Münchhausen

Kästner erhielt 1942 eine offizielle Sondergenehmigung der Reichsschrifttumskammer für das UFA-Drehbuch zum Film Münchhausen. Die Vorgänge, die zu dieser Genehmigung geführt haben, sind nicht ganz zu rekonstruieren, sie waren es anscheinend auch für Kästner nicht. Er hat 1947 eine »Erklärung« zugunsten des Reichsfilmintendanten Fritz Hippler verfasst, einen der ›Persilscheine‹, um die Kästner des Öfteren gebeten wurde und die er auch nicht selten schrieb, ohne Begeisterung und ohne gesundbeterische Allgemeinheiten. Hippler, zu diesem Zeitpunkt noch interniert, bat ihn nicht selbst um die Bescheinigung, sondern ließ durch eine Bekannte bitten, die Kästner eine Abschrift von Hipplers Ausführungen schickte: »Ich allein habe es ihm ermöglicht, mehrere Drehbücher [Münchhausen und Der kleine Grenzverkehr] schreiben zu dürfen. Durch mich hat er damit als Nichtmitglied der Reichskulturkammer im Filmsektor taetig sein dürfen — waehrend ihm alle anderen Sektoren versperrt blieben. Diese meine Aktion flog auf, als man Hitler denunzierte, welchem ›Kulturbolschewisten‹ ich das Tor zum Film öffnete. Dann erhielt er wieder sein Betaetigungsverbot und auf mir blieb der Makel unzuverlaessiger Personalpolitik und nicht NS-Filmpolitik haengen. Diese ganz unbestreitbare Tatsache möchte ich von ihm bestaetigt.«1 Die erwartete Entschiedenheit mochte Kästner nicht beibringen, er schrieb nur, was er selbst wusste, und noch ein bisschen weniger: Die »Vorgänge«, die zu der Sondererlaubnis führten, seien ihm nicht näher bekannt; aber es »scheint in der Tat festzustehen, daß Dr. Hippler daran entscheidend teilhatte«.2 Kästner formulierte so vorsichtig, weil Hippler als langjähriger Goebbels-Vize ein überaus belasteter Mann war. Er hatte als Leiter der Abteilung Film im Propagandaministerium den übelsten antisemitischen Hetzfilm des ›Dritten Reichs‹ zu verantworten, Der ewige Jude. Zu dessen »Festaufführung« 1940 im Berliner UFA-Palast wurde folgendermaßen geladen: »Da in der Veranstaltung um 18.30 Uhr zusätzlich Originalaufnahmen von jüdischen Tierschächtungen gezeigt werden, wird empfindsamen Gemütern die gekürzte Fassung in der Vorstellung um 16 Uhr empfohlen. Frauen ist der Zutritt ebenfalls nur zu der Vorstellung um 16 Uhr gestattet.«3

In Hipplers Darstellung hatte Kästner den Auftrag für das Münchhausen-Drehbuch allein ihm zu verdanken, durch eine kleine »Verschwörung«: Goebbels selbst sei nicht direkt ansprechbar gewesen, deshalb habe Hippler den Staatssekretär Naumann und Hans Fritzsche eingeweiht, »der übrigens am schnellsten auf meine Argumentation einging«. Fritzsche war seit 1938 Leiter der Presseabteilung des Reichspropagandaministeriums und seit 1937 selbst einer der wichtigsten Rundfunkkommentatoren. Hippler schreibt, er habe Kästner durch eine »Position der reinen Zweckmäßigkeit« untergebracht und seine Kollegen beredet, es sei doch nicht einzusehen, »daß ein Schriftsteller bei uns zwar seine Lebensmittelkarten beziehen darf, dafür aber in keiner Weise mit einer gehörigen Arbeit in Anspruch genommen wird. Dies konnten auch die anderen Herren nicht einsehen.«4

In Kästners Persilschein für Hippler heißt es weiter: »Feststeht auch, dass Dr. Hippler, obwohl die Sondererlaubnis von bürokratischen Geheimnissen umgeben schien, sich mit dem Produktionschef der UFA Jahn, dem Regisseur von Baky, dem Filmschauspieler Albers und mir zu Besprechungen wiederholt im damaligen KDDK (Kameradschaftsclub der deutschen Künstler) zu Drehbuchbesprechungen traf, also die Zusammenarbeit mit mir vor der Fachöffentlichkeit keineswegs geheimzuhalten suchte.«5 Hippler beschrieb Kästner in diesen Diskussionen im Rückblick als »von knochentrockener Sachlichkeit, die nur durch sein mokantes Sächsisch leicht aufgeweicht wurde«. Einen Streit habe es nur über den Filmschluss gegeben. Heinz Jahn und Hippler wollten einen optimistischeren Schluss, in dem sich Münchhausen aus der »realen Filmhandlung verabschieden, aber als der unsterbliche Münchhausen weiterleben sollte. Kästner aber bestand darauf, den Münchhausen auf die Zaubergabe der ewigen Jugend verzichten und sich elegisch in Rauch auflösen zu lassen.«6 Kästner setzte sich durch, ohne Kompromiss; wobei sein Filmschluss ja keineswegs resignativ oder gar pessimistisch zu nennen ist.

Hitler persönlich oder doch jemand aus seinem Umfeld im Führerhauptquartier — Kästner vermutete Martin Bormann oder Alfred Rosenberg7 — verbot im Dezember 1942 jede weitere Arbeit des Autors. Mit Anweisung 8530 im Zeitschriften-Dienst vom 8. Januar 1943 bestand Erwähnungsverbot in den Medien: »Im Zusammenhang mit dem Drehbuchautor des Münchhausen-Films wird nochmals daran erinnert, daß der Schriftsteller Erich Kaestner (Pseudonym Berthold Bürger) in den Zeitschriften nicht erwähnt werden darf.« Außerdem dürfte ein Instanzenkonflikt eine Rolle gespielt haben — das Propagandaministerium hatte mit der Sondererlaubnis die Reichsschrifttumskammer übergangen. Ein Beamter der Kammer hatte sich bei Kästner beschwert, nachdem ihm seine Arbeit für Münchhausen zugetragen worden war: »Ich stelle zu diesem Vorgang fest, daß Sie zu einer derartigen Betätigung nicht berechtigt waren, nachdem ich Ihren Antrag auf Zulassung zu einer schriftstellerischen Betätigung wiederholt abgelehnt habe. Auch durfte das Pseudonym ohne meine Genehmigung nicht verwendet werden. Ich habe die Absicht, gegen Sie wegen der Zuwiderhandlungen mit einer Ordnungsstrafe […] vorzugehen, ersuche Sie aber zunächst um Stellungnahme zu meinen Vorhaltungen.«8 Aus der Ordnungsstrafe ist nichts geworden, am 25. Juli 1942 setzte ein Sachbearbeiter der Reichsschrifttumskammer Kästner von seiner »jederzeit widerrufliche[n] Sondergenehmigung« in Kenntnis, durch die er »bei meiner Kammer unter Nr. 14.923 als Mitglied geführt« wurde; Kästner hatte 12 Reichsmark für die Sondergenehmigung auf das Postscheckkonto der Schrifttumskammer zu überweisen.9

Kästner ist also völlig ungestraft davongekommen. Die »bürokratischen Geheimnisse« und ominösen »Vorgänge« lassen sich an dieser Stelle nur so auflösen, daß das Propagandaministerium hinter ihm stand, konkret: der Minister Joseph Goebbels. Er ließ am 6. Juni 1942 persönlich Kästners Bücher anfordern, um ihm eine offizielle Mitgliedsnummer zu verschaffen; und er hat persönlich das Drehbuch genehmigt. 1947 war es weder für Kästner noch für Hippler opportun, sich auf Goebbels zu berufen.

Eine inoffizielle Genehmigung hatte Kästner schon im April 1941 erhalten. Sein Freund, der UFA-Herstellungsleiter Eberhard Schmidt, berichtete ihm, Goebbels »wolle von nichts wissen, aber man könne mich — unter dieser persönlichen Voraussetzung — beschäftigen. Morgen werde ich Näheres über diese neue Mutprobe des Propagandaministeriums hören.« (16.4.1941, BB: 85) Goebbels handelte wissentlich gegen die Kulturpolitik des Führerhauptquartiers. Zum Zeitpunkt der offiziellen Sondergenehmigung war das Drehbuch längst geschrieben — hauptsächlich auf einer Urlaubsreise im August 1941 nach Zell am See, Salzburg und Kitzbühel, und im darauffolgenden Monat in Berlin. (Ende September 1941, BB: 96) Am 29. November genehmigte Goebbels den Film (29.11.1941, MB), im März 1942 fand ein großes Treffen der Herstellungsgruppe mit Albers bei der UFA in Babelsberg über die Besetzung der übrigen Rollen statt (13.3.1942, MB), am 14. April war erster Drehtag. (14.4.1942, MB) Kästner war stolz auf diesen Film; er schrieb seiner Mutter, die Filmleute freuten sich auf die Arbeit, »weil’s mal wieder was Besonderes ist«. (29.11.1941, MB) Auch Goebbels war nach der Premiere zufrieden; Kästner notierte in sein Tagebuch: »wenn die Zeiten weniger ernst wären, hätte er ein neues Prädikat geschrieben, um es erstmalig M. zu verleihen.« (1.3.1943, BB: 105) Münchhausen erhielt das Prädikat »Künstlerisch besonders wertvoll«; zum Prädikat »Staatspolitisch besonders wertvoll« hat es nicht gereicht.

Im Januar 1943 unterrichtete der Justitiar der Reichsschrifttumskammer Kästner von seinem neuerlichen Verbot: »Sie sind somit nicht mehr berechtigt, im Zuständigkeitsbereich der Reichsschrifttumskammer als Schriftsteller tätig zu sein. Zuwiderhandlungen gegen diese Berufsuntersagung können […] mit Ordnungsstrafen belegt werden.«10 Zwei Wochen später schickte der Geschäftsführer der Kammer noch eine Erweiterung der bisherigen Regelung hinterher: Das »Berufsverbot« umfasse »auch die schriftstellerische Betätigung vom Inland nach dem Auslande hin«.11

Kästner bescheinigte Hippler nach dem Krieg, durch dieses Verbot sei dessen Position erschüttert worden — »ich kann natürlich von mir aus nicht beurteilen, ob dadurch allein«.12 Hippler war ein enger Mitarbeiter Goebbels’, wie sich in dessen Tagebüchern nachlesen lässt; tatsächlich war er nur 15 Monate, bis zum Mai 1943, Reichsfilmintendant. Er konnte sich bei Kästner für die Bescheinigung von 1947 revanchieren, als dieser sich 1953 eine erneute Untersuchung durch amerikanische Behörden gefallen lassen musste; hier erklärte Hippler seine Amtsenthebung mit »dieser und einige[n] andere[n] ähnlich gelagerte[n] Interventionen zugunsten missliebiger Künstler (u.a. Werner Finck, Gustav Fröhlich, Werner Hochbaum u.a.)«.13 Nach seiner eigenen Aussage war Hippler bis zum Kriegsende einfacher Soldat, dann in Kriegsgefangenschaft und bis 1948 interniert.14 Im Filmgeschäft konnte er auch nach fünf Entnazifizierungsverfahren nicht mehr reüssieren, sein Memoirenbuch aus den achtziger Jahren zeigt ihn als verqueren Übriggebliebenen, der seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus wie seinen Arbeitskollegen unkritisch gegenübersteht, heißen sie nun Veit Harlan, Emil Jannings oder eben Joseph Goebbels.

Der sechseinhalb Millionen Reichsmark teure Farbfilm Münchhausen sollte ein Renommier- und Durchhalteprojekt des deutschen Films werden. Seine Herstellung wurde beschleunigt, so dass er zur Feier des 25. Bestehens der Universum Film Aktiengesellschaft (UFA) anlaufen konnte. Ursprünglich soll zu diesem Zweck eine Verfilmung von Josef Wincklers Der tolle Bomberg (1922) vorgesehen gewesen sein, eines Schelmenromans über den historischen Großgrundbesitzer im Westfalen des 19. Jahrhunderts. Nach Luiselotte Enderle schlug Kästner stattdessen Gottfried August Bürgers Münchhausen (1786/1788) vor.15 Nach dem Göttinger Professor und Sturm-und-Drang-Lyriker, der sein »Werkchen« zeit seines Lebens nur anonym erscheinen ließ, wählte Kästner sein Pseudonym »Berthold Bürger«.

Die Verfilmung wird unter Cineasten auch heute noch hoch gehandelt, vor allem wegen ihrer für die damalige Zeit fortgeschrittenen Tricktechnik; Terry Gilliam hat den Stoff bei weitgehend identischer Szenenauswahl mit moderneren Trickmöglichkeiten, einem vollständig anderen Geschichtsbild und Sinn für Komik 1988 nochmals verfilmt (The Adventures of Baron Münchhausen), die ARD setzte mit einem konventionelleren Weihnachts-Zweiteiler eine weitere kästnerlose Version in die Welt (2019, Regie: Andreas Linke). Im Original fuhr die UFA an Darstellern auf, was sie zu bieten hatte, Hans Albers in der Titelrolle, Brigitte Horney als Zarin Katharina die Große. Bis in kleine Nebenrollen war der Film hochrangig besetzt; Käthe Haack spielte die Baronin Münchhausen, Ilse Werner die Prinzessin Isabella d’Este, Leo Slezak den Sultan Abd ul Hamid, Hans Brausewetter den Freiherrn von Hartenfeld und Wilhelm Bendow den Mann im Mond. Der Regisseur Josef von Baky erhielt von Goebbels völlig freie Hand und »nahezu unbeschränkte materielle und personelle Mittel«16, das Resultat war entsprechend aufwendig und prachtvoll. Das Kinopublikum bekam zu sehen, was es in der Realität kaum noch und bis in die ersten Nachkriegsjahre immer seltener erleben konnte: pompöse Feste in goldstrotzenden Kostümen, prächtige Ballsäle, in Petersburg wird ein Volksfest gezeigt, auf dem gefressen und gesoffen wird wie nicht gescheit. Überhaupt geht es am Hof der Zarin verschwenderisch zu, die Gäste erhalten Edelsteine als Dessert, eine Hofschranze stellt fest, Katharina sei groß im Geben und im Nehmen. Sie verteidigt den Prunk: »Ich weiß, ich weiß. Man klatscht bei Ihren Regierungen viel über meine Verschwendungssucht. Diese angebliche Verschwendungssucht ist eigentlich Sparsamkeit. Alles bleibt in meinem Land und kommt eines Tages zu mir zurück.« Dieses Zitat ist — wie alle folgenden — als Abschrift des 1978 rekonstruierten Films wiedergegeben, nicht nach der von Kästner in der Ausgabe Gesammelter Schriften von 1959 veröffentlichten Fassung.

Natürlich stellt sich die Frage, ob der Drehbuchautor Berthold Bürger durch seine Mitarbeit das nationalsozialistische System unterstützt hat — mit dem einfallsreichen Skript zu einem Film des schönen Scheins, der festlich den Durchhaltewillen gestärkt haben mag. Dieter Mank betont, dass »an keiner Stelle nationalsozialistische Ideologie transportiert oder unterstützt wird«.17 Vor allem zwei Passagen werden immer wieder als Widerstandsakte oder als »geistvoll getarnte[.] Anspielungen« aus dem Drehbuch zitiert.18 Casanova sagt in der Venedig-Episode zu Prinzessin Isabella d’Este: »Die Staatsinquisition hat zehntausend Augen und Arme, und sie hat die Macht, recht und unrecht zu tun, ganz, wie es ihr beliebt.« Münchhausen antwortet ihm mit der vagen (und wie der Film zeigt, vergeblichen) Hoffnung, der Doge habe »hoffentlich wichtigeres im Kopf, als zwei Liebesleute«.

»Die Zeit ist kaputt«, hat Klaus Kordon seine Kästner-Biographie genannt. Dieser Satz fällt in der Mondepisode: Münchhausen fliegt zusammen mit seinem Diener Kuchenreutter im Ballon zum Mond, wo ein Jahr nur einen Tag lang dauert — die Kirschbäume grünen, blühen, tragen Früchte und entblättern sich innerhalb von 24 Stunden. Münchhausens Diener altert dort schnell und stirbt, er selbst hatte sich von Cagliostro die ewige Jugend gewünscht und überlebt deshalb auch den Mond (beiläufig ein Konstruktionsfehler: Kuchenreutter altert an eineinhalb Tagen um mindestens zwanzig Jahre). Dieser Kontext erklärt, warum die NS-Zensur am Dialog zwischen Münchhausen und seinem Diener keinen Anstoß genommen hat:

KUCHENREUTTER »  Entweder Ihre Uhr ist kaputt, Herr Baron, oder — oder die Zeit selber.

MÜNCHHAUSEN  Die Zeit ist kaputt.«

Der Dialog hatte einen ganz buchstäblichen Sinn. Die ›kaputte‹ Zeit auf dem Mond ist zwar ein Zusatz Kästners, sie kommt im Original-Münchhausen nicht vor; aber ob das damalige Publikum diesen Satz als einen der Schlüsselsätze aufnehmen konnte oder aufgenommen hat, in einem zweistündigen Film, lässt sich — vorsichtig gesagt — nicht entscheiden. Überzeugender wären da andere Zitate, etwa das Gespräch des sinistren Grafen Cagliostro — ebenfalls eine von Kästner eingeführte Figur — mit Münchhausen: »Wenn wir erst Kurland haben, pflücken wir Polen. Poniatowski, der sich heute noch Stanislaus der Zweite nennt, ist reif. Dann werden wir König!« Münchhausen antwortet deutlich: »In einem werden wir zwei uns nie verstehen, in der Hauptsache: Sie wollen herrschen. Ich will leben. Abenteuer, Krieg, fremde Länder, schöne Frauen — ich brauche das alles. Sie aber — mißbrauchen es!« Cagliostro stammelt daraufhin »Litauen — Kurland — Polen«, während kurz sein Gesicht in Großaufnahme gezeigt wird, träumend, wenn nicht gar verrückt, eine offensichtliche Hitler-Parodie; man reibt sich nach den paar Sekunden unwillkürlich die Augen, ob man das gerade wirklich gesehen hat. Eine besondere Pointe dieser deutlich regimekritischen Szene ist, dass Cagliostro von Ferdinand Marian gespielt wird, dem zwangsverpflichteten Darsteller des Jud Süß in Veit Harlans gleichnamigem NS-Film (1940); auf die Besetzung der Rollen hatte Kästner keinerlei Einfluss.19 Und Kästner hat die historische Figur Cagliostros missbraucht, durchaus im Sinne der NS-Ideologie. Graf Cagliostro war entschiedener Gegner des Absolutismus und versuchte, Freimaurerlogen in ganz Europa zu gründen, so auch in Polen und in Russland.20 Er war somit ein Vertreter der liberalen Aufklärung, die bei den Nazis verpönt war: als Zeit der Freimaurerei, der Erfindung der Menschenrechte und der Emanzipation der Juden; kein Wunder daher auch, dass Katharinas Verbindungen zur französischen Aufklärung keine Rolle spielen dürfen. Münchhausen zeigt ein Bild der Aufklärung, das 1943 ganz zeitgemäß war: ein Zeitalter voll von undurchschaubaren Kriegen, in dem dennoch alles seine Ordnung hat, feste Hierarchien bestehen und eine gewisse Kultiviertheit zu herrschen scheint, ohne dass Kunst oder Literatur im Film eine Rolle spielten (Lessing und der junge Goethe hätten als zeitgenössisches Personal zur Verfügung gestanden).

Die kleinen Sticheleien des Films gegen absolute oder diktatorische Herrscher sind überhaupt so harmlos, weil sie durch regimekonforme Sätze, ja durch Geschichtsbild und Ideologie des Films aufgewogen werden. So antwortet die Zarin auf die Frage nach ihren »schwedischen Affären«: »Ich hoffe, daß es keinen Krieg gibt. Sollte es aber Schläge setzen, ist es besser, Schläge auszuteilen als zu bekommen.« Das wird ihr als ein wahrhaft »kaiserliches Wort« belobigt, Katharinas Film-Liebhaber Münchhausen kümmert sich weder hier noch im Fall des Russisch-Türkischen Kriegs darum, für wen er da eigentlich kämpft — es wäre wohl auch nicht im Sinne des Propagandaministeriums gewesen, kurz nach Stalingrad Russland als rapid expandierende imperialistische Großmacht im Kino zu zeigen.

Auch Isabella d’Este verkündet eine Durchhalteparole: »Als alles verloren schien, war alles längst gewonnen.« Wunschdenken, im Film wie in der Wirklichkeit. Der nach allgemeiner Einschätzung seiner Lyrik pazifistisch gesonnene Kästner hat eine Münchhausen-Figur ersonnen, die durchaus ein regierungstreuer Soldat ist, der für traditionelle Werte einsteht. Albers spielt einen für seine »Tüchtigkeit« gelobten Übermenschen und Abenteurer, dem das Blut kosmisch durch den Kopf rauscht, alle etwaigen Ambivalenzen des Drehbuchs sind durch seine Darstellung getilgt21 — : »Nur wer es tief im Blut fühlt, daß das hier alles nur auf einem kleinen Stern unter Abermillionen anderer Sterne geschieht, auf einer winzigen, ihre ewige Bahn kreisenden Kugel, auf der Karussellfahrt um eine der blühenden Sonnen im Wandel der schönen Jahreszeiten und der schrecklichen Jahrhunderte, nur wer das immer fühlt, ist wahrhaftig ein Mensch. Alle andern sind aufrecht gehende Säugetiere.« Noch der Entschluss, Cagliostros Geschenk der ewigen Jugend zurückzugeben und mit der geliebten Frau zu altern, steht für Münchhausens Lust, ›alles‹ erleben zu wollen: »Ich fordere das Ganze!« Immerhin lobt er nicht nur seine Tatkraft, sondern auch die eigene Phantasie: »Der Mensch mit der stärkeren Einbildungskraft erzwingt sich ganz einfach eine reichere Welt.« Von den Mitteln des Erzwingens spricht Münchhausen nicht zu seinen gebannten jungen Zuhörern im Film, aber dass der Mensch »wie ein Rauch« sei, »der emporsteigt und verweht«, möchte er ihnen nicht vorenthalten. Für den Sultan denkt er sich die Totalitätsvision eines gläsernen Harems aus (auch ihn gibt es nicht bei Gottfried August Bürger), die Köpfe, die in diesem Film — vor allem am Hof zu Konstantinopel — rollen oder an Stangen gesteckt werden, sind nicht mehr als märchenhafte Witze oder atmosphärische Elemente; man »soll den Kopf nie verlieren, bevor er ab ist«, witzelt auch der Titelheld. Sein Diener Kuchenreutter erfindet eine ›Wunderwaffe‹, ein Gewehr, mit dem er kilometerweit schießen kann — immerhin wird es denkbar unpathetisch eingesetzt, ein Schuss trifft einen Hirsch, ein anderer eine Feige, die vom Baum fällt, um den Schnellläufer zu wecken. Auch die faschistischen Schönheitsideale keuscher Nacktheit lassen sich studieren, einige Frauen des Harems planschen barbusig im Swimmingpool oder laufen ebenso quer durchs Bild, schamhaft abgewandten Gesichts.

Über die Möglichkeiten der Wissenschaft, unverdorben durch ein totales System zu kommen, hat sich etwa gleichzeitig mit Kästner Bertolt Brecht im Exil in seinem Leben des Galilei Gedanken gemacht. Den zweiten Schluss des Stückes, in dem Galilei sich selbst verurteilt und Wissenschaftler als »Geschlecht erfinderischer Zwerge« beschimpft, »die für alles gemietet werden können«, hat Brecht aber erst nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima geschrieben. Da wirkt der Kästner-Text schon früher illusionslos. Möglicherweise unterschieden sich hier einmal tatsächlich die Erfahrungen eines Exilanten im mehr oder weniger demokratischen Ausland zu seinem Nachteil von einem Autor, der im Nationalsozialismus überleben musste. Der Herrscher Venedigs spricht in Münchhausen mit dem Ballonfahrer François Jean Pierre Blanchard:

DOGE »  Daß Sie von Venedig aus aufsteigen, Herr Blanchard, ist mir hochwillkommen. Wir dienen der Wissenschaft und belustigen das Volk. Es gehört zur Kunst des Staatsmannes, ein Ding zu tun und dadurch zweierlei zu erreichen.

BLANCHARD  Ich diene nur der Wissenschaft.

DOGE  Lassen Sie sich diesen Aberglauben nicht rauben. Er ist ein Stein in unserem Spiel.«

Ist Münchhausen üblicherweise ein Lügner und Aufschneider, wirkt er im Film als weiser Alter. Es fehlen daher auch die üblichen Wahrheitsbeteuerungen des Originals, die ja gerade auf die Lügenhaftigkeit des Erzählten hinweisen. Münchhausens Unsterblichkeit verknüpft die Regierungszeit Friedrichs des Großen mit der Adolf Hitlers, sie ist der nicht hinterfragte Rahmen der Erzählung: Der Film beginnt wie eine geheimnisvolle Liebesgeschichte aus dem 18. Jahrhundert, prächtig gekleidete Gestalten tanzen und parlieren bei Kerzenlicht. Münchhausen weist die ihn heftig umwerbende Sophie von Riedesel zurück und schaltet im Schloss seiner Väter unverhofft elektrisches Licht an, sie stürmt hinaus und fährt im Auto davon. Später erzählt er die historischen Episoden ihr und ihrem Bräutigam, und am Schluss wird ihr der Grund seiner Weigerung nur allzu klar: Sie hat sich in einen knapp 200-Jährigen verliebt. Es handelt sich insgesamt nicht eigentlich um einen phantastischen Film. Das Genre der Phantastik funktioniert ganz anders als der Münchhausen-Film, nämlich überaus aggressiv gegenüber Wirklichkeit. In einer phantastischen Erzählung — von E. T. A. Hoffmann bis Kafka und Lovecraft — erhält eine realistisch geschilderte Wirklichkeit einen Riss, etwas Unerklärliches, Phantastisches dringt ein und bedroht die Welt, die wir kennen. Nichts davon in Münchhausen: Der Film macht seine Zuschauer durch seinen effektvollen erzählerischen Rahmen und die Zauberkunststücke Cagliostros zu Wundergläubigen, die nicht einen Augenblick im Zweifel sind über das, was sie sehen — er bietet eher eskapistische Fantasy statt Phantastik und erfreut sich daher ungebrochener Beliebtheit als Kinderfilm.

Zweifellos, Münchhausen hat seine Qualitäten. Es lohnt sich noch heute, den Film anzusehen; das Lexikon des Internationalen Films feiert ihn als »famose Schmunzelkomödie«; einige Szenen sind zweifellos einfallsreich, auch humoristisch gelungen, es sei nur an das »Kuckucks«-Duell zwischen Potemkin und Münchhausen erinnert: In einem finsteren Raum ruft einer »Kuckuck«, der andere schießt nach der Richtung der Stimme, der Raum wird nur vom Mündungsfeuer erhellt. Münchhausen weicht von der üblichen UFA-Ware dieser Zeit ab, weil er das Führerprinzip nicht direkt verherrlicht, sondern einen Helden, der für autoritäre Regierungen wirbt und den reaktionären Status quo unterstützt, zu jeder Zeit seines arg langen Lebens.22 Es gibt keine Nazis im Film, und Münchhausen ist auch nicht ihr Vorläufer — er ist »an old dog who cannot learn new tricks«.23 Es gibt keinen Antisemitismus, keine völkisch-arischen Menschenmassen, keine Kriegsverherrlichung (wohl aber Kriegs-Beschönigung). Nationalcharaktere — die großen geschichtsmächtigen Kräfte der NS-Ideologie — spielen keine Rolle. Ihre Rollen spielen berühmte ›große‹ Persönlichkeiten, Katharina die Große, die Pompadour, Potemkin und Orlov, Maria Theresia, Casanova — also auch nicht gerade eine demokratische Auffassung.

Ingo Tornows Fazit zu Kästners Filmarbeit im ›Dritten Reich‹ ist vielleicht allzu milde ausgefallen: »Daß aber die Machthaber […] Filme zuließen, die vorsichtig nicht-regimekonforme Werte propagierten, sollte nicht auch noch den Machern dieser Filme angelastet werden, die in dieser Zeit versuchten, mit Anstand ihrem Beruf nachzugehen, ohne ihre Seele zu verkaufen.«24 Es gibt keinen Zweifel an Kästners Regime-Gegnerschaft, aber er hat als im Land Gebliebener sehr viel stärker die um ihn herum propagierte Ideologie aufgenommen und weitergereicht, zumal im hochambivalenten Münchhausen. Es gibt keine Äußerung von ihm nach dem Krieg, die ein Bewusstsein Kästners für dieses Problem zeigen würde — er hat sich eisern als zwölf Jahre verbotener, verfolgter und gefährdeter Autor dargestellt. Lediglich in den Fragebögen der amerikanischen Besatzer hat er einen Teil seiner Arbeit im ›Dritten Reich‹ offengelegt; diese Bögen beschränkten sich aber naheliegenderweise auf den äußerlichen, materiellen Aspekt: Kästner erhielt für beide Drehbücher 115.000 Reichsmark. Er fühlte sich im Falle Münchhausen als Opfer des Regimes, hatte man doch das Pseudonym Berthold Bürger aus dem Vorspann gestrichen und keinen Drehbuchautor genannt! Seine Sekretärin Elfriede Mechnig erzählte, sie habe ihn in den vierzig Jahren ihrer Zusammenarbeit nicht ein einziges Mal derart »empört und wütend« gesehen.25 Dabei hatte der Zensor nur eine »Wichtige Zwischenbemerkung« des Drehbuchs mit einigem Zynismus wörtlich genommen, in der Kästner geschrieben hatte: »Es ist notwendig, dass der Gesamtumfang des Vorspanntextes auf das mindeste beschränkt wird« — sonst verliere der Trickfilmeffekt des gemalten Münchhausen-Porträts, sein Zwinkern, an Wirkung. (V: 51)