Einführung: Woraus das »Anfangen« besteht

Wir Leserinnen und Leser interessieren uns vor allem für die großen literarischen Werke. Wir lesen Romane, Erzählungen, Autobiografien, Gedichte und vieles andere. Und wir haben meist eine relativ klare Vorstellung davon, wie diese Werke entstanden sein könnten: Eine Autorin oder ein Autor hatte irgendwann einen guten literarischen Einfall, überlegte einige Zeit, wie er auszubauen und zu entwickeln wäre, und begann schließlich mit der Niederschrift.

Auch von diesem Schreibprozess haben wir tradierte Vorstellungen. Meist vormittags, seltener nachts setzt sich der Autor an seinen Schreibtisch, beugt sich über ein weißes, leeres Blatt und setzt sein Schreiben vom Vortag mit der Hand und einem Stift fort. Möglicherweise benutzt er eine Schreibmaschine, einen Computer oder einen Laptop. Auch in diesem Fall starrt er auf eine leere Seite und bewegt die Finger, um die Leere mit Buchstaben zu füllen.

Von solchen Schreibprozessen haben wir schon oft gehört. Viele Autorinnen und Autoren scheinen geradezu besessen davon zu sein, von diesen Vorgängen zu erzählen:1 wie ihnen die Einfälle zu ihren Werken geradezu zuflogen, wie es ihnen Freude machte, für ihre Werke zu recherchieren, und wie sie geduldig Seite für Seite füllten, bis der fertige Text endlich einem Verlag übergeben werden konnte.

Mit der Deutung der gedruckten Werke beschäftigen sich nach ihrem Erscheinen die verschiedensten Kontingente von Leserinnen und Lesern: zunächst all die, die das Werk rezensieren, dann die, die es einfach aus Passion (Lust und Laune) lesen und von ihren Lektüren mündlich, seltener schriftlich berichten, und schließlich die Wissenschaftler, die das Buch einer oft begrifflich ausgerichteten Analyse unterziehen und es auf diese Weise in die Geschichte der bereits gedruckten Bücher einordnen.

In den letzten Jahrzehnten haben diese Wissenschaftler vermehrt begonnen, sich nicht nur für die fertigen Werke, sondern auch für deren Entstehungsprozesse zu interessieren. Dabei haben sie oft erstaunliche Funde gemacht: Sie konnten anhand der Materialien, die ihnen während ihrer Forschungen in die Hände gerieten, häufig detailliert nachvollziehen, wie die großen Werke Schritt für Schritt entworfen und ausgearbeitet worden waren.

Das war vor allem dann möglich, wenn sie auf die Vorarbeiten und Studien eines Autors zu einem seiner Werke aufmerksam wurden. Solche Vorarbeiten hatten sich nicht selten über lange Zeit, manchmal sogar über Monate und Jahre, hingezogen. Dann hatte ein Schriftsteller die Lebenswelten eines Romans und seiner Figuren genau erkundet, sie vielleicht sogar besucht und seine Beobachtungen und Eindrücke ausführlich notiert.

Indem sich die Wissenschaftler in diese Studien vertieften, konnten sie erkennen, wie bestimmte Figuren oder Handlungsverläufe entstanden, wie die Figuren sich in bestimmten Räumen bewegten und wie sie schließlich in bestimmten Zeiten angesiedelt wurden. Viele Schriftsteller hatten zu all diesen Details Aufzeichnungen gemacht, manche sogar Tausende von Seiten.2

Dieses umfangreiche Material war natürlich niemals und nirgends veröffentlicht worden. Es gehörte zu dem, was man »die Werkstatt« eines Schriftstellers nennen könnte. Zur »Werkstatt« zählt man alles, was den fertigen Werken vorausgeht und ihre Entstehung begleitet: die Schreibräume mit ihren Geräten und Schreibzeiten sowie die vielen unveröffentlichten oder nur für bestimmte Leser (Freunde, Bekannnte) bestimmten Vor- und Begleittexte der Werke. Während eines Schriftstellerlebens werden höchstens Teile der Werkstatt und diese Teile meist auch nur für wenige andere Personen sichtbar. Etwa dann, wenn ein Autor einen Gast durch seinen Schreibraum führt und darüber spricht, wie er gerade an einem seiner zukünftigen Werke arbeitet. Oder wenn der Autor durch einen Film bei seiner Arbeit beobachtet wird und Teile der Werkstatt präsentiert.3 Besonders häufig haben all jene Personen Einblick, die sich während der Entstehungszeit eines Werkes in der Nähe aufhalten. Der Lebens- oder Ehepartner, die Kinder, die Familie. Sie bekommen nicht nur mit, wo und wie der Autor arbeitet, sondern auch, wann er es tut, wie sich seine Stimmungen während der oft langen Arbeitszeit verändern, welche Stimulanzien er sich zuführt und in welchen mühsamen Schritten er vorankommt.

Je älter unser Autor wird, umso mehr Gedanken wird er sich über all die Begleitumstände machen, die sein Schreiben zeitlebens strukturiert haben. Spätestens dann wird er erkennen, wie viel er eigentlich geschrieben hat. Reichlich Arbeit galt seinen fertiggestellten Werken, noch viel mehr Arbeit aber galt dem ganzen Drumherum: den vielen Mails und Briefen, den täglichen Aufzeichnungen (im Tagebuch oder Journal), den Exzerpten oder Kopien aus anderen Werken, den kleinen Skizzen und Übungen (die er nur für sich selbst angefertigt hat) oder den umfangreichen Vorarbeiten zu den größeren Werken, die erst recht immens viel Zeit verschlungen haben.

Spätestens zu diesem späten Zeitpunkt seines Lebens wird der Autor all diese vielen Materialien als ein »Archiv« verstehen.4 Er wird überlegen, welche Teile dieses Lebensarchivs er vernichten und welche er in spezifischen Ordnungen erhalten sollte. Die nach seinem Tod vorliegenden, gesammelten und mehr oder minder geordneten Texte sowie die weiteren Materialien (Zeitungsausschnitte, Briefe der Leserinnen und Leser, Rezensionen, Rechnungen, Quittungen etc.) wird man den »Nachlass« nennen.

Noch während ihres Lebens werden viele Autorinnen und Autoren eine Idee davon entwickeln, wie dieser Nachlass einmal aussehen und wo er untergebracht werden könnte. Soll er nur für die Familie zugänglich sein? Oder soll er in ein größeres Archiv überführt werden, um dort weiter geordnet, gepflegt und erforscht zu werden? Wenn solche Ideen zur weiteren Aufbewahrung und Gestaltung des Nachlasses existieren, sprechen die Literaturwissenschaftler von einem »Nachlassbewusstsein«.5

Entdecken sie bei einem bereits gestorbenen Autor ein solches Nachlassbewusstsein, lohnt es sich, dessen Ausprägungen und Hinterlassenschaften zu folgen. Entschließt sich ein Literaturwissenschaftler dazu, wird er sich in die Werkstätten begeben, die ein Autor hinterlassen hat. Von diesem Moment an wird er sich nicht nur für dessen fertige Werke interessieren, sondern für alles, was der Autor je geschrieben hat.

Geht er daran, diese schriftlich fixierten Dokumente chronologisch zu ordnen, wird er feststellen, was ein Autor fast täglich neben der Arbeit an seinen Werken getan hat. All diese viele Arbeit hat die Grundlagen dazu gelegt, dass er sich später auch den Werken widmen konnte. Sie war seine Basis, und sie bestand aus einem regelmäßigen, unermüdlichen und sich laufend neu generierenden Schreiben.

Diese Art von Schreiben zielte nicht auf die Veröffentlichung literarischer Werke oder sonstiger Publikationen. Es strukturierte vielmehr den Übungs- oder Proberaum der Schrift. Abseits von der Arbeit an den Werken konnte das Schreiben in solchen Formaten beobachtet, getestet oder variiert werden. Dadurch bildete es jenen Teil der Werkstatt, den man auch als »Labor« bezeichnen könnte. Im Labor arbeitet man an Versuchen und Experimenten mit nicht vorhersehbaren Ergebnissen.

Macht man sich all das richtig klar, so ergeben sich daraus wichtige Konsequenzen für all jene, die ihr eigenes Schreiben entwickeln und verbessern wollen. Empfinden sie diesen Wunsch als wichtig und nehmen sie ihn ernst, so sollten sie zunächst nicht nur an mögliche »Werke« denken, sondern an den langen Weg der vielen Übungen und Proben, die zu diesen Werken führen.

In endgültiger Konsequenz bedeutet das: Sie sollten eine »Werkstatt« von jener Art anlegen und aufbauen, wie sie die bereits bekannten Autorinnen und Autoren in den verschiedensten Formen angelegt haben. Um ihr Schreiben in Gang zu halten, um Ideen zu testen, um mit bestimmten, klaren Aufgabenstellungen kürzere Experimente von jener Art zu betreiben, die Pianisten beim Üben als »Fingerübungen« bezeichnen.

Mit täglichen »Fingerübungen« bereitet man sich als Pianist auf das Einüben der Werke der großen Meister vor, verfeinert seine Technik und arbeitet jeweils an einem bestimmten technischen Detail. Man konzentriert sich dabei auf genau dieses Detail und lässt alle Fragen nach dem späteren Erfolg solcher Übungen zunächst einmal beiseite. Auf das Schreiben übertragen bedeutet das: Das Üben selbst ist von großer Bedeutung und damit einhergehend die Konsequenz, dass man Tag für Tag die verschiedensten Texte zu möglichst denselben Schreibzeiten schreibt.

Die Textaufgaben dieses Buches vollziehen den Aufbau einer schriftstellerischen Werkstatt nach. Sie beginnen mit materialen Aspekten (Räume, Zeiten, Geräte und Materialien) und fangen dann mit sehr einfachen, aber elementaren Übungen (wie abschreiben, kritzeln, an den Rand schreiben etc.) an.

Im nächsten Schritt machen sie Vorschläge, wie fremdes, täglich von außen zugespieltes Material (Zeitungsausschnitte, Zettel, Werbung etc.) verarbeitet, wie Listen oder Collagen erstellt und schließlich Alben (als Speicher des täglich Wahrgenommenen) angelegt werden könnten.

In Kapitel IV und V geht es schließlich um Zeit und Raum. Hier kommen jene »Fingerübungen« ins Spiel, mit denen man zeitliche Abläufe und zeithistorisches Material sammelt (Chronik, Journal, Tagebuch u. a.) oder mit denen man Raumausschnitte unterschiedlicher Größe und Stabilität einfängt und belebt (einzelne Räume, Raumtypen, Partien einer Stadt).

In ihrer Gesamtheit bilden die jeweils fünf Textaufgaben der fünf Kapitel ein breites Angebot für die Initiation einer Werkstatt. Am Ende sollte der Übende gelernt und erfahren haben, mit welchen Fingerübungen er in Zukunft weiterarbeiten will: am besten täglich, auf jeden Fall aber regelmäßig.

1 Vgl. Die Paris Review Interviews.

2 Vgl. etwa Émile Zola: Frankreich. Mosaik einer Gesellschaft. Unveröffentlichte Skizzen und Studien.

3 Vgl. den Dokumentarfilm »Houwelandt – ein Roman entsteht« des Regisseurs Jörg Adolph, in dem er die Entstehung des Romans »Houwelandt« des Schriftstellers John von Düffel porträtiert.

4 Vgl. Markus Friedrich: Die Geburt des Archivs.

5 Vgl. Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750-1800.