Der Krieg begann 1939; doch noch vorher wurde das Jahr für Kästner von einem privaten Unglück überschattet. Herti Kirchner hatte ihm seit 1937 Konkurrenz gemacht: »Naukes erstes Buch wird wahrscheinlich von Williams & Co angenommen werden. Der Verlag ist sehr interessiert daran. Das wäre ja schön. Die Kleene ist ganz stolz darüber.« (16.4.1937, MB) Lütte. Geschichte einer Kinderfreundschaft ist bei Williams im Herbst 1937 erschienen, ein Jahr darauf Wer will unter die Indianer? »Naukes Buch hat allen Kindern, die es über Weihnachten lasen, gut gefallen.« (4.1.1938, MB) Tobias Lehmkuhl überlegt angesichts dieser beiden Bücher, dass auch Kästners Kapazitäten endlich gewesen sein müssen, es ist wohl nicht hinter jedem Pseudonym und jeder Person im Freundes- und Freundinnenkreis zu vermuten, dass die Autorschaft an deren Arbeiten bei Kästner liegt; schon die offiziell zugestandenen Texte können seine Zeit hinreichend ausgefüllt haben.1 Vielleicht hat er also Herti Kirchner nur assistiert oder ihr Korrektur gelesen. Obendrein war sie nicht in erster Linie Autorin, sondern mittlerweile eine erfolgreiche Schauspielerin geworden. Sie hatte Kabarett- und Theater-Engagements im ganzen Land, Kästner besuchte sie einmal während einer Münchner Kabarett-Verpflichtung (21.10.1937, MB); sie übernahm kleinere und größere Filmrollen, spielte sogar in einem Farbfilm, sang und sprach im Rundfunk. Ihre Verbindung mit Kästner dürfte schon lockerer gewesen sein, als sie mit ihrem Wagen verunglückte, aus eigenem Verschulden und wohl unter Alkohol. In den Notizen zu seinem Romanprojekt hat Kästner mehrfach die alptraumhafte Situation skizziert: »Mit Verena im Bett, als das Telefon geht: Herti im Krankenhaus!« (BB: 240) Seiner Sekretärin legte er am Morgen nach dem Unfall eine Nachricht auf den Schreibtisch: »Herti ist tot. Autounfall 1. Mai früh 5h. Ich wurde ½7h geweckt u ins Achenbach-Krkhs zitiert. Bekam sie nicht mehr zu sehen. War sofort tot gewesen; Gehirnblutung. Bin seitdem nicht sehr auf dem Posten. […] Telefonisch zu mir nur gute Freunde oder Hein oder Hertis Bruder &tc. durchlassen. Will versuchen, etwas zu schlafen.«2
Herti Kirchners ›Nachfolgerin‹ kannte Kästner schon aus Leipzig. Im November 1937 war die Redakteurin Luiselotte Enderle als Vertreterin des Zeitschriftenverlages Otto Beyer nach Berlin versetzt worden. Ihr tatsächlicher Name war Louise Babette Enderle; sie wurde am 19. Januar 1908 in Leipzig geboren. Die weiteren Angaben in ihrem Personalausweis: »168 cm groß, schlank, Augen blaugrau (ev. luth.)«.3 Sie traf Kästner wieder; der Dokumentarfilmerin Eva Hassencamp hat sie erzählt: »Wir verliebten uns plötzlich. Es war nicht programmgemäß.« Dieses ›plötzlich‹ war im Frühjahr 1939. Der Park nahe Kästners Wohnung sei wie geschaffen gewesen für Verliebte. Als 1944 seine Wohnung ausbrannte, zog er zu ihr in die Sybelstraße.
Der Sommerurlaub 1940 ist der erste gemeinsame mit Luiselotte Enderle. Er fand in Bad Hofgastein statt, in der Nähe von Salzburg. Obwohl nur noch wenige Züge fuhren, machte das Paar Ausflüge in die Stadt, nach Hofgastein, Zell am See, nach Kärnten, an den Wörthersee, und den Eibsee. Noch hatte man zu essen in Deutschland, aber Luxusgüter wurden knapp — anscheinend noch nicht so deutlich in Österreich, Kästner und Enderle sammelten für Muttchen den Frühstückshonig »in einem Konservenglas«. (12.7.1940, MB)
Von diesem Zeitpunkt an war Luiselotte Enderle ›dabei‹, jetzt ging sie alles an in Kästners Leben. Die schon immer philologisch zweifelhafte Editionstechnik Enderles bringt nun furiose Ergebnisse hervor. Der Urlaubsbrief Kästners an Muttchen vom 15. Juli 1940 ist in ihrem Band doppelt abgedruckt, mit unterschiedlichen Auslassungen.4 Zuerst ist er falsch datiert, auf den 5.7., beim zweiten Abdruck korrekt. Ida Kästner wollte Duplikate ihrer Kofferschlüssel geschickt bekommen, und die waren in Kästners Schreibtisch eingeschlossen. Den Schlüssel hatte er mitgenommen, »so daß & Co nicht hinankann«. Im Schreibtisch seien »Briefe usw. […], die sie nicht zu sehen braucht«. Diese Misstrauenserklärung gegenüber der Sekretärin ist im zweiten Abdruck ausgelassen; in beiden fehlen die Lösungsvorschläge, darunter der folgende: »Sonst könnte Dir & Co auch Hertis Koffer schicken, den ich noch habe. Ein schöner geräumiger Lederkoffer, den wir ihr vor Jahren in Hamburg kauften.« (15.7.1940, MB) Eingriffe dieser Art sind häufig im veröffentlichten Briefwechsel Kästners mit seiner Mutter; immer, wenn eine Bindung offensichtlich enger war als genehm, wurden Anspielungen gestrichen.
Der Kriegsbeginn setzte Kästner in ernste Verlegenheiten. Er bat sein Finanzamt, ihm die Steuer-Vorauszahlungen für das laufende Jahr zu erlassen, weil er bisher seine sämtlichen Einkünfte aus dem Ausland bezogen habe. Durch den »jetzigen Kriegszustand« sei seine »gesamte Existenz gefährdet«.5 Seine Einnahmen waren in dieser Zeit nicht berechenbar. Nach Notizzetteln Elfriede Mechnigs im Nachlass verdiente Kästner 1940 11.581,20 Reichsmark, davon 10.159,55 RM mit dem wiederaufgenommenen Lebenslänglichen Kind; der bescheidene Rest sind Tantiemen aus dem Ausland. 1941 nahm Kästner 19.411,92 RM ein, der größte Teil davon waren schon UFA-Zahlungen für das Münchhausen-Drehbuch (16.000 RM).
Größeres unversteuertes Einkommen brachte Kästner 1940 das letzte Eberhard-Foerster-Stück Seine Majestät Gustav Krause (1940). Kästners Anteil ist nicht zu übersehen. Die Boulevard-Tragikomödie — falls es so etwas gibt — plündert seine eigene Familiengeschichte weidlich; und nebenbei wohl auch noch Somerset Maughams Komödie The Breadwinner (1930), in der der Pferdehändler ein Börsenmakler ist.6 Kästner hat den Tageslauf des Aufstiegs seiner Augustin-Onkel genau beschrieben: »Morgens um fünf Uhr auf den Schlachthof, in die Kühlhalle, dann ins Schlachthaus, frische Wurst und Würstchen machen, Schweinefleisch ins Pökelfaß legen, dann mit blütenweißer Schürze und gezogenem Pomadescheitel in den Laden, den Kundinnen zulächeln und beim Fleischwiegen den Daumen heimlich auf die Waage legen, dann zu den Pferden in den Stall, mit dem Pächter einer Fabrikskantine in die Kneipe, damit man den Lieferungsauftrag kriegt, dann einen Posten Hafer billig einhandeln und ein sechsjähriges Pferd als dreijähriges verkaufen, dann zehn Spieße Knoblauchwurst abfassen, wieder hinter die Ladentafel, an den Hackklotz und, nach Geschäftsschluß, die Tageskasse abrechnen, dann in den Pferdestall, wieder in die Kneipe, wo man den Fuhrhalter einer Möbeltransportfirma einseifen muß, schließlich ins Bett, noch im Traume rechnend und Pferde kaufend, und morgens um fünf Uhr auf den Schlachthof und in die Kühlhalle. Und so weiter. Jahrelang. Man schuftete sich halbtot. Und der jungen Frau Augustin ging’s nicht besser. Mit den Pferden hatte sie nichts zu tun. Dafür stand und lächelte sie von früh bis spät im Fleischerladen und bekam außerdem zwei, drei Kinder.« (VII: 27)
Die Komödie Seine Majestät Gustav Krause malt sich die Folgen eines solchen Lebens aus. Krause ist, wie Franz Augustin, ein reich gewordener Fleischermeister, der zum Zeitpunkt des Stücks schon seit einigen Jahren nur noch mit Pferden handelt. Außer den Pferden ist ihm denn auch alles egal, wie seine Frau Martha (der Name von Kästners erklärter »Lieblingstante«, VII: 60) ihren zahlreichen annähernd erwachsenen Kindern und deren Freunden klagt: »Was ist Euerm Vater eigentlich nicht gleichgültig? Ihr sagt also: Er hat keinen Familiensinn, er hat noch niemals Ferien gemacht, er geht nicht ins Theater, liest keine Bücher.«7 Von einem seiner zehnminütigen Aufenthalte daheim wieder davongestürzt, kehrt er überraschend zurück — er hatte auf dem Weg zum Schnellzug einen Herzanfall. Sein Arzt Dr. Schneider, »ein älterer, sachlicher, energischer Corpsstudententyp«8, schickt den Widerstrebenden unter Todesdrohungen zur Kur nach Bad Nauheim; dort hat Erich Kästner selbst sein Herzleiden kuriert. Martha und ihre Kinder konspirieren gegen den Vater. Sie schreibt ihrem ältesten Sohn Konrad, den Krause hinausgeworfen hatte, weiterhin Briefe; sie unterstützt Dr. Fritz von Bodenstedt — eine jüngere Ausgabe Fritz Hagedorns aus Drei Männer im Schnee —, der gern ihre Tochter Helene heiraten möchte. Und sie ermöglicht ihrem Sohn Robert ein Medizinstudium, indem sie ihrem Mann einredet, er studiere Tiermedizin; das habe schließlich mit Pferden zu tun. Krause verbietet Bodenstedt sein Haus. Der versucht ihm zu erklären, dass es Gebiete gebe, »wo man mit Kommandieren nichts erreicht«. Krause, durch den Herzanfall milde gestimmt, begnügt sich mit der Antwort »Was Sie nicht sagen!«9 Sein Vorbild Franz Augustin hat Kästner zufolge schroffer reagiert. (VII: 56) Krause fährt nach diesem Auftritt zu seiner Kur; er verabschiedet sich noch von seinen Pferden, nicht von seiner Familie.
Der zweite Akt spielt nach der Rückkehr Krauses aus der Kur. Das Arbeitstier hat sich, für die ganze Familie unerwartet, dazu entschlossen, nicht mehr zu arbeiten — schließlich habe er genug Geld zusammengekratzt. Seinen Bruder Emil macht er zum Geschäftsführer, dem sagt er auch die Wahrheit: Er dürfe aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten. Auch Franz Augustin hatte seinen Bruder Bruno als Geschäftsführer eingestellt; Kästners Erinnerung an diesen Augustin-Onkel ist ähnlich despektierlich wie die Figur des Onkels im Stück: »Ein Pferd zerschlug ihm den Unterkiefer, ein anderes ein Bein. So hinkte er durch die Ställe, ließ sich vom Bruder und Chef anbrüllen und brüllte seinerseits die Knechte an.« (VII: 28) Gustav Krause beschwört seinen Bruder, niemand dürfe erfahren, warum er nicht mehr ins Geschäft gehe. Anschließend bestellt er die Kinder von Helenes Geburtstagsfeier im Tennisclub ein, um ihnen die frohe Botschaft zu verkünden, dass er nun auf Familie zu machen gedenke. Die spielen aber nicht mit, werfen ihrem Vater seine Kälte vor, lüften alle zusammen mit der Mutter langgehegten Geheimnisse und überlassen die Eltern sich selbst. Krause fragt seine Frau, ob sie auch der Ansicht sei, »dass ich ein schlechter Vater war« — und sie sagt ihm lächelnd die Wahrheit: »Du warst überhaupt kein Vater.«10 Er sieht sich als Fremder im eigenen Haus und verschwindet spurlos, mit Mantel, Hut und Reisetasche; sein Haus und das Geld auf der Bank überschreibt er seiner Frau und seinen Kindern.
Der dritte Akt spielt zwei Jahre später. Die Zuschauer erfahren, dass Krause zurück in seine Ställe gegangen ist und in einer alten, kleinen Wohnung lebt. Er räsoniert über den vergangenen Auftritt mit seiner Familie: »Als sie mir damals die Wahrheit sagten, wurde mir ganz übel von soviel Ehrlichkeit … Sie hatten recht und ich hatte unrecht, erzählten sie. Wahrscheinlich war es so. Aber wenn es so war: hatte es denn noch Zweck, darüber zu reden? Wie?« Er hat seine Einsamkeit nach der Flucht bemerkt und lebt nicht allein, sondern zusammen mit Grete Nowak, ein »hübsches, üppiges Frauenzimmer Ende der zwanzig«.11 Der verlorene älteste Sohn Konrad und Martha Krause stöbern ihn auf, seine Frau will zu ihm zurück. Sie streiten sich, Konrad will seine Mutter nach Amerika mitnehmen, wo er verheiratet ist — und einen Pferdehandel eröffnet hat. Sein Geschick beweist er, indem er einen nervösen Hengst beruhigt; und auch aus den anderen Kindern ist etwas geworden: Robert ist Arzt, Hermann Anwalt, und Helene ist gemäß der Zeit nichts geworden, aber ihr Fritz, den sie geheiratet hat, ist »Regierungsrat«.12 Nach so vielen Erfolgsgeschichten kann das Komödienglück nicht ausbleiben: Konrad prüft gründlich die Bücher des Vaters und erklärt sich dann bereit, als Partner einzusteigen und sein Mädel über den Teich zu holen, Gustav kehrt zu Martha zurück, und nachdem sich die anderen Kinder zufällig auch den Abend frei gehalten haben, kann das Familienleben nach Krauses Geschmack doch noch stattfinden: »Jetzt gehn wir in die Traube abendessen und hinterher in den Zirkus.« Das Schlusswort spricht sein Bruder Emil — Krause gehe »wegen etwas ganz anderem in den Zirkus […]: Wegen der Pferde!«13
Die Handlung ist, gemessen an Kästners eigener Familiengeschichte, offensichtliche Wunscherfüllung. Der Frau des zweitklassigen Onkels Emil »geht’s sehr gut«, wie ihr Mann sagt: »Sie hat sich von mir scheiden lassen.«14 Die Helene des Stücks bekommt ihren Traummann, Kästners Kusine Dora durfte Schurig nicht heiraten: »Onkel Franz war ein Despot, ein Tyrann, ein Pferde-Napoleon. Und im Grunde ein prächtiger Kerl. Daß sich niemand traute, ihm zu widersprechen, war nicht seine Schuld. Vielleicht wäre er selig gewesen, wenn ihm jemand endlich einmal richtig die Meinung gegeigt hätte! Vielleicht wartete er sein Leben lang drauf!« (VII: 56) Die fiktiven Gustav-Krause-Kinder haben damit Erfolg, die reale Dora Augustin ging an diesem prächtigen Kerl zugrunde. Aus dem Töchterschulheim der Herrnhuter Sachsen sei sie »blaß, verhärmt und verschüchtert« zurückgekehrt. »Sie heiratete mit zwanzig Jahren einen Geschäftsmann, der dem Onkel zusagte, und sie starb bei der Geburt des ersten Kindes.« (VII: 125)
Auch für das Publikum dürfte das Stück ein Gutteil Wunscherfüllung geliefert haben. Ganz abgesehen von der soliden Schwankhandlung mit dem harmonischen Schluss: Die Pferdegroßhändler hatten ihre große Zeit im Kaiserreich, in den zwanziger Jahren machten sie langsam reihum Bankrott — auch Franz Augustin. Seine Majestät Gustav Krause spielt also in einer vergangenen ›guten alten Zeit‹, noch vor dem Ersten Weltkrieg, als Seine Majestät der Kaiser noch herrschte und die Großmacht Deutschland unbedroht war.
Das Drehbuch zur Verfilmung Der Seniorchef (1942) hat Eberhard Keindorff zusammen mit Wolf Neumeister verfasst, also sozusagen der ›halbe‹ Foerster. Der Film hält sich denn auch getreulich an die Stückvorlage, außer dass er Gustav Krause zu einem »Georg von Schulte« nobilitiert. Dadurch werden die »sozialen Gegensätze zwischen dem Emporkömmling Krause und dem vornehmen Umgang seiner Kinder […] ganz eliminiert«.15 Keindorff schrieb nach dem Krieg an Kästner, der sich an den Film nicht mehr erinnern konnte, er sei eine »vom Propagandamisterium [!] versaute[.] Fassung (der Fleischermeister mußte ein ›Junker‹ werden)«.16 Außerdem war Schulte kein Metzger wie Krause, sondern zwanzig Jahre als Farmer in Afrika, damit wird seine schwache Gesundheit erklärt. Das ändert an der Handlung nichts; an einigen Stellen hat der Film durch kleine Änderungen adäquate Bilder gefunden, die Schauspieler sind fast durchwegs Idealbesetzungen, insbesondere Otto Wernicke in der Rolle der Titelfigur.
Falls Kästner korrekt datiert, hat er im Januar 1940 zwei Briefe an mich selber geschrieben. Ein bisschen selbstmitleidig gedachte er seiner in der »Einsiedelei Ihres Herzens«; nur er könne ermessen, »wie einsam Sie sich fühlen und welcher Zauber, aus Glück und Wehmut gewoben, Sie von den Menschen fernhält«. (III: 328) Der zweite Brief handelt von dem »Irrtum« (III: 330), andere bessern zu wollen und der Mitwelt zu erzählen, »Kriege seien verwerflich, das Leben habe einen höheren Sinn als etwa den, einander zu ärgern, zu betrügen und den Kragen umzudrehen, und es müsse unsere Aufgabe sein, den kommenden Geschlechtern eine bessere, schönere, vernünftigere und glücklichere Erde zu überantworten!« (III: 331) Wer die Menschen ändern wolle, »der beginne nicht nur bei sich, sondern er höre auch bei sich selber damit auf!« (III: 332) Es liegt nahe, diese Briefe als Ausdruck von Kästners Situation in der NS-Diktatur zu lesen, zumal er sich auch schreibt, er »sollte wirklich mehr Umgang haben, mindestens mit mir«, und sich fragt, ob er sich »selber fremd geworden« sei. (III: 329) Aber dazu ist der Ton der Briefe doch allzu behaglich. Es gibt keinerlei zeitgebundene Andeutungen, der Schreiber sitzt bei einer Flasche Sekt in der Bar, wie er das vor und nach dem ›Dritten Reich‹ auch getan hat. Viel stärker als die Zeit kommentieren diese Briefe Kästners damaliges Lebensgefühl, die »Mauer aus Glas«, das Gefühl von Einsamkeit, Melancholie, Resignation, gegen das er immer wieder angekämpft hat.
Natürlich förderten oder dämpften konkrete Zeitumstände diese Stimmungen, und das ›Dritte Reich‹ dürfte sie gefördert haben. Im selben Jahr, als Kästner die Briefe an mich selber schrieb, starb ein Freund aus der Seminarzeit. Kästner schrieb seiner Sekretärin in die »Ostmark«, wo sie am Grundlsee Urlaub machte: »Ich bin heute ein bißchen durcheinander. Mein bester Freund aus der Seminarzeit, Hans Ludewig, der Fotograf, ist auf der Heimfahrt von der Front tödlich verunglückt. Damals fielen schon acht von fünfundzwanzig. Nun geht’s wieder weiter. So ein Kulturzeitalter hat es in sich.«17
Liefern die Briefe Kästners an seine Mutter auch eine Art veritabler Chronik der Jahre in der Diktatur, begann Kästner 1941 zudem, ein nüchternes Kriegstagebuch in Gabelsberger Kurzschrift zu schreiben. Zunächst bloße Erinnerungsstütze, wurde es 1941, 1943 und am ausführlichsten 1945 geführt und 15 Jahre nach dem Krieg die Grundlage für Notabene 45. Das Buch war im Nachlass in die zweite Reihe gerutscht und wurde erst in den 1990er Jahren wiedergefunden; Herbert Tauer hat die Transkription für die erste Ausgabe besorgt, die Silke Becker und Ulrich von Bülow 2006 für das Marbacher Magazin herausgegeben haben. Im Folgenden wird nach der überarbeiteten und erweiterten Ausgabe von 2018 zitiert, Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941—1945. Kästners Alltag im ›Dritten Reich‹ wird darin deutlich; auch die gelegentliche Frivolität seiner Probleme. So ist davon die Rede, dass Luiselotte Enderle nicht mehr bei Kempinski einkaufen wolle, weil die Verkäufer von den reichen Kunden bestochen seien und denen »vor aller Augen Waren ein[wickeln], die es für die andern ›nicht gibt‹«. Es werde viel geschoben, man könne, »für entsprechende Preise, alles kaufen«. (18.1.1941, BB: 45) »Was es in den letzten Monaten wirklich im Überfluß gab waren: Sekt, Hummern und Orchideen. Sekt gibt es zur Zeit so wenig wie nie früher. Orchideen gibt es aber noch.« (13.5.1941, BB: 89)
Die seltsam perspektiv- und meinungslosen Notate erinnern unwillkürlich an einen Jakob Fabian im ›Dritten Reich‹, der sieht, notiert, notiert und sieht — und sonst nichts. Er lernte einen Leutnant der Panzerjäger kennen, der bei der Gestapo war, ließ sich in dessen Wohnung einladen und die gehäuften Vorräte vorführen, trank mit ihm Cognac und ließ sich ein zweideutiges Etablissement zeigen. Er verteidigte den deutschen Film gegenüber Kurt von Molo, der im Ausland amerikanische und französische Filme gesehen hatte und zu behaupten wagte, der deutsche Film sei »seit Jahren international in keiner Weise mehr konkurrenzfähig«. (19.1.1941, BB: 47) Immer wieder referierte Kästner Gerüchte, die teilweise, so oder ähnlich, stimmten — wie schlimm die deutschen Emigranten im unbesetzten Teil Frankreichs behandelt würden (»Eine interessante Tatsache«, 19.1.1941, BB: 48) oder dass sich Walter Benjamin umgebracht habe. Dabei war dem Diaristen klar, dass er weder der Regierung noch der ausländischen Presse glauben konnte.
Er sammelte Wanderlegenden, Flüsterwitze (»Der Krieg wird wegen seines großen Erfolges verlängert«, 26.1.1941, BB: 54), kleine Widerstandsleistungen. So habe der Wiener »Reichsstatthalter« Baldur von Schirach in einer Fabrik eine missglückte Rede gehalten. Die Arbeiter »übertrieben ihre Begeisterung ins Ironische so, daß sie 2 Stunden lang ohne Pause die Lieder der Bewegung sangen und in Siegheilrufe ausbrachen, so daß Baldur, nachdem er 2 Stunden lang auf dem Rednerpodium abgewartet hatte, endlich wieder nach Hause fuhr, ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben«. (23.1.1941, BB: 53)
Kästner notierte den schlechten Gesundheitszustand der Bevölkerung; durch die zunehmende Mangelernährung wirkten Infektionen heftiger, viele starben jung. Seine politischen Bemerkungen blieben allgemein; er bezeichnete sich als »politische[n] Idealisten«. Den größten Teil des Tagebuchs macht die laufende Kriegsberichterstattung aus. Ab und zu kommentierte der Verfasser die fortlaufenden Widersprüche, aber meistens in einer Haltung, als repräsentiere er Deutschland — auch diesmal entwickle sich der »Balkan zur Höllenmaschine Europas« (29.1.1941, BB: 55), oder: »Für meine Begriffe ist es nun eine besonders wichtige Frage, ob es Deutschland gelingt, die Landung in England erfolgreich durchzuführen, ehe die amerikanische Atlantikflotte mithelfen kann, diesen Landungsversuch (und vor allem den Nachschub) zu stören.« (9.2.1941, BB: 61) Tagelang verfolgte Kästner die Meldungen über die Flucht des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß nach Großbritannien, schließlich zitiert er einen Vierzeiler aus Volksmund: »Laut klingt es durch das ganze Land: / wir fahren gegen Engelland. / Doch wenn dann wirklich einer fährt, / so wird er für verrückt erklärt.« (22.6.1941, BB: 92) Die Kriegserklärung an Russland fand er »psychologisch sehr interessant«, Goebbels’ Ansprache sei »der melancholische Versuch einer staatsmännischen Rechtfertigung« gewesen, an die Nationalsozialisten gerichtet und nur namentlich an das Volk. (22.6.1941, BB: 91) »Es hat den Eindruck, als ob Deutschlands ›Kreuzzug gegen den Bolschewismus‹ in allen, auch den unterdrücktesten Ländern, eine geradezu erstaunliche Sympathiesteigerung für Hitler hervorgerufen habe.« (26.6.1941, BB: 92)
Sehr wach allerdings war Kästner gegenüber den laufenden Steigerungen des Antisemitismus. Im Oktober 1941 verspürte er »eine neue innenpolitische Aktivität«, die Deportationen in die Vernichtungslager begannen und wurden von Kästner nicht übersehen, er konnte sie freilich noch nicht einordnen: »Und seit Tagen werden die Juden nach dem Warthegau abtransportiert. Sie müssen in ihren Wohnungen alles stehen und liegen lassen und dürfen pro Person nur einen Koffer mitnehmen. Was sie erwartet, wissen sie nicht. Ein jüdisches Ehepaar, das in meinem Haus wohnt, hat mich gefragt, ob ich Möbel, Bilder, Bücher, Porzellan usw. kaufen will. Sie hätten sehr schöne ausgesuchte Dinge. Aber das Geld werden sie ja wohl auch nicht mitnehmen dürfen.« (BB: 97) Kästners Nachbarn waren die Witwe Pauline Schlesinger und ihr Sohn Günther Schlesinger, kein Ehepaar; sie wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und starb dort kurze Zeit später, ihr Sohn wurde 1943 in Auschwitz ermordet. (BB: 320)
Karl Schönböck wusste über eine Art »inoffiziellen Bühnenclub« zu berichten: »Johnnys Kleines Künstlerrestaurant«. Dort trafen sich Schauspieler, Regisseure und Journalisten, die sich der offiziellen Kulturszene des ›Dritten Reichs‹ nicht zugehörig fühlten. Zu einem festen Stammtisch dort gehörten die Journalisten Walther Kiaulehn und Felix von Eckardt, der spätere Bundespressechef in Bonn; die Schauspieler Hans Albers, Hans Söhnker und eben Schönböck und seine Frau. Mit allen diesen Gästen blieb Kästner auch nach dem Krieg in mehr oder weniger enger Verbindung; der Wirt, Johnny Rappeport, hatte wie Schwanneke eine Vergangenheit als Schauspieler hinter sich. Er dürfte einer der wenigen engen Duzfreunde Kästners in den vierziger Jahren gewesen sein, bei den ersten Berlin-Reisen nach dem Krieg wohnte Kästner bei ihm, verwechselte auch mal dessen Smokinghose mit der eigenen.18 Karl Schönböck, der in seinen Rollen wie auch als Privatmann stets wie ein kühl-britischer dandy wirkte, hatte einen Blick für das Auftreten seiner Freunde: Er lernte dort Kästner kennen »als einen sehr zurückhaltenden, nicht sehr viel redenden Mann, immer sehr korrekt angezogen, nur komischerweise, er trug zum zweireihigen Anzug keine Krawatte. Das war eine persönliche Note von ihm, in dieser Zeit, er trug nie eine Krawatte. Sonst kam er immer in einem eleganten Mantel, schwarzem Homburg-Hut, saß meistens ruhig am Tisch, beteiligte sich nicht sehr viel am Gespräch, aber man wußte, er war immer präsent.«19
Wie präsent er war, hat Oda Schaefer in einer Anekdote überliefert, die ebenfalls in Rappeports Lokalität handelt. Ihr Mann Horst Lange soll »nach einem schlimmen Luftangriff« einige »äußerst leichtsinnige wie auch bösartige Bemerkungen« in Gegenwart eines Unbekannten an der Bar gemacht haben. Der entpuppte sich als Kriegsgerichtsrat, wollte Lange verhaften lassen und schritt zum Telefon. Kästner schraubte geistesgegenwärtig »die Sicherungen heraus, im ganzen Lokal war es plötzlich stockdunkel, er zerrte Horst am Koppel zur Hintertür heraus und stieß ihn auf eine gerade haltende Straßenbahn«.20 Auch der jüdische Musiker Konrad Latte konnte von Kästners selbstverständlicher Hilfe erzählen; er überlebte unter dem falschen Namen »Konrad Bauer« als Pianist und Repetitor in Berlin, vor einer drohenden Entdeckung konnte er als Kapellmeister auf Wehrmachtstournee gehen. Kästner hat ihn in seinem Stammcafé, dem Leon, getroffen, ihm einen Hundertmarkschein in einer Streichholzschachtel über den Tisch geschoben und ihn in die Roscherstraße geschickt, er möge sich dort »von der Aufwartefrau ein paar von seinen Hemden geben lassen« — bevor er ins nächste Café weiterzog.21
Die Filmindustrie lief auf höchsten Touren. Werner Buhre profitierte davon: »Buhre fährt nächste Woche auf mindestens 4 Wochen nach Norwegen. Er macht Filmaufnahmen für den Film ›Feldzug in Norwegen‹. 300 M pro Woche. Ganz tüchtig schon, was?« (21.3.1941, MB) Im Jahr darauf bekam er wieder einen Monat Arbeitsurlaub, »weil er in Böhmen zwei Kulturfilme drehen soll«. (16.5.1942, MB) Tatsächlich hat Buhre zusammen mit dem bekannten Schweizer Dokumentarfilmer Martin Rikli den Propagandafilm Kampf um Norwegen. Feldzug 1940 gedreht, beide werden im Vorspann unter der Rubrik »Gestaltung« genannt — gemeint sind damit Konzeption und Regie. Dieser Film ist bereits 1940 gedreht, aber in Deutschland nie gezeigt worden. Die wenigen Kriegsszenen waren offenbar nicht heroisch genug; ein großer Teil des Films besteht aus animierten Landkarten, zu denen ein Sprecher aus dem Off Strategien und Frontverläufe erläutert. Sollte Buhre tatsächlich 1941 nochmals für denselben Film nach Norwegen gereist sein, wird es um (vergebliche) Nachaufnahmen gegangen sein, um mit ihnen womöglich doch noch eine Aufführung zu erreichen. Kampf um Norwegen galt als verschollen; erst 2000 ist es einem norwegischen Filmhistoriker gelungen, die Filmrollen bei einem deutschen Auktionshaus für Militaria zu ersteigern, 2006 wurde er in Norwegen erstmals öffentlich gezeigt. Mittlerweile ist er im Internet frei zugänglich.22
Aber auch Kästner machte seinen Schnitt bei der UFA: Im April 1941 genehmigte Goebbels inoffiziell den Münchhausen-Film, im Sommerurlaub schrieb Kästner eine erste Fassung des Drehbuchs; nach der Erinnerung von Brigitte Horney, der Darstellerin der Zarin im Film, zum Teil in ihrer »gemütlichen Küche«.23 Die näheren Umstände der Genehmigung werden in einem eigenen kleinen Kapitel rekonstruiert. Kästner war ein gefragter Mitarbeiter bei den verbliebenen Filmproduktionsfirmen, neben der UFA vor allem bei der Terra, deren Pressechef zu dieser Zeit Erich Knauf war. Mit der UFA scheint Kästner sogar zeitweise einen festen Jahresvertrag gehabt zu haben, im Nachlass gibt es eine Abrechnung über die »Februar-Rate« für 1943, die sich auf 4166,66 RM belief, abzüglich einiger zu viel gezahlter Spesen. Kästner hätte demnach für ein Jahr dramaturgischer Arbeit ein Gehalt von 50.000 RM bezogen.24 Allerdings dürfte das die letzte Überweisung der UFA gewesen sein, eine Nachzahlung, nachdem Kästner ja im Januar 1943 definitiv aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen worden war und obendrein auch nicht mehr im Ausland publizieren durfte. In einem Briefentwurf an das Finanzamt Charlottenburg-Ost erklärte Kästner, er rechne nach den hohen Einnahmen durch Münchhausen 1942 — 117.171 RM — für das kommende Jahr höchstens noch mit 15.000 RM und bat um die Herabsetzung seiner Vorsteuer.25
Im April 1942 erschien in einer schweizerischen Tageszeitung ein ausführlicher Nachruf auf Kästner. Er sei dort gestorben, wo er »geboren wurde: in Berlin«. Er habe mit Mehring, Tucholsky und Becher »zu den linksgerichteten Lyrikern« gehört, die »den witzigen Schlagerstil geschaffen haben, der unangenehme Wahrheiten in leichter, humoriger und oft ungemein treffsicherer Form zu sagen wußte«. Der Laudator wusste von Kästners pseudonymer Mitverfasserschaft des Lebenslänglichen Kindes und von einer Verfilmung der Drei Männer im Schnee, die er allerdings für ein Jugendbuch hielt.26 Totgesagte leben länger, heißt es; nach dem Münchhausen-Drehbuch war Kästner beim Film so rege wie nie zuvor.
Die UFA schickte ihn 1942 zusammen mit Jenny Jugo und dem Kameramann Eugen Klagemann nach Zürich, zur »Besichtigung eines Garbo-Films«.27 Er sollte ein ähnliches Drehbuch wie Die Frau mit den zwei Gesichtern (1941) schreiben und bestand darauf, den Film zu sehen, weil er dessen Klischees vermeiden wollte — er fand ihn »spottschlecht« und hatte »keine Lust, mich eines Tages als Plagiator anpöbeln zu lassen«. (VI: 441) Wider Erwarten organisierte ihm die UFA die Reise, das Drehbuch musste er dann doch nicht schreiben, weil er, sozusagen ›rechtzeitig‹, wieder verboten wurde.
Für Emil Jannings sollte Kästner ein Drehbuch überarbeiten, wahrscheinlich Altes Herz wird wieder jung (1943), Jannings’ letzten Film. Kästner sträubte sich wieder, besuchte Jannings aber auf seinem Anwesen am Wolfgangsee und war beeindruckt: »Mit zwei Häusern. Zwei Schweinen, vielen Hunden, Ziegen, Enten, Hühnern, Gemüsegärten, ein Gerstenfeld usw. […] Es gab gut zu essen. Vor allem: hausschlachtene Wurst, wenn auch nicht viel, und echte Butter. Oje! man weiß wirklich nicht mehr, wie sie schmeckt.« (16.6.1942, MB) Dass Kästner das Drehbuch nicht überarbeiten mochte, nahm Jannings nicht übel, bat sich sogar ein eigenes für das kommende Jahr aus. Obendrein wollte er ihn dem »Regierungspräsidenten vom Gau Salzburg und dessen Frau« vorstellen (16.6.1942, MB) und ihn nochmals einladen, mit einer Übernachtung. »Tu ich ja nicht gerne«, schrieb Kästner seiner Mutter (19.6.1942, MB), und auch den Regierungspräsidenten wollte er nicht kennenlernen. Er wollte so wenig Kontakt wie möglich zu Offizialen des ›Dritten Reichs‹ halten, ohne sie zu verstimmen — deswegen reagierte er privatim so missmutig auf die Arbeit für den NS-»Staatsschauspieler« Rühmann und auf das Angebot des »Staatsschauspielers«, »Kultursenators« und Tobis-Aufsichtsratsvorsitzenden Jannings. Er hielt ihn obendrein für einen »dieser kaltschnäuzige[n] Geldmacher«, der sich mit Ohm Krüger (1941) in den »Dienst der Verhetzungspropaganda« gestellt hatte. Während der Dreharbeiten zu diesem Film »wurden, durch Landminen, vier als Komparsen mitspielende Soldaten getötet und andere verletzt. Der Kommandeur erklärte dazu: Auch diese vier Soldaten seien auf dem Felde der Ehre gefallen.« (6.4.1941, BB: 82f.)
Für Heinz Rühmann überarbeitete Kästner das Drehbuch zu Ich vertraue dir meine Frau an (1942). Rühmann spielte in dieser Komödie einen eisernen Junggesellen, dem am Bahnhof sein ehemals bester Jugendfreund die Ehefrau anvertraut, um sie in Ruhe mit seiner Sekretärin zu betrügen. In turbulenten Episoden lernen sich Freund und Ehefrau kennen und lieben. Im Vorfeld des Films gab es einige Querelen, Kästner erledigte die Arbeit lustlos, aber doch, weil er im Geschäft bleiben wollte. Rühmann hat ihn in seiner Autobiographie nicht erwähnt.
Jenny Jugo sollte die weibliche Hauptrolle spielen, lehnte aber ab, »und nun ist Rühmann ganz nervös«. (11.4.1942, MB) Das Drehbuch war »noch nicht richtig gut«, wusste Kästner. (13.4.1942, MB) Einen Abend lang besuchte er den »Regisseur vom Rühmannfilm« und beklagte sich: »Macht mir gar keinen Spaß, diese Arbeit. Ich fürchte aber, daß ich nicht drum herumkomme.« (19.4.1942, MB) Dieser Regisseur war Kurt Hoffmann; die Zusammenarbeit war der Auftakt für eine jahrzehntelange Kooperation. »Das Rühmann-Drehbuch ist vervielfältigt worden, und auf dem Titel steht: von Lüthge und Bürger. Obwohl ich den Brüdern ausdrücklich gesagt habe, ich wolle hierbei nicht genannt werden. Es hat doch keinen Zweck, daß dauernd der Name Bürger auftaucht! Es gibt schon Neider genug!« (14.5.1942, MB) Der Fehler konnte korrigiert werden, Kästner musste das vervielfältigte Drehbuch ohnehin nochmals »auf Fehler durchkrempeln«. (14.5.1942, MB) Im endgültigen Vorspann steht nur Bobby E. Lüthge als Drehbuchautor. Es handelt sich um die Verfilmung eines Theaterstücks von Johann von Vaszary, besonders gegen Ende an den Mechanismen zahlreicher klappender Türen im Hintergrund, Auftritten und Abgängen zu spüren. Der Film hat ein flottes Tempo und ist ausnahmslos hervorragend besetzt; die weibliche Hauptrolle neben Rühmann spielte Lil Adina. Paul Dahlke als Boxer Emil Sanfthuber und Wilhelm Bendow als Kellner im »Astoria« haben effektvolle Nebenrollen. Ein besonderer Beitrag Kästners ist dem Film kaum anzumerken. Die schlanken Dialoge könnten auf seine Rechnung gehen; inhaltlich höchstens, dass eine Episode in Kästners Tennisclub »Blau-Weiß« spielt, und dass Rühmann in seiner Rolle als Direktor der Firma »Junggesellen-Trost« seine skurrilen Haushaltsgeräte für Junggesellen ursprünglich erfunden hat, um seiner Mutter Arbeit abzunehmen.
Kästners letzte vollendete Arbeit für die UFA war das Drehbuch zu seinem Salzburg-Roman. Die Filmgesellschaft legte im Ministerium ein Exposé zur Genehmigung vor. Vor deren Erteilung wollte Kästner nicht mit dem Drehbuch anfangen, um nicht umsonst zu arbeiten. (14.5.1942, MB) Die Zeit wurde knapp: »Im Juli wollen sie in Salzburg mit den Aufnahmen beginnen! Wann ich das Drehbuch schreiben soll, danach fragt kein Aas. Es sind jetzt schon nur 6 Wochen bis dahin!« (14.5.1942, MB) Der Produktionsleiter sollte wie bei Münchhausen Eberhard Schmidt werden, der versuchte, für Kästner die Verhandlungen zu beschleunigen. (20.5.1942, MB)28
Während in Berlin Ich vertraue dir meine Frau an abgedreht wurde, fuhr Kästner wieder einmal nach Salzburg, um vor Ort noch Erkundigungen zu machen und drehbuchgeeignete Schauplätze — etwa einen Familiensitz für Konstanzes Familie — zu finden. »Das In-der-Gegend-Herumrennen und -fahren kostet viel Zeit u. macht müde. Na, verrückt mach ich mich nicht. Da wird er eben später fertig.« (12.6.1942, MB) Anfang Juli 1942 war das Salzburg-Drehbuch fertiggeschrieben, Kästner machte Ende August/Anfang September Urlaub im Oberbayerischen bei der Frau Johnny Rappeports, die in der Nähe von Garmisch lebte. »Schön ruhig. Mit Blick auf die Berge. In die Oberstübchen mit Balkon.« (24.8.1942, MB)
Für Besetzungs-Debatten war Kästner diesmal nicht empfänglich. Ursprünglich waren Axel von Ambesser und Luise Ullrich in den Hauptrollen vorgesehen, es spielten dann Willy Fritsch und Hertha Feiler, die zweite Ehefrau Heinz Rühmanns. »Mir ist schon alles ganz wurscht. Diese ewige Änderei!« (8.9.1942, MB) Luise Ullrich hielt er zwar für die bessere Schauspielerin, obwohl sie zu alt für die Rolle war (12.9.1942, MB); sie konnte aber nicht spielen, weil sie im vierten Monat schwanger war. Kästner entschied sich, nicht nach Salzburg zu den Dreharbeiten mitzufahren: »Wer den Franzl und den Karl spielt, wissen die Schafszipfel immer noch nicht! […] Unglaubliche Leute. Ich glaube, ich werde gar nicht mit hinunterfahren. Es frißt nur Arbeitszeit!« (14.9.1942, MB)
Wie bei Münchhausen wurde der pseudonyme Drehbuchautor Berthold Bürger im Vorspann des Films von 1943 nicht genannt. Der Regisseur Hans Deppe hatte das Ekel-Remake mit Hans Moser, Verwandte sind auch Menschen und Unmengen von Heimatfilmen gedreht; daran änderte sich auch in den fünfziger Jahren nichts — seine bekanntesten Filme waren Schwarzwaldmädel (1950), Grün ist die Heide (1951) und Ferien vom Ich (1953). Der kleine Grenzverkehr dürfte eine der besten Regiearbeiten Deppes sein. Der Film enthält sich fast vollständig deutlicher Zeitanspielungen. Nur in der Exposition musste der Vorgang des ›kleinen Grenzverkehrs‹ erklärt werden, fünf Jahre nach dem ›Anschluss‹ Österreichs. Die Schrift-Einblendungen rücken die Handlung ins Märchenhafte und kommentieren den ›Anschluss‹ im Sinne der Erfinder:
»Es war einmal …
So beginnen nicht nur die Märchen!
Es war einmal eine Zeit …
die noch garnicht lange vergangen ist!
Es waren einmal zwei Länder …
die eigentlich zusammengehörten!
Aber vorwitzige Leute, die aus dem einen in das andere Land reisen wollten, mussten erst einen mächtigen Zauberer befragen. An der Tür des Büros, in dem der Zauberer wohnte, stand das unheimliche Wort: Devisenstelle.« Dass da etwas zusammenwachsen sollte, was nicht unbedingt zusammengehörte, erwies sich auch am österreichischen Akzent der Schauspieler; besonders Hertha Feiler tat sich hörbar schwer damit. Das ›Österreichische‹ sollte sich auch an der Titelhäufung zeigen — es wimmelt von »Herr Geheimrat«, »Herr Doktor«, »Herr von Kesselhuth« und »meine Gnädigste«; Rentmeister ist »Dr. Dr. Dr.«. Es gibt einige kleine Kästner-Details. So hat der Lachforscher Georg Rentmeister eine Stenographie entwickelt, die schneller ist, als ein Mensch sprechen kann (im Buch nur als Projekt existent); Graf Leopold will für sein Stück bei »Kollege Lessing« in der Hamburgischen Dramaturgie nachschlagen; und mit dem Medium wird gespielt, indem der Graf am Schluß seine Aufzeichnungen dem neuen Schwiegersohn Rentmeister schenkt und ihn verpflichtet, das Lustspiel zu schreiben: »Also gut, ich schreibe das Stück«, sagt Rentmeister am Schluss; und man könnte sich nun vorstellen, dass Rentmeister das Drehbuch des gerade gesehenen Films geschrieben hat.
Die Verfilmung des Kleinen Grenzverkehrs hat größtenteils durch die Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Frische bewahrt; vor allem die Liebesgeschichte ist einiges von der zeitüblichen Betulichkeit entfernt: Das Paar liegt bedenklich unangezogen am See, und Konstanze lotst ihren Georg im Dunkeln nicht auf das versprochene Sofa, sondern durchaus in ihr Bett, wie man das auch heute erwarten würde, nicht aber 1943. Oder 1953.
Sein letztes UFA-Projekt konnte Kästner nicht mehr beenden. Noch während der Dreharbeiten zum Kleinen Grenzverkehr schrieb er das Exposé für ein neues Drehbuch: Das doppelte Lottchen. Durch das Totalverbot musste ihm die UFA bedauernd die Rechte am fertigen Exposé zurückgeben.29 Kästners Arbeitseifer konnte das nicht bremsen. Nach dem fertigen Lottchen-Treatment war er dabei, sich »ein Theaterstück zu überlegen« (12.9.1942, MB) — Zu treuen Händen. Ein Lustspiel in drei Akten. Es steht in der Tradition der Foerster-Stücke, ist aber um einiges persönlicher; wie beim Kleinen Grenzverkehr haderte Kästner mit seinen Einfällen. Er müsse sich erst überlegen, »was für ’ne Art Stück ich schreiben will« (14.9.1942, MB); »[e]in Theaterstück ist mir leider noch nicht eingefallen. Das wird aber auch noch.« (16.9.1942, MB) Das »Konversationsstück« (V: 812) handelt von einem Schriftsteller, Dr. Thomas Kaltenecker, der »Anfang Vierzig« ist. (V: 327) Seine Schwester vertraut ihm ihren Sohn Hannsgeorg an. Der Patenonkel soll dem Medizinstudenten ein bisschen den Vater ersetzen und ihn vor erotischen und emotionalen Dummheiten bewahren. Er sträubt sich ein wenig, weil er sich selbst noch so unreif fühlt, und akzeptiert dann. Das Stück führt überzeugend die Entscheidungsnöte des Schriftstellers zwischen zwei Frauen vor; sein Neffe entpuppt sich am Schluss als der Erwachsene: Er ist seit zwei Jahren mit einer etwas älteren berufstätigen Frau verlobt, mit der er ein ebenfalls zwei Jahre altes Kind hat; am zweiten Geburtstag des Sohnes werden die beiden heiraten. Fazit des Schriftstellers: »Früher die Alten altmodisch und die Jungen modern. Heute die Alten modern und die Jungen altmodisch. Verzwickte Romantiker.« (V: 393)
Das Stück ist effektvoll und hat nicht, wie die vergleichbaren Foerster-Stücke, Patina angesetzt. Dennoch vertraute Kästner seiner Arbeit nicht. Er schrieb, er habe »den eigenen Namen für sein eigentliches Theaterdebüt« aufsparen wollen, die Schule der Diktatoren (V: 812) — eine unglaubwürdige Bemerkung nach drei Kinderstücken, sechs unterhaltenden Komödien und einer unüberschaubaren Anzahl von Drehbüchern, die zeigt, mit welchen Ambitionen Kästner die Schule befrachtete. Er ließ Zu treuen Händen 1949 unter dem — allerdings nachlässig gehüteten — Pseudonym »Melchior Kurtz« uraufführen. Gustaf Gründgens nahm das Stück als Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses an, Günther Lüders inszenierte die Uraufführung; viele Tageszeitungen vermuteten hinter dem Pseudonym Erich Kästner.30
Zu treuen Händen hat nicht nur in der Schriftsteller-Figur autobiographisches Unterfutter. Franz Naacke, der Sohn von Kästners Kusine Dora, wuchs bei Lina Augustin auf; und er besuchte seinen ›Onkel‹ 1935 länger. Kästner ließ ihm von seiner Mutter ausrichten: »Grüß ihn schön, und ich freue mich sehr, wenn er ein paar Tage bei mir wohnt. Tenniszeug kann er, wenn er Lust hat, auch mitbringen. Denn ich spiele jeden Tag.« (27.3.1935, MB) Einige Jahre später gab es Krach zwischen der Groß- und Pflegemutter Lina und ihrem Ziehsohn: »Also, ich finde die Sache mit Franz wirklich nur halb so schlimm. Und sie werden sich schon wieder vertragen. Freilich ist er ein Dickkopf. Und die Tante ist mit dran schuld, weil sie ihn immer, gerade in Mädchengeschichten, zu streng behandelt hat. Daß sein Studium drunter leidet, glaube ich ganz und gar nicht! Im Gegenteil.« (13.4.1942, MB) Aus einem anderen Brief geht hervor, dass Franz ein ähnlich junger Vater war wie der Hannsgeorg im Stück; Kästner verteidigte ihn gegenüber Ida Kästner: »Na, ein bißchen altklug ist er schon noch. Man soll selber die Schuld nicht immer nur bei den anderen suchen. Aber er ist völlig ohne Eltern aufgewachsen; das erklärt freilich vieles. Wie fühlt sich Tante Lina als junge Urgroßmutter?« (19.4.1942, MB)
Kästner hat das fröhliche, unterhaltsame Stück 1942 geschrieben; eine bittere Pointe kam hinterdrein: Naacke fiel Ende 1944, anscheinend wurde er Opfer eines irrtümlichen Bombardements der eigenen Luftwaffe. »An Tante Lina hab ich noch immer nicht geschrieben. Es läßt sich so gar nichts Tröstliches sagen.« (23.11., 2.12.1944, MB)
Über den Tod seiner Freunde Erich Ohser und Erich Knauf musste er sich selbst trösten. Ohser war es im ›Dritten Reich‹ materiell zum ersten Mal in seinem Leben gut gegangen, durch die in der Berliner Illustrirten erschienenen Vater-und-Sohn-Geschichten. Die nachfolgende Buchausgabe hatte einen Erfolg, den Kästner dem Freund ohne Neid gönnte: »Von Ohsers Buch sind 40.000 verkauft. Schön, was?« (4.1.1936, MB) Es gab Keksdosen, Sandspielformen, Marzipan- und Porzellanfiguren von Vater und Sohn; das Kreismuseum in Plauen wolle sogar ein Ohser-Zimmer einrichten, schrieb Kästner an seine Mutter. »Wenn man das gedacht hätte, was?« (15.1.1936, MB)
Erich Knauf hatte weniger Glück. Von 1928 bis 1933 hatte er als Schriftleiter der Büchergilde Gutenberg in Berlin gearbeitet, danach als freier Schriftsteller, Feuilletonredakteur und Nachfolger des emigrierten Walther Victor am 8-Uhr-Abendblatt. Weil er eine Lieblingssängerin Görings verrissen hatte, wurde er aus dem »Reichsverband der Deutschen Presse« ausgeschlossen und kam bereits 1934 für einige Wochen in die Konzentrationslager Oranienburg und Lichtenburg. Bis zu seiner Anstellung bei der Terra 1936 lebte er als freiberuflicher Werbemann, hin und wieder veröffentlichte er Gedichte unter Pseudonymen in der Presse. Das Gedicht Schwarzes Schicksal, unter dem Pseudonym »Thyl« veröffentlicht, erregte den Unmut des Angriffs. Knauf besang dort den afrikanischen Stammeshäuptling Hullebulle. Das NS-Kampfblatt regte sich über die Anzüglichkeit der folgenden Zeilen auf:
»Hullebulle war ein guter Gatte.
Seine Frau trug oft, was Frauen schmückt.
Doch auch sonst erhob sich von der Matte
Manche, die er nebenbei beglückt.
Seinem Schweiße fehlte nicht die Würze,
Was er gab, das gab er ohne Rest,
Und selbst unter seiner Lendenschürze
War das Schwarze kuß- und wetterfest.«
Der anonyme Pamphletist fragte, »warum wir eigentlich Herrn Erich Kästner, George Grosz und Magnus Hirschfeld das Leben versauert haben«. Der Angriff richtete sich gegen »Pornographie« und »Dekadenz«, für die den Nazis auch der Fabian stand, wohl auch gegen die »jüdisch-bolschewistische Liquidation der lyrischen Dichtung«31, nicht gegen verschlüsselte Anspielungen. Die Polemik schloss mit einer Drohung: »Thyl, das Ferkel, ist mit seiner erotischen Phantasie nach Afrika gewandert. Vermutlich wird man ihn dorthin demnächst als Emigranten abschieben sehen, denn es könnte wohl sein, daß er dem schwarzen Schicksal in der Gestalt einiger baumlanger S.S.-Männer begegnet, die mit ›Hullebulle‹ seine bullenmäßige Phantasie eine Zeitlang einpacken.«32
Von 1936 bis 1944 war Knauf bei der Terra Filmkunst angestellt, erst als zweiter Pressesprecher, dann als Pressechef. Dort schrieb er Schlagertexte für den Komponisten Werner Bochmann, darunter echte »Front-Hits« wie Heimat, deine Sterne für die Rühmann-Komödie Quax, der Bruchpilot (1941). Dem Teamwork entsprang außerdem die Musik für Glocken der Heimat (1942), Sophienlund (1943) und die Feuerzangenbowle (1944). Mindestens einen Schlager aus Sophienlund kennt man heute noch, Mit Musik geht alles besser. Auch Kästner hatte wenigstens mittelbar immer wieder mit der Terra zu tun: Der Katakomben-Schauspieler Robert A. Stemmle schrieb das Drehbuch zu Quax, Regie führte Kurt Hoffmann; und die Terra produzierte die Verfilmungen der Eberhard-Foerster-Stücke Frau nach Maß (1940) und Der Seniorchef (1942).
Ohser war ausgebombt worden, Knauf ebenfalls, am 22. November 1943. Er brachte seine Frau Erna bei Verwandten in Thüringen unter und schlief im Büro, bis Ohser ihm ein Nachbarzimmerchen in Kaulsdorf anbot. In Kästners Nachlass findet sich ein sechsseitiges Typoskript Erna Knaufs über die »Vorgänge, die zum Tode meines Mannes, Erich Knauf, und seines Freundes, Erich Ohser, führten«; sie hat ihre Erinnerungen im Januar 1946 aufgezeichnet. Dort erzählt sie von Bruno Schultz und seiner Frau, die ebenfalls in das Haus zogen. Er war Hauptmann beim Berliner Wehrmachtsführungsstab, SS-Mann, Herausgeber der Zeitschrift Das Neue Deutsche Lichtbild und eines Bandes »mit Aktfotos über die deutsche Frau«.33 Schultz nahm an den offenen Gesprächen Knaufs und Ohsers teil, machte sich anschließend Notizen und denunzierte sie bei der Gestapo, weil er ihre Zimmer wollte. Beide wurden am Morgen des 28. März 1944 abgeholt, fünf Wochen später lebten sie nicht mehr. Kästner wurde das — falsche — Gerücht zugetragen, auch Werner Finck »sei dasselbe zugestoßen wie Ohser u Knauf. Ob es stimmt, läßt sich schwer überprüfen.«34 Erich Ohser brachte sich in seiner Zelle um; den von Freisler geführten Schauprozeß gegen Knauf und die einschlägigen Dokumente hat Wolfgang Eckert in seiner Knauf-Biographie ausführlich zitiert. Knauf wurde am 2. Mai 1944 geköpft, seine Witwe erfuhr eher zufällig davon. Sie schrieb: »Ich ging sofort zum Volksgerichtshof. Dort bestätigte man mir die Vollstreckung des Urteils. […] Aber man verweigerte mir seine Leiche oder Urne, obwohl ich […], noch zu Lebzeiten meines Mannes, das bereits schriftlich beantragen mußte. Als letzte Grausamkeit kam dann die Kostenrechnung, mit der man mich zwang, das Verbrechen an meinem Mann selber zu bezahlen.«35 Sie musste zwei Rechnungen bezahlen, insgesamt über 740 RM; die aufgeführten Posten gingen bis in Pfennigbeträge für das »Porto für Übersendung der Kostenrechnung«. Erich Kästner schrieb nach dem Krieg in der Neuen Zeitung den Artikel Eine unbezahlte Rechnung (II: 26f.) und fragte nach dem Verbleib des Denunzianten, der nach dem Prozess an die Hausbesitzerin schrieb: »[…] alle sind der Ansicht, daß diese beiden Verbrecher […] nicht wert sind, zu leben. Beider Tod sind wir der schaffenden Heimat und den kämpfenden Soldaten schuldig.«36 Schultz wurde von den russischen Behörden 1945 verhaftet und soll in einem Kriegsgefangenenlager an Typhus gestorben sein; seine Frau wurde nie gefasst.37
Nach der UFA-Entlassung und dem Totalverbot lebte Kästner in knappen Verhältnissen; mitten im Krieg war auch die Transferierung ausländischer Guthaben nicht mehr ohne weiteres möglich. Kästner schrieb für die Schublade, und er beschäftigte sich mit kleineren Projekten, die nicht viel Geld gebracht haben können: Mit John Jahr arbeitete er an einer Edition, wohl von »Romanen der Weltliteratur«38; und Jahr zahlte ihm 12.000 RM als ›inoffiziellen‹ Vorschuss für das Nachkriegsprojekt eines Münchhausen-Romans.39 Der Niederländer J. H. Schouten bot ihm an, doch zusammen mit ihm für die holländischen Gymnasien und Oberrealschulen eine deutsche Literaturgeschichte samt Lesebuch zu schreiben bzw. herauszugeben, und zwar ohne »die von Joseph Nadler betonten Werte«.40
Die Knappheit nahm gegen Ende des Krieges zu. Schon 1941 jammerte Kästner über die Rationierung der Zigaretten, es gab nur noch sechs Stück pro Tag. 1942 wurden ihm Taschenlampe und Handschuhe aus dem Mantel geklaut: »So wie jetzt ist noch nie gestohlen worden! Beim Friseur Kämme, Zahnpasta, Parfüm. In den feinsten Lokalen Gläser, Salzstreuer, alles, was nicht niet- und nagelfest ist!« (15.4.1942, MB)
Einen kleinen Alltagseindruck geben drei längere Briefe im Nachlass, die Kästner 1944 an einen lieben »MVOR« schrieb, eine andere Anrede lautet »Teurer Veroneser«. Dabei handelt es sich um den Juristen Dr. Gustav Gerbaulet, der von 1943 bis zum Ende des Krieges in Bergamo, nicht in Verona, Leiter der Außenhandels- und Devisenabteilung des Ministeriums für Rüstungs- und Kriegsproduktion war, einer der nicht wenigen NS-Beamten, die auch in der Bundesrepublik wieder als Ministeriale ein Unterkommen fanden. Gerbaulet arbeitete erst im Ministerium für den Marshall-Plan, dann bis zu seiner Pensionierung im Wirtschaftsministerium. Nach einem Brief von Gerbaulets Witwe im Kästner-Nachlass hatten sich Kästner und ihr Mann etwa in den frühen dreißiger Jahren kennengelernt, als Gerbaulet noch Amtsgerichtsrat in Berlin-Moabit war.
Kästner scheint eine Art Versorgungsbeziehung zu Gerbaulet unterhalten zu haben, er erwähnt die »Schlüpse«, die er trage — Schönböck hat da etwas anderes erzählt —, und »Ihre Bücher«, die er lese; er gleiche dem »parasitären Teil einer Symbiose«, aber es bedrücke ihn »keineswex«.41 Drei Kisten im Keller eingelagerter Bücher waren durch einen Kellerdurchbruch in der Roscherstraße gerettet worden42 und sollten im Havelland sicher untergebracht werden, bisher hatte Kästner keine Transportmöglichkeit gefunden. »Sollten diese Verschleppungsmanöver weitergehen, werde ich Sie doch noch um Hilfe anrufen müssen.«43 Er bedankte sich für Tabak- und weitere Schlipssendungen; er sitze, während »Lottchen am Turmbau zu Babelsberg mitwirkt«, in ihrem »noch bewohnbaren ›halben‹ Zimmer, lese, lege Epigramm zu Epigramm (bis das Kilogramm voll ist), überdenke gelegentlich den Einfluß Nietzsches auf das 20. Jahrhundert […], pinsele an Theaterstücken, hole Spinat ein oder arbeite an meinem Marschlied für die deutsche Infanterie, das sich mit den Schwierigkeiten der Bevölkerungspolitik nach dem Kriege beschäftigt«44: eine Karikatur des beschaulichen Dichterlebens, das Kästner notgedrungen führte. Im Tagebuch notierte er, seit Enderles Arbeit als Dramaturgin in Babelsberg sei er »konzessionierter Essenholer« geworden — er fahre »täglich in die Stadt und kaufe ein. Ich tu es noch genauso ungern wie als kleiner Junge.« (31.8.1943, BB: 134) In dieser Zeit ist das einzige Farbfoto Kästners aus den Jahren der Diktatur entstanden, das sich im Nachlass Werner Buhres erhalten hat. Es zeigt den Autor bei Babelsberger Freunden auf der Terrasse, mit bloßem Oberkörper in der Sonne sitzend und sichtlich schlecht gelaunt bei der Lektüre des Völkischen Beobachters (BB: Vorsatz) — das Blaue Buch war immer wieder der (manchmal vergebliche) Versuch, die wirklichen Nachrichten hinter der Propaganda zu erkennen.
Seine Epigramme erschienen nach dem Krieg gesammelt als Kurz und bündig (1948). Kasimir Edschmid bedankte sich für das »reizende Buch« und bewunderte, »wie man so wenig Zeilen zu schreiben braucht, um doch ein ganzes Buch daraus machen zu können«.45 Kästners Interesse an dieser knappsten Gedichtform entsprach seiner Neigung zur Pointe, zur Lakonie; und Epigramme entsprachen den Zeitumständen, sie waren ein Glasperlenspiel, zu dem man viel Zeit, wenig Platz, wenig Material und Präzision brauchte:
»Wer was zu sagen hat,
hat keine Eile.
Er läßt sich Zeit und sagt’s
in einer Zeile.« (I: 271)
Dem gedruckten Band ging 1943 ein Manuskript voraus, das Sprüche und Widersprüche hieß und sich aus den Listen im Nachlass rekonstruieren lässt; für die Publikation hat Kästner stark ausgewählt und umsortiert. Heinrich Detering hat darauf hingewiesen, dass es sich um die »wagemutigste Veröffentlichung der NS-Zeit«46 gehandelt hätte, an der Kästner arbeitete, offenbar beschwingt durch die unverhoffte Möglichkeit, das Münchhausen-Drehbuch zu schreiben; die »Folgen, die eine tatsächliche Publikation gehabt hätte, sind nicht auszudenken«.47 So kehrt das Epigramm Abendgebet 1943 die Bedrohung der Bombennächte gegen das NS-Regime selbst —
»Wir hocken in modernen Katakomben.
(Schon wieder Krieg, und noch nicht mein Geschmack!)
Behüt uns, Herr, vor allen fremden Bomben
und, wenn du kannst, auch vor der eignen Flak.« (I: 281)
Viele der allgemein klingenden Epigramme lassen sich dann schon auf die konkrete Lebenssituation des gerade vollständig Verbotenen beziehen, einige der später gedruckten (»Seien wir ehrlich: / Leben ist immer / lebensgefährlich«, I: 271) ebenso wie die aus dem Nachlass erschienenen (»Frühling, frömmstes Vierteljahr der Erde: / Ob ich dich noch oft erleben werde?«, I: 361). Dass er ›durchhalten‹ wollte, gegen alle Widerstände — alle Untergrundtechniken, die er sich in den Jahren zuvor aufgebaut hatte, sind ihm ja zusammengebrochen —, wird ebenso deutlich; solange »auch nur noch Einer an Dich glaubt«, heißt es in einem Nachlass-Epigramm des Typoskripts, »hast Du kein Recht, persönlich zu verzweifeln«. (I: 361) In einem bekannten Text, der die Frage nach der unterlassenen Emigration beantwortet, lässt sich im Entstehungsjahr 1943 eher der Fatalismus herauslesen, mit dem das frisch angeordnete Verdorren in Kauf genommen wird48, als trotzige Rechtfertigung hört sich dieses Epigramm vor dem historischen Kontext nicht an:
»Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen.
Mich läßt die Heimat nicht fort.
Ich bin wie ein Baum, der — in Deutschland gewachsen —
wenn’s sein muß, in Deutschland verdorrt.« (I: 281)
Unter den Theaterstücken, an denen Kästner in dieser Situation ›pinselte‹, kann schon Die Schule der Diktatoren gewesen sein, deren Konzept er ja angeblich schon im ›Dritten Reich‹ entwickelt hatte; außerdem schrieb er an dem Historienstück Chauvelin oder Lang lebe der König!49 Den ersten und einzig vollendeten Akt veröffentlichte Kästner 1950, und er fragte seine Lebensgefährtin, ob er die Komödie zu Ende schreiben sollte: »Es ist kein großer Stoff, leider. Eher eine Patisserie, ein Mohrenkopf. Kein Kotelett.«50 König Ludwig XV. wird prophezeit, er werde zwei Tage nach seinem Freund Chauvelin sterben; Ludwig lässt ihn daraufhin mit gesunder Diät und allem Komfort einsperren und bewachen. Das Fragment zeigt ähnlich dem Münchhausen Kästners Adaptionsfähigkeit historischer Stoffe, seine Leichtigkeit, Atmosphäre zu schaffen; leider hat er das Stück nicht beendet. Einer Lehrerin, die das Fragment aufführen wollte, hat er immerhin den weiteren Gang der Handlung skizziert: Eine Hofdame und der Leibarzt des Königs verschwören sich mit Chauvelin gegen den Monarchen, spielen ihm dessen Tod vor und weiden sich an seinen skurrilen Todesängsten. Auch nach der Enthüllung des Komplotts kann der König seinen Höfling nicht bestrafen — er glaubt ja weiterhin an die Prophezeiung.51
Im Februar/März und im August/September 1943 führte Kästner wieder Tagebuch. Die Einträge sind nicht mehr die des abgeklärten Weltpolitik-Kommentators von 1941, er äußerte seine Distanz gegenüber dem Regime deutlicher; es ist viel geschehen seither, und die »Stimmung der Bevölkerung in Deutschland ist sehr ernst geworden«. (18.2.1943, BB: 99) Der »totale Krieg« war erklärt worden, die Nachrichten aus Stalingrad wurden immer schlechter, die Luftangriffe auch auf Berlin nahmen zu. Kästner und Enderle erlebten in einem Hausflur, »peinlich nahe, das Niedergehen einer Luftmine hinter den Kurfürstendammtheatern«. (1.3.1943, BB: 104f.) Einen der schwersten Angriffe auf Berlin sahen sie vom sicheren Kellerfenster der Babelsberger Villa aus: »Die glitzernden ›Christbäume‹, der Flakhagel, drei abstürzende Flugzeuge, die Jagdflieger, die, im Scheinwerferkreuz, rote Erkennungsraketen abwarfen, die Mondsichel, die über dem Wald hochstieg und immer wieder von den Schöneberger und Charlottenburger Brandwolken verdeckt wurde […]« (24.8.1943, BB: 131) Zu den neuen Witzen gehörte der zeitgemäße Berliner Gruß, er lautete: »Bleiben Sie übrig!« (25.8.1943, BB: 131) Ein reformiertes Tischgebet lautete: »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und iß mit uns, wenn du Marken hast.« (1.9.1943, BB: 134)
Aus München hörte Kästner »merkwürdige Dinge«, von »Studentenunruhen«, Flugblättern und der Hinrichtung von vier Studenten war die Rede — hier hat ihn ein Gerücht über die »Weiße Rose« erreicht. (1.3.1943, BB: 106) Auch über die Verbrechen in den Vernichtungslagern wurden Einzelheiten bekannt: »Von den Judenerschießungen im Osten erzählte jemand, daß vorher ein SS-Mann mit einem Pappkarton von einem zum anderen geht und ihnen die Ringe und Ohrringe abzieht.« (18.2.1943, BB: 103) In Berlin gab es nur noch »Restabholungen der Berliner Juden (darunter Lastwagen voller Kinder zwischen 3 und 6 Jahren)«. (11.3.1943, BB: 103)
Seit August 1943 wurden Kästners Notizen ironisch und immer galliger. Er kommentierte die Privilegien der NS-Bonzen und Goebbels-Aufrufe aus dem Völkischen Beobachter zur Evakuierung Berlins, zum »Heroismus in Bombennächten«: »Die Bevölkerung wird wie ein Duellant behandelt, dem die Sekundanten lächelnd eine alte Plempe in die Hand drücken und dessen Gegner sichtbar einen Revolver hat.« (7.8.1943, BB: 122)
Langsam, aber sicher ging alles zu Bruch, was nicht niet- und nagelfest war. Seit 1942 schrieb Kästner immer häufiger vom »Kellersport«, vom Abtauchen in die Keller vor den alliierten Bombergeschwadern. Berlin wurde im November 1943 in mehreren Wellen bombardiert. Vor Kästners Wohnung erwischte es die Werner Buhres, er durfte dafür aus Polen zum »Schaden-Urlaub« kommen: »Sein Haus ist von einer Luftmine dividiert worden. Aus dem teilweise eingestürzten Keller hat er ein paar Koffer angeln können. Bei Lebensgefahr. Da die Trümmer weiter zusammenzurutschen das Bestreben zeigen. — Jetzt hat er, anschließend, Ruhr mit Fieber, eine Modekrankheit, die Mörike u ich bereits hinter uns haben.«52 In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 1944 war das Gartenhaus in der Roscherstraße an der Reihe. »Ein paar Kanister ›via airmail‹ eingeführten Phosphors aufs Dach, und es ging wie das Brezelbacken. Geschwindigkeit ist keine Hexerei. Dreitausend Bücher, acht Anzüge, einige Manuskripte, sämtliche Möbel, zwei Schreibmaschinen, Erinnerungen in jeder Größe und mancher Haarfarbe«. (II: 122) Seine Mutter hatte sich für den folgenden Tag mit der Wäsche angekündigt, wegen der Paketsperre wollte sie selbst kommen. Das Fiasko des Besuchs hat Kästner in Mama bringt die Wäsche beschrieben (II: 122—126) — das Verkehrschaos in Berlin, Ida Kästner, die darauf bestand, den Trümmerhaufen zu sehen, ihre Reaktion auf der Fahrt zurück zum Bahnhof durch das gleiche Chaos. »Die Mama stand oder saß, je nachdem, und starrte ins Leere. Tränen liefen über ihr Gesicht wie über eine Maske.« (II: 125) Sie habe noch tagelang nach dem Besuch geweint (VI: 326); ihr Sohn stellte sich ihre Gedanken vor, einen imaginären Monolog: »Mein Junge, wissen Sie, hat eine Aussteuer wie ein heiratsfähiges Mädchen. Und jedes Jahr schenk ich ihm etwas hinzu. Ja, selbstverdient, natürlich. Dreiundsiebzig werd ich im April. Aber wenn ich ihm nichts mehr schenken könnte, würde mir das Leben keinen Spaß mehr machen. Er sagt zwar jedesmal, nun müßte ich endlich mit Arbeiten aufhören. Doch das laß ich mir nicht nehmen. Schriftsteller ist er. Er darf aber nicht schreiben. Seine Bücher hat man verbrannt. Und nun die Wohnung …« (II: 126)
Kästner zog notgedrungen einstweilen zu Luiselotte Enderle in die Sybelstraße. In einem Interview Ende der vierziger Jahre bezeichnete er sich als »Nomade«, seit diesem Zeitpunkt: »Ich kaufe mir überhaupt nichts Festes mehr. Überhaupt war ich nie ein perfekter Wohner.«53 Als Ausgebombter erstellte Kästner eine Liste seiner Verluste für das Kriegsschädenamt: »Es war eine ziemlich langwierige Arbeit. Nun will ich sehen, daß ich Geld bekomme. Zum Bücherkaufen etc. Damit ich langsam wieder eine Bücherei zusammenbekomme. Das ist ja bei meinem Beruf das Wichtigste.« (30.11.1944, MB) Das Amt bewilligte ihm sofort 5000 RM als Abschlagszahlung. (1.12.1944, MB) Etwas schwieriger war der Schadenersatz für verbrannte Manuskripte; die Schrifttumskammer verlangte nähere Angaben über »Inhalt und Art der Novellenbändchen«. (9.2.1945, BB: 153) Kästner beschrieb die Stoffe in einem Brief an die Reichsschrifttumskammer und brachte ihn wegen der gestörten Postwege gleich selber hin. Ein Buch sollte »Don Juan 1930« heißen und von einem »Mann von vierzig Jahren« handeln, der sich in einem Novellenzyklus an die Frauen seines Lebens erinnert. »Er erkennt […] nicht nur, wie verschiedenartig jene Frauen waren, sondern auch und vor allem, wie anders von Fall zu Fall er selber war. Infolge dieser Einsicht verläßt er […] ohne Abschied die Frau, die er gegenwärtig zu lieben glaubt. So erfährt er gar nicht, daß sein Opfer unsinnig ist. Denn diese Frau witterte in ihm den Abenteurer und suchte lediglich ein Abenteuer. Der weibliche Instinkt war von Anbeginn klüger als die männliche Erkenntnis.« — Das zweite Manuskript sollte eine weitere Schulgeschichte werden, »Die Klassenzusammenkunft«. Ein Dutzend Schüler treffen sich nach zwanzig Jahren wieder mit ihrem Lieblingslehrer und erzählen sich Schnurren, die der Lehrer ihnen zu ihrer Verblüffung erklärt. »Er zieht vor den erstaunten Augen der erwachsenen Zuhörer Schleier für Schleier vor dem ihnen vermeintlich so wohlbekannten Bild der Jugendjahre fort.«54
Ein kleiner Angestellter nahm Kästners Brief an und gab ihm die Meinung seines Chefs als Antwort: »Da ich verboten bin, sind die Manuskripte geldlich wertlos. Ich widersprach ironisch und meinte, ökonomisch gesehen, sei das wohl ziemlich verkehrt gesehen. Aber Bübchen zuckte die Achseln. Ich habe die Absicht, mich juristisch zu verwahren, wenn sie schriftlich dasselbe mitteilen.« (12.2.1945, BB: 153f.)
Seit Ende 1944 musste Kästner auch um seine Eltern zittern — sie hatten am 31. Juli 1942 eine den Zeitumständen entsprechend sang- und klanglose Goldene Hochzeit gefeiert, Ida Kästner war 73, Emil Kästner 77 Jahre alt. Dresden war bisher von Angriffen verschont geblieben. Ende 1944 bekam Kästner im Radio zu hören: »Heute mittag flog der Feind in Sachsen ein.« (21.11.1944, MB) Immer wieder hörte er vom Alarm in der Nähe der Eltern, ermunterte sie, nur ja lange im Keller zu bleiben und ihn nach der Vor-Entwarnung noch nicht zu verlassen. (23.11.1944, MB) Im Januar 1945 hörte er ständig Gerüchte über die Bombardierung Dresdens, das waren aber nur die ersten kleineren Angriffe. Am 13. und 14. Februar 1945 wurde das mit Flüchtlingen vollgepfropfte Dresden durch Fliegerangriffe niedergebrannt, tagelang hörte Kästner nichts mehr von seinen Eltern. Sie hatten Glück im Unglück gehabt: Es gab kein Strom, kein Wasser, die Scheiben waren zerstört, die Wohnung nicht mehr zu heizen — aber das Haus stand noch, im Unterschied zur zerstörten Villa Lina Augustins. »In ihrer Wohnung Glasbruch und alles voller Ruß. Sie schlafen im Korridor; Mama auf dem Sofa, Papa auf zusammengesetzten Stühlen. Sie holen das Essen im Löwenbräu. Im übrigen frieren sie, was das Zeug hält.« (27.2.1945, BB: 157)
In der Zweizimmerwohnung in der Sybelstraße blieben zwar die Fensterscheiben heil (25.11.1944, MB), die Wohnung darüber war seit 1943 ausgebombt. Luiselotte Enderle beschwerte sich bei ihrer Vermieterin über die Wasserschäden an ihren Möbeln und Büchern und verlangte eine Abdichtung des Hausdachs durch den Hausmeister. Die Zimmerdecke sei »so durchgeweicht, dass ich befürchte, dass die Decke, wenn sich derartige Unwetter wiederholen, kaputt geht«.55 Berlin war kein angenehmer Aufenthalt; weitere Schlafmöglichkeiten hatten Kästner und Enderle bei Freunden in Ketzin, im Westen Berlins, und in Babelsberg bei Potsdam, in der Nähe des UFA-Filmgeländes. In Ketzin lebten ein befreundeter Textilkaufmann und seine Frau, Paul und Luzie Odebrecht. Textilkaufleuten verwehre das Schicksal, Not zu leiden, schrieb Kästner in Notabene 45: »Man trägt ihnen, nach Einbruch der Dunkelheit, das Notwendige samt dem Überflüssigen korbweise ins Haus. Man drängt ihnen auf, was es nicht gibt. Bei Nacht kommen nicht nur die Diebe, sondern auch die Lieferanten. Sie bringen Butter, Kaffee und Kognak, weiße Semmeln und Würste, Sekt und Wein und Schweinebraten, und sie brächten den Kreisleiter der NSDAP, wenn er eßbar wäre.« (VI: 310) Für ihre Gaben bekamen die Lieferanten Stoffe, und Kästners Freunde luden zum Fest.
Eine weitere Anlaufstelle gab es in Herbergen bei Liebstadt (Kreis Pirna), »bei den Hochgebirgssachsen, Nähe Erzgebirge, auf einem kleinen Bauernhof, wo Stall u Küche ineinanderliefen«. Kästner fing dort an, mit Bleistift zu zeichnen, Hühner, Entenküken, die schlafende (und auf der Zeichnung einwandfrei erkennbare) Luiselotte Enderle. Er liebäugelte scherzhaft mit der Möglichkeit, sich »später einmal als Illustrator von Gedichtbänden« zu etablieren. Obendrein hatten er und Enderle durch den Landaufenthalt in Berlin einiges verpasst: »Den Großangriff am 21., der u.a. den ›Wintergarten‹ u die anliegenden Hotels, sowie das Tobisverwaltungsgebäude erwischte, haben wir ›versäumt‹. Der erste Großangriff, den wir nicht in Berlin absaßen. Das ist eine reine Nachfreude.«56 Die Verbindungen nach Ketzin waren unregelmäßig, Züge und Autobusse fuhren nicht mehr verlässlich; zeitweise mussten Enderle und Kästner zu Fuß gehen oder auf Bauernwagen mitfahren. Sie hangelten sich in dieser Zeit von einem Lebensmittel zum nächsten, von einem Geschenk zum anderen. Sogar an Weihnachten 1944 gelang Erich Kästner noch die Fahrt nach Dresden; an Silvester 1944/45 war er in Ketzin und hatte wieder einen Galaplatz mit Blick auf die erneute Bombardierung Berlins, die Kästner »gemein« fand — »weil damit ja nun den Berlinern die Prosit-Neujahrs-Laune verdorben wurde«. (4.1.1945, MB)
Die Situation in Berlin wurde immer gefährlicher, die Bevölkerung hatte die Wahl zwischen anrückenden Truppen und der immer hysterischer verhaftenden Gestapo. Die Babelsberger Freunde hatten Kästner und Enderle wegen einer bevorstehenden Verhaftungsaktion nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wieder nach Berlin geschickt.57 Mit einer Anekdote will Helga Bemmann belegen, dass gegen Kriegsende alle Vorsicht vor Spitzeln aufgegeben wurde: Demnach soll Kästner, von Dresden kommend, bei Fliegeralarm in das einzige noch wartende Taxi gesprungen sein, von der anderen Seite eine fremde Frau. Der Taxifahrer habe während der Fahrt »in Urberliner Direktheit« gesagt: »Ick weeß ja nich, wen ick fahre, aba der Krieg is im Arsch!«58 In Kästners Tagebuch kommt die Episode ebenfalls vor; dort erzählt sie Werner Buhre, der sie aber nicht selbst erlebt, sondern seinerseits von einem Bekannten gehört hat. (20.1.1941, BB: 49) Und es handelte sich nun um einen bayerischen Taxifahrer — wahrscheinlich eine verbreitete Wanderlegende der Zeit.
Die Großstadt funktionierte immer schlechter. Kästner schrieb, er sei an »zwei Abenden der vorigen Woche abends insgesamt viermal im Keller« gewesen. (9.1.1945, MB) Elektrischen Strom gab es nur noch stundenweise, weil die Kraftwerke Kohlen sparen mussten; die tägliche Nahrung musste förmlich gejagt werden. Kästner gehörte zum »Volkssturm, wenn auch zum allerletzten Aufgebot« (31.1.1945, MB), aber auch mit dessen Einberufung musste gerechnet werden. »Die Russen kommen immer näher«, ein Teil des »Volkssturms« wurde den Panzern bereits entgegengeschickt (1.2.1945, MB), die Innenstadt war schon ziemlich verwüstet. Seit Februar 1945 führte Kästner wieder Tagebuch; seit diesem Zeitpunkt sind seine — stark überarbeiteten, zum Teil verschlüsselten — Eintragungen in Notabene 45 nachzulesen. Dabei hat er auch eine mokante Bemerkung über seinen späteren Lebensretter Eberhard Schmidt unterschlagen: der habe sich »bereits verdünnisiert. Und zwar befindet er sich auf ›Motivsuche in Bayern‹. Für seinen nächsten Film. Es ist zum Schreien.« (7.2.1945, BB: 150)
Die Fluchtorte auf dem Land fielen nach und nach weg; Odebrechts hatten mittlerweile ihre eigenen Sorgen: »Überall im Osten hatten sie Stoffe, Anzüge usw. gelagert. Das ist nun alles futsch, weil sie keine Lastwagen zum Abholen kriegten.« (12.2.1945, MB) Ein Poststempel von 1944 lautete: »Der Führer kennt nur Kampf, Arbeit und Sorge. Wir wollen ihm den Teil abnehmen, den wir ihm abnehmen können.« Kästner und Enderle entschlossen sich, ihm die Sorge um zwei Berliner abzunehmen, nämlich um sich selbst — es war an der Zeit, sich möglichst schnell und dauerhaft aus der Stadt zu entfernen. Eberhard Schmidt bot ihnen die Möglichkeit, bis zur Befreiung im tirolerischen Mayrhofen zu überwintern.