»Wenn deine Arbeit 99 Prozent deines Lebens ausmacht, dann verstehst du entweder dein Handwerk nicht oder dein übriges Leben ist total aus dem Gleichgewicht geraten. Und das ist kein Grund, stolz zu sein.«
JÉRÔME JARRE
TW/FB/SC/YT: @jeromejarre
JÉRÔME JARRE hat mit 19 sein Betriebswirtschaftsstudium abgebrochen und ging nach China. Nachdem er mit sechs Start-ups gescheitert war, fokussierte er seine Energie auf den Durchbruch in den sozialen Medien. Zwölf Monate später waren seine Videos über Glück und den Umgang mit Ängsten 1,5 Milliarden Mal aufgerufen worden, was ihn zum Pionier der mobilen Videobranche machte. 2013 fungierte Jérôme als Mitgründer der ersten mobilen Werbeagentur mit Gary Vaynerchuk (Seite 238 ) und beriet manche der größten Unternehmen der Welt, indem er Influencer mit Marken zusammenbrachte. Nachdem er lokale Nichtregierungsorganisationen in aller Welt unterstützt hatte, vereinte Jérôme 2017 50 der größten mobilen Influencer zur LOVE ARMY, die 2,7 Millionen US-Dollar aufbrachte, um die Folgen der Dürre in Somalia zu lindern. Jeder Cent davon kam Menschen direkt vor Ort zugute.
Welches Buch (welche Bücher) verschenkst du am liebsten? Warum? Welche ein bis drei Bücher haben dein Leben am stärksten beeinflusst?
Propaganda von Edward Bernays und die Dokumentation The Century of the Self . Dieses Buch hat mir die Augen für die Marketingindustrie geöffnet – zu einer Zeit, als ich darin blind meine Aufgabe erfüllt habe. Edward Bernays ist im Grunde der Urvater der gesamten Marketingwelt, der Papst aller Marketing-Gurus und Werbeagenturen. Ihn faszinierte Ende des letzten Jahrhunderts, was Hitlers Helfer geschaffen hatten – nämlich eine allumfassende Illusion, eine »Propaganda«, an die Millionen von Menschen in Europa glaubten. Da zog er nach New York und versuchte, dieselbe Methode im Geschäft anzuwenden. Und weil der Begriff »Propaganda« so negativ besetzt ist, prägte er dafür die Bezeichnung »Public Relations« und gründete die erste PR-Agentur Amerikas.
Zum Leidwesen der Menschen wählte er seine Kunden – wie heute 99,9 Prozent aller Agenturen – danach aus, wie viel sie zu zahlen bereit waren. Deshalb förderte er am Ende die Schweinefleischindustrie, indem er den Menschen einredete, dass Frühstücksspeck stark macht, und die Tabakindustrie, indem er die Zigarette zum Symbol der Frauenrechtsbewegung erkor.
Mich treibt Bernays Geschichte um, weil er alles falsch gemacht hat. Geld war ihm wichtiger als Sinnhaftigkeit, Ruhm wichtiger als Wirkung. Und auf dem Sterbebett hatte er viel zu bedauern. Ich habe gelesen, dass er kurz vor seinem Tod predigte, sich vom Tabak fernzuhalten. Mir ist klar, dass uns die Marketing- und PR-Branche erhalten bleiben wird. Es ist vermutlich zu spät, den Effekt, den dieser Typ und alle anderen Marketing-Gurus auf die Welt hatten, umzukehren. Aber ich hoffe, dass Bernays Bücher und der Dokumentarfilm über sein Leben irgendwann das Erste sein werden, was Studenten in betriebswirtschaftlichen Studiengängen lesen und sehen müssen. Zurzeit wird seine Geschichte noch weithin ignoriert – aus einem ganz bestimmten Grund: Der Blick in den Spiegel fällt schwer. Ich weiß noch, wie ich auf einer Marketingkonferenz in Deutschland über Bernays Leben und Vermächtnis sprach. Die Veranstalter waren stocksauer – sie hatten gehofft, ich würde ihnen Werkzeug an die Hand geben, um auf Snapchat Produkte an die Generation Y zu vertreiben.
Welche Anschaffung von maximal 100 Dollar hat für dein Leben in den letzten sechs Monaten (oder in letzter Zeit) die größte positive Auswirkung gehabt?
Ich habe vier Dollar für einen Parkplatz an einem herrlichen See in Oregon gezahlt. Ich ging schwimmen und hatte unbezahlbaren Badespaß.
Welcher (vermeintliche?) Misserfolg war die Voraussetzung für deinen späteren Erfolg? Hast du einen »Lieblingsmisserfolg«?
Fast alles, was ich anfange, scheint zunächst schiefzugehen. Als ich mein Studium schmiss, um mein erstes Start-up zu gründen, dachten 75 Prozent aller Menschen, die ich kannte, ich würde das mein Leben lang bereuen. Manche prophezeiten mir sogar, ich würde bestimmt auf der Straße landen. Als ich schließlich mein kriselndes junges Tech-Unternehmen aufgab, um Online-Videos zu machen, hielten das alle um mich herum für eine peinliche Flucht und für Zeitverschwendung. Als ich die Influencer-Marketingagentur verließ, die ich mit Gary Vaynerchuk gegründet hatte, um mich stattdessen mit der Nutzung sozialer Medien für gute Zwecke zu befassen, meinten alle, nun sei ich komplett verrückt geworden – und würde neben meinem Verstand auch noch eine kräftig sprudelnde Einnahmequelle und eine sichere Zukunft verlieren. Dabei waren das alles die besten Entscheidungen meines Lebens, denn jeder dieser schwierigen Entschlüsse, die (zunächst) wie Fehlschläge wirkten, brachte mich etwas näher zu mir selbst. Jeder stärkte mein wahres Ich. Und jeder weckte mich aus einer Illusion. Inzwischen erkenne ich ein eindeutiges Muster: Jedes Mal, wenn ich mich meinem wahren Ich nähere, werde ich zurückgestoßen. Wenn mir etwas wie ein Misserfolg vorkommt, dann ist das für mich inzwischen mehr Antrieb als Belastung.
Wenn du an einem beliebigen Ort ein riesiges Plakat mit beliebigem Inhalt aufhängen könntest, was wäre das und warum?
Ein Publikum in den sozialen Medien ist so etwas wie eine Plakatwand, an der täglich Millionen von Menschen vorbeikommen. Ich wünschte, das würden allmählich alle so sehen. Ich kenne viele, die gegen Trump waren und auf ihren sozialen Medien täglich über ihn gesprochen und ihn kritisiert haben. Aber wer würde denn auf die Idee kommen, für jemanden, den er nicht gewählt sehen möchte, eine Plakatwand aufzustellen? Wir Menschen verstehen nicht, wie soziale Medien funktionieren. Ein gutes Buch, das uns da weiterhelfen könnte, ist Understanding Media von Marshall McLuhan. Es sollte unsere Bibel für Online-Verhalten im 21. Jahrhundert sein. Wir alle verwenden diese Medien rund um die Uhr, haben uns aber nie näher damit auseinandergesetzt.
Zurück zu deiner Frage: Ich hätte gern zwei Plakatwände. Auf die eine würde ich schreiben, was ich mir sage, wenn ich eine schwierige Entscheidung treffen muss und die Erfolgsaussichten schlecht sind: »Mach dich stolz.« Ich glaube, wir verbringen viel zu viel Zeit damit, es allen anderen recht zu machen. Und wir vergessen darüber, dass wir alles Notwendige in uns tragen. Dein Instinkt, dein inneres Kind, deine Seele – sie wissen, was für dich und die Welt gut ist. Und zwar besser als die öffentliche Meinung deiner Online-Freunde.
Das zweite Zitat stammt von einem ganz besonderen Menschen: Christopher Carmichael. »Wenn du mit 99 auf dem Sterbebett die Chance bekämst, noch einmal zu genau diesem Moment zurückzuspulen – was würdest du tun?« Das hat mir bei vielen schwierigen Fragen gute Dienste geleistet. Als ich ihn vor sieben Jahren in China kennenlernte, sprach ich kein Englisch. Da gab er mir ein paar Bücher zu lesen, um die englische Sprache zu praktizieren und mich an sie zu gewöhnen. Eines der Bücher war The 4-Hour Workweek . Ich habe es zum Englischlernen so oft gelesen, dass ich eine Zeitlang ein bisschen wie du [Tim] gesprochen habe, glaube ich.
Was ist das beste oder lohnendste Investment, das du je getätigt hast (in Form von Geld, Zeit, Energie etc.)?
Vor vier Jahren, kurz bevor Vine richtig abhob, beschloss ich, mich nur noch damit zu beschäftigen. Aber um wirklich etwas zu erreichen, musste ich weg aus Toronto, wo ich damals lebte, und nach New York. New York ist eines der Hauptzentren für Marketing und Werbung, und ich wollte ja das erste mobile Influencer-Marketing-Unternehmen aufziehen. Also forderte ich einen Vertrauensvorschuss ein und fragte meine damaligen Geschäftspartner, wie viel Geld für meinen Umzug nach New York da wäre. Kein Cent. Aber einer unserer Partner sagte, er würde mir 400 Dollar leihen. Stellt euch das vor – mit 400 Dollar in der Tasche nach New York zu gehen. Ich kannte niemanden in den Vereinigten Staaten. Ich wusste nur, dass es mich dorthin zog, und dass ich auf meinen Bauch hören musste. Für 60 Dollar kaufte ich mir ein Busticket von Toronto nach New York. Dort schlief ich beim Freund eines Freundes von einem Freund auf dem Fußboden. Aber ich »lebte« in New York.
Innerhalb von sieben Tagen stellten Gary Vaynerchuk und ich GrapeStory auf die Beine, die erste rein mobile Influencer-Agentur. Ich war total abgebrannt, wollte aber nicht, dass Gary das mitbekam. Deshalb schlief ich im Büro seines Unternehmens VaynerMedia, duschte im Fitness-Studio nebenan und ernährte mich von dem, was seine Leute im Firmenkühlschrank vergessen hatten. New York inspirierte mich – so sehr, dass es mir nichts ausmachte, in einer so teuren Stadt pleite zu sein. Ich glaube, es hat ein Jahr gedauert, bis ich mir eine Wohnung leisten konnte. Mein Ziel war nie gewesen, ein großes Publikum zu erobern. Ich wollte lediglich die Anwendung in der Praxis studieren. Doch in New York fand ich irgendwie zu meinem Stil, und meine Inhalte kamen gut an. Im Juni 2013, wenige Wochen nach meinem Umzug nach New York, wuchs die Zahl meiner Follower innerhalb eines Monats von 20.000 auf eine Million an. Im selben Monat knackte unsere Agentur die Gewinnschwelle. Obwohl wir jetzt Geld verdienten, schlief ich weiter im Büro, weil ich im Grunde gar keine Zeit hatte, eine Wohnung zu suchen. Und irgendwie hat es mir eine Zeitlang wohl auch Spaß gemacht, in einem Büro an der Park Avenue South in New York auf dem Boden zu nächtigen. Damals hatte das seinen Charme. Als ich mein erstes Geld vom Unternehmen ausgezahlt bekam, kaufte ich mir das iPhone 5. Es war mein erstes neues iPhone, zuvor hatte ich immer gebrauchte gekauft. Für mich war das eine Investition in die Bildqualität meiner Vines – und zwar eine richtig gute.
Was ist eine deiner – gern auch absurden – Eigenheiten, auf die du nicht verzichten möchtest?
Es ist nicht absurd, aber ich mache das noch nicht sehr lange und kenne nicht viele, die es tun. Ich gehe deshalb davon aus, dass es ungewöhnlich sein könnte. Ich bete vor dem Essen. Nicht aus Frömmigkeit, sondern eher wegen der richtigen Einstellung. Ich versuche, für das Essen auf meinem Teller ehrlich dankbar zu sein – vor allem, wenn sich ein tierisches Produkt darauf verirrt hat, ein Ei vielleicht, oder ein Hühnchen. Die meiste Zeit ernähre ich mich überwiegend pflanzlich. Damit fühle ich mich am wohlsten und schade unserem Planeten und der Umwelt am wenigsten. Doch als ich rund vier Monate für unsere Love-Army-Mission in Somalia verbrachte, genossen wir nicht den Luxus, uns von pflanzlichen Produkten ernähren zu können. Wir mussten Hühnchen essen. Ich habe kein Problem damit, Tiere zu verzehren, wenn es nötig ist. Es sollte aber mit dem gebührenden Respekt geschehen. Dankbarkeit für das Leben des Tieres ist eine gute Methode, diesen Respekt zu zollen. Alles, was wir essen – ob eine Tomate oder ein Hühnchen – trägt Licht in sich. Dieses Licht nährt uns weit besser als die Kalorien oder Proteine. Wenn wir dieses Licht erkennen, das Göttliche in allem, was Mutter Natur geschaffen hat, dann können wir uns in zweierlei Hinsicht nähren. Das ist wie bei einem Kind mit einem Plüschtier. Man sagt, Plüschtiere werden nur lebendig, wenn man daran glaubt. Dasselbe gilt für das Licht im Essen.
Welche Überzeugungen, Verhaltensweisen oder Gewohnheiten, die du dir in den letzten fünf Jahren angeeignet hast, haben dein Leben am meisten verbessert?
Eine Überzeugung – nämlich die, dass wir alle kleine Götter sind. Ich meine das im schöpferischen Sinne – nicht, um unser Ego zu bedienen, sondern unser Bewusstsein. Will heißen, das ganze Universum ist nicht nur um uns herum, sondern auch in uns. Wir haben grenzenlose Macht – die Macht, alle Probleme zu lösen, vor denen wir oder andere stehen. Wir können unsere Realität selbst gestalten. Das ist nur eine einfache, kleine Überzeugung, doch sie kann den Verlauf der Menschheitsgeschichte verändern. Minigott zu sein bedeutet, dass uns niemals etwas fehlt. Wir wissen, dass wir bereits alles haben. Wir brauchen keine Dollarmillionen. Wir brauchen keine Massen von Followern. Wir sind schon vollkommen. Wir sind ganz. So ganz, dass wir geben können, ohne nachzuzählen. Der Tag, an dem wir alle anfangen, uns wie Minigötter zu verhalten, ist der Tag, an dem Frieden auf Erden herrschen wird.
Welchen Rat würdest du einem intelligenten, motivierten Studenten für den Einstieg in die »echte Welt« geben? Welchen Rat sollte er ignorieren?
Vertrau keinem Guru, ob für Marketing oder andere Lebensfragen. Wer dir erzählt, er weiß es besser, der tut vor allem eines: Er entrechtet dich, weil er dich unter sich stellt und sich über dich. Der Guru trennt zwischen sich und anderen, und solche Trennungen sind Augenwischerei. In Wirklichkeit sind wir alle eins, alle gleich, alle Teil desselben größeren Ganzen – des Universums. Ich denke da vor allem an all die Online-Stars, die dir erzählen, dass du mehr arbeiten musst – und dass sie mehr arbeiten als jeder andere. Wenn deine Arbeit 99 Prozent deines Lebens ausmacht, dann verstehst du entweder dein Handwerk nicht oder dein übriges Leben ist total aus dem Gleichgewicht geraten. Und das ist kein Grund, stolz zu sein. Wenn dir jemand so etwas predigt, dann sollte dir bewusst sein: Das ist nur Schall und Rauch.
Mein zweiter Rat: Tritt so früh wie möglich ins wirkliche Leben ein. Und damit meine ich nicht, mach ein Praktikum bei einer Marketingfirma. Ich meine damit, lass die sozialen Medien und die großen Städte hinter dir und finde wieder Bezug zur Realität: zur Natur, zu deiner Seele, zu deinem inneren Kind. Achte dich. Der größte Teil der Welt schläft heute und spielt eine kleine Rolle in einer gigantischen Illusion. Das geht auch anders. Du kannst dich für ein anderes Leben entscheiden. Es ist alles in dir. Du wirst wissen, was zu tun ist, wenn du dir die Zeit nimmst, zu dir selbst zu finden und dir zu vertrauen. Studierst du BWL/PR/Marketing, dann höre noch heute auf damit. Es gibt schon zu viele Marketingexperten und Betriebswirte auf der Welt. Sie braucht nicht noch mehr. Viel mehr braucht sie Heiler und Problemlöser, die mit dem Herzen bei der Sache sind. Dein Herz kann so viel mehr bewirken als dein Kopf.
Welche schlechten Ratschläge kursieren in deinem beruflichen Umfeld oder Fachgebiet?
Ich bin derzeit in zwei Branchen tätig, dem »Influencing« über soziale Medien und der humanitären Industrie. Der schlechteste Rat, den ich in der Influencer-Welt höre, stammt von Marketinggurus, die behaupten, wer sich ein Publikum aufbaut und diesem Marken ans Herz legt, kann extrem reich und erfolgreich werden. Hört sich gut an, aber denkt an Bernays. Für Geld unethische oder gesundheitsschädliche Unternehmen zu bewerben, ist kein Erfolg, sondern eigentlich »Korruption«. Nicht Korruption im politischen Sinne, wie der Begriff meist verwendet wird, sondern Korruption unseres Glaubenssystems. Korruption unseres Vermächtnisses. Ich kenne so viele »Influencer«, die für Produkte werben, die sie nie konsumieren würden. Doch wenn man für ein paar Instagram-Fotos eine halbe Million Dollar kriegt? Was würdet ihr an ihrer Stelle tun?
Ich war an ihrer Stelle, und ich kann mit Stolz behaupten, dass ich damals auf mich gehört habe. Das war vor zwei Jahren, als ich ernsthaft begann, die Werbebranche infrage zu stellen. Mir wurde ein Millionenvertrag für eine große Snapchat-Reihe für Sour Patch Kids angeboten. Ich erklärte den Leuten, ich würde solche Süßigkeiten nicht essen – und schon gar nicht vor einer Kamera. Das war okay für sie. Ich weiß noch, wie ich zu mir sagte: »Ich würde davon selbst dann nichts essen, wenn mich der Marketingleiter, der das Geschäft unter Dach und Fach bringen wollte, darum bitten würde.« An jenem Tag fand ein heikles Gefecht statt zwischen der Illusion, Geld zu brauchen, und der nicht korrumpierbaren inneren Stimme, die mir riet, es nicht zu tun. Ich lehnte den Millionenvertrag ab. Ich nahm das Gespräch sogar auf und postete es auf meinem YouTube-Kanal. Gary Vee war dabei. Er hatte die Verhandlungen geführt. Ich war damals stolz auf mich. Die schlechtesten Ratschläge, die jemand mit einem Online-Publikum je bekommen kann, stammen von Marketingexperten. Gary sagt selbst: »Die Marketingleute machen alles kaputt.«
Im humanitären Bereich ist der schlechteste Rat, den man bekommen kann: »Vertrau den großen Hilfsorganisationen. Sie wissen, was sie tun.« So traurig das klingt, humanitäre Hilfe ist zurzeit eine Riesenindustrie. Ich habe so viele Menschen Spenden für gute Sachen einwerben sehen, Hunderttausende von Dollar, manchmal sogar Millionen, in dem Gefühl, dass sie selbst Hilfseinsätze nicht so gut organisieren können. Sie glauben, wenn sie sich auf eine große, namhafte Nichtregierungsorganisation verlassen, dann sei alles gut. Natürlich ist das für den Betreffenden eine sichere Sache. Man spielt den Ball damit weiter und hat keine Arbeit mehr. Doch hilft das den Menschen, die Hilfe brauchen? Das ist nicht so sicher. Als wir Geld für Somalia sammelten, beschlossen wir, alles selbst zu organisieren. Wir baten lokale Hilfsorganisationen zwar um Rat, gaben den Ball aber nicht aus der Hand. Und deshalb war unser Einsatz auch einer der effektivsten seiner Art, die je in Somalia auf die Beine gestellt wurden. Obwohl wir, verglichen mit den großen Akteuren aus dieser Sparte, nur wenig Geld hatten, erzielten wir enorme Wirkung. Man wird euch erzählen, gute Absichten reichen nicht. Ich kann euch versprechen: Wer sich seine guten Absichten im Verlauf des gesamten Prozesses bewahrt, der lernt sehr schnell und kann Leben verändern – nicht nur durch seine Handlungen, sondern auch durch seine Absichten. Menschen, die Essen oder Wasser brauchen, sind trotzdem Menschen, und sie merken, ob die Hand, die sie füttert, respektvoll mit ihnen umgeht und ihnen Mitspracherecht einräumt, oder ob sie sie wie eine Ware behandelt. Die Organisationen, die schon seit Jahrzehnten aktiv sind, wissen, dass das humanitäre System krankt und dass es neue, effizientere Ansätze gibt.
So sind beispielsweise in vielen afrikanischen Ländern wie Somalia mobile Überweisungen gang und gäbe. Das bedeutet, man muss heutzutage nicht mehr Nahrung in die Dörfer bringen. Man kann das gesammelte Spendengeld einfach direkt auf die Handys der Menschen überweisen. Das geht schon seit fast zehn Jahren, wird aber von den Hilfsorganisationen und den Vereinten Nationen nicht laut gesagt, weil es ihnen Angst macht. Gibt es im humanitären Bereich ebenso disruptive Veränderungen wie in allen anderen Branchen, dann wird das drastischen Wandel für diese Organisationen und ihre Mitarbeiter mit sich bringen. Denkt nur daran, was Uber für die Taxiunternehmen bedeutet. Als wir feststellten, dass die Infrastruktur für dieses neue Modell bereits zur Verfügung stand, begannen mein Team und ich, das Geld per Handy direkt an die Menschen zu verteilen. Für diese war das weltbewegend. Sie konnten selbst entscheiden und sich Essen kaufen, wie jeder andere auch. Ich will damit sagen: Gebt euer Geld den Menschen, die es brauchen – nicht den gemeinnützigen Organisationen.
Wozu kannst du heute leichter Nein sagen als vor fünf Jahren?
Somalia war eine schwierige Zeit für mich, da ich meine Zeit aufteilen musste auf die Organisation unseres Hilfseinsatzes und die Information/Kommunikation mit unseren 95.000 Spendern. Ich musste gut mit meinen Kräften haushalten, und dabei veränderte sich meine Einstellung zu meinem Handy. Statt jede Nachricht, jede E-Mail als das Allerwichtigste im Leben anzusehen, betrachtete ich sie unter dem Aspekt der Kraft. Bringt mir diese E-Mail Kraft oder kostet sie mich welche? Mir wurde klar: Meist galt, dass ich Kraft verlor. Denkt daran: Die meisten Menschen schlafen und vergessen ihre inneren Kräfte. Deshalb glauben sie, sie müssen anderen Kraft abzapfen, um sich zu versorgen. Zu solchen Anliegen kann ich inzwischen sehr gut Nein sagen.
Was tust du, wenn dir alles zu viel wird, du nicht mehr fokussiert bist oder deine Konzentration nachlässt?
Ich versuche, mich zu erden – und wer sich erden will, braucht Kontakt zur Realität. Das geht beim Schwimmen – Wasser ist real. Es geht aber auch beim Meditieren – das eigene Herz ist real. Oder durch Kontakt mit Tieren – Tiere sind real. Oder, indem man ganz allein ein leckeres Essen in der Sonne genießt. Ich esse gern allein. Durch langsames, bewusstes Essen habe ich einen viel feineren Geschmackssinn entwickelt als früher. Wenn ich esse, reagiere ich auf den Geschmack von Lebensmitteln äußerst emotional. Diese kleinen Realitätsmomente bringen mich wieder auf den Boden.