegte auch, sie zu sich nach Berlin zu holen: »Das arme, arme Ding! Sie hat während eines Anfalls alles aus dem Fenster geworfen. Die letzten Nächte nur noch geschrieben.« (8.7.1934, MB) In Kästners Entwürfen zu seinem nicht geschriebenen Roman des ›Dritten Reiches‹ findet sich zu Gyls Zusammenbruch die Notiz, ihre »Seele« habe »die vielen Herren nicht ausgehalten. Ihre Hinneigung zu Gott. Ihr Wahnsinnsausbruch mit Knien und Buße.« (BB: 241) In Frankfurt stellte sich alles als viel harmloser heraus, und Kästner entschuldigte sich bei den Eltern für den vorigen Brief. »Cara ist wieder völlig normal. Nichts zu tun mit erblich. Ein nervöser Knacks seit Dresden her.« (9.7.1934, MB) Sie blieb im Juli und August 1934 weiterhin in ärztlicher Behandlung, aber nur noch ambulant. Cara Gyl verschuldete sich durch die Behandlung derart, dass sie um einen Vorschuss bei den Städtischen Bühnen bat, den ihr der Generalintendant ausschlug; auch Kästner mochte ihr kein Geld mehr leihen. (30.10.1934, MB)
Aber ihr Stück Die Tournee wurde endlich gespielt, und zwar in Mainz. Kästner leistete ihr aus purer Fürsorglichkeit bei den Probenarbeiten vor der Uraufführung Gesellschaft; das Verhältnis war beendet, er hatte gerade eine Liebschaft mit einer Schneiderin, gewissermaßen zur Erholung. »So einen frischen, gesunden Kerl wie die Anne mag ich ja doch viel lieber. Ich bin bei Frauen nicht fürs Komplizierte.« (29.8.1934, MB) Er unterstützte Gyl bei ihren Debatten mit dem Mainzer Intendanten, der eigenmächtig Lieder zwischen den Akten einfügen wollte, und instruierte seine Mutter, ihr ein Telegramm mit Glückwünschen zur Premiere am 28. August 1934 zu schicken. Die Nächte verbrachten Kästner und Gyl im Taunus; nach der Premiere blieben sie bis Ende der vierziger Jahre in Verbindung, aber wohl nur noch brieflich. Er erfuhr von ihren Modenschau-Conférencen (7.3.1935, MB), ihren Rollen und Kostümen, von ihren Arbeitsverpflichtungen gegen Ende des Krieges; aber die Freundschaft blieb kühl und distanziert. Kästner verübelte Gyl, dass sie einem Stuttgarter Regisseur erzählt hatte, »das Kind sei nicht von Robert, sondern von mir. […] Unglaublich, so etwas!« (10.1.1935, MB) Das Theaterstück Das lebenslängliche Kind war gemeint; ganz abgesehen davon, dass es womöglich nicht oder nur teilweise stimmte, konnten solche Gerüchte Kästner nur schaden. Dennoch wollte er ihr nicht darüber schreiben.
Zwei seiner Ex-Freundinnen, »Moritz« und »Pony«, waren nach Paris emigriert: »Die Pariser Bräute leben also noch.« (9.12.1933, MB) Anders als mit Steffa Bernhard blieb er mit Margot Schönlank in engerer, herzlich zugewandter Verbindung, obwohl er sie nur noch zwei-, dreimal in seinem Leben gesehen haben dürfte. Sie hat den Krieg ungleich weniger beobachtend überlebt als Kästner. Schönlank heiratete den Maler und Graphiker René Bouché und bekam einen Sohn, trennte sich 1938 von ihrem Mann, lebte mit falschen Papieren und tauchte 1941 ganz unter. Sie kannte die deutsche Emigrantenszene, Alfred Kantorowicz, Gustav Regler, Anna Seghers und Bodo Uhse.17 Die Korrespondenz mit Kästner hielt sie unter einer Deckadresse aufrecht. Sie wechselte die Wohnungen und verdiente mit allerlei schiefen Jobs das Geld, das sie zum Unterhalt und zur medizinischen Versorgung ihres Sohnes Michel brauchte, der an Kinderlähmung litt und nicht gehen konnte. »[U]nd die Hauptsache war ganz was anderes«, schrieb sie Kästner nach dem Krieg. Pony M. Bouché, wie sie sich nannte, arbeitete zusammen mit tschechischen und französischen Freunden im Widerstand: »Die Gestapo hat mich nicht gekriegt. Als der Krieg in Paris zu Ende ging, habe ich — trotzdem Du mich mal Pazifismus lehrtest, schiessen gelernt und mich gefreut, wenns traf. Die 8 Tage Barrikaden sind nicht zu vergessen. Nie. Dann wurde ich ›Soldatin‹, bei der franz. F. T. P. [Francs-Tireurs et Partisans] und trabte mit bis an den Rhein.«18 Sie war »Dolmetscher und Sekretärin«, Anfang 1945 wurde sie demobilisiert.19 Als sie zurück in Paris war, fand sie eine Einladung ihres Mannes aus den USA vor, kurze Zeit später kam er selbst: »Wir mochten uns plötzlich wieder.« Sie ging 1945 mit Bouché, der inzwischen naturalisierter Amerikaner war, und dem Sohn nach New York, traf dort ihre Mutter und ihre Schwester und blieb bis auf einige kurze Europareisen, auf denen sie Kästner stets besuchte, in der Nähe New Yorks.
Herti Kirchner löste Cara Gyl in Krankheitsdingen ab; sie hatte eine kleine Operation und musste deshalb eine Tournee unterbrechen. Kästner quartierte sie nach dem Krankenhaus für einige Tage bei sich ein; »damit sie nicht so allein ist«. (30.10.1934, MB) Einen Monat später war sie wieder auf dem Damm und spielte in Dresden, auch sie sollte von den Eltern »ein paar Zeilen mit Hals- u Beinbruch« bekommen, mit ein »paar Blümchen von den 3 Kästners und ihrem Kanarienvogel« August. (15.11.1934, MB) Ab Januar 1935 spielte sie mit großem Erfolg im Tingel-Tangel in Berlin. Auch ihr zeigte Kästner seine fürsorgliche Seite. Es gab allerdings auch fortlaufend Grund, sie zu bedauern. In Kiel starb ihr Vater, bevor sie ihn noch einmal sehen konnte — »[h]at auch dauernd Kummer, die Kleene«. (4.3.1935, MB) Und im Kabarett sei »jeden Tag irgendein Krach im Gange. Immer was Neues, und nischt Gescheits.« (9.3.1935, MB)
Trotz dieser immer neuen Schläge arbeitete die 22-Jährige an ihrer Karriere weiter, spielte Kabarett und Theater, am 30. Mai 1935 sprach sie beim Berliner Rundfunk in dem Hörspiel Ein Fahrstuhl ist nicht mehr zu halten von Peter Huchel. Zu ihren Premieren ging Kästner meistens nicht, sondern in eine der nächsten Vorstellungen: »Herti hat heute abend endlich Premiere. So etwas von aufgeregt! Nicht zum Beschreiben. Ob ich nun gehen soll oder nicht, weil sie’s nervös macht, weiß ich immer noch nicht. Mal bettelt sie, ich soll kommen. Mal das Gegenteil. Na, bald ist es überstanden!« (2.10.1935, MB)
1934 verhandelte Kästner mit Gustav Kilpper von der DVA über Drei Männer im Schnee und wollte mit Buhre zusammen »paar neue Hühnchen ausbrüten«. (15.11.1934, MB) Am Ende dieses Jahres hatte sich vieles geklärt, und zwar durchwegs zum Schlechten. Der Kreis um Kästner lichtete sich: »Hier trägt sich fast alles mit dem Gedanken, sehr bald ins Ausland zu gehen. Filme, Stücke etc., alles wird verboten, dann erlaubt, dann wieder verboten. Da fällt das Geldverdienen schwer. Na, man muß es eben doch versuchen, zu bleiben.« (22.10.1934, MB) Das Drei-Männer-Stück war verboten, die Filmfassung durfte »vorläufig nicht gedreht werden« (3.11.1934, MB), das Buch musste in der Schweiz erscheinen. Die täglichen Treffen — »mit irgendwem. Wegen der Verbote &tc.« — änderten nichts (2.11.1934, MB), und Kästner hatte keine Möglichkeiten, daran etwas zu ändern. Ihm blieben nur seine Freundinnen, der Freundeskreis und Bewegung: »Na ja. Tennisspielen ist ja auch gesünder.« (10.10.1934, MB) Und das tat er denn auch jeden Tag. Ziemlich genau mit dem Beginn des ›Dritten Reichs‹ wurde dieser Sport für ihn ungeheuer wichtig. Er spielte mit Günther Stapenhorst, bis der nach England emigrierte; mit Aldo von Pinelli, einem Film- und Kabarettautor (der Katakombe), dessen ungenannter Mitarbeiter Kästner zeitweise war; mit Axel Eggebrecht; Martin Kessel schaute zu. Er freute sich auf neue Plätze, auf den Beginn der Saison, über die eigene Kondition: »Ich bin gleich ein ganz andrer Mensch. Zehn Jahre jünger mindestens.« (21.3.1935, MB)
Materiell hatte er noch nicht zu klagen. Während der zwölf Jahre Diktatur erschienen insgesamt 26 Übersetzungen von Kästner-Büchern.20 Das Fliegende Klassenzimmer brachte einiges Geld, Das lebenslängliche Kind und Drei Männer im Schnee bis zu den jeweiligen Verboten ebenso. Den Stoff konnte er mit Buhre zusammen 1934 an die MGM verkaufen — die ersten Verfilmungen entstanden in Schweden, Frankreich, der Tschechoslowakei und den USA. Der Roman Drei Männer im Schnee brachte im deutschsprachigen Ausland gutes Geld, trotz der Restriktionen wurde alle paar Monate eine neue Auflage gedruckt.21
Am 11. Januar 1935 fuhr er in seinen alljährlichen Arbeitsurlaub, diesmal nach Garmisch-Partenkirchen; am 8. Februar war er wieder in Berlin. Notgedrungen machte er tatsächlich Ferien — er wanderte, sah sich die Deutschen Wintersportmeisterschaften an, las, spielte Roulette. Ohne weitere Gemütsbewegung teilte er Muttchen auf einer Postkarte mit, er habe um 12 Uhr auf dem Kreuzeckhaus gegessen: »Am Nebentisch Reichsminister Heß mit Familie usw. Und jetzt spazier ich nach Garmisch zurück. Ich finde es sehr schön hier.« (16.1.1935, MB) Und über das Wochenende sei »wilder Betrieb«, »[a]uch Hitler wird erwartet«; ob er kam, schrieb Kästner nicht. (26.1.1935, MB) Zur Bahn ließ er sich von einem SS-Mann und dessen Freundin bringen. (6.2.1935, MB) Politischer Äußerungen enthielt er sich; wohl nicht am Stammtisch, das wissen wir nicht, aber jedenfalls in seinen Korrespondenzen. Er schrieb nur noch Postkarten, offen und für jede etwaige Briefzensur ohne Mühe zu lesen, weil er bei allzu langen Postwegen gelegentlich den Eindruck hatte, jemand habe sich für den Inhalt eines Briefes interessiert. »Weiß man ja heute nie genau. Na, Hühnerchen aufm Topf ist ja harmlos, was?« (19.3.1935, MB) Die tägliche Postkarte an die Mutter hatte ihren Sinn als Lebenszeichen, sie wäre der falsche Ort für gewichtige Meinungsäußerungen gewesen. Höchstens flapsige Bemerkungen, Andeutungen gestattete er sich: »Jetzt hat man alle Nichtarier aus dem Reichsverband der Schriftsteller hinausgetan, und nun wissen sie gar nicht mehr, was sie machen sollen.« (27.3.1935, MB) Und wenn Kästner doch explizit politisch wurde, sind seine Äußerungen irritierend: »Nun werden ja bald die ungedienten Leute ein paar Monate eingezogen werden. Von Jahrgang 1900 an. Na, das Ausland hat es nicht anders gewollt. Wenn die andern Völker ehrlich abgerüstet hätten, wäre es nicht so gekommen.« (19.3.1935, MB) Der Bemerkung folgen Ausführungen über den Frühjahrsmantel. Es ist vorstellbar, dass eine solche Äußerung der Mutter nach dem Munde redet, oder dass sie Futter für die vermutete Briefzensur ist, von der im selben Brief die Rede ist; es wird nicht mehr eindeutig zu klären sein.
Am 1. April 1935 teilte Kästner seiner Mutter mit: »Heute beginn ich die neue Arbeit zu schreiben.« (MB) Dabei handelte es sich um Emil und die drei Zwillinge, geplant hatte er das Buch die Wochen vorher, auch den ersten Emil nochmals gelesen. (4.5.1935, MB) Die Niederschrift dauerte länger als die früherer Bücher, etwa ein knappes Vierteljahr, und verlief wesentlich gemütlicher, mit viel Tennis und sogar einer dreiwöchigen Reise an die Ostsee, »ich muß mir mal wieder alles anschauen«. (13.5.1935, MB) Die Déjà-vu-Erlebnisse beim Schreiben nahm er amüsiert zur Kenntnis, es waren ja zum ersten Mal Figuren, die er beinahe allesamt schon kannte und deren Schicksal er jetzt mit einem neuen ›Kriminalfall‹ weiterspinnen konnte, ein kleiner Serien-Effekt. Der zweite Emil hat kein vergleichbares Handlungstempo, spielt aber exzessiv mit seiner Nachfolgerrolle. Im zweiten Vorwort, dem »für Fachleute«, gerät der Autor in die Filmaufnahmen für Emil und die Detektive. Und in Korlsbüttel sehen sich Emil und seine Freunde den fertigen Film an, der über ihre Geschichte gedreht worden ist, ja, sie machen daraus sogar eine für den Kinobesitzer propagandistisch ausschlachtbare Benefizveranstaltung für ihren frisch erworbenen Freund Jackie. Geradezu revolutionär für die Vaterfiguren in Kästners Werk ist aber der Heiratsantrag von Wachtmeister Jeschke an Emils Mutter, über den Emil in seinen Ferien nachdenken soll und auch Ida Kästner: »Wachtmeister Jeschke will Frau Tischbein heiraten! Was sagst Du dazu. Wollen wir unsere Einwilligung dafür geben?« (19.5.1935, MB) Das Verhältnis der Kästner-Eltern zueinander scheint sich entspannt zu haben, denn Jeschke und Frau Tischbein dürfen heiraten. Emil hätte zwar seine Mutter lieber für sich allein, und die ihn auch für sich. In einem ernsten Gespräch mit der Großmutter lässt sich Emil aber überzeugen, dass eine solch vernünftige Ehe doch eine gute Sache sein kann. Die Großmutter überlässt ihm zwar die Entscheidung, redet ihm aber gut zu: »Du wirst älter, und auch deine Mutter wird älter. Das klingt einfacher, als es dann ist. […] Eines Tages muß man fort von zu Hause. Und wer’s nicht muß, der soll’s trotzdem tun! Dann bleibt sie zurück. Ohne Sohn. Ohne Mann. Ganz allein.« (VII: 439)
Am 16. Juni 1935 war Kästner mit dem Manuskript fertig, am 24. lieferte er es bei seinem alten Verleger ab. (MB) Walter Trier lebte noch in Berlin-Lichterfelde und zeichnete weiter für die Lustigen Blätter, als sei nichts geschehen. Sein letztes Titelblatt für diese Zeitschrift war am 5. Juli 1935 erschienen.22 Er fand das Buch »ganz nett«23 und lieferte wiederum die Illustrationen. Bei Williams & Co. konnte Emil und die drei Zwillinge nicht mehr publiziert werden. Kästner erwog, den Roman an Rascher in Zürich zu geben, wo schon die Drei Männer erschienen waren; dann klärte sich die Sache Ende September völlig anders. Kästner brauchte Geld; das englische Remake des Emil war ein Reinfall gewesen, schlechter als der deutsche Film. Daher war Emil II Kästners erstes Buch im neugegründeten Atrium-Verlag Kurt Maschlers, mit den Ortsangaben Basel, Wien und Mährisch-Ostrau. Maschler war zuvor Vertriebsleiter von Edith Jacobsohn gewesen und hatte ihr 1933 Williams & Co. abgekauft. Atrium wanderte mit seinem Verleger mit, der allerdings erst im November 1937 nach Wien ging — bis dorthin leitete er den Schweizer Verlag von Berlin aus mit in Deutschland verbotenen Büchern.24 Die Verlagsgründung fand in Basel statt, sein Büro und seine erste Exil-Station war in Wien, Druck und Auslieferung erfolgten bis zur Annexion durch die deutschen Truppen in der Tschechoslowakei. Dann ging Maschler nach Amsterdam und schließlich im Juni 1939 dauerhaft nach London. »Alle Kinderbücher außer Emil I erscheinen in dem neuen Verlag draußen.« (4.10.1935, MB) Kästner erhoffte sich davon höhere Auflagen — und mehr Geld. Lizenzausgaben von Emil und die drei Zwillinge konnten vor 1945 in Großbritannien und in den faschistischen Bruderländern Italien und Spanien erscheinen. Der Verkauf in Deutschland ging nur schleppend, Fritz Picard bereiste Norddeutschland und bekam nur 1000 Vorbestellungen zusammen. (8.11.1935, MB) Anfang Dezember lag das Buch in den Läden, durchaus auch in Deutschland (11.12.1935, MB); zwei Wochen nach Neujahr waren mehr als 7000 Exemplare verkauft. (15.1.1936, MB) Und an Weihnachten und Neujahr 1935/36 lief zur Überraschung Kästners der Emil-Film wieder in Berlin: »Überall auf den Plakatsäulen groß angekündigt. Sogar mit meinem Namen. Komisch. Ich bleib vor jeder Säule stehen u. lese es staunend.« (14.12.1935, MB) Bei den nächsten Sonntagsvorführungen 1936 war das allerdings korrigiert, der Film wurde nun ohne Kästners Namen beworben. (11.3.1936, MB)
Er war während der Niederschrift des Emil II »grade so gut aufgezogen« (28.5.1935, MB) und plante gleich den nächsten Roman, Die verschwundene Miniatur. Überhaupt kann von einem »auffällige[n] Rückgang in der Produktivität Kästners«25 im ›Dritten Reich‹ keine Rede sein. Noch auf der Rückfahrt von Warnemünde über Dresden wollte er damit anfangen, obwohl er die heftigen Einschränkungen immer schlechter ignorieren konnte. Es wurde ihm »ganz komisch zumute«26, als er auf einem Ausflug von Warnemünde in Dänemark die Schaufenster der Buchhandlungen voller »Schneemänner« liegen sah, und er seufzte schon für das neue Buch im Voraus: »Wenn man nur wüßte, wo man es gut unterbringt.« Bevor er sich aber in die resignative Stimmung fallen lässt, hält er inne und beruhigt Muttchen — »Na, ich wurstle dann doch immer wieder weiter. Ist ja klar.« (6.6.1935, MB) Solche beiläufigen Stellen belegen am stärksten, dass Kästner alle Kompromisse — im Land zu bleiben und auch noch unter politischen Auflagen weiterzuschreiben — zuallererst für seine Mutter eingegangen ist. Seine Briefe klingen dann fast wie Collagen: Er schreibt, wie ihm zumute ist, und klebt die obligatorische Mutterberuhigung hintendran. Der Mechanismus läuft auch ab, als er ihr mitteilt, Werner Finck und die »andern Männer vom Kabarett, die im Lager waren«, dürften bis zum nächsten Jahr nicht beschäftigt werden. Das sei »natürlich sehr schlimm für die Jungen«, von denen manche »keinen Pfennig Geld« hätten. Folgt die Beruhigung: »Aber vielleicht erlaubt man sie doch früher wieder.« (16.8.1935, MB) Sogar ihr gegenüber konnte er sich aber der Zeitgeist-Witze nicht enthalten. Er wollte sie beispielsweise ins Kurbad schicken, empfiehlt aber »nur wenig Moorbäder. Mehr andre. Zur Erholung. Stahlbäder und so.« (29.6.1935, MB) Und die Bemerkung »Ahnentafel machen wir bald. Sehr prächtig!« (8.11.1935, MB) ist wohl kaum ganz ernst zu nehmen, sehr wohl dagegen die Empfehlung an die Mutter, ihre Staatsanleihen besser zu verkaufen. (23.2.1936, MB) Die Ahnentafel gibt es übrigens noch in Kästners Nachlass.
Das neue Buch sollte ein Kriminalroman werden; Kästner bereitete sich darauf vor, indem er monatelang »sehr viel Kriminalromane« las. (20.6.1935, MB) Am 19. August 1935 meldete er die erste halbe Seite des neuen Manuskripts. (MB) Das Schreiben machte ihm »ziemlich viel Spaß« (30.8.1935, MB), im Oktober stand er »kurz vorm 15. Kapitel«. (7.10.1935, MB) Während täglich Korrekturen am zweiten Emil einliefen, musste er sich Mühe geben, die beiden Bücher nicht miteinander zu verwechseln. »Es herrscht richtiger Hochbetrieb. Wie im Frieden. Nur daß die Post immer so weit geht.« (7.10.1935, MB) Während der zweiten Oktoberhälfte 1935 wollte er das Manuskript bei einem Besuch in Dresden beenden und nochmals gründlich durcharbeiten: »Weil ich ja hintereinander geschrieben habe, ohne das Geschriebne noch einmal durchzulesen.« (17.10.1935, MB) Mitte November tippte Elfriede Mechnig die letzte Fassung; sein erster Titelvorschlag Erstens kommt es anders … kam Kästner selber zu »poplig« vor. (12.11.1935, MB)
Die verschwundene Miniatur ist eine schöne Hommage an Kästners Lieblingsonkel Hugo Augustin, der ein recht empfindsamer Fleischermeister gewesen sein muss; im Übrigen schildert der Roman einen wenig gefährlich klingenden Kriminalfall. Der ausgerückte Fleischermeister trifft im Urlaub in Dänemark Fräulein Irene Trübner und hütet für sie eine teure Miniatur aus dem 16. Jahrhundert, ein Porträt Ann Boleyns von Hans Holbein. Die Verbrecher stehlen sie ihm trotzdem, es war aber nur eine Replik; ein charmanter Herr von der Versicherung stiehlt die echte, bringt sie dadurch in Sicherheit, ködert und fängt die Verbrecher und macht am Ende das Fräulein Trübner zu seiner Frau. Zu einem spannenden Kriminalfall reicht das nicht, eher zu einer unterhaltsamen Komödie in Prosa, und als solche gefiel sie ihrem Verfasser, seiner Mutter, seiner Sekretärin und seinem Freund Buhre. Für das heutige Publikum ist zudem die metaphorische Ebene von Interesse — ein Spiel mit Original und Kopie, das Original ist nie dort, wo man es vermutet, eine »Feier der Täuschungskunst in dunklen Zeiten«, vielleicht sogar eine »unterhaltsam verpackte Dissimulationstheorie«.27
Cecilie Dressler gefiel der Roman gar nicht (14.12.1935, MB), auch Kurt Maschler und den Mitarbeitern von Atrium nicht. Maschler »will ihn natürlich bringen. Aber innerlich ist er dagegen. Das verdirbt einem als Autor gründlich die Laune, muß ich schon sagen.« (16.12.1935, MB) Kästner war verärgert, er wollte das Manuskript nochmals lesen und »pampig« werden, falls es ihm immer noch gefiele. (18.12.1935, MB) Wie die endgültige Besprechung verlaufen ist, ist nicht überliefert, jedenfalls erschien der Roman Ende Februar 1936 bei Atrium und konnte vor 1945 auch noch in Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden, in Frankreich und den USA erscheinen. Herbert Steinthal, dem dänischen Übersetzer, hatte das Buch so gut gefallen, dass er Filmverhandlungen anzettelte. In Kopenhagen erschien eine begeisterte »sechsspaltige« Kritik (23.5.1936, MB), und die MGM kaufte wieder die Filmrechte. Es wurde aber keine Verfilmung realisiert; erst 1954 konnte Carl Heinz Schroth nach dem Drehbuch von Kästner selbst einen »betulich[en]« Film drehen.28
1935 und 1936 wurden bei Williams & Co. Restexemplare von Gedichtbänden und auch des Emil beschlagnahmt, außerdem Prospekte, in denen der Kinderroman beworben wurde, und das, obwohl der Emil ja zunächst ausgenommen worden war und auch noch in Kinos lief. Der Verlag wollte nicht schuld gewesen sein und berief sich auf ein vertrauliches Rundschreiben des Börsenvereins, wonach nur Der 35. Mai und Pünktchen und Anton verboten waren; nun wurden aber alle Bücher Kästners beschlagnahmt.29 Kästner schrieb einen Brief an den RSK-Vizepräsidenten Heinz Wismann und bat um Erklärung der Maßnahme. Sie betreffe ein Buch, »das wohl von den meisten Deutschen, soweit sie es gelesen haben, als ein ausgesprochen deutsches Buch angesehen wird; ein Buch, das in über 30 fremde Sprachen übersetzt wurde, um den Kindern anderer Länder eine Vorstellung vom Kameradschaftsgeist und dem Familiensinn des deutschen Kindes zu vermitteln; ein Buch, das in den englischen, amerikanischen, polnischen und holländischen Schulen verwendet wird, um die deutsche Sprache und Verständnis für das deutsche Wesen zu lehren!«30 Kästner erhielt keine Antwort auf diesen Brief.
1935 wurden nach zweijährigen Rügen und Ermahnungen die Kabaretts Katakombe und Tingel-Tangel geschlossen. Die musikalische Leitung der Katakombe hatte Kästners Freund Edmund Nick, die künstlerische Leitung hatten Werner Finck und Rudolf Platte; im Ensemble waren Ursula Herking und Theo Lingen. Das Tingel-Tangel war 1930 von Friedrich Hollaender gegründet und 1935 von Trude Kolman und Günther Lüders neu eröffnet worden, im Ensemble spielte auch Herti Kirchner. Kästner hatte für beide Texte geliefert, seine Gefährdung musste ihm klar sein; in den Briefen an seine Mutter ließ er sich nichts anmerken, freute sich nur einen Tag nach den Verhaftungen, dass Ida Kästner und Doras Sohn Franz Naacke das Programm vorher noch gesehen hatten. (11.5.1935, MB) Diese Gemütlichkeiten gegenüber der Mutter waren zu einem Gutteil vorgetäuscht — es kam vor, dass er bei drohenden Verhaftungswellen sich nicht auf sein Glück verließ, sondern ein paar Tage nach Dresden auswich.
Seit Dezember 1934 wurden die Kabaretts überwacht; am 9. Mai 1935 teilte der PG (Parteigenosse) und Tingel-Tangel-Geschäftsführer Max Elsner einem von Heydrichs SD-Offizieren mit, dass einige PGs die Störung der nächsten Vorstellung angedroht hätten.31 Die Gestapo kam den Ausschreitungen zuvor, schloss die Kabaretts und verhaftete Werner Finck, Heinrich Giesen, den Schnellzeichner Walter Trautschold von der Katakombe, vom Tingel-Tangel Walter Lieck, Walter Gross, Ekkehard Arendt und später aufgrund einer neuerlichen Denunziation Elsners und des Tingel-Tangel-Direktors Oswald Schanze den künstlerischen Leiter Günther Lüders. Trude Kolman emigrierte, Arendt wurde ein paar Tage später wieder aus der »Schutzhaft« entlassen, die Übrigen waren »für die Dauer von 6 Wochen in ein Lager mit körperlicher Arbeit zu überführen«32 und wurden ins Konzentrationslager Esterwegen ›überstellt‹.
Gerade Lüders’ Verhaftung zeigt, wie nahe einer solchen ›Überstellung‹ auch Kästner war. Am 15. Mai war Elsner bei der Gestapo gewesen und hatte zu Protokoll gegeben: »Wie mir bekannt ist, verkehrt die Herti Kirchner mit dem Kommunisten Dr. Kestner [!], der ihr Freund ist, und da ihm das Schreiben für Bühnen verboten ist, schreibt er getarnt und gibt diese Texte den Autoren Neumann, Witt und Pinelli. Dies ist mir besonders aufgefallen, da beim Anfang des Stückes täglich in der ersten Zeit die Herti Kirchner von Dr. Kestner kontrolliert und beraten wurde.«33 Trotz dieser Denunziation geschah Kästner und Herti Kirchner nichts. Auch die KZ-Häftlinge wurden am 1. Juli 1935 aufgrund eines »Erlasses des Herrn Preußischen Ministerpräsidenten«, also Hermann Görings, entlassen und ein »ordentliches Verfahren« gegen sie eingeleitet. Die Schauspielerin Käthe Dorsch, früher Görings »Leutnantsliebe oder sogar Verlobte«34, hatte sich für ihre Kollegen eingesetzt. Sie wiederum war von Victor de Kowa darum gebeten worden, der sowohl mit ihr als auch mit Günther Lüders eng befreundet war. Es ist denkbar, dass Kästner davonkam, weil er seinerseits de Kowa kannte. Anfang Juni konnte die Katakombe als Tatzelwurm neu eröffnet werden, einige der alten Mitglieder taten auch jetzt mit, darunter Edmund Nick, Ursula Herking und alle denunzierten Texter, Günther Neumann, Aldo von Pinelli und Herbert Witt, Kästners »lustige[r] Mitstreiter«. (VI: 351) Der marklose Tatzelwurm konnte sich aber nicht lange halten. Das gegen die ehemaligen Häftlinge eingeleitete Verfahren endete einige Monate später vor einem Sondergericht des Berliner Landgerichts mit dem Freispruch für alle Angeklagten.
Herti Kirchner bekam sogar endlich eine weitere Hauptrolle beim Film, in einer »Rolle à la Lucie Englisch. Mit ein paar Tagen Außenaufnahmen in Neustrelitz. Blomberg, der Heeresminister, tritt auch auf. Ein Militärfilm also.« (12.11.1935, MB) Durch ihre Arbeit und neue Kabarettproben sah sie Kästner nicht mehr sehr oft, auch Weihnachten musste sie ohne ihn verbringen, Muttchen war wichtiger. Für Herti Kirchner wollte er schon am Abend vorher den Weihnachtsmann spielen. »Sie ist so schon viel mit Weinen beschäftigt. Na ja, das legt sich.« (19.12.1935, MB)
Werner Buhre arbeitete in dieser Zeit als Drehbuchautor, 1935 als Schnittmeister. Die Attraktion, die die Filmstudios auf Kästner ausübten, äußert sich in Bemerkungen wie dieser: »Buhre hat eine Filmarbeit gekriegt, und ich helfe ihm ein bißchen, damit es gut wird. Er ist mächtig stolz.« (26.6.1935, MB) Auch den deutschen Filmen der dreißiger Jahre konnte Kästner durchaus etwas abgewinnen, so fand er Willi Forsts Film Mazurka (1935) »[g]eradezu hinreißend! Sehr traurig, aber wundervoll.« (17.11.1935, MB) Aber eine eigene Arbeit beim Film war noch nicht in Sicht, und das neue Jahr begann mit Todesnachrichten. »Frau Jacobsohn ist in London am Schlag gestorben. Und Tucho in Paris auch. In einer Anstalt. So ist das Leben.« (4.1.1936, MB) Tucholsky war am 21. Dezember 1935 in einem Göteborger Krankenhaus gestorben. Die Luft des ›Dritten Reichs‹ wurde auch für Kästners Durchhaltewillen immer verpesteter. 1936 wurde er tatsächlich zum verbotenen Autor; seine Bücher durften nicht mehr in Deutschland verkauft werden. Er sah sich außerstande, selbst noch etwas zu unternehmen, das sollten die Verlage für ihn tun. Sich direkt an Goebbels zu wenden hielt er für sinnlos, und er beruhigte die Mutter über seine finanziellen Verhältnisse: »So schnell kippen wir nicht aus den Pantinen.« (12.3.1936, MB) Er schätzte seine Aussichten realistisch gering ein: »Ich hab eine Verhandlg. Wird wohl nichts werden. Na ja, is [!] ja nicht so wichtig.« (18.2.1936, MB)
Das Schwarze Korps polemisierte gegen den Barsortiments-Katalog von Koehler & Volckmar und schlug vor, ihn etwas dünner und handlicher zu machen, bevor man sonst »von zuständiger Seite […] mit notwendigem Nachdruck« an die »kulturpolitischen Verpflichtungen« erinnern könnte. Der Grossist solle doch die Juden Stefan Zweig, Franz Werfel, Jakob Wassermann, Max Brod und Arthur Schnitzler nicht mehr ankündigen, »sowie den Psychoanalytiker Siegmund [!] Freud, professoraler Pornograph und Vollblutjude«. Und der anonyme Rezensent fragte: »Was brauchen wir in einem Katalog Karl Marx, den Antroposophen-Steiner, Uzarski, den pervertierten Sacher-Masoch und Erich Kaestner?«35
Die Versuche, in die Schrifttumskammer aufgenommen zu werden, blieben bis auf ein kurzes Intermezzo, von dem noch zu reden sein wird, erfolglos. Kästners Anwalt Achim Friese unternahm im Dezember 1938 einen weiteren Anlauf, nicht direkt an die Kammer, sondern an den Leiter der »Abteilung Schrifttum im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda« gerichtet. Seine ohne Frage zweckgerichtete Argumentation zeigt, wie weit auch Kästner wenigstens auf dem Papier bereit war, Kompromisse einzugehen. Dem Vorwurf des »Kulturbolschewisten« wurde widersprochen, man könne Kästner nicht nach einigen Gedichten beurteilen, die »vor Jahren« erschienen seien und die »negativ zu beurteilen sind. Im übrigen würde er sie auch heute nicht mehr schreiben.« Sie seien in einer »geistig wurzellosen Zeit« geschrieben worden; auf Kästner habe, »wie bei unzählig anderen jungen Menschen, das Erlebnis des verlorenen Krieges und einer destruktiven Revolution verwirrend und deprimierend gewirkt«. Von Die andere Möglichkeit sei er »bereits im Jahre 1931 abgerückt«, er habe das Gedicht in die zweite Auflage von Ein Mann gibt Auskunft nicht mehr aufgenommen. Er stamme aus einer »alten bodenständigen Handwerkerfamilie«, man könne ihn nicht »mit Tucholsky und anderen jüdischen Literaten« vergleichen, nur weil er in der Weltbühne geschrieben habe. Vom künstlerischen Standpunkt aus bestehe Interesse, Kästner in die Reichsschrifttumskammer aufzunehmen. Der Anwalt zählte Kästners Kinderbücher auf, sie schilderten »in schlichter, gesunder und auch amüsanter Form das Leben und die kleinen Abenteuer von Jungens«. Sein Roman Drei Männer im Schnee gehöre »mit seinem Humor zu den Büchern […], die die heutige Staatsführung mit Recht als einen Quell notwendiger Lebensfreude und als Ausgleich für das Alltagsleben hält«.36
Frieses bemühte Argumentation nützte nichts, der Zeitpunkt seines Briefes war zudem außerordentlich ungünstig. Leiter der Schrifttumsabteilung im Propagandaministerium war seit dem 24. Dezember 1938 Alfred-Ingemar Berndt, der sich gegenüber seinem Vorgänger und seinem Chef Goebbels profilieren wollte. Seine Antwort kehrte den Muster-Nationalsozialisten heraus und sparte nicht mit drohenden Tönen. Eine Aufnahme des »Zersetzungsliteraten« komme »unter keinen Umständen in Frage«. Kästner sei der »Prototyp der Kulturbolschewisten«: »Ich bin erstaunt, daß ein nationalsozialistischer Rechtsanwalt den Versuch macht, die literarische Tätigkeit Dr. Kästners in der Zeit vor 1933 abzuschwächen und als harmlos hinzustellen. Es ist wohl kaum Schlimmeres in deutscher Sprache an Zersetzendem geschrieben worden, als die Hunderte von pornographischen Gedichten Kästners über die Abtreibung, die Homo-Sexualität und alle sonstigen Verirrungen. Kästner kann von Glück sagen, daß man im Jahre 1933 aus irgendeinem Grunde vergessen hat, ihn auf eine Reihe von Jahren in ein Konzentrationslager zu sperren und ihm so Gelegenheit zu geben, durch seiner Hände Arbeit sich sein Leben zu verdienen. Wer in einer solchen Weise wie Kästner vor 1933 literarisch hervorgetreten ist, hat ein für alle mal das Recht verwirkt, noch jemals in deutscher Sprache zu schreiben. Diese Stellungnahme ist endgültig.«37
Es muss daran erinnert werden, dass das ›Dritte Reich‹ zwölf Jahre dauerte; dass zwölf Jahre eine lange Zeit sind; und dass während dieser zwölf Jahre, mindestens bis Kriegsbeginn, für die meisten der Dagebliebenen, also auch für Kästner, das ›Dritte Reich‹ aus Alltag bestand. Als es nicht viel zu tun gab, konnte Elfriede Mechnig getrost in Urlaub fahren, »Post kommt ja nicht sehr viel«. (6.7.1936, MB) Kurzzeitig musste sie sich vollends eine andere Stellung suchen, nur abends tippte sie gelegentlich noch für ihren langjährigen Chef (31.3.1937, MB); erst Anfang der vierziger Jahre hatte er wieder genug für sie zu tun. Ende der Dreißiger las er lieber, statt zu schreiben. Die Aufwartefrau Helene Plage kündigte, weil sie ein Kind erwartete (30.6.1936, MB), Kästner musste sich für kurze Zeit eine neue suchen, die er sich immer noch leisten konnte. Dann war in seinen Briefen nur noch von »Helene« die Rede, übrigens ohne jede Klage; es soll der Witz kursiert sein, Kästner sei nicht emigriert, »[w]eil er der Plage nicht kündigen möchte«.38
Elfriede Mechnig hat erzählt, dass Kästner sie auch zu Kriegszeiten behalten und davor schützen wollte, in die Rüstungsindustrie einberufen zu werden; er habe sie deshalb »als seine Putzfrau« angemeldet. »Da an Büroarbeit kaum noch etwas zu tun war, putzte ich also die Wohnung, ging einkaufen und kochte. Zwei Aktentaschen mit seinen wichtigsten Verträgen und Papieren standen immer parat auf der Diele.«39 Aus Mechnigs Zeit als Aufwartefrau wird der Alltag des ›Dritten Reichs‹ anschaulich. Einige Arbeitsanweisungen Kästners aus dieser Zeit haben sich erhalten: Sie soll da »schönes Gulaschfleisch oder Kalbsbraten« einkaufen, und »diesen, wie auch den Poree [!], für den Abend vorkochen«. Oder »Apfelmus fabrizieren«, »Kürbis schneiden«; »Frl. E[nderle] schlägt vor, die Beeren mit der Gabel abzustielen, damit die Presserei einfacher wird.« »Bitte, die zu weichen Birnen essen.« Buhre schickte einen Kanister mit Sonnenblumenöl aus der Nähe der Ostfront40; und auch die technischen Geräte wollten gewartet sein. »Gehen Sie doch mal mit der Heizsonne zu Trede. Sie brennt nicht mehr«, heißt einer der undatierten Zettel Kästners an seine Sekretärin.
Noch war kein Krieg; Kästner fuhr im Juli 1936 zusammen mit Herti Kirchner auf eine Woche ins Mecklenburgische, um für einen Roman zu recherchieren. »Sehr abstrampeln werde ich mich nicht. Nur Studien machen.« (8.7.1936, MB) Es ist unklar, welcher Roman das gewesen ist; zwei Fragmente hat Kästner in den fünfziger Jahren publiziert, weder in Die Doppelgänger noch in Der Zauberlehrling kommt Mecklenburg vor. Beide Projekte spielten mit einem phantastischen, mit dem Doppelgänger-Motiv. Kästner beschwerte sich 1934 bei der amerikanischen Botschaft in Berlin, »in New York und anderswo« gebe sich ein Schwindler für ihn aus und halte Vorlesungen aus seinen Büchern. »Es soll sich um einen grossen Herrn mit Glatze handeln, und diese Abende sollen in der Presse als Vorlesungen Erich Kästners gross angezeigt werden. Ich bin aber weder ein Herr mit Glatze, noch war ich seit zirka zwei Jahren im Auslande, und in Amerika überhaupt noch nicht.« Die Filmfirmen sollten vor Abschlüssen mit diesem Doppelgänger dringend gewarnt werden, außerdem soll der Schwindler nicht nur aus seinen Büchern vorlesen, »sondern auch gegen den Nationalsozialismus Stellung nehmen«.41
Die Doppelgänger wird also frühestens 1934 entstanden sein, nicht unmittelbar nach dem Fabian, wie Kästner zu der späten Veröffentlichung anmerkte (III; 419); Luiselotte Enderle datiert das kurze Fragment auf 1939. Es erzählt von einem Protagonisten Karl, den sein Schutzengel »Maximilian Seidel« vom Selbstmord abhält. Der Engel tritt durch die verschlossene Tür und sieht aus wie ein behäbiger Weinreisender: »Gott schickt mich. Er läßt Ihnen sagen, Sie möchten sich unverzüglich aufmachen und sich selber suchen.« (III: 214) Karl macht sich auf die Reise; in einem Café beginnt er, Notizen zu einem Roman zu machen, und er wird Zeuge eines erfolgreichen Selbstmords — der »Weinreisende« ist zu spät gekommen. Nach stenographischen Notizen in Kästners Nachlass hätte Karl im Café ein Mädchen kennengelernt und mit ihr eine Geschichte erlebt, die an Amphitryon erinnert — sie sollte ihn mit seinem Doppelgänger betrügen, ohne es zu wissen. Ein Abschnitt der Notizen klingt wie ein Bekenntnis zum Leben in der inneren Emigration: »Er beschließt, bis er eine gültigere Anschauung gefunden hat, die Menschheit links liegen zu lassen. Er wird sich nur dem eignen Charakter, dem Privatleben, den Nächsten widmen und das Leben lieben. Bis auf weiteres.« (BB: 238)
Den Zauberlehrling datierte Kästner selbst auf 1936; der Verkehrsverein von Davos hatte ihn in diesem Jahr zu einem Vortrag eingeladen42 und bestellte bei ihm einen heiteren Roman über Davos, weil »Thomas Manns ›Zauberberg‹ den Ort in gesundheitlicher Hinsicht in Verruf gebracht hatte«.43 Dieses Fragment ist thematisch ganz ähnlich wie Die Doppelgänger gelagert, aber eine freundlichere Variante. Ein Kunsthistoriker, Prof. Dr. Alfons Mintzlaff, trifft auf seiner Reise nach Davos Zeus persönlich, der sich »Baron Lamotte« nennt, sich auf der Zugfahrt mit einem Blitzschlag in einen Baum ausweist, Mintzlaffs Gedanken lesen und auch sonst noch allerlei kann. In Davos sieht Mintzlaff ein Plakat hängen, wo sein Vortrag angekündigt wird, vier Wochen vor dem Termin; das Verkehrsbüro teilt ihm mit, er sei schon seit einer Woche in Davos — wieder der Doppelgänger. Das Fragment beschreibt die komplizierten Verhältnisse zweier Frauen zu Mintzlaff und »Lamotte« und bricht mit der Entlarvung des Betrügers durch »Lamottes« telepathische Kräfte ab. Zeus redet Mintzlaff ins Gewissen: »Werden Sie, was Sie sind!« (III: 308) Wie in Die Doppelgänger ist die Isolation des Protagonisten ein Thema, die »Mauer aus Glas« (III: 308), von der er sich umgeben fühlt. So heiter das Fragment größtenteils wirkt — die Identitätsfindung scheint nur mit einem großen Aufwand an Phantastik möglich zu sein; nichts, was erreichbar wirkt.
Kästner konnte sich 1936, im Olympia-Jahr, ganz dem Sport hingeben. Im Sommer besuchte er viele Veranstaltungen beim »Olympia-Rummel« (5.8.1936, MB): Polo, Ringen, Schwimmen, Hockey, Boxen, das Fußballspiel Norwegen — Italien und das Fußball-Finale. »Aber was soll man andres machen. Alles spricht davon. Alle gehen hin. Da muß ich eben auch dabei sein. Vielleicht kann man’s einmal für eine Geschichte brauchen.« (10.8.1936, MB) Es war ihm klar, dass es ihm immer noch vergleichsweise gut ging; über einen verbotenen Journalisten schrieb er an die Mutter: »Er kam neulich, ob ich nichts für ihn wüßte. Ein armer Teufel. […] Ich bin gesund u bester Laune. Nur ein bißchen faul. Aber das gibt sich, wenn die Olympiade vorbei ist.« (12.8.1936, MB) Der Freundeskreis wurde wichtiger, die Listen derer, die »Muttchen« grüßen ließen, wurden länger: »Nauke, Buhre, Keindorff, Ode, Pinelli, Nick usw.« (21.5.1936, MB); dazu kamen noch Victor de Kowa, Gustav Knuth, in den vierziger Jahren der junge Wolfgang Harich. Der Schauspieler Erik Ode scheint sich für Kästner in London bei einem Anwalt um nicht transferierbare Guthaben gekümmert zu haben. (4.9., 11.9.1937, MB)
In der zitierten Namensaufzählung wurde erstmals Eberhard Keindorff erwähnt, einer der wichtigsten Freunde für Kästners finanzielles Überleben im ›Dritten Reich‹. Er wurde am 7. Februar 1902 in Hamburg geboren und lebte seit den dreißiger Jahren in Berlin. Kürschners Literatur-Kalender von 1943 verzeichnet ihn als Dramatiker auch mit dem Pseudonym Eberhard Foerster. Keindorff war Mitglied der Reichsschrifttumskammer und konnte publizieren; sein Pseudonym verwendete er auch (aber nicht nur) für die leichten Boulevardstücke, die er mit Erich Kästner zusammen schrieb — eine »Flucht ins Läppische« hat Keindorff sie genannt.44 Kästner bezeichnete sich im Rückblick als »bis zu einem gewissen Grade mitbeteiligt«45; aus einem späten Brief Keindorffs über Seine Majestät Gustav Krause (1940) wird die Art der Zusammenarbeit recht deutlich: Beide Autoren haben sich »Tag für Tag« getroffen, »um gemeinsam Zeile für Zeile und Wort für Wort entstehen zu lassen«.46 Dementsprechend wurden auch Honorare für Wiederaufführungen und Neuverfilmungen nach dem Krieg hälftig geteilt; die Abrechnungen liefen über Keindorff.47
1941 heiratete Keindorff in Berlin-Wilmersdorf in zweiter Ehe Sybille Freybe (1913—1970); seine erste Frau hatte ihn wegen Gustav Knuth verlassen. Freybe brachte aus ihrer ersten Ehe zwei Kinder mit; sie war Schriftstellerin und veröffentlichte unter ihrem Pseudonym Johanna Sibelius im ›Dritten Reich‹ Unterhaltungsromane, schrieb auch einige Drehbücher für die Terra und die UFA (Kongo-Express, 1939; Am Abend nach der Oper, 1944). Das Team Keindorff-Sibelius wurde nach dem Krieg zu einem gefragten und überaus erfolgreichen Drehbuch-Gespann; sie schrieben für Regisseure wie Kurt Hoffmann, Wolfgang Liebeneiner, Hans Deppe, Franz Peter Wirth, Alfred Vohrer, Günther Lüders und Josef von Baky. Unter ihren bekanntesten Filmen finden sich neben einigen Shaw-Adaptionen die Titel Julia, du bist zauberhaft (1961), Unter Geiern (1964) und die Eric-Malpass-Verfilmungen Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung und Wenn süß das Mondlicht hinter den Hügeln schläft (1969).
Die erste Koproduktion von Kästner und Keindorff war das Stück Verwandte sind auch Menschen (1937), ein sorgfältig und einfallsreich konstruiertes, im ›Dritten Reich‹ vielgespieltes Boulevardstück: Stefan Blankenburg, der sprichwörtliche Onkel aus Amerika, lässt seine Verwandten postum zur Testamentseröffnung in einen »kleinen deutschen Höhenluft-Kurort« bestellen; außer ihnen schmuggelt sich noch ein Journalist ein, der sich als entfernter Vetter aus Südafrika ausgibt. In der Villa werden sie von dem griesgrämigen Diener Leberecht Riedel empfangen, der einer Tante die Bemerkung entlockt: »Schade, dass ich keinen Diener brauche. Sie sehen so wundervoll verbittert aus. Wer Sie zum Diener hat, kann den Hund sparen.« (V: 612) Ein Justizrat und Freund des Verstorbenen eröffnet das Testament, in dem der Erblasser alles seinem treuen Diener vermacht und von seinen Verwandten verlangt, vier Tage zusammen in der Villa zu leben; dann werde ein weiterer Brief von ihm verlesen. Das Zusammenleben gestaltet sich nicht einmal unharmonisch; den Zuschauern — nicht den Verwandten — wird bald klar, dass der angebliche Riedel Blankenburg selbst ist. Er wurde als junger Mann von seinen Verwandten betrogen und ging deshalb nach Amerika, nun will er sich rächen. Zu seinem Unglück findet er seine Leute mit ihren kleinen Wünschen aber ganz sympathisch, er flieht deshalb vor der weiteren Verlesung — sein Brief wäre eine einzige Beschimpfung gewesen. Im dritten und letzten Akt erscheint dann der echte Diener Riedel; der Journalist entpuppt sich als sein Neffe, den er auf seinen Herrn angesetzt hatte, um das Schlimmste zu verhüten. Und das tut er dann auch: Blankenburg entschuldigt sich bei den netten Verwandten, der Journalist wird die Nichte Hilde Böhmke heiraten, Herr und Diener duzen sich endlich nach vierzig Jahren Dienstverhältnis.
Das Stück hat einige amüsante Einfälle zu bieten, insbesondere die einzelnen Verwandten sind effektvolle Chargen. Es gibt da zum Beispiel die Familie Zander, den Bürovorsteher Otto, seine Frau Ingeborg und deren fünf Kinder Gottfried, Gotthelf, Gottlieb, Gotthold und Gottlob. Das Familienoberhaupt ist ein Kindskopf unter der Fuchtel seiner Frau, obwohl deren häufigster Satz »Ja, Otto« ist; er kommandiert seine Lieben zackig-militärisch, eine deutliche Parodie auf den Militarismus der Zeit: »Mein Kommando übe ich in vollstem Einverständnis mit Frau und Kindern aus. Denn da es mir keine Freude macht, wenn meine Familie vor mir Angst hat, haben mir meine Angehörigen versprechen müssen, dass es ihnen ihrerseits Vergnügen macht, wenn ich kommandiere.« Seine Frau erklärt ihm, wie man das nennt: »Aufgeklärter Despotismus, Otto.« (V: 621) Hildes Bruder Emil stellt ununterbrochen falsche detektivische Kombinationen an, und ein Arztehepaar möchte die Villa in ein Sanatorium verwandeln. Der Justizrat hat sein Büro so gut organisiert, dass er kaum arbeiten muss, weil ihm aufgefallen ist, »was für arme Hunde alle Menschen sind, die ihre Zeit mit Arbeit vollstopfen«. (V: 637) Der Journalist ist passenderweise »Irrenarzt«, bzw. »erster Assistenzarzt an der pathologischen Klinik in Freiburg«. (V: 696)
Hans Deppe hat das Boulevardstück 1939 unter demselben Titel für die Tobis verfilmt, leider nur in sehr groben Zügen. Sein Drehbuchautor Peter Hagen hat neue und enorm plumpe Dialoge geschrieben; die Verwandten sind diesmal tatsächlich widerlich; einzig sympathisch ist dem Millionär (außer den Zander-Kindern) die Ziehtochter von Tante Paula, über die er am Schluss erfährt, sie sei seine Tochter — Hintertreppe.
Die Lyrische Hausapotheke erscheint 1936 bei Atrium, mit einem »wunderbaren Einband-Entwurf« (15.7.1936, MB) von Trier, der inzwischen auch ausgewandert war, nach London. Der Band brachte eine Auswahl der ›unpolitischen‹ Gedichte Kästners, dazu wenige neue Epigramme, darunter auch die sprichwörtliche Moral: »Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es.« (I: 277) Im Ausland war die Hausapotheke relativ erfolgreich, einige handgeschriebene Exemplare kursierten sogar später im Warschauer Getto. Eines davon ging als Geburtstagsgeschenk von seiner Freundin und späteren Frau an den jungen Marceli Reich-Ranicki.48
Der ehemals expressionistische Lyriker, Kleinverleger und Kabarettautor Munkepunke, Alfred Richard Meyer, war zum Zeitpunkt des Erscheinens Leiter des Referats II C der Schrifttumskammer und beobachtete Kästners Publikationen. Die in der Schweiz veröffentlichten und in Mähren gedruckten Bücher warfen für ihn »die Frage auf: was ist hier zu tun? gegen oder für Kästner?« Gegen die Romane hatte er nichts einzuwenden, sie seien »durchweg nicht zu beanstanden«. Dagegen müsse »der Vertrieb der Gedichte in Deutschland […] abgelehnt werden«. Er empfahl in seiner Aktennotiz, Kästner »zu einer prinzipiellen Besprechung« zu bestellen; und er schrieb ein ausführliches Gutachten über die Lyrische Hausapotheke. Meyer war ein kundiger Lyriker und nur zweifelhaft sicherer Nationalsozialist, Parteimitglied war er erst unmittelbar vor seinem Amtsantritt 1937 geworden.49 Und so fühlte er sich zuverlässig an Alfred Lichtenstein erinnert, als er den Band las; sein Gutachten besteht vor allem aus Gedichtzitaten, dazwischen ein paar unausgeführte NS-Vorwürfe, die mehr nach Jargon als nach Überzeugung klingen: »Kulturbolschewismus«; Die andere Möglichkeit verbleibe als »widerlichste Erinnerung«; Kästners Einstellung zur Ehe sei »abzulehnen«; und so fort. Meyers Fazit: »Dagegen besagt es wenig, dass es in diesem Buch viele witzige Spielereien gibt, die im rein Artistischen gelungen sind und dennoch jedes tiefere Herz vermissen lassen, das man von einer lyrischen Hausapotheke verlangen darf und muss. Die Arzneien dieser Hausapotheke sind uns zu bitter und entpuppen sich bisweilen leider als Gifte, die wir lieber meiden wollen.«50 Vor allem die Aktennotiz zu Meyers Gutachten bleibt zweideutig — wollte er nun Kästner nützen oder schaden? Immerhin erklärte er die Prosa für unbedenklich, und Kästner hatte seit 1933 nur Prosa unter seinem Namen veröffentlicht; die Hausapotheke enthielt ja überwiegend alte Gedichte.
Dagegen schlug Meyer auch eine »prinzipielle Besprechung« vor; womöglich war diese Notiz Anlass für Kästners erneute kurze Verhaftung durch die Gestapo. 1936 war wieder das unzutreffende Gerücht aufgekommen, Kästner halte sich in Prag auf und sei dort Mitarbeiter an Emigrantenzeitschriften, damals wohl ohne Folgen.51 Kästner hat Enderle den Ablauf des zweiten Verhörs, 1937, beschrieben: »›Wo leben Sie sonst? Wovon leben Sie? In welchen Verlagen erscheinen Ihre Bücher?‹ Die ausländischen Verlagsnamen und Buchtitel waren kompliziert. Kästner buchstabierte sie langsam. Der Protokollführer stotterte sie in die Maschine. Das Verhör dauerte drei Stunden. Dann entließ man ihn wieder. Mit Paß. Durch Gittertüren. Klirrend geöffnet. Klirrend geschlossen.«52 Kästner erzählte später, die zweite Verhaftung sei eine bürokratische Panne gewesen; die Polizisten hätten »zwar das Verhaftungspapier von 1934 gefunden, nicht aber das Protokoll, worin der Verlauf und das Ergebnis der Vernehmung verbrieft worden waren!«53 Seitdem habe er jede Klingel im Magen gehört, und sein ruhendes Herzleiden habe sich wieder gemeldet. Bei einer der beiden Verhaftungen soll ihm der Beamte gesagt haben: »Seien Sie froh, daß ich Sie nicht gefesselt abführe!« Kästners Notiz dazu: »Die Psychologie eines alten Kriminalbeamten, der denkt, wenn er jemand verhaften muß, ist der Betreffende auch ein Verbrecher. Die Wandlung seines Benehmens bis zum Schluß der Vernehmung.« (BB: 249)
Kästner schrieb zwar nicht für Emigrantenzeitschriften, aber er wollte weiterhin mit dem emigrierten Walter Trier zusammenarbeiten. Sie trafen sich Ende August 1937 für drei Wochen in Salzburg, weil sie zusammen ein Buch über die Stadt machen wollten; es war noch unklar, welche Geschichte in Salzburg spielen sollte. Kästner wohnte in Bad Reichenhall in der »Besitzung Axelmannstein«, Kurhaus und Grandhotel, und nutzte den ›Kleinen Grenzverkehr‹: »Abends fahr ich zurück u morgen wieder her. Es ist sehr bequem im Autobus.« (20.8.1937, MB) Auf diese Weise brauchte er kein Visum; eine Auslandsreise so kurz nach der Verhaftung wäre kaum ratsam gewesen. Aber der Reisemodus brachte auch mit sich, dass er kein Geld ausgeben durfte; er fuhr »jeden Tag mit meinem Freßpaket über die Grenze, ohne Geld, und laß mich drüben zu einer Tasse Kaffee oder einem Glas Bier einladen. Ganz lustig.« (26.8.1937, MB) In der Festspielzeit war Salzburg teuer, Trier musste ihn auch in die kulturellen Veranstaltungen einladen — ins Orgelkonzert (20.8.1937, MB), in den Faust, auch den Jedermann und den Rosenkavalier sahen sich die Freunde an. Kästner lernte zwar keine »Konstanze« kennen wie sein Protagonist im Roman Der kleine Grenzverkehr, aber er traf Herti Kirchner, die scheinheilig empört an Ida Kästner schrieb: »Das geht aber nicht: schon wieder treffe ich Ihren Herrn Sohn. Natürlich ganz zufällig.« (23.8.1937, MB) Sie machten Ausflüge ins Umland mit einem Verwandten Triers bzw. in dessen Auto, sahen sich den »Fuschlsee u. Wolfgangsee u. Geisberg usw.« an. »Es war sehr schön. Bis auf ein Gewitter am Abend mit viel Regen …« (2.9.1937, MB) Außerdem soll er in Salzburg Walter Mehring und Ödön von Horváth getroffen haben54, seine Notizen zum ungeschriebenen Roman der Zeit bestätigen das — dort heißt es, Horváth habe seinen »Mut« bewundert, »nach Berlin zurückzukehren, und den dann auf den Champs-Élysées ein Blitz traf«. (BB: 245)
Er war gefangen von dem neuen Stoff, der ihm »im Kopf rumgeht« (1.10.1937, MB), ohne Ende Oktober 1937 eine »Geschichte« dazu gefunden zu haben (21.10.1937, MB) — er nahm dann kurzerhand die eigene, wenigstens die äußeren Umstände der befremdlichen Lebensweise im kleinen Grenzverkehr. Er trieb seinen Vorwort-Tick bis zur vergnüglichen Selbstparodie und errichtete eine Autorfiktion: Man liest das Tagebuch des Protagonisten Georg Rentmeister selbst. Der benutzt den kleinen Grenzverkehr allerdings aus harmloseren Gründen als Kästner; er hat nur seinen Devisenantrag zu spät gestellt. Durch seine Zahlungsunfähigkeit lernt er das Dienstmädchen Konstanze kennen, die ihm einmal den Kaffee spendiert. Dass sich eine große Liebesgeschichte zwischen den beiden anschließt, ist obligatorisch; obendrein zeigt sich am Schluss, dass sie eine Komtess ist und das Dienstmädchen nur auf Wunsch ihres Vaters spielt. Der ist ein verkrachter Dramatiker, dem kein Stoff mehr einfällt und der deshalb sein Personal in Urlaub geschickt hat, um mit seinen Kindern das Personal zu mimen und die ausländischen Gäste auf seinem Schloss selbst zu bewirten.
Die Anregung für dieses Motiv des skurrilen Grafen könnte von einer Einladung gekommen sein, die Kästner selbst erhielt, und zwar »von einem österreichischen Baron, der meine Bücher liebt u mich bittet, ein paar Tage auf sein Schloß nach Kärnten zu kommen. Das ist ulkig, was? Na, ich werde es wohl nicht machen. Aber nett ist es trotzdem.« (16.4.1937, MB) Kästners Kurzroman erschien 1938 in der Schweiz unter dem Titel Georg und die Zwischenfälle55, ohne vorerst Hymne an Salzburg sein zu können — Österreich war annektiert worden, die Festspiele fielen 1938 aus. Nach dem Krieg nannte Kästner das Buch Der kleine Grenzverkehr (1949).
Das Honorar reichte offenbar aus, um in den unsicheren Zeiten Geld anzulegen. Seine Mutter suchte in der Nähe Dresdens nach einer Immobilie, die in der Korrespondenz mit ihrem Sohn nur indirekt als »die bewußte Sache« angesprochen ist. Kästner fragte sie: »Wie teuer denn? Als 1. Hypothek? Unbebaut?« (17.10.1937, MB) Tatsächlich kauften Mutter und Sohn zwei Hypothekenbriefe über jeweils 5000 Reichsmark; die notarielle Beglaubigung stammt vom 31. Januar 1938. Die Summe wurde an einen Dresdner Rechtsanwalt als verzinsliches Darlehen gezahlt; die Hypotheken belasteten ein 2830 Quadratmeter großes Grundstück in der »Gemarkung Trachau« bei Dresden. Von seinem Honorar für Münchhausen erwarb Kästner außerdem 1943 drei Grundstücke in Wendisch-Rietz, am Ufer des Scharmützelsees; Emil Kästner und später Erich Kästners Kusine zahlten während der DDR-Jahre die Grundsteuern weiter, die Grundstücke blieben der Familie trotz der Enteignungsversuche vor und nach 1989 erhalten.56
Unübersehbar bereitete das ›Dritte Reich‹ einen Krieg vor. Kästner musste noch weitere Musterungen über sich ergehen lassen, zu seiner Beruhigung verliefen sie harmlos: »Wer sich nicht kriegsverwendungsfähig fühle, solle sich melden. Da meldeten sich zehn Mann, ich auch. Drei davon durften gleich wieder gehen, nach flüchtiger Untersuchung. Zehn Kniebeugen, Herz behorcht, weggetreten. Na also. Nach einer Stunde war ich wieder zuhaus.« (12.5.1937, MB) Die zweite Musterung, kurz vor Kriegsende, hatte das gleiche Ergebnis. Der Stabsarzt soll vielsagend bemerkt haben: »Soso, der Kästner sind Sie!« — und musterte ihn aus. (VI: 331)
1937 gab es auch in Berlin »Verdunklungsübungen«, bei denen nur »der Vollmond scheint« (20.9.1937, MB); die Bevölkerung musste sich Gasmasken anschaffen (6.12.1937, MB), Kästner füllte einen Ahnenpass aus, und Herti Kirchner musste bei einer Straßensammlung für die Winterhilfe auftreten und singen. (4.12.1937, MB)
Silvester 1937/38 verbrachte Kästner mit ihr und den Freunden, dem Filmautor Peter Francke und dem Theaterkapellmeister und Komponisten Harald Böhmelt, in Hamburg; ein Singspiel Böhmelts hatte dort Premiere. Um diese Zeit muss das erste Foerster-Stück uraufgeführt worden sein; Keindorff fuhr zu weiteren Premieren und mimte ›Eberhard Foerster‹: »Die Hamburger Premiere war sehr schön. Die in Bochum war wohl auch ein Erfolg. Eberhard ist schon wieder zu einer andern Premiere. Diesmal in Altona. Er kommt vor Verbeugen nicht zum Arbeiten.« (4.1.1938, MB) 1938 schrieben die Freunde Die Frau nach Maß, eine Komödie aus dem Theatermilieu: Ein Regisseur will seiner Verlobten das Schreiben von Stücken verbieten, weil er keine Schriftstellerin, Schauspielerin oder Souffleuse zur Frau haben will, »ich will eine Frau zur Frau haben!«57 Nach dem Krach spielt ihm seine Freundin als ihre eigene Zwillingsschwester das Heimchen am Herd vor, und im Showdown zeigt sich, dass der Regisseur sie in beiden Varianten liebt. Die letzten gemeinsamen Foerster-Stücke waren Das goldene Dach (1939) und Seine Majestät Gustav Krause (1940).
Wie schwer sich Erich Kästner heute noch in die Karten schauen lässt (und wie viele Funde weiterhin zu erwarten sind), zeigen verschollene Stoffe. Etwa 1940 schrieb er zusammen mit dem Schlagertexter Hans Fritz Beckmann eine Revue, Häkchen und die drei Musketiere. Eine erneute Verfilmung der »hornalten Gelegenheitsarbeit« durch das ZDF verhinderte Kästner in den sechziger Jahren: »›Doddy und die drei Musketiere‹, — schon bei dem Titel krieg ich Sodbrennen.«58 Auch an einem Theaterstück Willkommen in Mergenthal war Kästner »keineswegs unschuldig«.59 Es ist unter dem Pseudonym »Hans Brühl« geschrieben worden, spätestens 1935; Kästners offizieller Co-Autor in diesem Fall war Martin Kessel, der Büchner-Preisträger von 1954.60 Das Stück war so gut wie verschollen; nicht einmal der Chronos-Verlag als Rechteinhaber und einschlägige Theaterarchive haben Archivexemplare. Hier gibt es einmal einen Beleg dafür, dass Kästner der alleinige Verfasser war: Martin Kessel schrieb nach dem Krieg an Mechnig, sie solle nicht verraten, »daß das Stück von Kästner ist«.61 1937 wurde der Stoff von Toni Huppertz unter dem Titel Das Ehesanatorium mit prominenten Schauspielern verfilmt — Volker von Collande, Käthe Haack, Günther Lüders, Willi Schaeffers und Wilhelm Bendow.62 Es handelt sich um eine Typenkomödie: Ein Journalist schleicht sich mit der Tochter seiner Verlegerin im Sanatorium Professor Eschenburgs ein, um über dessen Methoden zur Rettung kriselnder Ehen zu recherchieren. Eschenburg bringt sonst die Paare getrennt unter, durchschaut den Journalisten aber und sperrt ihn mit der ihm fremden Tochter seiner Chefin zusammen. Die glückliche Heirat ist vorprogrammiert.
Kästner machte 1951 Curt Goetz auf die Komödie aufmerksam: »Eines Tages wurde es unter dem Titel ›Das Ehesanatorium‹ verfilmt. Das Licht der Bühne hat es meines Wissens nicht erblickt, obwohl ich eigentlich glaube, daß es dieses Mißgeschick nicht verdient hat.« Er bat Curt und Valerie Goetz, das Stück zu prüfen, auch die Filmrechte seien wieder frei.63 Valerie Goetz sagte freundlich im Namen ihres Mannes ab, »wir wollen uns doch garnicht erst das Herz schwer machen und sein Stück lesen, da wir es ja doch aus Zeitmangel nicht spielen können«.64 1954 meldete Kästner an Kessel, es sei ihm gelungen, »unser enormes Theaterstück« erneut »beim Film unterzubringen«.65 Franz Antel führte Regie, der Stoff hieß nun Ja, so ist das mit der Liebe. Das Lexikon des Internationalen Films verreißt den Film denn auch mit Hingabe, trotz erstrangiger Schauspieler wie Hans Moser und Paul Hörbiger: »Eine Anzahl von Komikern bemüht sich krampfhaft und nahezu vergeblich, ein Minimum an Kurzweil in die seichte Handlung zu bringen.«66 Kästner scheint bei Vertragsabschluss gewusst zu haben, welche Sorte Film von Antel zu erwarten stand; er hat sich ausbedungen, seinen Namen »in keiner Weise nach aussen hin mit dem Vorhaben in Zusammenhang zu bringen«.67
Kästner war im September 1938 in London, um Walter Trier zu besuchen und die farbigen Illustrationen zu seiner ersten Nacherzählung, Till Eulenspiegel (1938), anzusehen, neue Pläne zu schmieden und »in Regent Park Tennis« zu spielen. (VI: 650) Außerdem traf er seinen Übersetzer und britischen Agenten Cyrus Brooks (VI: 440); im Fragebogen der amerikanischen Militärbehörden 1945 hat Kästner angegeben, er sei auf eigene Kosten nach England gereist, weil er »Besprechungen mit Metro-Goldwyn usw.« hatte. Ob er andere Emigranten gesehen hat — Robert Neumann, Peter de Mendelssohn und Hilde Spiel lebten in London —, ist nicht überliefert. Kästner will sich aber mit Churchills Sekretär Brendan Bracken getroffen haben. (VI: 440) Er reiste »Hals über Kopf nach Berlin zurück«, weil Hitler von der Tschechoslowakei verlangt hatte, das Sudetenland an Deutschland abzutreten. »[E]s drohte Krieg. Als das Boot in Hoek van Holland einlief, wurden Extrablätter verkauft. Die akute Kriegsgefahr war abgewendet. Chamberlain war auf dem Wege nach München.« (VI: 650) Das Münchner Abkommen wendete auf Kosten der Tschechoslowakei den Krieg für ein Jahr ab; Trier und Kästner blieben bis zum Tod des Malers 1951 nur noch brieflich in Verbindung.
Die Episoden, die Kästner für seinen Eulenspiegel ausgewählt hat, sind harmlos genug, mit Ausnahme der Episode Wie Till Eulenspiegel die Kranken heilte. Till droht damit, sie zu Pulver zu verbrennen, damit sie das Krankenhaus verlassen, so schnell sie nur können. Kästner hat die Eulenspiegel-Figur ein wenig zeitgemäß bearbeitet; sein Till ist auch der fröhliche Anarchist und Leute-Necker, aber er wird nicht durchweg positiv bewertet, er hat etwas von einem Leute-Schinder, einem einfallsreichen Kriminellen. An wen mögen die zeitgenössischen Leser wohl gedacht haben, wenn sie von einem »Zirkusclown« hörten, der »Unfug anstellte, bis es seinen Landsleuten schwarz vor den Augen wurde«, der sie »verulkte«, dass »ihnen Hören und Sehen verging«, der in allen Berufen dilettierte und keinen beherrschte? Aber diese Anspielungen wirken heute ebenso unangemessen wie Bertolt Brechts »Anstreicher«-Serie; die literarischen Bilder waren schwach und harmlos gegenüber ihrem Vorbild —
»Der Anstreicher Hitler
Hatte bis auf Farbe nichts studiert
Und als man ihn nun eben ranließ
Da hat er alles angeschmiert.
Ganz Deutschland hat er angeschmiert.«68
Kästner war Zeuge des Novemberpogroms, der sogenannten Reichskristallnacht vom 9. auf dem 10. November 1938. Er beschrieb eine Taxifahrt »wie quer durch den Traum eines Wahnsinnigen«: »Es klang, als würden Dutzende von Waggons voller Glas umgekippt. Ich blickte aus dem Taxi und sah, links wie rechts, vor etwa jedem fünften Haus einen Mann stehen, der, mächtig ausholend, mit einer langen Eisenstange ein Schaufenster einschlug. War das besorgt, schritt er gemessen zum nächsten Laden und widmete sich, mit gelassener Kraft, dessen noch intakten Scheiben. Außer diesen Männern, die schwarze Breeches, Reitstiefel und Ziviljackets trugen, war weit und breit kein Mensch zu sehen.« Ein paarmal habe Kästner anhalten lassen und versucht, auszusteigen; jedes Mal habe ihn ein Polizist in Zivil weitergeschickt: »Aussteigen ist verboten! Machen Sie, daß Sie weiterkommen!« (VI: 512f.) Die Presse stellte das Pogrom als einen spontanen Entrüstungsakt des Volkes hin; Kästner sah die »Umwertung der Werte« am Werk. »Gut und böse, unwandelbare Maßstäbe des menschlichen Herzens, wurden durch Gesetz und Verordnung ausgetauscht. Der Milchhändler, der einem unterernährten ›artfremden‹ Kind eine Flasche Milch zusteckte, wurde eingesperrt, und die Frau, die ihn angezeigt hatte, bekam das Verdienstkreuz. Wer unschuldige Menschen umbrachte, wurde befördert. Wer seine menschliche oder christliche Meinung vorbrachte, wurde geköpft oder gehängt.« (VI: 514; vgl. VI: 432f.)