»Nur eine Stunde Trapez-Unterricht hat mir klargemacht, dass unterhalb des Geplappers meines Geistes mein Körper alles unter Kontrolle hat, wenn ich bereit bin, den Sprung zu wagen und zu fliegen.«
SOMAN CHAINANI
ist ein gründlicher Planer, Filmemacher und Autor, der es auf die Bestsellerliste der New York Times
geschafft hat. Seine erste Buchreihe, The School for Good and Evil
, wurde millionenfach verkauft, in mehr als 20 Sprachen auf sechs Kontinenten übersetzt und wird bald als Film von Universal Pictures veröffentlicht. Chainani ist Absolvent der Harvard University und des Film-Studiengangs MFA an der Columbia University. Er begann seine Karriere als Drehbuchautor und Regisseur, dessen Filme bei mehr als 150 Filmfestivals in aller Welt gezeigt wurden. Vor kurzem wurde er in die Out100-Liste des Magazins Out
aufgenommen. Außerdem erhielt er den Shasha Grant in Höhe von 100.000 Dollar und die Sun Valley Writers’ Fellowship, beides Auszeichnungen für Erstautoren.
Welches Buch (welche Bücher) verschenkst du am liebsten? Warum? Welche ein bis drei Bücher haben dein Leben am stärksten beeinflusst?
The War of Art
von Steven Pressfield (
S. 28
). Dieses dünne kleine Buch lese ich vor jedem neuen kreativen Projekt, und es zündet eine Fackel in mir an. Das Problem bei jeder kreativen Arbeit ist, dass wir dafür der produktiven Stimme in uns vertrauen, aber gleichzeitig die negativen Stimmen zum Schweigen bringen müssen. Dabei kann es sehr leicht passieren, dass sich all die Stimmen vermischen, sodass wir unsere Ambitionen still und leise aufgeben (das war der Grund dafür, dass ich im Alter von 21 Jahren Pharmavertreter wurde und Viagra verkaufte, statt wie heute Fantasyromane zu schreiben). Pressfield ist halb Drillseargent, halb Zenmeister. Er hat mich aus meiner Erstarrung geholt und mir die Bedeutung von kreativer Disziplin beigebracht.
A Little Life
von Hanya Yanagihara. Das ist der beste Roman, den ich je gelesen habe. Sein Motiv ist denkbar einfach: Jeder von uns trägt Belastungen, Wunden und Schmerzen mit sich herum. Aber diese Gemeinsamkeit aller Menschen anzuerkennen, ist das, was uns dabei hilft, diesen Schmerz zu überwinden.
Peter Pan
von J. M. Barrie. Ich glaube, die beste Möglichkeit für Menschen, die feststecken, liegt darin, sich an das Lieblingsbuch aus ihrer Kindheit zu erinnern. Ein Buch, das man immer und immer wieder gelesen hat. Irgendwo in diesem Buch versteckt sich der Hinweis nicht nur darauf, was dich wirklich antreibt, sondern auch auf den Sinn deines Lebens. Bei mir war es Peter Pan
mit seiner Hauptfigur, die gleichzeitig charmant und ein absolut narzisstischer, pathologischer Dämon ist. Es war dieser uneindeutige Bereich zwischen Gut und Böse, der mich als Kind fasziniert hat … Und heute als Erwachsener schreibe ich Bücher darüber.
Welcher (vermeintliche?) Misserfolg war die Voraussetzung für deinen späteren Erfolg? Hast du einen »Lieblingsmisserfolg«?
Der größte Misserfolg, den ich je erlebt habe, war mein Abschlussfilm an der Filmhochschule der Columbia University – ich hatte all meine Ersparnisse (fast 25.000 Dollar) in den Film gesteckt und acht Monate daran gearbeitet. Einen Tag vor der endgültigen Aufführung an der Fakultät zeigte ich ihn einem Professor, der mir empfahl, ihn in Stücke zu zerlegen und komplett neu zu schneiden. In Panik befolgte ich diesen Rat und präsentierte der Fakultät
am nächsten Tag die zusammengestückelte Version. Ich erntete dafür nichts als Ablehnung. Die gesamte Glaubwürdigkeit, die ich mir bei meinen Professoren in den drei Jahren zuvor erarbeitet hatte, war dahin. Ein paar Wochen später traf ich zufällig eines der enttäuschten Fakultätsmitglieder – er hatte meine Arbeit bis dahin enorm unterstützt und konnte mir jetzt kaum in die Augen sehen. Ich erzählte ihm die Geschichte vom Neuschnitt in letzter Minute. Er wollte die Originalversion sehen. Als ich sie ihm zeigte, leuchteten seine Augen auf: »Ah, jetzt kann ich Sie sehen.«
Das war die wertvollste Lektion, die ich je bekommen habe. Lass dich sich nicht vom Kurs abbringen, bevor du dein Ziel erreicht hast. Vertrau deiner Arbeit. Vertrau immer deiner Arbeit.
Welche Überzeugungen, Verhaltensweisen oder Gewohnheiten, die du dir in den letzten fünf Jahren angeeignet hast, haben dein Leben am meisten verbessert?
Es gibt eine umwerfende Kurzgeschichte von Ted Chiang mit dem Titel »Liking What You See«, die etwas in mir ausgelöst hat. In der Geschichte geht es darum, dass Schönheit zu einer Superdroge der modernen Zeit geworden ist. Gefilterte und technisch verschönerte soziale Medien, retuschierte Models in der Werbung und zügellose Pornografie überladen unsere Sinne, sodass unsere natürlichen Instinkte echte Schönheit nicht mehr erkennen oder darauf reagieren können. Das macht uns verwirrt und unglücklich, sowohl in der Beurteilung von uns selbst als auch von anderen. Diese kristallklare Warnung, dass Schönheit buchstäblich unser Leben ruiniert, hat mein Leben um den Faktor 10 verbessert, nur indem sie mich darauf aufmerksam gemacht hat (und dafür gesorgt hat, dass ich 90 Prozent von dem ignoriere, was auf Instagram zu finden ist).
Wenn du an einem beliebigen Ort ein riesiges Plakat mit beliebigem Inhalt aufhängen könntest, was wäre das und warum? Gibt es Zitate, an die du häufig denkst oder nach denen du lebst?
Wenn ich in Hollywood wäre, würde ich sagen: »Du lügst«. An allen anderen Orten würde ich sagen: »Wenn du es dir vorstellen kannst, ist es wahrscheinlich falsch«. Durch Meditation habe ich gelernt, dass die meisten Ideen, Meinungen, Regeln und festen Systeme, die ich in meinem Denken habe, nicht die eigentliche Wahrheit sind. Sie sind die Überbleibsel früherer Erlebnisse, an denen ich festgehalten habe. Ich habe gelernt, dass meine Seele absolut nicht in Gedanken spricht – sie spricht in Gefühlen, Bildern und Hinweisen.
Welche Anschaffung von maximal 100 Dollar hat für dein Leben in den letzten sechs Monaten (oder in letzter Zeit) die größte positive Auswirkung gehabt?
Mother Dirt: Es hat meine Akne- und Hautprobleme dauerhaft geheilt. Das ist ein Spray für 49 Dollar mit oxidierenden Bakterien, das man statt Seife verwendet, und es stellt das natürliche Gleichgewicht der Haut wieder her. Wenn ich das Mittel für jeden Teenager in den USA kaufen könnte, würde ich das tun.
Was ist eine deiner – gern auch absurden – Eigenheiten, auf die du nicht verzichten möchtest?
Ich habe das, glaube ich, noch nie jemandem erzählt, aber ich lese vor dem Schlafengehen alte Ausgaben von Archie-Comics. Das ist keine neue Angewohnheit: Ich habe schon als Kind Archie gelesen, bevor ich mich hingelegt habe. Riverdale wirkt in diesen Comics immer so frisch und hell und einladend (also wie das genaue Gegenteil meiner Schule, als ich älter wurde). Das gibt mir immer noch ein warmes, beruhigendes Gefühl, bevor ich in den Schlaf rutsche. Wichtiger ist aber: Den Tag zu beenden, indem ich das Gleiche lese wie als Kind, gibt meinem Leben den Anschein einer schönen Sinnhaftigkeit und Ordnung.
Was ist das beste oder lohnendste Investment, das du je getätigt hast (in Form von Geld, Zeit, Energie etc.)?
Trapez-Unterricht. Das ist wie eine Schocktherapie für die Seele. Wenn du in 15 Metern Höhe auf einem Trapez schwebst, gibt es nur noch dich selbst, deine Angst und deine Instinkte. Das war die intimste Erfahrung mit mir selbst, die ich je hatte. Nur eine Stunde Trapez-Unterricht hat mir klargemacht, dass unterhalb des Geplappers meines Geistes mein Körper alles unter Kontrolle hat, wenn ich bereit bin, den Sprung zu wagen und zu fliegen.
Welchen Rat würdest du einem intelligenten, motivierten Studenten für den Einstieg in die »echte Welt« geben? Welchen Rat sollte er ignorieren?
Ein Rat, den ich geben würde: Sorge dafür, dass du jeden Tag etwas hast, auf das du dich freuen kannst. Vielleicht ist es dein Job, vielleicht ist es ein Basketballspiel nach der Arbeit oder Gesangsunterricht oder deine Schreibgruppe, vielleicht eine Verabredung. Aber unternimm jeden Tag etwas, das dich erfreut. Es wird deine Seele hungrig darauf machen, mehr von diesen Momenten zu erleben.
Ein Rat, den man ignorieren sollte: Immer wenn jemand sagt, er habe einen Job als »Sprungbrett« für etwas anderes angenommen, stirbt ein kleiner Teil von mir, weil die Leute dann eindeutig nicht wirklich an ihrer aktuellen Tätigkeit interessiert sind. Man hat nur ein Leben zu
leben. Zeit ist kostbar. Wenn du Sprungbretter benutzt, vertraust du wahrscheinlich auch auf den Weg oder die Definition für Erfolg von jemand anderem. Verlass dich lieber auf dich selbst.
Welche schlechten Ratschläge kursieren in deinem beruflichen Umfeld oder Fachgebiet?
Zu häufig setzen sich aufstrebende Künstler selbst unter Druck, ihre kreative Arbeit zu ihrer einzigen Einnahmequelle zu machen. Meiner Erfahrung nach ist das ein Weg ins Unglück. Wenn Kunst die einzige Einnahmequelle ist, liegt gnadenloser Druck auf dieser Kunst, und kommerzieller Druck ist der Feind der kreativen Elfen in dir, die versuchen, die Arbeit fertigzubekommen. Ein alternativer Einkommensstrom verringert den Druck auf deine kreative Maschine. Wenn aus deiner Kunst nichts wird, dann hast du immer noch einen absolut sicheren Plan dafür, wie du dich ernähren kannst. Als Folge davon fühlt sich deine kreative Seele leichter und frei dafür, ihr Bestes zu geben.
Ich praktiziere das auch selbst: Sogar nach drei Büchern und einem dicken Film-Deal betreue ich immer noch Jugendliche und helfe ihnen bei ihren Collegebewerbungen. Meine Freunde verstehen das nicht, aber für mich ist es die einzige Möglichkeit, schreiben zu können, ohne das Gefühl zu haben, dass es dabei um Leben und Tod geht.
Wozu kannst du heute leichter Nein sagen als vor fünf Jahren?
Ich bin mir sicher, dass Hollywood-Filme oft so schrecklich sind, weil jeder mit tausend Projekten gleichzeitig beschäftigt ist. Bei der Arbeit an The School for Good and Evil
habe ich gelernt, geduldig zu sein. Wenn ich das Buch schreibe, arbeite ich an nichts anderem, und ich sage zu allem anderen Nein, egal, wie lukrativ es ist. Verpasse ich dadurch Gelegenheiten? Klar. Aber es bedeutet, dass auf den Seiten alles enthalten ist und dass ich mein absolut Bestes gegeben habe, wenn die Bücher in den Verkaufsregalen stehen. Das wiederum gibt ihnen die besten Chancen, längere Zeit zu überleben. Und außerdem ist es so, dass sich unweigerlich bessere Gelegenheiten ergeben als diejenigen, die ich nicht ergriffen habe, weil ich mich auf maximale Qualität festgelegt habe.
Was tust du, wenn dir alles zu viel wird, du nicht mehr fokussiert bist oder deine Konzentration nachlässt?
Wenn ich mich überfordert fühle, hat das normalerweise einen von zwei möglichen Gründen: Entweder steckt mir das Blut im Kopf fest und ich muss zum Sport gehen. Wahrscheinlicher ist aber, dass ich zu viele Zusagen gegeben habe und mein Gehirn weiß, dass ich unmöglich alles schaffen kann, was ich mir vorgenommen habe. Die Lösung ist dann meistens,
tief durchzuatmen, den Kalender durchzugehen und Sachen abzusagen oder Deadlines zu verschieben, bis die Lähmung wieder verschwindet.
Wenn ich mich unkonzentriert fühle, bedeutet das dagegen normalerweise, dass ich mich noch nicht richtig auf das eingestellt habe, woran ich arbeite – ein Teil von mir denkt immer noch, ich könnte die Reißleine ziehen und abhauen. Das passiert meist in den ersten drei Monaten der Arbeit an einem neuen Buch. Letztlich ist ein Mangel an Konzentration meistens nur Angst: Angst, dass irgendein Projekt, an dem ich mich versuche, zu nichts führt oder kläglich scheitert. Früher hatte ich die Angewohnheit, dieser Angst nachzugeben. Vier Bücher später weiß ich, dass sie nur ein Geist ist, und ich kann einfach durch sie hindurchgehen, ohne zurückzublicken.