»Geld ist für ein Unternehmen wie Benzin für ein Auto. Wenn man nicht aufpasst, bleibt man am Straßenrand liegen. Aber das Fahrziel ist trotzdem nicht die nächste Tankstelle.«
TIM O’REILLY
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TIM O’REILLY ist Gründer und CEO von O’Reilly Media. Sein ursprünglicher Businessplan war einfach »interessante Arbeit für interessante Menschen«, und der ist offensichtlich aufgegangen. O’Reilly Media bietet Online-Kurse an, verlegt Bücher, veranstaltet Konferenzen, drängt Unternehmen, mehr Wert zu schaffen, als sie herausholen, und versucht, die Welt zu verändern durch Verbreitung und Verstärkung von Innovatoren-Wissen. Von der Zeitschrift Wired wurde er als »Trend Spotter« bezeichnet. Inzwischen beschäftigt sich Tim mit den potenziellen Folgen künstlicher Intelligenz, der On-Demand-Wirtschaft und anderen Technologien, die den Arbeitsmarkt wesentlich verändern und die Geschäftswelt der Zukunft gestalten. Das ist auch Thema seines neuen Buchs WTF?: What’s the Future and Why It’s Up to Us .
Welches Buch (welche Bücher) verschenkst du am liebsten? Warum? Welche ein bis drei Bücher haben dein Leben am stärksten beeinflusst?
Es fällt mir sehr schwer, mich auf drei Bücher zu beschränken, weil Bücher und die Ideen, auf die sie mich bringen, so ein maßgeblicher Teil meines geistigen Instrumentariums sind.
An erster Stelle steht für mich The Meaning of Culture von John Cowper Powys, weil es meine Beziehung zu Literatur (und den anderen schönen Künsten) erklärt. Powys beschreibt den Unterschied zwischen Bildung und Kultur folgendermaßen: Kultur bewirke, dass Musik, Kunst, Literatur und Philosophie nicht nur in die eigene Bibliothek oder den Lebenslauf einfließen, sondern in den Menschen. Er spricht vom Wechselspiel zwischen Kultur und Leben, davon, wie das, was wir lesen, unsere Erfahrungswelt bereichern kann – und das, was wir erfahren, unseren Lesestoff.
The Way of Life According to Lao Tzu , das Tao Te Ching in der Übersetzung von Witter Bynner. Dieses Buch steht im Mittelpunkt meiner persönlichen Religions- und Moralphilosophie. Es hebt die Richtigkeit all dessen hervor, was ist – wenn wir dies nur akzeptieren können. So gut wie alle, die mich kennen, haben mich schon aus diesem Buch zitieren hören. »Und hat das Netz des Himmels auch weite Maschen, entgeht ihm nicht einmal das leiseste Wispern.« »Ich bin gut zu den Menschen, die gut sind zu mir. Ich bin selbst gut zu denen, die mich hassen.«
Rissa Kerguelen von F. M. Busby. Diesen inzwischen weitgehend in Vergessenheit geratenen Science-Fiction-Roman las ich, als ich gerade mein Unternehmen gründete, und er hat mich enorm beeinflusst. Eine zentrale Idee ist die Rolle des Unternehmertums als »subversive Kraft«. In einer von Großkonzernen beherrschten Welt sind es die kleineren Unternehmen, die die Freiheit aufrechterhalten, und die Ökonomie ist zweifellos ein Kriegsschauplatz. Dieses Buch gab mir den Mut, mich auf die Details eines im Grunde trivialen Geschäfts (das Verfassen und Verlegen von Fachtexten) zu werfen und meine früheren Hoffnungen fahren zu lassen, tiefgründige Bücher zu schreiben, die die Welt verändern würden. Diese Hoffnungen sollten erst später wieder erwachen.
Die andere großartige Idee dieses Buches ist die »langfristige Perspektive«. Lange bevor die Long Now Foundation dieses Konzept populär machte, hängte Busby seine Handlung an dem Science-Fiction-Bild auf, dass in einer Welt, in der die Menschen fast mit Lichtgeschwindigkeit reisen können, die Zeit für alle, die mit nahezu relativistischem Tempo unterwegs sind, langsamer vergeht als für diejenigen, die zurückgelassen werden. Die Charaktere müssen Ereignisse in Gang setzen und dann aufbrechen, um sie Jahrzehnte später wieder einzuholen. Das war für mich eine nützliche Sichtweise, als ich im Begriff war, ein Unternehmen aufzubauen, das es mir erlauben würde, in Zukunft in einer Weise auf die Welt Einfluss zu nehmen, wie ich es als junger Unternehmer noch nicht konnte.
Wenn du an einem beliebigen Ort ein riesiges Plakat mit beliebigem Inhalt aufhängen könntest, was wäre das und warum?
Im Grunde habe ich solche Plakatwände. Sie stehen bloß online statt an der Straße. Das eine oder andere, was ich so von mir gegeben habe, ist zum Internet-Meme geworden, und zwar mit einer erstaunlichen Vielfalt an Bildmaterial (und mitunter verhackstücktem Text). Drei der populärsten sind:
»Arbeite an wichtigen Dingen.«
»Schaffe mehr Wert, als du herausholst.«
»Geld ist für ein Unternehmen wie Benzin für ein Auto. Wenn man nicht aufpasst, bleibt man am Straßenrand liegen. Aber das Fahrziel ist trotzdem nicht die nächste Tankstelle.«
Wenn ich mich für eines entscheiden müsste, würde ich vermutlich nehmen »Schaffe mehr Wert, als du herausholst«, denn so vieles, was in unserer Wirtschaft falsch läuft, geht darauf zurück, dass das nicht beherzigt wird. In einer reichen Gesellschaft oder einem reichen, komplexen Ökosystem … Diese Zeile fiel Brian Erwin ein, damals mein Marketing-VP. Das war auf einer Führungskräfteklausur um 2000, als ich trocken feststellte, dass mir mehr als ein Internetmilliardär gestanden habe, er hätte sein Unternehmen mit dem gegründet, was er aus einem O’Reilly-Buch gelernt hatte. Brian schlug vor, dieses Prinzip zu verinnerlichen, und das haben wir seither getan.
Ich habe einmal versucht, Eric Schmidt zu erklären, dass sich Google besser daran orientieren solle als an dem Motto »Don’t be evil!« Es ist messbar – man kann tatsächlich gegenüberstellen, wie viel man selbst von einer Tätigkeit hat, und wie viel andere davon haben. Google nimmt solche Messungen sogar vor – im Jahresbericht über seine wirtschaftlichen Auswirkungen. Aber meiner Ansicht nach hätte das Unternehmen jetzt keine kartellrechtlichen Probleme, wenn es bei der Entwicklung neuer Dienste mehr an die Gesundheit des eigenen Ökosystems gedacht hätte. Es reicht nicht, nur an sich selbst und die eigenen Nutzer oder Kunden zu denken. Man muss das eigene Unternehmen als Teil des Lebensgefüges sehen – als Organismus in einem Ökosystem. Wer zu dominant wird, entzieht dem Ökosystem die ganze Lebenskraft. Es gerät aus dem Gleichgewicht, und am Ende leiden alle darunter, auch die Geschöpfe, die sich ganz an der Spitze in Sicherheit wähnen.
Was ist eine deiner – gern auch absurden – Eigenheiten, auf die du nicht verzichten möchtest?
Jeden Morgen versuche ich beim Joggen eine Blume zu fotografieren und auf Instagram zu teilen. Dazu hat mich eine Passage aus einem Buch von C. S. Lewis inspiriert, die ich vor vielen Jahren gelesen habe (ich glaube, es war The Great Divorce ). Darin sieht ein Charakter die Blumen nach seinem Tod nur als Farbkleckse, und der Geist, der ihn leitet, sagt sinngemäß: »Das kommt, weil du sie dir zu Lebzeiten nie richtig angesehen hast.« Und eine Zeile aus Hamilton lautet: »Look around. Look around. How lucky we are to be alive right now!«
Welche Überzeugungen, Verhaltensweisen oder Gewohnheiten, die du dir in den letzten fünf Jahren angeeignet hast, haben dein Leben am meisten verbessert?
Wenn ich aus dem Bett steige, nehme ich erst mal zwei Minuten lang die Bretthaltung ein, gefolgt von zwei Minuten herabschauendem Hund und einer Reihe von Dehnübungen. Das bringt meinen Stoffwechsel in Schwung und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich noch zu ein paar anstrengenderen Übungen aufraffen kann. Früher habe ich als Erstes meinen Rechner eingeschaltet und mich oft so vereinnahmen lassen, dass es beim nächsten Aufschauen schon zu spät war, noch Sport zu treiben, bevor der Tag richtig begann.
Wozu kannst du heute leichter Nein sagen als vor fünf Jahren?
Ich habe sehr von Esther Dysons (Seite 266 ) Rat hinsichtlich der Zusage von Vortragsverpflichtungen profitiert. »Würdest du zusagen, wenn es nächsten Dienstag wäre?« Denn irgendwann ist es nächsten Dienstag, und dann sagt man sich: »Verdammt, wieso habe ich mich bloß dazu breitschlagen lassen?« Voraussicht ist eine Tugend. Vergiss nie: Eines Tages wird die ferne Zukunft zur Gegenwart, und die Entscheidungen, die wir heute treffen, legen fest, welche Wahlmöglichkeiten wir dann noch haben. Das lässt sich natürlich auch auf viele gesellschaftliche und ökologische Fragen übertragen (wie Klimawandel oder Einkommensgefälle).
Welche schlechten Ratschläge kursieren in deinem beruflichen Umfeld oder Fachgebiet?
»Sei disruptiv.« Als Clayton Christensen in seinem Wirtschaftsklassiker The Innovator’s Dilemma: When New Technologies Cause Great Firms to Fail den Begriff »disruptive Technologie« prägte, hatte er etwas ganz anderes im Sinn als die Frage: »Wie kann ich mir Kapital verschaffen, indem ich Wagniskapitalgeber davon überzeuge, dass es einen riesigen Markt gibt, den ich auf den Kopf stellen kann?« Er wollte vielmehr wissen, warum bestehende Unternehmen neue Chancen nicht nutzen. Er stellte fest, dass bahnbrechende Technologien, die noch nicht ausgereift sind, zunächst Erfolg haben, indem sie sich neue Märkte erschließen, und erst später bestehende Märkte in Aufruhr versetzen.
Bei disruptiven Technologien geht es nicht um den Markt oder die Mitbewerber, die vernichtet werden. Es geht um die neuen Märkte und neuen Möglichkeiten, die sie eröffnen. Wie beim Transistorradio oder dem frühen World Wide Web sind diese neuen Märkte oft zu klein, als dass sich etablierte Unternehmen dafür interessieren. Wenn diese aufwachen, hat sich ein Neuling in so einem jungen Segment bereits die Führungsposition gesichert.
Vor allem aber ist die Vorstellung, dass wir uns auf Disruption konzentrieren sollten statt auf einen neuen Wert, der Hauptgrund für die aktuelle Wirtschaftsmisere, das Einkommensgefälle und die politischen Unruhen. Das Geheimnis beim Aufbau einer besseren Zukunft ist, Technologie einzusetzen, um Dinge zu tun, die zuvor noch unmöglich waren. Das galt für die erste industrielle Revolution, und es gilt heute. Es ist nicht die Technologie, die Arbeitsplätze vernichtet. Es sind kurzsichtige Unternehmensentscheidungen, die Technologie nur einsetzen, um Kosten zu sparen und die Unternehmensgewinne in die Höhe zu treiben. Der Sinn von Technologie ist aber nicht, Geld zu verdienen, sondern Probleme zu lösen!
Das übergreifende Konzeptionsmuster für die Anwendung von Technologie lautet: Mehr tun. Dinge tun, die zuvor unvorstellbar waren.
Trotz des vielen Geredes über disruptive Phänomene steht auch das Silicon Valley oft im Bann des Finanzsystems. Der ultimative Härtetest ist für allzu viele Unternehmer nicht, wie sie die Welt verändern wollen, sondern was ihnen der »Exit«, also die Veräußerung oder der Börsengang, persönlich bringt, und was den Wagniskapitalgebern, die ihnen hohe Summen zur Verfügung gestellt haben. Viele sind schnell bei der Hand mit Schuldzuweisungen an die »Wall Street«, erkennen aber nicht, inwieweit sie selbst zum Problem beigetragen oder zumindest keine Lösung dafür gefunden haben.
Welchen Rat würdest du einem intelligenten, motivierten Studenten für den Einstieg in die »echte Welt« geben? Welchen Rat sollte er ignorieren?
»Wer sich der Gewalt bedient, wird bald ohne Macht dastehen – dies ist nicht der Weg.« – Laotse, The Way of Life According to Lao Tzu .
Wir setzen Cleverness und Getriebenheit mit Erfolgsgaranten gleich. Doch manchmal ist aufmerksame Wachsamkeit um einiges weiser und effektiver. Wer lernt, seiner Nase zu folgen und aus Neugier oder Interesse Fäden zu ziehen, der kommt manchmal weiter, als ihn Getriebenheit je bringen könnte.
Mein eigenes Leben war von glücklichen Zufällen geprägt. Ich hatte kaum den Collegeabschluss in der Tasche, als mich ein Freund bat, ein Buch über den Science-Fiction-Autor Frank Herbert zu schreiben. Ich hatte noch nie ein Buch geschrieben, doch Dick Riley, Redakteur einer neuen Buchreihe über Science-Fiction-Autoren, wusste, dass ich das Genre liebte und schreiben konnte. Ich weiß noch, wie ich meinen Betreuer aus Harvard, Zeph Stewart, fragte, mit dem ich befreundet war, ob mich das nicht »auf Abwege« führen würde. Er lachte und meinte: »Du bist erst 21. Wenn du mit 30 noch nicht weißt, was du tust, kannst du anfangen, dir Gedanken zu machen.«
Weil ich zusagte, sah ich mich irgendwann als Schriftsteller. Und weil ich mich als Schriftsteller sah, erklärte ich mich ein paar Jahre später bereit, einem Freund, einem Programmierer, zu helfen, ein Computerhandbuch zu schreiben (obwohl ich von Computern keine Ahnung hatte). Und dieser glückliche Umstand war es, der mich am Ende dazu brachte, den Grundstein für O’Reilly Media zu legen.
Auch später in meiner Karriere gab es immer wieder Gelegenheiten, bei denen es zum perfekten Ergebnis führte, auf den richtigen Moment zu warten. Ein Beispiel ist der »Freeware Summit«, den ich im April 1998 veranstaltete. Ich hatte den ganzen Herbst 1997 schon darüber nachgedacht, Leute aus der Linux-Community, der Perl-Community und dem Internet zusammenzubringen, doch irgendetwas hielt mich davon ab, Nägel mit Köpfen zu machen. Dann kündigte Netscape an, den eigenen Browser als Freeware zur Verfügung zu stellen, und als ich die Konferenz schließlich im April 1998 organisierte, war das genau der richtige Zeitpunkt. Erst Wochen zuvor hatte Christine Peterson den Begriff »quelloffene« Software geprägt. Hätte ich meine Veranstaltung im Herbst des Vorjahres abgehalten, hätte ich keine Chance gehabt, die versammelten Spitzenleute zu überreden, sich auf den neuen Namen zu einigen und ihn der anwesenden Presse zu präsentieren.
Hört auf eure innere Stimme. Sie sagt euch, wofür ihr euch entscheiden sollt. Sokrates nannte sie seinen »Daimon «. Laotse sagte über den wahren Herrscher: »Im Verlust liegt dein Gewinn, und im Erfolg dein Verlust.« Es ist die Fähigkeit, ruhig auf den richtigen Moment zu warten, statt ziellos vorzupreschen, der selbst ein ehrgeiziger Jäger mitunter seinen größten Jagderfolg verdankt.