Textprojekte und Schreibaufgaben II: Anfangen
1. Abschreiben und Transkribieren
Schon ist das Blatt nicht mehr weiß, sondern mit Buchstaben gesprenkelt und gleicht, wenn die Schreibbewegungen rasch vonstatten gehen, der Grafik eines genialischen Conceptkünstlers.35
Die das eigentliche Schreiben vorbereitenden Maßnahmen sind jetzt abgeschlossen, die Werkstatt ist eingerichtet, aber noch nicht in Gebrauch. Die Arbeitsräume sind gestaltet, die wichtigsten Arbeitsgeräte getestet, Zeitpläne sind fixiert, die Stimulanzien stehen bereit.
Jetzt also fangen wir an, und natürlich fangen wir mit etwas Einfachem an. Unsere Stifte sollen mit dem Papier einen ersten Kontakt aufnehmen, nichts Großes, wir haben keineswegs vor, einen literarischen Text zu schreiben, sondern wir wollen: mit dem Schreiben anfangen. Legen wir also ein weißes Blatt auf die Arbeitsplatte unseres Schreibtischs und greifen wir nach jenem Stift, der für das Beschreiben dieses Blatts am besten geeignet ist.
Viele Autorinnen und Autoren haben davon berichtet, dass der Blick auf das weiße Blatt und die Erwartungen, die sich damit verbinden, zu einem typischen Panikmoment führen:
Was hat es nicht schon Scherereien um das weiße Blatt gegeben! Der eine beugt sich darüber, faßt seine häßliche Leere ins Auge, ergreift den Stift, als sei er ein Säbel, und verachtungsvoll attackiert er es mit wüsten Federhieben. Ein anderer streichelt es zärtlich, mißt mit schwankenden Blicken seinen Umfang aus, grübelt und tüftelt und bebrütet einen weitläufigen Gedanken, vertraut dem Blatt Papier aber nur ein einziges Wörtchen an. Einem dritten ist es das Weiße am weißen Blatt, das ihm die eigentliche Leere vor Augen führt, er schüttelt sich vor seiner Kälte, es graust ihn und er schlägt einen weiten Bogen um das weiße Blatt.36
Wodurch also entstehen die Panikmomente? Sie entstehen dadurch, dass die Erwartungen zu hoch sind. Das Weiße, die Leere – sie scheinen etwas Besonderes, noch nie Dagewesenes, Exorbitantes zu verlangen. Das unbeschriebene Blatt fixiert den Schreiber, der sich angesichts des strengen Blicks windet und krümmt. Schon die ersten hingeschriebenen Buchstaben könnten in eine falsche, unkreative Richtung führen, ganz zu schweigen von dem weiteren Text, der die höchsten Anforderungen zu stellen scheint: Schreib das Neue, Seltene! Überrasche alle mit deinen Einfällen!
Was dagegen tun? Wir pfeifen auf die hohen Erwartungen und beginnen gelassen und entspannt mit einem dezidiert unkreativen, anspruchslosen Schreiben. Der amerikanische Konzeptkünstler und Dichter Kenneth Goldsmith hat sich genau diesem Programm des »unkreativen Schreibens« verschrieben und darüber mehrere interessante theoretische Bücher veröffentlicht.37 Und er hat literarische Texte geschrieben, die seinen programmatischen Überlegungen zur bewussten »Nicht-Kreativität« konsequent folgen. So hat er eine Ausgabe der »New York Times« komplett abgeschrieben. Dieses Buch heißt »Day« und hat tausend Seiten.
Den anregenden Ideen von Goldsmith folgend, fangen wir unser Schreiben also damit an, dass wir eine Zeitung, Zeitschrift oder Broschüre auswählen, aus der wir einige Passagen, eine Seite, einen Artikel oder eine Auswahl bestimmter in ihr erscheinender Formate (Kurznachrichten, Neues aus aller Welt etc.) abschreiben. Wir können mit der Hand abschreiben, oder wir tippen die ausgewählten Textpartien mithilfe eines Laptops ab. Tun wir Letzteres, drucken wir die abgetippten Passagen später aus und vermerken auf den ausgedruckten Seiten handschriftlich, um welche Quelle es sich genau handelt.
Frühmorgens mit einem solchen Abschreiben eines vorliegenden Textes zu beginnen lässt uns ruhig und fast anstrengungslos arbeiten. Wir nehmen uns eines kleinen Partikels der buchstabierten Welt um uns herum an, wir betreuen es und drücken ihm den Stempel unserer Mitschrift auf. Einen nicht allzu starken, anwärmenden Tee haben wir dazu getrunken, langsam, Schluck für Schluck. Vielleicht haben wir auch Musik dazu gehört, sie lenkt uns nicht ab, denn es gibt ja kaum etwas, von dem wir abgelenkt werden könnten. Schließlich denken und planen wir nicht, sondern ziehen das schon einmal Gedachte und Geplante geduldig nach. So artikulieren wir unsere Anteilnahme an einem uns interessierenden Textstück, dem wir seine Fremdheit nehmen und das wir hineinholen in den Kosmos unseres Schreibens.
Natürlich können wir das Abschreiben auch emotionaler gestalten. In einem solchen Fall nennen wir das Abschreiben »transkribieren«. Im Grunde handelt es sich um denselben Vorgang wie beim Abschreiben von zugeflatterten Alltagstexten, nur dass die Texte längst gedruckte literarische Werke sind. Der amerikanische Schriftsteller Nicholson Baker hat auf sehr amüsante Weise von seinen seit Jahrzehnten durchgeführten Transkribierungsaktionen erzählt:
In der Regel transkribiere ich die Arbeit von Leuten, die vor langer Zeit geschrieben haben. Es ist eine Art und Weise, sie vorübergehend wiederzubeleben, langsam ihre sentenziellen Leichentücher abzuwickeln; es ist die einzige Art, ihre Idiosynkrasien zu spüren. Manchmal flüstere ich die Worte beim Abschreiben vor mich hin.38
Wir transkribieren literarische Werke, die wir lieben. Wir entnehmen ihnen einzelne Sätze, Abschnitte oder auch ganze Kapitel, um uns in das Denken und Fühlen der jeweiligen Autorin oder des jeweiligen Autors »hineinzuversetzen«. Indem wir den Text (diesmal ausschließlich mit der Hand!) abschreiben, erhalten wir ein intensiveres Gespür für seinen Stil und die Eigenheiten seines Blicks auf Figuren, Psychomomente und die ganze Welt drumherum. Das langsame Abschreiben unterläuft das meist zu schnelle Lesen, indem es die hingeflüsterten Texte »wiederkäut«. Es schmeckt sie nach, es kostet ihre Intensitäten, und es kommt allmählich hinter die Geheimnisse ihrer Gestaltung.
Beim Transkribieren trinken wir etwas stärkeren Tee und hören keinerlei Musik. Die Musik geht jetzt nämlich vom Text aus. Wir summen sie mit und spüren, wie wir uns mit unserem Abschreiben in einen fremden Text hineinbewegen, der im idealen Fall während dieses Abschreibens immer mehr zu unserem eigenen Text wird.
Provozierende Frage: Könnten wir ihn, plötzlich innehaltend und das Abschreiben beendend, aus eigener Kraft weiterschreiben? Hat er uns also gefangen und sind wir zu seinen Jüngern geworden?
■ Genießen Sie ein völlig entspanntes und eben doch konzentriertes Abschreiben. Notieren Sie in einem besonderen Notizbuch, was Ihnen dabei jeweils durch den Kopf geht.
■ Legen Sie eine Sammlung von eigenen Texten über das Abschreiben an. Mit Überschriften wie etwa: »Abschreiben aus den ›Buddenbrooks‹ (Angaben: Der jeweilige Tag, die Zeiten des Abschreibens, von – bis …)«.
■ Weitere Schreibaufgaben befinden sich bereits im Text.
Gel. bis I. Mai 29 morgens zu Ende39
Wenn wir abschreiben oder transkribieren, entnehmen wir einem fremden Text bestimmte Textproben und eignen sie uns an. Handschriftlich kopiert erscheinen sie auf unseren Papieren oder in unseren Notizbüchern.
Wir könnten den fremden Texten aber noch mehr zu Leibe rücken, indem wir uns mit unseren eigenen Texten an sie anlehnen. Dann schreiben wir zum Beispiel neben das bereits Gedruckte kurze Kommentare. Oder wir markieren einzelne Wörter, die uns gefallen oder missfallen. Oder wir streichen etwas durch und machen Korrekturvorschläge.
Angelehntes Schreiben ist also ein Schreiben, das einen besonders intensiven Lesevorgang und eine direkte, impulsive Auseinandersetzung mit dem gerade Gelesenen dokumentiert. Wenn es sich um ein Buch handelt, beginnen solche Anlehnungen häufig auf dem vorderen Vorsatzblatt oder dem Schmutztitel mit dem Vermerk, wann und wo das jeweilige Buch erworben wurde. Oft schließen sich Angaben über die genauen Lektürezeiten an.
Die handschriftlichen Notate im eigentlichen Text können ein weites Spektrum von Reaktionen abdecken. Sie beginnen mit dem einfachen Anstreichen oder Unterstreichen einzelner Passagen oder Wörter. Erscheinen uns diese Wörter bemerkenswert oder neu, könnten wir sie (vielleicht auf dem hinteren Vorsatzblatt?) zu einer Liste (mit Seitenangaben) zusammenstellen. Solche Listen mit auffälligen Wörtern oder interessanten Wendungen ließen sich aber auch auf separaten Blättern oder Papieren notieren, die nach Abschluss der Lektüre als kleines Vokabelkonvolut hinten im Buch verbleiben würden.
Eine weitere Stufe der Anlehnung bestünde darin, eigene Texte an die Ränder des Fremdtextes zu schreiben. Auf diese Weise machen wir uns an ihm fest und beginnen, seine Standfestigkeit zu erschüttern.
Der Dichter Gottfried Benn ist so einmal mit einem Gedichtband von Max Herrmann verfahren. Neben einem Gedicht Hermanns findet man die anerkennende Bemerkung »Das ist hübsch!«, während neben anderen Gedichten bitterböse Kommentare den Abstand zum Fremdtext markieren: »Fragen über Fragen!!«, heißt es dann. Oder: »Erkältungsgefahr!«
Mit fortschreitender Lektüre mehren sich die Fragezeichen, ganze Strophen werden durchgestrichen – und schließlich bricht der fremde Textdamm, und der Dichter Benn übernimmt im Gedichtband des Dichters Max Herrmann die Führung: Er notiert seine eigenen Strophen, die ein Gedicht Max Hermanns erweitern und verbessern, direkt unter das gedruckte Gedicht.40
Die Verfahren der Kommentierung eines Fremdtextes können anhand dieses Beispiels genauer erkannt werden. Sie beginnen mit ersten impulsiven, noch relativ passiven Reaktionen, erweitern sich zu kurzen, schärfer werdenden Bemerkungen, gehen in kritische Absetzbewegungen über, greifen direkt in den Fremdtext ein und setzen sich schließlich endgültig mit einem eigenen Text von ihm ab.
Angelehntes Schreiben in so vielfältiger Art zeugt von einer Auseinandersetzung mit dem Fremdtext, die weit über jedes normale Lesen hinausgeht. Sie versucht, ihn einzuholen und zu überrunden, sie konkurriert mit ihm – und sie lässt die gejagte Beute nach einem so heftigen Kampf erst wieder los, wenn das abschließende Urteil gesprochen ist.
Gottfried Benn hat dieses Urteil ganz vorn, auf das Vorsatzblatt, notiert:
Das Innerlich-Inhaltliche ist unbedeutend, z. T. üblicher Moralmasochismus z. T. gang und gäbes Halbbüßertum mit Zerknirschungsprozeß innen. Zwar formale Interessen, durchaus abhängig z. B. S 16 Verlaine. Am Besten gelingen seine Liebes-Gedichte, auch ganz abhängig, aber nicht anstößig z. B. Osterlied 53 u. S. 57 u. S. 6441.
Benn scheut sich nicht, all seine Anmerkungen direkt in das Buch hineinzuschreiben, ja, er scheint sogar ein besonderes Gefallen daran zu finden, die eigene Handschrift dem fremden Druckbild hinzuzufügen. So erhalten seine Reaktionen etwas besonders Dramatisches. Sie machen sich gut sichtbar über das Gedruckte her, entziehen ihm bestimmte Elemente, versuchen, es seiner möglichen Kraft zu berauben.
Angelehntes Schreiben könnte aber auch vorsichtiger und tastender operieren. Dann entstünden Fragen, Kommentare und ein eventuelles Umschreiben des Fremdtextes nicht im Buch, sondern auf Zetteln oder Papieren, die zwischen die jeweils angesprochenen Druckseiten gelegt würden. Während der Lektüre würde auf diese Weise ein Binnen- oder Sekundärtext wachsen, den man nicht mit der üblichen Sekundärliteratur verwechseln sollte.
Die ins Buch hineingelegten Seiten bestünden nämlich ausschließlich aus Reaktionen, die sich auf bestimmte Stellen bezögen. Im Ganzen ergäben sie ein lockeres, improvisiertes Spiel mit dem Fremdtext, das nicht auf irgendeine Form geschlossener, stimmiger »Interpretation« zielt. Stattdessen hätte man es eher mit assoziativen Ideen, sich vom Text entfernenden eigenen Überlegungen oder auch Texten zu tun, die auf sehr freie (und später kaum noch nachzuvollziehende) Weise durch die Lektüre angeregt wurden.
Wollte man sich das angelehnte Schreiben noch freier und leidenschaftlicher denken, so würde das zu einem Notizbuch führen, das die Lektüre eines einzigen Textes in seinen verschiedenen Reaktionen und Stadien festhielte. In einem solchen Notizbuch stünden die eigenen Texte, jeweils auf die fortschreitenden Lesezeiten datiert, hintereinander. In weiter ausgearbeiteter Form ergäben sie dann sogar ein Tagebuch der Lektüre.
Genau ein solches Tagebuch hat der Schriftsteller Jochen Schmidt mit Blick auf ein monumentales Werk der literarischen Moderne geschrieben. Jeden Tag hat er zwanzig Seiten von Marcel Prousts Romanzyklus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« gelesen und anschließend seine Lektüreeindrücke und Assoziationen jeder Art festgehalten.
Seine erste Eintragung machte er an einem Dienstag in Berlin. Es war der 18. Juli 2006. Sie lautet:
Lange Zeit bin ich früh laufen gegangen. Die Sonne scheint, es werden 35 Grad. Ich wiege 75 Kilo und war schon ziemlich lange nicht mehr beim Friseur. Ich würde gerne verreisen, kann mich aber für kein Ziel entscheiden. Außerdem ist am Donnerstag meine Latein-Klausur, auf die ich mich freue, weil ich bei der Gelegenheit mal unter Menschen komme.42
■ Stellen Sie eine kleine Liste von Büchern zusammen, die Sie durch ein angelehntes Schreiben begleiten wollen.
■ Beginnen Sie mit einem dieser Bücher und machen Sie entweder Anmerkungen im Buch selbst oder auf eigens dafür vorgesehenen Papieren oder Seiten, die Sie später als Konvolut hinten ins Buch legen.
■ Nehmen Sie sich für ein Buch, das Sie besonders lieben, ausgiebig Zeit und widmen Sie ihm ein Lektüre-Tagebuch.
Ein schönes Stück Papier läge also da, daneben ein gut gespitzter Stift, es könnte losgehen mit dem Schreiben. Warum fängt der Autor jetzt nicht endlich an, was soll dies alberne Gekritzel? Will da einer noch mal schnell seine Reflexe prüfen, bevor die ersten Kurven kommen, sein Tempo, seinen Sinn für Proportionen? Hat das, was er jetzt tut, denselben Sinn wie das ostentative Stimmen der Instrumente vor dem Konzert, dient es der Suggestion von Authentizität: Damen und Herren, aufgepasst, gleich erleben Sie die Geburt der Schrift!43
Abschreiben und angelehntes Schreiben haben uns am frühen Morgen in Schwung gebracht. Die hemmende Magie des weißen, leeren Blatts ist längst verschwunden, wir haben, ohne lange zu zögern, geschrieben und sind mit dem Blick auf fremde Texte langsam auch zu ersten eigenen Texten vorgedrungen.
Im nächsten Schritt geht es jetzt darum, sich von den fremden Texten ein Stück weit zu lösen. In unserem Kopf nisten bereits neue Vokabeln, die wir den Fremdtexten entnommen und aufgelistet haben. Sie werden begleitet von Assoziationen und Ideen, die wir während der Lektüre eines anderen Textes notierten. Wir schauen uns all diese kleinen Listen und Notate genauer an und entnehmen ihnen jene Wörter und Wendungen, die uns spontan anziehen. Mit ihnen machen wir weiter, jedoch nicht, indem wir sie zu literarischen Texten (einer Geschichte, einem Dialog, einigen Zeilen etc.) ausarbeiten, sondern indem wir sie auf einem weißen, leeren Blatt, unter- oder nebeneinander oder in welchen kruden Formationen auch immer, festhalten.
Wenn wir das tun, behandeln wir das weiße, leere Blatt wie eine Leinwand. Wir sehen ein Rechteck (mit imaginärem Rahmen), und wir passen in dieses vorgegebene Rechteck unsere Buchstaben, Wörter oder Wendungen ein. Unser Stift ähnelt dadurch einem Pinsel, der Striche und Linien zieht.
Das wird ihm nicht lange genügen. Er wird Kurven und Kreise malen, er wird springen und schräg über die ganze Seite huschen – und er wird das alles nicht nur mit den Buchstaben, Wörtern und Wendungen tun, sondern auch mit Zeichen, die nicht zu unserem Schriftsystem gehören.
Genau hier, in diesem Moment, beginnen wir zu zeichnen. Wir lassen die Schriftzeichen Gott weiß wo liegen und stehen, wir umkreisen und überfallen sie, wir schütten sie zu und machen sie kenntlich, wir schmücken sie aus und fügen in ihre Lücken und Hohlräume kleine Zeichnungen und Bildchen ein.
Damit sind wir, ausgehend von einer überschaubaren Menge an Sprachmaterial, bei einer Zwitterform des Anfangens angekommen, dem Kritzeln:
Das Gekritzel, muss man wissen, ist der kleine Bruder sowohl der Zeichnung als auch der Schrift. Die älteren Schwestern haben gute Manieren, benehmen sich ordentlich und halten sich gerade, sind pflichtbewusst und staatstragend. Der kleine Bruder dagegen fläzt sich in den Kissen und tritt gegen das Tischbein, verschüttet den Brei und wälzt sich im Dreck. Immerfort kritzelt, krakelt, kratzt und spuckt er, der Kleine ist unmöglich.44
Wie solche kritzelnden Verbindungen von Schrift und Zeichnung aussehen könnten, lässt sich an einem berühmten Beispiel studieren. Vor Kurzem ist nämlich unter dem Titel »Mysterien für alle« eine Sammlung fliegender Blätter und Notizen von Joseph Beuys erschienen. Beuys behandelt jedes einzelne Blatt wie eine Studie, die, mit Wörten und Zeichen gefüllt, als Protokoll freien Assoziierens und Nachdenkens erscheint.
Auf einem Blatt befinden sich zum Beispiel am linken Rand untereinander die beiden Wörter »was« und »nun«.45 Sie sind schräg durchgestrichen. Weiter unten entdeckt man, ebenfalls am linken Rand, drei Zeilen. In der ersten steht: »was nun«, in der zweiten: »mit«, in der dritten »der zeit«: »was nun mit der zeit«. In der Blattmitte ragt ein hohes Fragezeichen auf, höher und größer als die beiden Textpartien am linken Rand zusammen. Es akzentuiert die hingekritzelte einfache Frage und nimmt ihr die Harmlosigkeit: »was nun mit der zeit« wird, zusammen mit dem hoch aufragenden, die ganze Bildmitte durchbrechenden Fragezeichen, zu einer bedrohlichen, ja fast beängstigenden Frage.
Es gibt aber noch weitere Texte auf diesem Blatt. In der Bildmitte ganz oben entdeckt man ein kleines Wappen und darunter eine Telefonnummer. Und ganz unten, am unteren Blattrand, liest man: »The Ritz, Piccadilly, London, W1«.
Liest man die von Beuys notierten und die auf dem Blatt bereits vorhandenen Zeichen zusammen, so erkennt man die Kritzelei als kleine Erzählung. Der Künstler Joseph Beuys befand sich während ihrer Anfertigung offensichtlich im Londoner Hotel »Ritz«. Dort entdeckte er in seinem Zimmer neben dem Telefon den üblichen kleinen Notizblock mit der Telefonnummer und einem Stift für Notate vor oder während des Telefonierens. Was Beuys dann kritzelnd festhielt, war ein Erschrecken, das viele Reisende aus beunruhigend stillen Momenten in ihren Hotelzimmern ebenfalls kennen: »was nun mit der zeit«.
Die Kritzelei beschreibt oder erzählt aber nicht von diesem Erschrecken, sie zeigt es vielmehr direkter, sie stellt es aus. Wir erleben (indem die beiden anfänglichen Wörter »was« und »nun« durchgestrichen werden), wie die innere Unruhe entsteht und sich breitmacht. Sie wird zunächst noch gestoppt, meldet sich dann aber in den drei Zeilen »was nun mit der zeit« nachdrücklich wieder. Die Frage ist nicht mehr zu umgehen, sie dehnt sich bedrohlich aus, und diese Bedrohung hinterlässt ein riesiges Fragezeichen, das oben von der Telefonnummer des Hotels und unten von seiner Adresse gerahmt wird. Telefonnummer und Adresse markieren den Raum des Alleinseins und verweisen gleichzeitig darauf, dass man aus diesem Raum heraus telefonieren oder in ihm etwas gestalten könnte. Was nun?
Ein einfaches Notizblatt entpuppt sich auf diese Weise als durchaus kunstvolles Gekritzel, das eine Geschichte nicht bebildert, sondern ihre Entdeckung dem Leser überlässt. Er muss die Buchstaben, Wörter und Zeichen miteinander verbinden und die verschiedenen Gewichte von Text, Zeichnung und grafischer Dramaturgie erkennen und deuten.
Genau in dieser Art sollen wir nun also mit dem Kritzeln beginnen. Indem wir mit einem kleinen Textmaterial starten und überlegen, wie wir die Wörter wo auf einem Blatt verteilen. Steht jedes für sich? Tendieren einige zu einer Dreier- oder Vierergruppenbildung? Steht diese Gruppe im Kreis? Taucht sie ein zweites Mal auf, eventuell um ein Wort verkleinert? Haben sich zwischen der größeren und der kleineren Gruppe weitere Zeichen gebildet? Hingekrakelte Linien, wie zitternde Spinnweben? Und werden diese Linien etwa durch minimale Explosionen durchbrochen? Lodernde Feuerchen, neben denen Salamanderköpfe auftauchen?
Kritzelnd beginnen wir auf eine naive, kindliche Art zu erzählen. Wir träumen uns von den starren Buchstaben weg wie zeichnende Kinder in ihren Schulheften oder wie in früheren Zeiten Menschen, die zu Hause telefonierten und neben dem Telefon noch einen Notizblock vorfanden, auf dem sie während des Gesprächs unablässig zeichneten:
In diesen Kritzeleien steckte … des Öfteren das Unsagbare. Und dieses Unsagbare tauchte sodann als Ornament, als heftige Schmierasch, nicht selten das Papier verletzende manische Stichelei, mitunter aber auch als elegisch dahingleitende Bewegung feinster Linien, Gespinste und Muster auf.46
Schreibaufgabe
■ Kaufen Sie sich einen Notizblock im DIN-A5-Format mit guter Papierqualität.
■ Kritzeln Sie in Ihrem Arbeitszimmer, aber auch unterwegs, wann immer sie Sie etwas Zeit und Lust dazu haben, indem Sie von einem kleinen Textmaterial ausgehen und von diesem Material aus zu einer grafischen Studie in Beuys’scher Manier vordringen.
25.10.2015 Zeitungen wollen, dass ich mein Facebook als Kolumne druck. Ständig schicken sie mir deshalb ein Fax.47
Abschreiben, Anlehnen und Kritzeln sind erste Elementarformen des Anfangens. Indem wir mit ihnen gearbeitet haben, sind wir auf dem Weg über Fremdtexte und deren Proben zu eigenen Texten und Gestaltungsformen gelangt. Wir haben solche eigenen Sätze, Wendungen und Kurztexte gleichsam im Humus der Fremdtexte gezüchtet und aufgezogen.
Im nächsten Schritt geht es darum, diese Texte zu isolieren und zu pointieren. Wir tun dies, indem wir uns vorstellen, sie an mögliche Leser zu verschicken und auf diese Weise zu »melden«. Damit überschreiten wir zum ersten Mal die Grenzen des privaten, intimen Aufzeichnens und behalten (in vorläufig nur spielerischem Sinn) bei jedem Text im Auge, dass er sich an einen bestimmen Leserkreis wenden könnte.
Die österreichische Autorin Stefanie Sargnagel hat ihre Facebook-Meldungen in einem Buch mit dem Titel »Statusmeldungen« zusammengestellt, das uns die Techniken und Dramaturgien kleiner, geposteter Texte vorführt. Sie sind meist nur wenige Zeilen lang, und viele beginnen mit einem »Ich«, das von sich berichtet:
19.7.2015 Ich bin eine sehr leidenschaftliche Frau.48
Obwohl es sich um einen schlichten Satz handelt, lässt er doch bereits erkennen, was es bedeutet, einen eigenen Text zu »melden«. Der kurze Satz wirkt nämlich wie eine Erklärung oder eine Standortbestimmung, ohne dass deren Hintergründe oder Ursachen ins Spiel kämen. In der Form des »Berichtens« ist der eigene Text eine reduzierte Anrede möglicher Leser oder Zuhörer, die ihn »zur Kenntnis nehmen« sollen. Meldung und Bericht haftet etwas Amtliches, Offizielles an – und genau das nutzen die »Statusmeldungen«, indem sie diesen amtlichen Charakter der »Meldung« noch pointieren. »Ich bin eine sehr leidenschaftliche Frau« wirkt dann wie eine knappe, lakonische Antwort auf eine mögliche Frage (»als was für einen Persönlichkeitstyp würden Sie sich bezeichnen?«).Untergründig erinnert das an einen Fragebogen, in dessen Verlauf sich die Autorin mit ihren Angaben »ausweist«. Sie bestimmt sich selbst, ordnet sich zu, grenzt sich ab, betrachtet sich als eine Figur, die sich selbst identifiziert.
Um das in möglichst deutlicher, erkennbarer Form zu tun, kann sie die »Selbstbetrachtung« vertiefen:
19.7.2015 Der Satz »Ich bin eine sehr leidenschaftliche Frau« klingt automatisch, als wäre man alt, müde, dick und besoffen von Rotwein.49
Die zunächst nur als einzelner Satz verschickte Meldung wird durch diesen geringfügig längeren Satz kommentiert. Auch er wirkt wie eine »Erklärung«, die der kürzeren Meldung noch hinzugefügt wird, als wollte die Autorin ganz nebenbei etwas Zusätzliches sagen. Bericht und Meldung werden kommentiert, um ihren amtlichen, sich »objektiv« gebenden Charakter zu unterlaufen und ihm eine nicht amtliche, »subjektive« Färbung zu geben.
Beide Nachrichten ergeben zusammen ein kleines, differenziertes Spiel: Ein »Ich« weist sich vor dem Forum der Leser oder Zuhörer aus und entzieht sich gleich wieder durch einen Kommentar, der die Eindeutigkeit der vorigen »Selbstbeschreibung« aufhebt.
Genau auf dieses Wechselspiel zwischen scheinbar eindeutigen kurzen »Meldungen« (»Ich bin mein eigener Shitstorm«, »Ich bin nur eine Stimme in deinem Kopf«, »Ich stell die Klingel aus« etc.) und ganz anderen Meldungen, in denen das Ich mit der Eindeutigkeit experimentiert (»Mein Rap klingt irgendwie nach Literaturstudentin, aber meine Literatur klingt nach Rapstudentin. Scheiße.«), kommt es an.
Der scheinbar eindeutigen Nachricht oder Meldung wird ihre Schlichtheit genommen, und auf ihrer Kehrseite erscheint eine Figur, die sich viele verschiedene Identitäten zuweist und doch keine fixieren möchte. Es ist, als schlüge die Autorin einen starken Pflock nach dem anderen in die Erde und begänne dann, die Reihe dieser Pflöcke in kurzen Slalomschwüngen zu durchlaufen. So wird ein »festes Ich« sichtbar, das diese Festigkeit leichtfüßig durch andere Selbstbilder infrage stellt.
Indem wir diese Dramaturgie aufgreifen und uns ebenfalls darin versuchen, starke, kurze Meldungen über unser Ich mit offenen, ausschweifenden (und dadurch irritierenden) zu kontrastieren, arbeiten wir an kurzen Texten, in denen unser Ich erstmals in ganz eigenen Texten »zur Sprache kommt«.
Wie das in noch einfacherer und knapperer Form geschehen kann, verdeutlicht ein Blick auf die Twittermeldungen der Autorin Claudia Vamvas. Auch in diesen kurzen Nachrichten meldet sich ein Ich; es verschickt Tweets aus dem Innern eines Busses:
Ich habe mit den Jahren schon so viel erlebt in Bussen, nur um meine Hand angehalten wurde noch nie.50
Mit solchen wiederum einfachen, kurzen Sätzen wird – ähnlich wie im Fall von Stefanie Sargnagel – ein eindeutiges, von sich berichtendes Ich konstruiert. Dieses Ich bleibt aber nicht die ganze weitere Zeit bei sich, sondern kontrastiert die Meldungen über sich selbst mit solchen, die sich auf die anderen Fahrgäste beziehen:
Einfach mal »Sie sind alle so schweigsam, bedrückt Sie etwas?« in die Stille hinein fragen.51
Durch diesen Kontrast bringt sich das sonst eindeutige Ich – wiederum ähnlich wie im Fall von Stefanie Sargnagel – ins Spiel. Die (geheimen) Mitspieler sind dabei die Mitfahrerinnen und Mitfahrer im Bus, die scheinbar angesprochen oder unauffällig beobachtet werden:
Hier sitzen zwei Frauen, und ich finde, dass die Frisur der einen exakt zur anderen passen würde, aber ich mische mich da nicht gerne ein.52
Das Ich und seine unmittelbare Umgebung – von beidem wird in stetem Wechsel berichtet, und zwar diesmal so, dass die stets vorhandene Eindeutigkeit des Ichs durch die Meldungen über die anderen Fahrgäste nicht aufgehoben, sondern um einen Resonanzraum erweitert wird. Das Ich der Autorin versendet kurze Botschaften und nimmt die Bedeutung dieses Ichs gleich wieder zurück, indem es die Meldungen als ein »Spiel mit anderen« ausweist. So wirken die Twitter-Meldungen von Claudia Vamvas auch pointiert, erscheinen aber wie Lockerungsübungen des Ichs – und weniger als dessen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Facetten seines Selbst.
Beide »Nachrichten-Texte« verfolgen so auf unterschiedliche Weise den Versuch, die vielfältigen Selbstaussprachen eines Ichs in ein spielerisches Konzept einzubetten. Indem wir uns von ihnen anregen lassen, hören wir im Rahmen dieses Experiments zum ersten Mal unsere ganz eigenen Stimmen.
Schreibaufgabe
■ Schreiben Sie nach dem Vorbild von Stefanie Sargnagels Texten eindeutige (mit »Ich bin, ich sehe, ich glaube« etc. beginnende) Meldungen, die Sie mit uneindeutigen, zweifelnden, sich infrage stellenden kontrastieren.
■ Schreiben Sie nach dem Vorbild von Claudia Vamvas’ Texten kurze Nachrichten aus immer demselben öffentlichen Raum (Bus, Zug, Büro, Werkstatt etc.), indem Sie Meldungen über sich selbst mit Meldungen über »die anderen« kontrastieren.
So still. Schlafende Katzen zusammengerollt im Nebenzimmer. Von fern das schwache Dröhnen eines Flugzeugs in großer Höhe.53
Indem wir uns bei uns selbst und bei anderen (auf vorläufig noch spielerische Weise) gemeldet haben, haben wir erste Erfahrungen mit unserer eigenen Stimme gesammelt. Im nächsten Schritt kommt es darauf an, dieser Stimme mehr Raum zu geben und über den Status kurzer Meldungen oder Nachrichten hinaus zu gelangen. Die Methode, die wir dafür wählen, ist das »Einschreiben« – und der in Berlin lebende Schriftsteller Christoph Peters hat in seinem gleichnamigen Buch genau solche Techniken angewendet, um in wenigen Sätzen von sich zu erzählen. Von der Meldung oder Nachricht arbeiten wir uns damit vor zu ersten Erzählsplittern.
Das Buch von Christoph Peters beginnt mit einem Geschenk, das er unerwartet erhält. Es ist ein besonders schöner Füllfederhalter aus Silber, ein gutes, britisches Fabrikat. Ein so edles und besonderes Schreibgerät funktioniert nicht wie ein schlichter Kugelschreiber, mit dem man zu jeder Zeit losschreiben und loskritzeln kann. Er sollte vielmehr zunächst für einige Zeit täglich zum Einsatz kommen, sodass die neue Feder mitsamt der Tinte an einen gleichmäßigen Fluss gewöhnt wird. Diesen Vorgang eines wochenlangen, möglichst ununterbrochenen Umgangs mit dem Gerät nennt er »Einschreiben«.
Zu Beginn glaubt Peters, dass ihm diese Arbeit nicht schwerfallen dürfte:
Ein Schriftsteller schreibt manchmal gern, auf jeden Fall oft, sodass es ihm leicht fallen sollte, Bögen mit unnötigen Sätzen zu füllen, bis der Füller sich an ihn gewöhnt hat und umgekehrt.54
»Unnötige Sätze« sind Sätze, die nichts Besonderes festhalten oder mitteilen sollen. Es sind keine Sätze, die zu einem größeren, in sich geschlossenen Textkorpus gehören. Nicht um Sätze, die lange ausgearbeitet wurden und in denen jedes einzelne Wort eine bestimmte Funktion übernimmt, geht es also, sondern um schlichte, um des flüssigen Schreibens willen aneinandergereihte Sätze.
Wenn Christoph Peters sie schreiben will, denkt er nicht lange nach. Er bereitet sie weder durch Recherchen vor, noch sucht er nach Motiven oder Themen. »Unnötige Sätze« im Format des »Einschreibens« werden nicht umständlich gefunden, sie bieten sich vielmehr beinahe von selbst an. Der Autor braucht sich nur einen Moment lang umzuschauen oder umzuhören, schon sind die ersten »unnötigen Sätze« da. Sie beziehen sich auf die unmittelbare Umgebung des Zimmers, der Wohnung, der Straßen vor dem Haus oder der Nachbarschaft. Und sie wirken oft so, als wären sie früh am Morgen, kurz nach dem Aufstehen, entstanden.
Trocken und eisig die Luft, der Himmel verhangen. Hinter den Doppelfenstern entspricht das Geräusch des Verkehrs keiner Bewegung. In den Wohnungen gegenüber hat niemand die Lampe eingeschaltet. Dort wartet der Tag noch auf sich. Nicht einmal der vierzigjährige Trinker, der bei seiner Mutter ein Zimmer hat, steht rauchend auf dem Balkon und beargwöhnt die Menschen auf der Straße wegen ihrer Arbeit, der Kinder.55
Texte wie dieser lassen trotz ihrer Einfachheit und einem möglichst direkten, unkomplizierten Umgang mit der Umgebung erkennen, dass sie nach einem bestimmten Verfahren gemacht sind. Oft beginnen sie mit einem Einstieg, der sich auf das Wetter bezieht. Der Einstiegssatz über die morgendliche Wetterkonstellation erscheint als eine erste kurze Aufmerksamkeit für die Bilder ringsum. Der Blick auf die Signale des Tages geht nach oben, zum Himmel, und hält mit den Bildern der Luft und des Himmels zugleich auch eine Stimmung fest.
Danach wird das Draußen genauer fixiert: der Verkehr, die Wohnungen gegenüber, die Leere eines Balkons, auf dem häufig ein bestimmter Nachbar auftaucht. Jeder der drei Sätze, die das festhalten, wirkt wie das Notat eines Stilllebens. Kaum etwas bewegt oder tut sich. Keine starken Handlungen, die man sofort weiterverfolgen würde. Stattdessen Beobachtungen zur Ruhe und Stille der Frühe, als hätte die Welt ringsum sich noch kaum auf den Alltag eingelassen.
Einstiegssatz, Aneinanderreihung von kleinen Beobachtungen der unmittelbaren Umgebung – so formiert sich das »Einschreiben«. Es folgt einer sich langsam im Raum orientierenden Wahrnehmung, deren Festhalten in der zupackenden Form des Präsens geschieht. Es gibt keine schwere Vergangenheit, über die lange nachgedacht wird, sondern es existiert nur das momentan Erlebte und Gefühlte. Selbst die Gedanken sind noch nicht richtig in Bewegung oder auf Trab. Vielmehr hat es den Anschein, als ginge es um ein Studium der Welt in einem Früh- oder Rohzustand:
Während draußen der Presslufthammer eingeschaltet wird, frage ich mich nach dem Wetter. Raue Stimmen und Baufahrzeuge gehen am Bewusstsein des Computers spurlos vorbei. Dass er trotzdem murmelt, ist ein schlechtes Zeichen, sagen die, die sich auskennen: Er wird sterben. Das macht einmal mehr die Vorzüge des Handschriftlichen deutlich. Sein Nachteil: Es ist ganz dem Stofflichen verpflichtet. Striche, Verwischtes, Flecken, unlesbare Spuren.56
Der murmelnde, sterbende Computer bringt keine Texte des »Einschreibens« oder »Aufzeichnens« hervor. Er richtet die Sätze aus, normiert sie und lässt sie auf dem Bildschirm in bestimmten, vorgegebenen Formaten erstarren. Die Texte des »Einschreibens« dagegen sind handschriftlich und stofflich. Sie verteilen sich auf einem Blatt in immer anderer Form, je nach Stimmung und Laune des Schreibenden.
So sind sie umgeben von Spuren ihrer Entstehung und verweisen auf ihren vorläufigen, unausgegorenen Charakter. Rasch hingeschrieben und mit den Tiefenschichten der Wahrnehmung verknüpft, erscheinen sie als kleine Organismen, die nicht nur aus Schrift, sondern auch aus deren Atmosphären bestehen. Striche und Verwischtes, Flecken und andere Spuren gehören zu diesen Texten und machen sie zu fragilen Gebilden, die noch keine feste Form gefunden haben.
Solche Texte sind nie länger als eine halbe oder dreiviertel Seite. Den meisten merkt man an, dass sie ohne Unterbrechungen in einem raschen Durchlauf geschrieben wurden. Sie sind momentane Ablagerungen von Gefühlszuständen, die sich auf dem Papier in einem noch vorläufigen Schriftbild niederschlagen. Die meisten von ihnen entstehen am Schreibtisch oder in der Wohnung und beziehen sich auf die nahen Personen und Gegenstände der unmittelbaren Umgebung. Die Schreibbewegungen des »Einschreibens« kreisen auf diese Weise den Alltag ein, bewahren ihn auf und erzählen davon, wie ein einzelner Berichterstatter sich meist frühmorgens mit großer Vorsicht und Aufmerksamkeit in seiner Welt zu orientieren beginnt.
■ Wählen Sie für Ihr »Einschreiben« ein besonderes Schreibgerät (Bleistift, Füller, Tintenroller etc.) aus. Schreiben Sie auf Blanko-Papier mit der Hand und notieren Sie an einem dafür bestimmten Ort (Schreibtisch, Esstisch etc.).
■ Schreiben Sie über Personen und Dinge, die Sie jeweils direkt vor Augen haben. Verfolgen Sie über einen selbst gewählten Zeitraum (eine Woche, einen Monat), wie sich diese Personen und Dinge verändern.
■ Schreiben Sie einfach und schlicht und folgen Sie jeweils Ihren Wahrnehmungen, ohne sie lange zu kommentieren oder zu deuten. Lassen Sie das Beobachtete für sich selbst sprechen und reflektieren Sie es nicht ausführlich.
35 Ludwig Harig, in: Marbacher Magazin 68/1994, S. 4.
36 Ludwig Harig, in: Marbacher Magazin 68/1994, S. 5.
37 Kenneth Goldsmith: Uncreative writing.
38 Nicholson Baker: So geht’s, S. 67.
39 Wilhelm Lehmann, Eintrag auf dem Vorsatzblatt eines gelesenen Buches, zitiert nach: Marbacher Magazin 88/1999, S. 106.
40 Marbacher Magazin 88/1999, S. 115/116.
41 Gottfried Benn, zitiert nach: Marbacher Magazin 88/1999, S. 115.
42 Jochen Schmidt: Schmidt liest Proust, S. 15.
43 Ulrich Raulff, in: Marbacher Magazin 129/2010, S. 7 f.
44 Ulrich Raulff, in: Marbacher Magazin 129/2010, S. 5.
45 Joseph Beuys: Mysterien für alle, S. 62.
46 Heinrich Steinfest, in: Marbacher Magazin 129/2010, S. 14.
47 Stefanie Sargnagel: Statusmeldungen, S. 74.
48 Stefanie Sargnagel: Statusmeldungen, S. 13.
49 Stefanie Sargnagel: Statusmeldungen, S. 13.
50 Claudia Vamvas: Sitze im Bus, Nr. 3.
51 Claudia Vamvas: Sitze im Bus, Nr. 4.
52 Claudia Vamvas: Sitze im Bus, Nr. 6.
53 Christoph Peters: Einschreiben Aufzeichnen, S. 22.
54 Christoph Peters: Einschreiben Aufzeichnen, S. 7.
55 Christoph Peters: Einschreiben Aufzeichnen, S. 13.
56 Christoph Peters: Einschreiben Aufzeichnen, S. 29.