»Für einen Buddhisten brennt in jedem Menschen ein Feuer. Es kann sehr schön sein, in sich zu gehen und es flackern zu sehen.«
GRAHAM DUNCAN
eastrockcap.com
GRAHAM DUNCAN ist Mitgründer von East Rock Capital, einer Investmentgesellschaft, die für eine kleine Gruppe von Familien und ihre wohltätigen Stiftungen 2 Milliarden US-Dollar verwaltet. Graham gründete East Rock vor zwölf Jahren. Davor arbeitete er bei zwei anderen Investmentfirmen. Er begann seine Karriere als Mitgründer des unabhängigen Wall-Street-Research-Unternehmens Medley Global Advisors. Graham hat einen BA-Abschluss in Ethik, Politik und Wirtschaft der Yale-Universität. Er ist Mitglied des Council on Foreign Relations und Co-Vorsitzender der Sohn Conference Foundation, die Forschung über Krebserkrankungen bei Kindern finanziert. Josh Waitzkin (Seite 218 ) bezeichnet Graham als »die Speerspitze im Bereich Talentsuche und Beurteilung von menschlichem Potenzial in höchsten geistigen Sphären«.
Was ist eine deiner – gern auch absurden – Eigenheiten, auf die du nicht verzichten möchtest?
In der U-Bahn auf dem Weg ins Büro und manchmal auch bei der Arbeit am Schreibtisch trage ich einen SubPac M2 – einen mobilen Vibrationsgenerator. Durch dessen taktile Audio-Technologie werden die Vibrationen der Musik auf den Körper übertragen. Sie wird vor allem von Musikproduzenten, Computerspielern und Gehörlosen genutzt. Für mich macht dieses Ganzkörper-Erleben von Musik aus dem rein intellektuellen Vorgang des Musikhörens oder Anhörens eines Podcasts eine immersivere somatische Erfahrung.
Wenn du an einem beliebigen Ort ein riesiges Plakat mit beliebigem Inhalt aufhängen könntest, was wäre das und warum? Gibt es Zitate, an die du häufig denkst oder nach denen du lebst?
Dazu fallen mir zwei Dinge ein:
Erstens: »Es kommt nicht darauf an, wie gut du spielst, sondern auf die Entscheidung, welches Spiel du spielen willst.« – Kwame Appiah. Dieses Zitat unterscheidet zwischen Strampeln und Strategie. Es führt mir vor Augen, dass ich mein eigenes Tun aus Makroperspektive betrachten sollte – wie bei einem Videospiel, aus dem man sich herauszoomen kann und plötzlich merkt, dass man die ganze Zeit nur in einem Winkel des Labyrinths im Kreis gelaufen ist. Dadurch distanziert man sich etwas vom Spiel und kann besser unterscheiden zwischen einem Ziel und dem eigenen Ehrgeiz – um sich ins Getümmel zu stürzen, ohne darin unterzugehen.
Zweitens: Der buddhistische Schriftsteller George Saunders sprach in einem Interview von seinem Bild des »Nektars« der Menschen »in bröckelnden Behältern«. Dieses Bild verfolgt mich. Kommt es mir morgens in den Sinn, kann ich förmlich sehen, wie die Buddha-Natur all diese netten, fehlerbehafteten, lebenden und langsam sterbenden Kreaturen durchströmt, denen wir jeden Tag begegnen. Das dreijährige Selbst meiner dreijährigen Tochter ist so vergänglich. Für einen Buddhisten brennt in jedem Menschen ein Feuer. Es kann sehr schön sein, in sich zu gehen und es flackern zu sehen.
Welches Buch (welche Bücher) verschenkst du am liebsten? Warum? Welche ein bis drei Bücher haben dein Leben am stärksten beeinflusst?
Sam Barondes’ Buch Making Sense of People hat mich in meinem Denken stark beeinflusst. Manchmal verschenke ich es im Laufe des Einstellungsverfahrens an Bewerber oder auch an potenzielle Partner vor der Entscheidung für eine Zusammenarbeit. In meiner Funktion als Investor führe ich pro Jahr Gespräche mit 400 bis 500 Menschen, um zu entscheiden, ob ich sie einstellen oder in ihre jungen Unternehmen oder Fonds investieren möchte. Das brauchbarste persönlichkeitspsychologische Modell, um herauszufinden, wie andere ticken, wird meiner Erfahrung nach von Barondes in seinem Buch beschrieben. Er nennt es »Big Five« oder OCEAN-Modell – das Akronym aus dem Englischen open-minded, conscientious, extroverted, agreeable, neurotic, also offen, gewissenhaft, extravertiert, verträglich und neurotisch. Die Wissenschaftler, die das Modell entwickelt haben, erfassten alle englischen Adjektive, mit denen sich Menschen beschreiben ließen, in Kategorien und reduzierten diese auf die geringstmögliche Anzahl von Faktoren. Das Big-Five-Modell wird in der akademischen Persönlichkeitsliteratur als Pendant zur Schwerkraft erachtet. Es wurde in Tausenden von Studien verwendet und gilt als statistisch weit zutreffender als Alternativangebote wie der Myers-Briggs-Typenindikator. Die ideale Kombination sind hohe Werte bei aufgeschlossen und gewissenhaft und niedrige bei neurotisch.
Es gibt noch zwei psychologische Modelle, die stark prägen, wie ich über Menschen und Teams denke. Das erste ist das Modell zur Erwachsenenentwicklung von Harvard-Professor Robert Kegan. Kegan behauptet, Erwachsene entwickeln sich – und begreifen die Realität – in fünf Stufen. Diese Theorie präsentierte er 1994 in dem Buch In Over Our Heads . Der Titel beschreibt die Befindlichkeit der großen Mehrheit erwachsener Amerikaner im »sozialisierten« Entwicklungsstadium. Sie haben Probleme, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen und richten sich gewöhnlich nach Annahmen, die ihnen die Gesellschaft vorgibt (anstelle von Annahmen, für die sie sich nach eigenem Ermessen entscheiden). Allen, die gern mehr über das Modell erfahren möchten, lege ich das neuere und weniger akademische Buch Changing on the Job ans Herz, das Kegans Doktorandin Jennifer Garvey Berger geschrieben hat.
Das dritte psychologische Modell, das ich in letzter Zeit immer öfter empfehle, stammt nicht aus einem Buch, sondern von einer eher obskuren Website: workwithsource.com . Es basiert auf der Arbeit eines europäischen Managementberaters, der Hunderte von Startups analysiert und dabei festgestellt hat, dass es auch bei mehreren »Mitgründern« stets nur eine einzige »Quelle« gibt: der Mensch nämlich, der für eine neue Initiative das erste Risiko in Kauf nahm. Diese Quelle steht in einzigartiger Beziehung zur ursprünglichen Konzeptionierung und weiß intuitiv, welches der nächste richtige Schritt für die Initiative ist. Anderen, die später an Bord kommen, um die Ausführung mitzutragen, fehlt oft diese intuitive Verbindung zu den ursprünglichen Erkenntnissen des Gründers. Viele Spannungen und Machtkämpfe in Organisationen entstehen, weil nicht explizit anerkannt wird, wer die Quelle der Initiative ist. Ein prominenter Angel-Investor erklärte mir kürzlich, nach seiner Beobachtung holten viele Gründer Freunde als Mitgründer ins Boot – mehr um ihre eigenen Ängste in den frühen, sehr ambitionierten Tagen eines neuen Unternehmens zu beschwichtigen, als um bestimmte Funktionen zu übernehmen. Das kann gut funktionieren, solange allen klar ist, wer die Quelle ist. Die Verantwortung, die Rolle der Quelle ganz für sich zu beanspruchen, liegt zu einem großen Teil bei der Quelle selbst.
Es ist möglich, aber extrem schwierig, die Quellenfunktion für ein Vorhaben auf einen anderen zu übertragen – und es geht häufig schief. Eine Voraussetzung für einen erfolgreichen Übergang ist, dass die ursprüngliche Quelle auch wirklich weicht und dem Nachfolger Bewegungsfreiheit lässt. Ein Investmentmanager hat mir von einer Studie erzählt, die er über die Wertentwicklung von Aktien nach dem Ausscheiden des CEOs erstellt hatte, der das Unternehmen gegründet hatte: Entwickelten sich die Aktien im Anschluss positiv, so hing das stets damit zusammen, dass der Gründer ganz aus der Geschäftsleitung ausschied und nicht noch im Hintergrund als Mentor des nächsten CEOs die Fäden zog. Dass Gates während der Amtszeit von Ballmer noch im Verwaltungsrat von Microsoft saß, mag zu der unspektakulären Kursentwicklung der Microsoft-Aktie während dieser Zeit beigetragen haben. Dass sich Ballmer unlängst aus dem Verwaltungsrat zurückzog, ermöglicht es Satya Nadella, seine eigene kreative Vision umzusetzen. Diese Dynamik stelle ich auch bei der Verwaltung des Vermögens von Forbes-500-Familien fest, wenn die zweite und dritte Generation mitunter um ihre Beziehung zum ursprünglichen Patriarchen, der »Quelle« ihres Reichtums, ringt. Dabei trägt oft die Quelle selbst die Verantwortung dafür, das Feld zu räumen, um einen echten Generationswechsel zu ermöglichen. Diese Lektion erteilt auch George Washington in dem Musical Hamilton , als Washington Hamiltons Bitte ablehnt, für eine dritte Amtszeit zu kandidieren, wenn er singt: »We’re going to teach them how to say good-bye.«
Welche Anschaffung von maximal 100 Dollar hat für dein Leben in den letzten sechs Monaten (oder in letzter Zeit) die größte positive Auswirkung gehabt?
Ich habe mir gerade die FINIS-Schwimmpaddel gekauft (keine 20 Dollar, Tipp aus dem Ben-Greenfield-Blog). Damit kann ich im Freistil viel weiter ausholen. Zusammen mit meinen Cressi-Flossen (29 Dollar) fühlt sich das an, als würde ich durchs Wasser fliegen.
Welcher (vermeintliche?) Misserfolg war die Voraussetzung für deinen späteren Erfolg? Hast du einen »Lieblingsmisserfolg«?
In meiner Funktion als Investor und Seed-Kapitalgeber für Investmentunternehmen nehme ich die Referenzen anderer sehr genau unter die Lupe, um den Prozess des Vertrauensaufbaus zu beschleunigen. Anfang 2008 stand ich kurz davor, mich in einem Unternehmen zu engagieren, und prüfte noch eine letzte Referenz des Investmentmanagers. Ich sprach mit seinem Ex-Chef, der sich über den ehemaligen Analysten recht negativ und skeptisch äußerte. Daraufhin investierte ich nicht weiter in das Projekt, das sich im Zuge der Finanzkrise aber gut bewähren sollte. Ich bedauerte das sehr, denn mir entging dadurch ein satter Gewinn. Wie sich später herausstellte, hatte der als Referenz angegebene Ex-Chef seine Gründe, das neue Unternehmen seines früheren Protegés zu sabotieren.
Fünf Jahre später überprüfte ich wieder einmal einen Investmentmanager, der als potenzieller Partner infrage kam. Ganz am Ende unseres Prüfprozesses ging von einer Referenzadresse eine zweideutige Auskunft ein. Damals gelang es mir aber schon besser, eine Situation gleichzeitig aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten, ohne dass bei mir eine kognitive Dissonanz ausgelöst wurde – der Zustand »negativer Kapazität«, den Keats für Schriftsteller als nützlich bezeichnete. Diesmal veranlasste mich die unklare Datenlage lediglich zu weiteren Analysen, die mich noch stärker vom Charakter und der Kompetenz des Investmentmanagers überzeugten. Die Anlage erwies sich als eine meiner lukrativsten. Hätte ich mich im anderen Fall nicht so krass geirrt, wäre ich wohl kaum in der Lage gewesen, diese Situation richtig zu deuten. Egal mit wem ich heute über etwas spreche, ich versuche stets, dessen Perspektive einzunehmen – aber mit »leichter Hand«: in dem Wissen, dass wir alle nie die ganze Wahrheit erfassen.
Welche schlechten Ratschläge kursieren in deinem beruflichen Umfeld oder Fachgebiet?
Meiner Ansicht nach wird der Begriff »Hedgefonds« überstrapaziert. Meiner Ansicht sollten wir stattdessen »H-Struktur« verwenden, um das Konzept der leistungsorientierten Vergütung zu beschreiben. Meines Erachtens ist es wenig zielführend, von einem »Fonds« oder einem »Produkt« zu sprechen. Es handelt sich dabei im Grunde um befristete Zusammenschlüsse unvollkommener genialer Zeitgenossen, die in einem Jahr beschließen, die Fortsetzung zu dem Film zu drehen, den sie im Vorjahr produzierten. Das Produkt ist dabei die Gesamtheit künftiger Entscheidungen, die der Portfoliomanager trifft. Lebt er in Scheidung, leidet er unter Depressionen oder muss den Weggang seiner rechten Hand verkraften, verändert sich das »Produkt« total. Die Bezeichnung Produkt ignoriert, dass die einzige Stabilitätsquelle in Wirklichkeit darin besteht, wie robust (oder gar unerschütterlich) die geistige Befindlichkeit des Teamleiters ist. (Nassim Taleb spricht davon, dass Stabilität ohne Volatilität nicht zu haben ist).
Was ist das beste oder lohnendste Investment, das du je getätigt hast (in Form von Geld, Zeit, Energie etc.)?
Ich investiere einen unverhältnismäßigen Teil meines Einkommens in eine wachsende Zahl von Trainern und Coaches. Zwei Coaches, die in den letzten fünf Jahren enormen Einfluss auf mich hatten, waren Carolyn Coughlin von Cultivating Leadership und Jim Dethmer von Conscious Leadership. Carolyn ist die beste Zuhörerin, die ich kenne. Sie gräbt meine uneingestandenen Erwartungen aus – solche, die mich beherrschen statt umgekehrt – und bringt mir bei, immer bessere Fragen zu stellen. Jim Dethmer ist vielleicht einer der wenigen lebenden Bodhisattwas. Er hat mir geholfen, meine Kommunikationskompetenz zu verbessern und am Arbeitsplatz und in der Familie bewusstere Beziehungen zu entwickeln. In meinen Augen spielen Coaches wie Jim und Carolyn dieselbe Rolle wie die Zauberer in Lord of the Rings . Sie strahlen eine unterstützende, liebevolle Energie aus, die die Voraussetzungen dafür schafft, das Leben wie ein Abenteuer auf sicherem Boden zu empfinden, auf dem sich immer wieder neue Möglichkeiten auftun.
Wozu kannst du heute leichter Nein sagen als vor fünf Jahren?
Ich lasse Assistenten nach Bildern von Menschen googeln, mit denen ich in den nächsten zwei Wochen persönlich oder telefonisch sprechen möchte, und sie in eine Trello-Karte aufnehmen. Für mich sind Begegnungen mit Unbekannten eine Chance, eine Tür zu einer neuen Welt aufzustoßen, was mein oder ihr Leben verändern könnte. Die Bilder helfen mir, die Intentionen anderer zu visualisieren und kreativere Ideen dazu freizusetzen, worüber wir sprechen und wie ich ihnen weiterhelfen könnte. Ich kann dadurch auch leichter feststellen, ob mein ganzer Körper Ja sagt zu einer persönlichen Begegnung und zum Aufstoßen dieser neuen Tür. Wenn nicht, nehme ich sofort die Hand von der Klinke.
Was tust du, wenn dir alles zu viel wird, du nicht mehr fokussiert bist oder deine Konzentration nachlässt? Welche Fragen stellst du dir?
Ich frage mich: »Was ist das Schlimmste, das passieren kann?«, wenn die Dinge nicht so laufen, wie ich mir das vorstelle. Ich hatte mir angewöhnt, meinen Kindern diese Frage zu stellen, und kürzlich kehrte meine achtjährige Tochter den Spieß um. Ich bin ein sehr pünktlicher Mensch. Sie musste zur Schule, und wir waren spät dran. Ich wurde langsam ungeduldig. Da sagte sie: »Dad, was wäre denn das Schlimmste, das passieren kann, wenn wir zu spät kommen?« Sofort konnte ich alles viel lockerer sehen. Ich mag die Frage, weil sie oft uneingestandene Erwartungen offenbart.
Welche Überzeugungen, Verhaltensweisen oder Gewohnheiten, die du dir in den letzten fünf Jahren angeeignet hast, haben dein Leben am meisten verbessert?
Ich schwimme fast jeden Morgen, und das hat enormen Einfluss darauf, wie ich den restlichen Tag angehe. Schwimmer sprechen vom sogenannten »Water Feel« – das ist, als würde man ins Wasser greifen und seinen Körper an einem Punkt vorbeiziehen, statt mit der Hand durch das Wasser zu gleiten. Auch so kommt man vorwärts, doch lange nicht so effizient und elegant. Wie David Foster Wallace in seiner »This Is Water«-Rede sagte: Das Leben ist für uns oft wie Wasser – wir schwimmen darin, nehmen es aber nicht wahr, weil wir es entweder eilig haben oder unsere Umwelt nicht bewusst registrieren. Gelingt es mir, vor jedem Zug das Wasser wirklich zu spüren, dann verändert das mein ganzes Sein: Ich dresche nicht aufs Wasser ein, bis ich den Beckenrand erreicht habe, sondern es entsteht ein müheloser Fluss im Zusammenspiel mit der Realität, die mich umgibt.
Welchen Rat würdest du einem intelligenten, motivierten Studenten für den Einstieg in die »echte Welt« geben?
Ich stelle mir die berufliche Entwicklung eines Menschen gern anhand von Dan Siegels Metapher eines Flusses vor, der zwischen zwei Ufern fließt: Am einen herrscht absolutes Chaos, am anderen strikte Ordnung. Dan behauptet, dass alle Geisteskrankheiten am einen oder anderen Ufer zu finden sind: Schizophrenie ist Chaos, Zwangsneurosen übertriebene Ordnung. Ein gesunder, integrierter Mensch schwimmt mitten im Fluss. Die meisten Studenten haben ihr bisheriges Leben näher am Ufer der Ordnung verbracht und werden in ihrer beruflichen Laufbahn mit Ausflügen zur Flussmitte hin experimentieren. Ich stelle mir die Bahn am Ordnungsufer als geeignete konventionelle Route für junge Menschen zwischen 20 und 30 vor. Dort muss man lernen, »die Realität genauer zu betrachten«. Wer dort schwimmt, muss sich den Jargon einer Branche aneignen und von anderen lernen, um Urteilsvermögen zu entwickeln und herauszufinden, wo er brillieren kann.
In der mittleren Bahn schwimmen die Menschen meines Erachtens meist erst zwischen 30 und 50, also in einer Zeit, in der man als immer »ausdrucksstärkerer Dichter« allmählich seine eigene Sprache gefunden hat. Man beherrscht sein Fach und sieht sein Leben mehr als Selbstverwirklichung, nicht mehr so sehr im Ausfüllen der Rollen, die einem andere zuweisen. Ein winziger Prozentsatz der Schwimmer steuert dann die Bahn neben dem Chaosufer an, wo man Autoren wie Robert Pirsig und David Foster Wallace, Investoren wie Mike Burry oder Eddie Lampert oder Unternehmer wie Steve Jobs und Elon Musk antrifft. Ich erlebe sie als Menschen, die »Realität behaupten«, indem sie überzeugende Geschichten erzählen. Dabei laufen sie ständig Gefahr, dass sich ihre Egos zu sehr aufblähen und ihr kreativer Narzissmus überhandnimmt. Es kann vorkommen, dass sie den Bezug zur Realität verlieren und am Chaosufer landen.
So betrachtet waren Pirsigs Kampf um seinen Verstand am Ende seines Lebens, Steve Jobs magische Gedanken über seine Krankheit und Eddie Lamperts Ayn-Rand-Einstellung zur Anlage in Sears womöglich allesamt Beispiele dafür, wie ausdrucksstarke Dichter das Gespür dafür verlieren, wann sie mythologisieren können, bis unsere kollektive Realität nachgibt, und ab welchem Punkt sie plötzlich verrückt wirken. Musk treibt meiner Ansicht nach die Hedge-fondsmanager in den Wahnsinn. Die eine Hälfte wettet gegen seine Aktien, weil er mit seinen Ideen so aggressiv hausieren geht, die andere Hälfte setzt darauf, weil er tatsächlich auf 100 Jahre hinaus plant. Das kann einen schon verwirren.
Rückblickend hätte ich mir mit 21 vielleicht geraten, etwas geduldiger am Ordnungsufer entlang zu schwimmen, statt ständig in die unternehmerische und chaotische Seite des Flusses einzutauchen. Einmal – was für eine Schrecksekunde – gelang es mir, im letzten Moment zu kündigen, bevor mich mein Chef auf die Straße setzte, weil ich mich mehr um meine Angelegenheiten kümmerte als um seine. Man sollte aber auch nicht zu nah am Ordnungsufer ausharren, denn dann besteht die Gefahr, dass man sein Leben nach den Maßstäben anderer lebt. So oder so – man muss sich stets vor Augen halten, dass man den eigenen Kurs korrigieren und mehr auf Struktur oder stärker auf Chaos ausrichten kann, auf Abhängigkeit oder Freiheit – je nachdem, was man gerade braucht, welches Tempo oder welche Phase der eigenen Karriere man anstrebt, von welchem Ufer man kommt und wohin man will. Eltern, die wie ich an der Frage laborieren, wann und ob man Kinder wegschwimmen lassen sollte, empfehle ich wärmstens das Gedicht »For Julia, in the Deep Water« [von John N. Morris].