X.3 Savants

Eine Begabung kommt bei Autisten ziemlich oft vor, doch nur in außergewöhnlichen Fällen handelt es sich um eine so vielseitige Begabung wie bei Daniel Tammet.

Eines von zehn Kindern mit einer Autismusspektrum-Störung verfügt über Savant-Eigenschaften, eine Inselbegabung, ein Talent, das sehr groß oder sehr klein sein kann und das sich oft scharf von geistiger Regression und den Handicaps abhebt, die ebenfalls vorkommen können. Dieses Talent ist meist sehr speziell und scheint automatisch genau dann aufzutreten, wenn der richtige Stimulus eintrifft. Wenige derart begabte Kinder sind auch im Erwachsenenalter kreativ, weil sich meist weder die Art ihres Talents noch ihre Persönlichkeit dazu eignen. Die Hälfte der Savants hat eine Autismusspektrum-Störung, während der Rest unter einem Hirnschaden oder einer Hirnkrankheit leidet.

Die Begabung eines Savants kann sehr begrenzt sein. Die Kalenderrechner George und Charles konnten nicht einmal normal zählen, sie sahen »einfach«, auf welchen Tag ein bestimmtes Datum in einem beliebigen Jahr fiel. Savants sind in der Lage, unbewusst Algorithmen anzuwenden. Aber nicht alle bekannten Geschichten über ihre Begabungen wirken zuverlässig recherchiert. Oliver Sacks beschrieb autistische Zwillinge, die sofort die richtige Anzahl Streichhölzer (111) sahen, die aus einer Schachtel fielen. Sie sahen auch, dass sich die Zahl 111 aus dem Dreifachen der Primzahl 37 zusammensetzt. Im Film Rainman war dann die Zahl der heruntergefallenen Zahnstocher auf 246 gestiegen. Vier waren in der Schachtel geblieben. Daniel Tammet nimmt Sacks diese Geschichte nicht ab. Das könne niemand, nicht einmal Kim Peek, sagte er, schon allein deshalb nicht, weil so viele Streichhölzer übereinanderliegen, dass man die richtige Zahl unmöglich mittels Sehen bestimmen könne. Einer der Zwillinge in Sacks’ Buch hatte einen IQ von 60 und konnte die einfachsten Rechenaufgaben nicht lösen. Sacks beschreibt, wie sich die Geschwister stets neue, größere Primzahlen zurufen. Als Sacks ein Buch mit Primzahlen zu ihnen mitbringt und sich beteiligt, finden die Zwillinge das phantastisch. Doch nach einer Weile fahren sie mit zwölfstelligen Primzahlen fort, während das von Sacks mitgebrachte Buch bei zehnstelligen Primzahlen aufhört. Auch hier äußerte Tammet seine Zweifel. Seinem Wissen nach gibt es kein Buch, das eine solche Serie von Primzahlen enthält; und als jemand vor kurzem Sacks nach dem Buchtitel fragte, bekam er zur Antwort, es sei verschwunden!

Wenn es sich um eine Kombination eines außerordentlichen Talents mit einem niedrigen IQ (3070) handelt, spricht man von einem »idiot savant«. Dieser Begriff wurde 1887 von Langdon Down geprägt, der hinzufügte, dass er noch nie einen weiblichen idiot savant gesehen habe. Es gibt sie schon (siehe dazu z.B. in Kap. X.4, das Mädchen Nadia), aber Jungen sind hier stark in der Überzahl. Einer von ihnen ist Leslie Lemke. Er kam als Frühgeburt, spastisch und blind und mit einer Anomalie im linken präfrontalen Hirnlappen zur Welt. Als er sieben Jahre alt war, ließ ihn seine Mutter die Tasten eines Klaviers erfühlen. Nach einem Jahr beherrschte er sechs Instrumente. Als Vierzehnjähriger hörte er in einem Fernsehfilm das Erste Klavierkonzert von Tschaikowski. Am nächsten Morgen spielte er das ganze Konzert perfekt nach. Lemke ist für sein Improvisationstalent bekannt. Er braucht ein Stück eines bestimmten Komponisten nur einmal zu hören, und schon kann er völlig problemlos ein Stück in demselben Stil improvisieren. Er gibt klassische Konzerte, geistig ist er jedoch zurückgeblieben; er hat einen IQ von 58.

Eine Begabung ist bei Autisten ziemlich häufig zu finden, aber nur in ganz seltenen Fällen handelt es sich dabei um eine vielseitige Begabung, wie sie Daniel Tammet besitzt. Diese außergewöhnlichen Fähigkeiten finden sich vor allem bei Jungen und zeigen sich auf dem Gebiet der Kunst, Musik, des Kalenderrechnens oder blitzschnellen Kopfrechnens. Solche spezifischen Fähigkeiten treten immer zusammen mit einem außerordentlichen Gedächtnis auf. Ein japanischer Savant ging monatelang auf Reisen und machte danach sehr detaillierte Abbildungen von Dingen, die er auf seiner Reise gesehen hatte. Savants scheinen jede Information, die in ihr Kurzzeitgedächtnis eingeht, auch im Langzeitgedächtnis speichern zu können. Dadurch können sie sich Riesenmengen trivialer Fakten merken, etwa Nummernschilder und Kursbücher, und scheinen nicht dazu in der Lage zu sein, Informationen zu vergessen.

Tammet berichtete allerdings, dass er die Dezimalstellen der Zahl Pi heute nicht mehr replizieren könne. Dafür müsse er sich erst wieder eine Weile mit ihnen beschäftigen. Doch das außerordentliche Gedächtnis allein reicht nicht aus, um das Savant-Syndrom zu erklären. Savants besitzen auch eine echte Begabung. Stephen Wiltshire ist ein Autist mit einem Verbal-IQ von 52. Bekannt wurde er mit seinem »London Alphabet«, 26 detailreichen Zeichnungen von Londoner Gebäuden, die er im Alter von zehn Jahren geschaffen hatte. Später zeichnete er in New York, Venedig, Amsterdam, Moskau und in Leningrad. Nach einem 45-minütigen Hubschrauberflug über Rom fertigte er eine zwei Meter große Zeichnung an, auf der jedes Haus, jedes Fenster und jede Säule der Stadt mit fotografischer Genauigkeit wiedergegeben war. Wegen der automatischen Art, mit der er seine Zeichnungen produziert, wird er gelegentlich mit einem Drucker verglichen. Die künstlerisch begabten Savants haben allesamt eine sehr starke Vorliebe für ein bestimmtes Thema und eine bestimmte Technik. Und dabei fällt auf, dass sie so gut wie nie Menschen zeichnen; das soziale Gehirn ist ihr Schwachpunkt.