Textprojekte und Schreibaufgaben IV: Einsteigen

1. Zeitverläufe

Eine Ameise krabbelt im Mittelgang von St. Elisabeth Richtung Weihnachtskrippe. Der Weg zur Herberge ist weit und dunkel.83

Die bisherigen Studien und Arbeitsprozesse ließen sich zu einer beliebigen Zeit und in beliebiger Länge während des Tages oder der Nacht erledigen. Man konnte sie unterbrechen und wieder aufnehmen, sodass sie sich auch von all jenen gestalten ließen, die während eines Tages mit vielen anderen Tätigkeiten beschäftigt waren.

Zeit spielte in ihnen keine große Rolle, jedenfalls kam es nicht darauf an, einen Überblick über die Zeit zu gewinnen oder eine besondere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Zeitverlauf zu richten.

Im Folgenden wird sich das ändern, denn ab jetzt geht es entweder darum, sich kontinuierlich auf einen solchen Zeitverlauf einzulassen, oder darum, ihn in seiner Kontinuität und Besonderheit im Überblick zu erfassen. Dazu muss man sich Zeit nehmen und das Interesse ganz auf die jeweils besonderen Facetten von Zeit richten. Schreibend werden wir in den Fluss der Zeit einsteigen und ihr bestimmte Konstellationen abgewinnen.

Eines der berühmtesten Beispiele dafür, wie sich ein Autor akribisch bemüht hat, einen Zeitverlauf zu dokumentieren, stammt von dem französischen Schriftsteller Georges Perec (1936–1982). Er setzte sich im Oktober 1974 in ein Café an der Place Saint-Sulpice in Paris und notierte alles, was er von seinem Sitzplatz aus beobachten konnte: die Nummern der heranfahrenden und an einer Station haltenden Busse, welche Farben die auftauchenden und wieder verschwindenden Gegenstände hatten oder was die vorübereilenden Passanten jeweils in ihrer Hand hielten.

Perec wollte zum einen die kleinen, alltäglichen Dinge und Vorkommnisse, die wir leicht übersehen, in den Vordergrund rücken:

… das, was man im Allgemeinen nicht notiert, das, was nicht bemerkt wird, was keine Bedeutung hat, das, was passiert, wenn nichts passiert außer Zeit, Menschen, Autos und Wolken.84

Und er wollte zum anderen als Autor an einem bestimmten Zeitverlauf einiger Stunden intensiv teilhaben. Eine solche Teilhabe setzte voraus, dass sich Perec ganz auf das jeweils Wahrgenommene beschränkte und konzentrierte. Deshalb blendete er vollkommen aus, welche emotionalen Eindrücke das Gesehene hinterließ, wie er es bewertete oder welche Assoziationen und Überlegungen ihm dazu kamen.

Perec beobachtete also wie ein stoisches, mit Augen und Ohren wahrnehmendes, die Reflexion ausschaltendes und stattdessen detailliert registrierendes Medium. Dieses Medium verschrieb sich dem Dienst, den großen Platz von Saint-Sulpice in einem bestimmten Zeitraum panoramatisch zum Leuchten und Klingen zu bringen. Der Platz war das Thema und keineswegs das, was Perec alles an Ideen oder gar Konfessionen mit diesem Platz verband:

Cityrama: eine Japanerin ist ganz von ihren Kopfhörern in Anspruch genommen

Ich höre: »Es ist Viertel nach drei«

Ein Mann im Regenmantel macht große Gesten

Japaner in einem Bus

Die Glocken von Saint-Sulpice beginnen zu läuten (ich höre, es soll eine Taufe sein)

Die Tauben drehen eine Platzrunde

Die beiden Knöllchenangestellten vom Vortag kommen vorbei; heute wirken sie sorgenvoll …85

Perec verhielt sich gegenüber der Vielfalt des Gesehenen und Gehörten neutral. Der Leser seines Textes lässt diese Neutralität allerdings rasch hinter sich. Im Verlauf der Lektüre beginnt er, Wiederholungen und einmalig auftretende Details zu unterscheiden.

Die Fahrzeuge, Busse und Tauben drehen in regelmäßigen Abständen ihre Runden – daraus besteht der Hintergrund. Im Vordergrund aber entstehen kleine Szenen, an denen man hängen bleibt und die nach Bearbeitung verlangen: Was ist mit dem Mann im Regenmantel? Gegenüber wem macht er große Gesten? Ist er ein Jurist, ein Schauspieler, irgendein Chef? Wie alt sind die Knöllchenangestellten? Verstehen sie sich gut? Sind sie ein Duo? Oder haben sie Sorgen, weil sie sich gram sind?

Indem Perec sich zum großen Teil auf die Dokumentation des Immergleichen konzentriert, stechen die erregenderen Einzelheiten umso plastischer hervor. Sie verlangen nach Belebung und Ausfantasieren und werden dadurch zu Elementen möglicher Geschichten.

Perecs Projekt verzichtet darauf, sich den wahrgenommenen Objekten zu nähern oder gar in Kontakt mit ihnen zu treten. Man könnte die Japanerin nach der Musik befragen, die sie über Kopfhörer hört. Man könnte sich bei anderen Gästen des Cafés erkundigen, warum die Glocken gerade läuten. Dann würde man als Autorin oder Autor die distanzierte Position des reinen Beobachters verlassen und zu einem anderen Beobachter werden: einem, der an der Welt um ihn herum teilnimmt.

Im »Kölner Stadtanzeiger« erscheint seit 2013 eine Artikelserie (»Momentaufnahme – 90 Minuten Köln«) mit Beiträgen, in denen ein einzelner Autor neunzig Minuten lang einen bestimmten Raum erkundet. Er befragt andere Menschen, die sich ebenfalls in diesem Raum aufhalten, und er verfolgt die Veränderungen, die in ihm stattfinden.

Am 24./25. 12.2016 ist ein Text von Uli Kreikebaum erschienen. Er dokumentiert neunzig Minuten in der Pfarrkirche St. Elisabeth: die dreizehn Gläubigen, die auf den Abendgottesdienst warten, den Vorbeter, die ältere Frau, die für ihren Mann betet (früher einmal hat er die Kirchenfenster gestaltet), den Küster, den Organisten, Mutter und Tochter, die beide lachsfarbene Jacken und karierte Schals tragen, und natürlich den Pfarrer.

All diese Menschen erleben zusammen die Abendmesse, und sie tun es, wie man aus dem Artikel genau erfährt, aus ganz unterschiedlichen Motiven. Kreikebaums Text wird, indem er diesen Personen ihre Geschichten entlockt, ebenfalls zu einer panoramatischen Erzählung. Diesmal aber ist es eine, die ihren Stoff aus dem Innenleben der Menschen bezieht.

Auch Kreikebaum bleibt dabei distanziert. Er wertet und reflektiert die Ereignisse nicht. Aber er lässt die Menschen um sich herum nicht bloß als Passanten auftreten und vorbeiziehen, sondern interessiert sich für ihre Biografien und Geschichten. Dadurch wird der dokumentierte Zeitverlauf, obwohl doch auch er durchaus alltäglich ist, zum Verlauf eines Ereignisses, ja, zu geradezu etwas Wunderbarem. Wie, fragt man sich als Leser, konnte es passieren, dass all diese so unterschiedlichen Menschen an diesem Abend gerade in diese Kirche fanden ?

Die Messe beginnt mit einem Orgelvorspiel. Pfarrer Meurer fragt: »Sind wir bereit, einem Engel zu folgen, auch wenn es nur um Kleinigkeiten geht?«86

Schreibaufgabe

Wählen Sie eine bestimmte Position im öffentlichen Raum. Dokumentieren Sie von diesem Platz aus, ohne ihn zu wechseln, die Menschen und Ereignisse um Sie herum. Werten und reflektieren Sie nicht.

Lassen Sie einige Zeit vergehen und lesen Sie dann Ihre Dokumentation noch einmal durch. Notieren Sie Fragen, Fantasien und Assoziationen zu einzelnen Personen und Ereignissen und spinnen Sie dieses Material weiter aus.

Bewegen Sie sich in einem geschlossenen, nicht zu großen öffentlichen Raum und nehmen Sie Kontakt zu den Menschen um Sie herum auf. Befragen Sie diese Menschen danach, warum sie sich in dem Raum aufhalten, woher sie kommen und was sie noch vorhaben. Nehmen Sie Ihre Antworten mit einem Diktiergerät auf und arbeiten Sie die Texte zu einem panoramatischen Bild des besuchten Raums aus.

2. Die Chronik

Ich brachte meine Tochter zur Schule und schrieb dann im Büro eine E-Mail …87

Dokumentieren wir Zeitverläufe, wenden wir uns mit großer Aufmerksamkeit den Personen und Ereignissen in einem bestimmten Raum zu. Mehr oder weniger distanziert oder involviert nehmen wir an einem solchen Zeitverlauf teil und reihen in unserem Text die Begebenheiten zu einem Kontinuum ohne große Unterbrechungen oder Sprünge aneinander. Wir schwimmen gleichsam im Zeitfluss mit und bekommen immerhin einige Partikel zu fassen, die mit oder neben uns in demselben Fluss treiben.

Wenden wir uns nun in einem zweiten Schritt uns selbst zu und dokumentieren wir einen Zeitverlauf unseres eigenen Lebens. Wir tun dies in Form einer Chronik, was bedeutet, dass wir diesmal zu einem distanzierten und keineswegs involvierten Beobachter unserer eigenen Geschichte werden.

Mit unserem chronikalischen Protokoll verfolgen wir zunächst einen einzigen Tag. Wir beginnen mit dem frühen Morgen und verfolgen die Tagesereignisse ohne Sprünge oder Umwege. Der Zeitfluss, in dem wir jetzt treiben, ist uns vertraut, und gerade deshalb neigen wir dazu, ihn rasch zu durchschwimmen. Anscheinend gibt es, eben weil uns alles vertraut und bekannt ist, wenig Interessantes zu berichten.

Dieses Vorurteil sollten wir ignorieren und mit der Arbeit beginnen. Alles ist von Bedeutung, jede Einzelheit, jede Bewegung.

Vor einigen Jahren hat die Zeitung »Nouvel Observateur« zweihundertvierzig Autorinnen und Autoren der verschiedensten Herkunftsländer gebeten, einen bestimmten Tag in ihrem Leben zu protokollieren. Es war der 29. April 1994. Unter den zu diesem Projekt eingeladenen Autoren war auch der amerikanische Schriftsteller Nicholson Baker. Sein Text hat den Titel »Was am 29. April 1994 geschah«.

Baker berichtet zu Beginn davon, dass er seine Tochter zur Schule gebracht und sich dann in sein Büro zurückgezogen habe. Er wird angerufen und kurz interviewt. Mittags isst er mit seiner Frau und dem fünf Monate alten Sohn in einem chinesischen Restaurant. Danach kehrt er wieder in sein Büro zur Arbeit zurück. Später kommt seine Tochter nach Hause und trägt eine neue Pfadfinderinnenuniform (lange Strümpfe mit blauen Troddeln). Am frühen Abend geht er Einkaufen fürs Abendessen. Er leiht einen Film (»Arsen und Spitzenhäubchen«) aus, den er später mit seiner Frau und der Tochter sehen möchte …

Eine solche Chronik erlaubt zunächst, die eigenen Arbeitsprozesse genauer zu verfolgen (und notfalls zu verkürzen oder zu verlängern): Wann und wie viel Zeit habe ich woran gearbeitet?

Sie erlaubt weiterhin, die einzelnen Segmente des Tages zu erfassen und zu charakterisieren: Wann habe ich mich wo wie lange aufgehalten, um was genau zu tun? Aus welchen unterschiedlichen Erlebnisphasen (essen, arbeiten, einkaufen, einen Film sehen etc.) setzte sich mein Tag zusammen? Welchen Menschen begegnete ich, welche begleitete ich und worüber unterhielt ich mich mit ihnen? Kurz gefasst: Was sind die Motive und Themen meines Lebens in einem bestimmten Alter?

Indem ich so beobachte und dokumentiere, betrachte ich mein eigenes Leben als einen Erzählstoff. Ich selbst bin sozusagen der Held meines Alltags. Wenn ich die Chronik über einen einzigen Tag hinaus fortsetze und sie auf eine Woche oder gar einen Monat ausdehne, werden meine Aufzeichnungen erst so richtig ertragreich. Ich kann kleine Veränderungen und Verschiebungen in den Tagesverläufen erkennen, ich erkenne Geschichten, die sich anbahnen, weiterentwickeln oder plötzlich zum Erliegen kommen, ich feiere Höhepunkte und gerate in Krisen.

Immerzu halte ich fest, notiere und fixiere – aber ich schreibe kein Tagebuch. Vom Tagebuch trennt mich die kühle Distanz meines bloß beobachtenden Blicks. Nirgends berichte ich von meinen Gefühlen oder Empfindungen oder davon, was ich durchlebte, als X mich so brüsk behandelte. Ich schreibe: »X drehte sich um und ging die Meierstraße hinab. Er verschwand in seinem blauen Regenmantel an der Kreuzung Bilbaostraße.« Ich schreibe aber keineswegs: »X drehte sich plötzlich um. Noch nie war er mir so unsympathisch wie in diesem Augenblick. Ich hätte auf ihn einprügeln können, aber ich war zu traurig, ich konnte mich nicht einmal zu einer anständigen Tracht Prügel hinreißen lassen.«

In der Chronikform der Aufzeichnung protokolliere ich mein Leben, in der Tagebuchform dagegen erzähle ich es mir – das ist der große Unterschied. Hat Nicholson Baker den 29. April 1994 auf ergiebige Weise protokolliert? Nein, das hat er leider nicht getan. Als Leser hat man den Eindruck, dass er den Text als Erfüllung einer Pflichtaufgabe empfand und sich dieser Aufgabe zu schnell entledigte.

Denn es bleiben viele Fragen. Wo und was hat er gefrühstückt und mit wem? Hat er dabei Musik gehört oder danach die Zeitung gelesen? Welche Artikel interessierten ihn besonders und was meldeten die Nachrichten im Radio? Mittags hat er mit Frau und Sohn chinesisch gegessen. Wie sah das Restaurant aus? Und was wurde gegessen? Haben sich Baker und seine Frau mit der Kellnerin oder dem Kellner unterhalten? Und worüber sprachen sie auf ihren Wegen durch die Stadt?

All diese Fragen bleiben unbeantwortet, dabei enthielten diese Antworten die ganze Spreu des Alltäglichen, aus dem unser Leben besteht. Mit ihr haben wir es täglich in unablässiger Kleinarbeit zu tun – und genau diese Kleinarbeit, die Arbeit an anderen Menschen und Dingen, gilt es so genau wie möglich zu erfassen.

Dafür müsste man sich im Idealfall ausreichend Zeit nehmen, eine Stunde am Tag mindestens. Da das aber oft nicht möglich ist, sollte man die eigenen Tagesverläufe je nach Belieben und Zeit in unterschiedlicher Länge protokollieren. Mal hat man eine ganze Stunde zur Verfügung und schreibt dann einige Seiten, mal ist nur eine Viertelstunde am Tag dafür übrig, dann rafft man den Tagesverlauf in knappen Stichworten, etwa in dieser Art: »Mit Nora Tee und zwei Scheiben Toast mit Orangenmarmelade gefrühstückt. Gegen neun Aufbruch zur Bibliothek. Recherchierte zwei Stunden zum Thema ›Das Verhalten von Mondfischen in Aquarien‹. Traf Paul im Vorraum, er hat geheiratet. Verabredete mich mit ihm für Dienstag zum Abendessen. Er hustete mehrfach (ungesund) …«

Solche Chronikeinträge könnte man fortlaufend in ein Notizbuch schreiben, man könnte dafür aber auch gleich ein Album benutzen. Das hätte den Vorteil, dass man Zettel, Zeitungsausschnitte und Zeichnungen vom jeweiligen Tag zu den eigenen Texten hinzufügen könnte. So wären die Tagesberichte gerahmt durch Material, das die Tagesberichte der Welt um einen herum zumindest in Bruchstücken liefert.

Und damit die gute, alte Liste nicht zu kurz kommt, könnte man in diese Chronik dann und wann auch Listen einschalten: Was ich im Oktober alles an Live-Sportübertragungen im TV gesehen habe / welche Bücher ich im November gelesen oder angelesen habe / was ich im Dezember für wen als Weihnachtsgeschenk eingekauft habe / welche Winterkleidung ich im Januar getragen habe /.

Wir wissen es bereits: James Joyce hätte an unseren Chroniken seine große Freude gehabt. Er hätte sie ausgeliehen und das in ihnen gespeicherte ungeheure Alltagsmaterial für seine Romane genutzt. Denn, kleine Erinnerung:

Joyce hatte eine Vorliebe für das Gewöhnliche. Er sagte einmal, ein Mensch offenbare seinen Charakter durch die Art, wie er seine Schuhe schnüre88

Schreibaufgabe

Schreiben Sie jeden Tag eine Chronik Ihres Tagesverlaufs, mal länger, mal kürzer, mal ausformuliert, mal in Stichworten. Schreiben Sie die Chroniken in ein Notizbuch oder sammeln Sie die Texte in einem Ordner oder einem Album.

Gelingt es Ihnen nicht, eine bestimmte Zeit des Tages für das Chronikschreiben zu reservieren (den Abend, die Nacht?), so schreiben Sie die Chronik im Verlauf eines Tages in kurzen, freien Momenten und damit in mehreren Stücken.

3. Szenen mitschreiben

Gegen zwölf Uhr mittags kocht Kathrin Eier für sie beide. Sie stehen in der Küche und essen sie aus Gläsern, die für Speiseeis bestimmt sind (sie kauften die Gläser 1972 in einem Moabiter Laden, der auf Gaststättengeschirr spezialisiert war). Kathrin würzt ihre Eier mit Worcestersauce, R. die seinen mit Salz; außerdem isst er ein Butterbrot, das er nach jedem Bissen auf dem Küchentisch ablegt, um wieder einen Löffel Ei zu nehmen. Als Kathrin ihre Eier verzehrt hat, schüttet sie den Rest der Worcestersauce in den Ausguss.89

Das regelmäßige Schreiben einer Chronik macht es möglich, das eigene Leben genauer zu erfassen und zu begreifen. Liest man die notierten Tagesverläufe aus dem Abstand einiger Wochen oder gar Monate, erkennt man erst, wie viel Interessantes man aufgezeichnet hat. Denn inzwischen hat man natürlich den größten Teil des Erlebten völlig vergessen. Längst ist er untergegangen im Schlund der Zeit, und aus den letzten Wochen hat man kaum noch mehr in Erinnerung als einige wenige Ereignisse, die eher ungewöhnlich waren und daher »aus dem Rahmen fallen«.

Chroniken sind ideale Erinnerungsspeicher, die mir das eigene Erleben zurückbringen und erhalten. Darüber hinaus erlauben sie aber auch, ein präziseres Gefühl für die eigenen Pflichten, Vorlieben und Interessen zu gewinnen. Betrachtet man die Chronikseiten aus gebotenem Abstand, könnte man Überlegungen darüber anstellen, welchen Pflichten man sich zu sehr widmet, welche Vorlieben zu kurz kommen und welche Interessen man eigentlich nur noch aus Gewohnheit verfolgt.

Es kommt bei solchen Rückblicken aber noch etwas anderes hinzu. Habe ich meine Chronik detailliert und nicht oberflächlich geführt, habe ich mich also bemüht, nicht nur bloße Tätigkeiten zu registrieren, sondern auch genau mitzuteilen, wie sich diese Tätigkeiten gestalteten und womit ich jeweils zu tun bekam, liest sich die Chronik mit der Zeit wie ein großer Zeitroman. Ein solcher Roman mit seinen Hunderten von Details enthält weniger meine Geschichte, sondern die der Zeitverläufe einer bestimmten Person in einem bestimmten Raum.

Alles, was ich präzise notiert habe (den Namen der Orangenmarmelade am Morgen, die Radionachrichten, das Gespräch mit R. über seine Arztbesuche, das Aufblühen der Pflanzen in meinem Garten etc.), ist ein von der historischen Zeit geprägter Stoff. Er gestaltet und entwickelt sich in einem bestimmten Milieu, nimmt viele Ausdrucksformen und Farben an und verändert sich unaufhörlich. So sammle ich etwa, nebenher und ohne es darauf anzulegen, ein sehr ergiebiges Material für längere Erzähltexte, in denen ich zu einem späteren Zeitpunkt auf mein früheres Leben zurückblicken werde: »1982 lebte ich in Berlin-Charlottenburg gleich neben der kleinen Eisdiele in der Bleibtreustraße. An jedem Morgen begegnete mir gleich nach Verlassen des Wohnhauses gegen neun Uhr …«

Der Autor Michael Rutschky hat Anfang der 80er-Jahre viele chronikalische Texte geschrieben. Er hat dies nicht in Form von fortlaufenden Tageschroniken getan, sondern indem er bestimmte Szenen des Tages beobachtete und den szenischen Verlauf kurz nach dem Erleben notierte. Rutschky schrieb die von ihm erlebte Zeit mit – und was daraus ganz folgerichtig entstand, war der Zeitroman einer bestimmten Gruppe von Menschen, die sich damals vor allem in München aufhielt.

Während Rutschky an diesen Szenen schrieb, mögen sie ihm geradezu banal und alltäglich vorgekommen sein. Aus dem Abstand von über dreißig Jahren liest man sie aber als hoch interessante Folge von Geschichten, die ein präzises Bild der Gewohnheiten, Meinungen und Interessen eines vor allem intellektuellen Milieus in einem konkreten Zeitraum entwerfen.

Rutschky hielt in seiner »Mitschrift« keineswegs nur Diskussionen über politische oder gesellschaftliche Themen oder jene Besonderheiten fest, die den Protagonisten seiner »Mitschrift« damals als »wichtig« oder »bedeutsam« erschienen, sondern in ungefilterter Form alles, was man als kleine, geschlossene, für sich stehende Szene lesen konnte.

Am Straßenrand, im Schnee liegen auf Silberpapier einige Scheiben feiner Aufschnitt. Den Hund verblüfft der Fund so gründlich, dass er gar nicht richtig zufassen kann.
Später erklärt Kathrin, warum die Leute das machen.«Vielleicht sind sie verreist und wollten den schönen Aufschnitt nicht wegwerfen.« Neulich habe sie eine Frau aus ihrem Küchenfenster einige Knochen auf die Straße werfen sehen. Das solle man nicht tun, habe sie ihr erklärt. Hunde sollten im Freien nichts zu fressen finden. Aber es wäre schade drum ! habe die Frau geantwortet.
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Anders als die Chronik konzentrieren sich solche Szenenmitschnitte nicht auf den Tagesverlauf einer einzigen Person, sondern orten vor allem die Umgebungen: die Räume, in denen die Szenen verlaufen, und die anderen Menschen, die an der Gestaltung dieser Szenen beteiligt sind. Was diese Menschen tun und sagen, ist von vorrangigem Interesse, während der Beobachter sich deutlich zurücknimmt und eher wie eine kleine Kamera agiert, die das Lebenstheater seiner Umgebung aufnimmt.

Er selbst ist daher nur eine Person unter möglichst vielen anderen. Wie diese anderen miteinander umgehen, zu welchen Anlässen sie sich treffen, was sie bereden und welche Rituale sie unaufhörlich pflegen – genau das ist interessant. Durch diese besondere Perspektive hat der schreibende Beobachter etwas von einem Soziologen. Er studiert und porträtiert Gruppenverhalten, geht einzelnen Personen nach und fokussiert unablässig darauf, wie diese Personen neue Themen kreieren, sich voneinander absetzen und daran arbeiten, sich in den verschiedenen gemischten Umgebungen singulär zu behaupten:

Michel trägt um das linke Handgelenk ein goldenes Armband – R. sieht es heute zum ersten Mal und denkt, als er es sieht, sogleich, this is the story of the day. »Er ist eben ein Stenz«, sagt Kathrin, als R. abends von dem Armband erzählt. »Vielleicht hat er eine neue Freundin.«91

Liest man heute Rutschkys chronikalische Mitschriften, erstehen die Welten der 80er-Jahre in großer Fülle: Szenen von Mahlzeiten in bestimmten Restaurants, Debatten während der Arbeit einer Zeitschriftenredaktion in ihren Büros, Filmvorführungen, abendliches Fernsehen, Kurzreisen mit dem Wagen durch Deutschland, Lektüren. Und obwohl der Autor keineswegs seine »Probleme« und Sorgen verschweigt und selbst minimale Depressionen und Unlustanfälle mitnotiert, stellt man sich ihn als einen glücklichen Schreiber vor: Wie viel er erlebt hat! Und wie es ihm gelungen ist, sich für alles zu interessieren!

So einer, denkt man, hat eigentlich immerzu etwas zu schreiben! Den ganzen Tag über läuft er mit eingeschalteter Kleinkamera herum, stets neugierig, immer auf der Lauer! Selbst das lästige Auftanken seines Wagens an irgendeiner Tankstelle entlockt ihm eine Geschichte, die man mit einem Lächeln liest: So hat man noch keine Geschichte vom Auftanken gelesen, das Auftanken ist viel interessanter, als man immer gedacht hat – los, tanken wir mal wieder irgendwo auf, neugierig, was da geschehen wird.

Schreibaufgabe

Kaufen Sie einen dicken Notizblock und notieren Sie (immer nur auf der Vorderseite der Blätter) während eines Tages kleine Tagessequenzen oder -szenen, in denen Sie das Verhalten und die Interessen »der anderen« einfangen und porträtieren.

Stoßen Sie während des Tages auf Szenen, die Sie nicht gleich schriftlich festhalten können, so machen Sie einige Fotos von der Szene und notieren Sie den entsprechenden Text dazu später.

Können Sie keine Fotos von einer bestimmten Szene machen, sprechen Sie nach dem Erlebnis einige Stichworte in ein Diktiergerät und arbeiten Sie diese Texte später zu einer »Mitschrift« aus.

4. Ein Lebensmotiv reflektieren

Ich hasse Verkehrsampeln. Zuerst einmal, weil sie immer rot sind, wenn ich keine Zeit habe, und grün, wenn ich welche habe, einmal abgesehen vom Gelb, das in mir immer eine gräßliche Unentschlossenheit hervorruft: Soll ich bremsen oder Gas geben ? Bremsen oder Gas geben ? Bremsen oder Gas geben ? Ich gebe Gas, dann bremse ich, gebe wieder Gas …92

Unser »Einsteigen« in Texte, die Zeit einfangen, war bisher vor allem ein Protokollieren. Wir porträtierten einen Zeitverlauf von einigen Stunden, wir schrieben Chroniken einzelner Tage, und wir verfolgten »Szenen mit anderen Menschen«, die wir in einem bestimmten Zeitabschnitt (ein paar Monate oder auch Jahre) erlebt haben.

Beim Protokoll agieren wir als Medium oder als kleine Kamera, die alles Gesehene und Gehörte registriert und sich weiterer Wertungen und Kommentare enthält. Wir fokussieren nicht auf uns selbst, sondern auf die Bewegungen und Ereignisse der Welt um uns herum. Tun wir das intensiv, sammeln und speichern wir zeithistorischen Stoff, den wir zu einem späteren Zeitpunkt in ein Erzählprojekt einspeisen könnten.

Als Nächstes verändern wir die Perspektive und konzentrieren uns auf genau jene Fähigkeiten, die wir bisher bewusst ausgeschaltet haben: Wir reflektieren und kommentieren Ereignisse und all das, was wir täglich an Begegnungen, Nachrichten oder Themen in den Blick bekommen.

Als Vorlage dienen uns die kurzen Texte, die der portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes alle vierzehn Tage für eine portugiesische Tageszeitung schrieb. Man bezeichnet sie als »Kolumnen«, aber ihre spezifische Kolumnenform soll uns an dieser Stelle nicht lange interessieren.

Wichtiger ist, dass es sich um kurze, höchstens zwei- oder dreiseitige Texte handelt, in denen Antunes seinen Lesern immer von einem bestimmten Detail seines Lebens berichtet, das ihn gerade stark beschäftigt. So denkt er darüber nach, warum er so schlecht mit Verkehrsampeln zurechtkommt und was ihn gerade an diesen Ampeln stört.

Oder er lässt (in einem plötzlichen Anfall von Euphorie für dieses Thema) all jene Fußballtorhüter der letzten vierzig Jahre an seinem inneren Auge vorbeiziehen, an die er sich noch gut erinnert. Oder er lässt die Welt rund um die beiden Imbissbuden seiner Kindheit im Lissaboner Stadtteil Benfica wieder auferstehen. Oder er denkt darüber nach, wie er eigentlich seine Sonntage verbringt.

Der Kern all dieser Texte ist erzählend: unprätentiös, geradlinig, mit erkennbarer Freude an den Details. Um diesen Kern herum legen sich die Reflexionen und Kommentare: Warum sind gerade Fußballtorhüter im Vergleich mit anderen Spielern auf dem Platz so interessant? Was erfahre ich über mich, wenn ich über die Mahlzeiten meiner Kindheit an Imbissbuden in Benfica nachdenke? Und welche Vorstellungen oder Fantasien habe ich aus welchen Gründen von Sonntagen?

Die kleinen Erzählmotive wachsen also nach den Seiten hin aus. Antunes befragt und untersucht sich selbst; er ist auf der Suche nach den Besonderheiten seiner Existenz und die verschiedenen Themen, denen er sich passioniert widmet, sind im Grunde nur der Vorwand dafür, so viel wie möglich über die geheimen Abgründe seines Lebens zu erfahren. Es geht ihm also gerade nicht um sein alltägliches Dasein, sondern um das, wodurch er sich von diesem Dasein unaufhörlich entfernt: um seine Träume, Fantasien und um die zweite Welt, die sich neben der scheinbar vertrauten auftut:

Ich bin ein Mensch, der an was anderes denkt, der versucht, das Türschloß mit der Zigarette aufzuschließen, und ein Schlüsselbund pro Tag raucht: Sollte ich einmal an Lungenkrebs erkranken, wird ein Klempner mich operieren. Große Worte wie Arbeit, Familie, Geld gehen an mir vorbei, ohne mich zu berühren.93

So fokussiert Antunes auf sich als Person und die Art und Weise, wie er in den Lebensalltag eintaucht und ihn unterläuft. Die Kolumnen erzählen jeweils von einem einzigen Motiv oder Thema dieses Eintauchens und ergeben so eine Folge von ganz unterschiedlichen Facetten einer Gestalt.

Während der Lektüre dieser Kolumnen entsteht diesmal kein zeithistorisches Panorama, sondern ein Kaleidoskop, in dessen Spiegelungen sich mit der Zeit eine literarische Figur herausbildet. Wir lernen sie an immer neuen Orten kennen, verstrickt in Bezüge und Zusammenhänge, die sich in dieser Form nur für sie allein ergeben. Man könnte sagen: Antunes liest die Welt ausschließlich auf Zeichen hin, deren besondere Bedeutung für ihn selbst aus den Tiefen seiner Psyche kommt.

Er erzählt dann davon, wie diese Zeichen deutlicher werden, er vertieft sich in sie, und er bricht oft einfach irgendwo ab, wenn er mit seinen Recherchen nicht weiterkommt. Seine Reflexionen und Kommentare haben die Aufgabe, die Wege in die Tiefen der Psyche zu bahnen und Vermutungen darüber anzustellen, wie sich diese Psyche mit den Lebensjahren »programmiert« hat.

Dramaturgisch sind diese Wege sehr ähnlich gestaltet. Fast immer nennt Antunes bereits im ersten Satz das jeweilige Motiv seiner Tiefenbohrungen:

Ich habe mein ganzes Leben lang in Gesellschaft geschlafen.94

Darauf folgen kurze Zeitreisen in verschiedene Stadien oder Epochen seines Lebens: in die Zeit, die er noch in der Wiege im Schlafzimmer seiner Eltern verbrachte, in die Jahre, in denen er als kleines Kind im Zimmer des Dienstmädchens schlief, in die Lebensphase, in der er als schon etwas größerer Junge zusammen mit seinem Bruder in einem Zimmer übernachtete, in die Nächte der letzten Jahre, die er mit seiner Frau in einem gemeinsamen Zimmer erlebte.

Die Tatsache, dass er ein Leben lang in Gesellschaft geschlafen hat, interessiert Antunes aber keineswegs als soziales Faktum (mit den entsprechenden soziologischen Deutungen), sondern als Frage danach, was sich aus diesem Schlaf in Gesellschaft für sein Leben ergeben hat. Ausschließlich hier setzt die Reflexion (oder Tiefenbohrung) an und kommt zunächst schon einmal zu dem Ergebnis, dass es – mit Ausnahme seiner Frau – immer ältere Personen waren, mit denen er zusammen in einem Zimmer übernachtete.

Und was folgt daraus? Verhalten, neugierig, aber doch meist regungslos und still nahm der junge Antunes an den Welten der Älteren teil. Er hörte von den Sorgen seiner Eltern, machte sich Gedanken über das Liebesleben des Dienstmädchens und bekam erstaunt mit, wie sich sein Bruder für Gleichungen ersten Grades und den Bau neuer Eisenbahnlinien interessierte. So lebte er von Anfang an in zwei Welten: der eigenen (noch kaum entwickelten) und der, die durch die Mitschlafenden bereits entworfen und gestaltet war.

Den Gipfel dieses Doppellebens bildet dann die nächtliche Anwesenheit seiner Frau, die immer wieder einen neuen, vor ihm geheim gehaltenen, dennoch aber zu ahnenden und manchmal sogar zu riechenden Liebhaber zu bieten hat. Mal kommen sie aus der Umgebung, mal aus Kuba, mal irgendwoher:

Wenn sie um vier Uhr morgens nach Aftershave riechend und mit Knutschflecken am Hals nach Hause kommt, läßt Luisa sich nicht davon abbringen zu behaupten, ich neige zu übertriebener oder dummer Eifersucht.95

Schreibaufgabe

Isolieren Sie einzelne Motive Ihres Alltags, auf die Sie eher zufällig stoßen, und verfolgen Sie diese Motive erzählend, indem Sie über ihre Entstehung und ihre Bedeutung für Ihr Leben reflektieren.

Lassen Sie sich von diesen Tiefenbohrungen zu weiteren, Ihnen in den Sinn kommenden Lebensmotiven leiten und schreiben Sie auch über diese Motive.

Arbeiten Sie nach und nach an einem Erzählbogen verschiedener Motive, in dem die Tiefenbohrungen sich immer mehr überschneiden und die Texte schließlich eine literarische Figur mit vielen Facetten entwerfen.

5. Das Tagebuch

Jedenfalls zog ich mich nach dem Frühstück rasch an und ging durch den Schnee im Hundetrab zur Redpath-Klasse im Grove Lodge. Grauer Tag, kurze Freude, als Schnee sich in meinem wehenden Haar verfing und ich mich rotwangig und gesund fühlte. Schade, daß ich nicht früher losgegangen bin, dann hätte ich bummeln können. Die Saatkrähen hockten schwarz im schneeweißen Sumpf, grauer Himmel, schwarze Bäume, das Wasser entengrün.96

Schreibend in den Zeitfluss einsteigen, um bestimmte Partikel von ihm zu berühren oder gar zu fassen zu bekommen – darum geht es noch immer. Wir haben drei verschiedene Formen des Protokollierens und eine besondere Form des Reflektierens kennengelernt, und unsere Studien in diesen Hinsichten haben uns zeithistorisches Material, aber auch Material zur Darstellung und Entwicklung einer einzigen Figur in der Zeit zugespielt.

Zuletzt geht es um die bekannteste Form der Auseinandersetzung mit erlebter Zeit, die gleichzeitig auch viele Gefahren in sich birgt. Christian Schärf hat in einem anderen Band dieser DUDEN-Reihe viele unterschiedliche Wege skizziert, mit denen Autorinnen und Autoren ein jeweils eigenes Tagebuchformat entworfen haben.97 Mithilfe dieses Buches kann man sich über die ganze Bandbreite möglicher Tagebuchversuche informieren.

In unserem Zusammenhang aber ist nach dem Protokollieren und Reflektieren der Zeit das Tagebuch als jene Form der persönlichen Zeitbewältigung von Interesse, mit der man sich sein eigenes Leben erzählt. Von sich selbst im Tagebuch erzählen bedeutet, dass die Autorin oder der Autor sich dabei zuschaut, wie bestimmte Ereignisse sich für sie oder ihn anbahnen, gestalten und dann erlebt und schließlich verarbeitet werden. Genau daran ist die Schreiberin oder der Schreiber vor allem interessiert: möglichen Krisen zu begegnen, sich vor ihnen zu wappnen, sie zu durchschauen, mit ihnen fertig zu werden.

Solche Erzählungen ziehen sich in jener Form des Tagebuchs, mit der wir uns hier beschäftigen, über bestimmte Zeiträume hin. Ihre Details sind mit anderen Personen, aber auch mit privaten oder öffentlichen Ereignissen verbunden; sie steuern meist auf einen Höhepunkt zu, oder sie zerfallen in viele, sich aneinanderreihende Segmente. Dadurch, dass sie sich eine Weile hinziehen, tendieren sie zum Roman: Eine Erzählerin oder ein Erzähler verfolgt also bestimmte Fäden der Erlebnisgeschichte einer einzelnen Figur und hört ihr zu, wie sie während ihrer Erzählungen innehält, zurückblickt, nicht weiter weiß und sich zu bestimmten Handlungskonsequenzen durchringt.

Das Problem einer solchen Verfolgung von Erzählungen mit dem Fokus auf eine einzelne Figur ist, dass die Erzählerin oder der Erzähler nicht nachlassen dürfen, ihre Erzählungen in einen Alltag und in Welten einzupassen, die von diesen Erzählungen nicht betroffen sind. Sie müssen, damit ihre Erzählungen keine »das Leben« erstickende Dominanz erhalten, unbedingt auch von scheinbar harmlosen Wegen, Unterhaltungen und jenen immergleichen Verrichtungen erzählen, die große Teile des Lebens ausmachen. Erst durch diese Spannung zwischen den Krisen- und Alltagserzählungen wird ein Tagebuch zu einem wirklichen Erzählprojekt, ohne durch fortlaufende Bekenntnisse, Schuldzuweisungen oder Dramen des unentwegten Scheiterns die erlebte Zeit mit all ihren uns interessierenden Details auszulöschen.

Es ist seltsam: Je detaillierter man vom Alltag erzählt, umso präsenter wird das Geschilderte. Je monotoner man dagegen von den eigenen Krisenbewältigungen erzählt, umso mehr erzählt man das farblose Immergleiche. Es kommt also darauf an, die Krisenbewältigungen durch den Zeitfluss des Alltäglichen zu führen und beide Erzählstränge so eng miteinander zu verbinden, dass sie sich gegenseitig erhellen. Genau diese Kunst ist der Dichterin Sylvia Plath (1932–1963) in ihren »Tagebüchern« gelungen:

Gott, wer bin ich ? Ich sitze abends in der Bibliothek bei greller Beleuchtung und lautem Ventilatorsummen. Mädchen, überall lesende Mädchen. Konzentrierte Gesichter, fleischrosa, weiß, gelb. Und ich sitze da ohne Identität: gesichtslos. Mein Kopf schmerzt, Geschichte wartet …98

Solche Passagen einer kaum achtzehnjährigen Autorin markieren die ganze Gefahr des Tagebuchschreibens. Von einem konkreten Moment abends in der Bibliothek gleiten sie in ein Sinnieren ab, wie es allgemeiner nicht sein könnte. So wie an dieser Stelle haben schon Tausende von sich zu erzählen versucht, ohne doch wirklich von sich zu erzählen. Die Beschaffenheit der Welt wird mit jedem Satz immer diffuser, und das grübelnde Ich drängt mit seinen wenig präzisen Einsichten alles Konkrete zurück. Der letzte Satz, »Geschichte wartet«, lässt jedoch ahnen und hoffen, dass die Erzählerin auf die Rückkehr sinnlicher, erlebbarer Details setzt.

Ein wenig verweilt sie noch bei ihren melancholischen Verallgemeinerungen. Dann aber bringt sie diese Empfindungen entschlossen »auf einen Punkt« (genau so nennt sie es), benennt sie als »Einsamkeit« und macht sich klar, dass sich in diese Einsamkeit das Heimweh nach ihrem Zuhause mischt, das sie kurz zuvor (an Thanksgiving) noch für ein paar Tage besucht hat. Damit aber, mit den vagen Erinnerungen an Thanksgiving, konkretisiert sich das Erzählen wieder. Es taucht wieder in einen beobachteten Zeitfluss ein und entfernt sich von den Psychodarbietungen:

Ich bleibe hier und versuche, diese Einsamkeit auf den Punkt zu bringen. An die vier Thanksgiving-Tage kann ich mich kaum erinnern: Schon etwas verschwommen das Elternhaus, kleiner als damals, als ich wegging, und die Flecken auf der nachgedunkelten gelben Tapete deutlicher sichtbar; mein altes Zimmer, inzwischen eigentlich nicht mehr meines, alles, was mir gehört hat, fort …99

So macht sich die in der Gegenwart einer Bibliothek erlebte Einsamkeit an der Erinnerung des früheren Zuhauses fest. Sie wird stabil und lässt ein Elternhaus, ein Zimmer und Flecken auf einer nachgedunkelten Tapete erscheinen. Gegenwart und Vergangenheit sind so aufeinander bezogen und als kleine Erzählsequenz gestaltet. Im weiteren Verlauf des Tagebuchs wird es darauf ankommen, diese Sequenz (mit dem Erinnerungssprung hin zum Zuhause) in Erinnerung zu behalten und fortzuführen.

Ein Tagebuch dieser Art erfordert also bereits ein großes dramaturgisches Raffinement. Möglichst Tag für Tag wird aus dem Blickwinkel einer einzelnen Person die Welt und das ihr zur Verfügung stehende Leben erzählt. Im Verlauf dieses Erzählens müssen sich konkret nachvollziehbare, weitere Erzählstränge bilden, die von der Auseinandersetzung der Autorin mit ihren Welten berichten. In diesen Prozessen ist der Zeitfluss verborgen: Er zeigt sich im Altern der Autorin und in der Veränderung der Personen und Dinge, die sie umgeben.

Tagebücher dieser Manier sind, grob gesprochen, Erzählungen vom Älterwerden. Sie schicken die Erzählerin durch ein unentwegtes Auf und Ab, ohne die beruhigenden Staffagen des Romans, der auf Abschlüsse und Enden hin drängt. Immer wieder droht die Erzählerin im Wellenmeer ihrer Geschichten unterzugehen. Dann hält sie sich krampfhaft an die bekannten Formeln der Ausweglosigkeit des Lebens – bis schließlich ein rettendes Motiv oder Detail wieder die Überhand gewinnt und der Sturm auf einen Schlag hin verebbt:

Lerne etwas übers Leben. Schneide dir mit dem Silbermesser ein großes Stück heraus, ein großes Stück vom Kuchen. Lerne, wie die Blätter an den Bäumen wachsen. Mach die Augen auf. Der schmale, neue Mond liegt auf dem Rücken über dem Kleeblatt des Green Cities’ Service-Gebäude und den beleuchteten Backsteinhügeln von Watertown, Gottes leuchtender Fingernagel, das geschlossene Augenlid eines Engels. Lerne, wie der Mond im Nachtfrost vor Weihnachten untergeht. Öffne deine Nase. Rieche den Schnee. Laß das Leben zu.100

Schreibaufgabe

Versuchen Sie es einfach einmal und schreiben Sie »Tagebuch«. Lassen Sie das Geschriebene längere Zeit liegen. Lesen Sie es dann noch einmal. Streichen Sie alles Geschwafel, bis die Erzählungen Kontur annehmen.

83 Uli Kreikebaum: Lichter in der Finsternis.

84 Georges Perec: Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen, S. 9.

85 Georges Perec: Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen, S. 44.

86 Uli Kreikebaum: Lichter in der Finsternis.

87 Nicholson Baker: So geht’s, S. 34.

88 Hanns Zischler / Sara Danius: Nase für Neuigkeiten, S. 74.

89 Michael Rutschky: Mitgeschrieben, S. 52 f.

90 Michael Rutschky: Mitgeschrieben, S. 94.

91 Michael Rutschky: Mitgeschrieben, S. 82.

92 António Lobo Antunes: Buch der Chroniken, S. 19.

93 António Lobo Antunes: Buch der Chroniken, S. 155.

94 António Lobo Antunes: Buch der Chroniken, S. 168.

95 António Lobo Antunes: Buch der Chroniken, S. 170.

96 Sylvia Plath: Die Tagebücher, S. 149.

97 Christian Schärf: Schreiben Tag für Tag.

98 Sylvia Plath: Die Tagebücher, S. 36.

99 Sylvia Plath: Die Tagebücher, S. 37.

100 Sylvia Plath: Die Tagebücher, S. 372.