Textprojekte und Schreibaufgaben V: Ausbauen

1. Serielles Schreiben 1: Der feste Posten

Ich sehe aus dem Fenster. Schade, dass ich meine Arme nicht auf ein Kissen ablegen kann, dann würde ich einem jener legendären Straßenhüter gleichen, die früher im weißen Feinripp (männlich) oder mit Lockenwicklern (weiblich) aus ihren Wohnungen hingen.101

Zuletzt haben wir uns sehr unterschiedlichen Versuchen, in den Zeitfluss einzusteigen und ihm bestimmte Partikel zu entnehmen, gewidmet. Da der Zeitfluss sich rasch und unaufhörlich verändert, mussten sich unsere Texte diesen Veränderungen anpassen. Sie befassten sich daher aus mehr oder minder großer Distanz mit kleinen oder großen Alterungsvorgängen: denen von neunzig Minuten, denen eines Tages, denen von anderen Menschen, denen eines Lebensmotivs und schließlich denen des eigenen Erlebens. Jedes Mal kam es darauf an, »beweglich« zu bleiben und den Fokus auf jene Details zu richten, an denen sich besonders deutlich schleichende Veränderungen feststellen ließen.

In den letzten Kapiteln dieses Buches konzentrieren wir uns nicht mehr auf Zeit, sondern auf Räume. Anhand von Raumbeobachtungen üben wir gleichzeitig ein serielles Schreiben, mit dessen Hilfe wir uns zwingen, den jeweils beschriebenen Raum in regelmäßigen Abständen aufzusuchen.

Räume erscheinen uns auf den ersten Blick als besonders statisch und träge. Sie trotzen scheinbar den Veränderungen der Zeit hartnäckig und ziehen sich auf ihre »Grundfeste« (die elementaren Bestandteile) zurück. Indem wir ihnen stärkere und immer wiederkehrende Aufmerksamkeit schenken, entwickeln wir ein Empfinden dafür, was sie jeweils für uns sind, wie wir sie behandeln und wie wir in literarischen Texten weiter mit ihnen verfahren könnten.

Fangen wir mit einem einfachen Raumdetail an: einem Fenster unserer Wohnung, von dem aus wir jeden Tag für einige Minuten nach draußen schauen. Genau das hat der Schriftsteller Torsten Körner von seiner Wohnung in Berlin-Friedenau aus regelmäßig getan:

Ich fing an, meine Beobachtungen zu notieren und ohne zu zögern meinem Facebook-Fenster anzuvertrauen. So entstand – ziemlich genau ein Jahr lang – ein Fenstertagebuch, das mal nüchtern beobachtend daherkam, manchmal dialogisch verfuhr, wenn ich anfing, mit meinem Fenster zu reden, mitunter analytisch agierte, wenn ich meinen Standort reflektierte, oder lyrisch, wenn ich mich von meinen Stimmungen mitreißen ließ.102

Körner interessiert sich für einen bestimmten Raumausschnitt, der durch das Fenster vorgegeben ist. Das Fenster markiert den festen, unveränderlichen Posten, der wie ein Rahmen für die draußen entstehenden Bilder wirkt. Die Beobachtungen werden sich auf zweierlei Momente beziehen: auf Personen, Gegenstände und Ereignisse, die wiederkehren – und auf solche, die nur einmalig oder wenige Male erscheinen.

Körner legt sich darüber hinaus auf eine begrenzte Länge der Texte fest. Sie sollen keinen erzählerischen, ausholenden Gestus erhalten, sondern die kurze Dauer des Blicks in einem kleinen Format (maximal 450 Zeichen) abbilden. Das begrenzt nicht nur den Aufwand, den er mit seinen Notizen treibt, sondern verleiht den Aufzeichnungen auch eine bestimmte Ästhetik: Sie wirken wie »Momentaufnahmen« (Fotografien), die man in serieller Folge liest (wie ausgestellte Bildobjekte, denen man an den Wänden einer Galerie begegnen und an denen man langsam, jedes einzelne würdigend, vorbeigehen würde).

Beim Blick aus dem Fenster beobachtet man keinen besonders dekorierten, sondern einen alltäglichen Raum. Die kleinen Ereignisse, denen man folgt, haben auch keine große Bedeutung, sondern beeindrucken eher durch ihre Wiederholung. Nicht die räumlichen Objekte der Beobachtung sorgen für das Besondere an diesen Aufzeichnungsprozessen, sondern die scheinbar banale Tatsache, dass der Schreiber seine Wahrnehmung »einstellen« und »ausrichten« muss:

Mein … Unterfangen sensibilisierte meine Wahrnehmung: Sobald man so ein Feld füllen, eine Verabredung einhalten muss, ist man auf Beute aus, schaut genauer hin, merkt sich Dinge, verknüpft Beobachtungen, sammelt Mikrodramen. Es entstand ein Porträt meiner Straße, aber auch meines Blicks …103

Beute machen bedeutet zunächst einmal: nicht an jedem Tag den gesamten Raumausschnitt beschreiben, sondern sich auf einzelne Personen und ihre Geschichten konzentrieren. Tauchen diese Personen zum ersten Mal (und nie wieder) auf, so skizziert Körner eine kleine Szene mit spürbarem Erstaunen: Was genau tut die oder der da? Wohin gehört das alles? Was will das sein?

Erscheinen die Personen aber häufiger und über einen längeren Zeitraum, tragen die gespeicherten Beobachtungen dazu bei, die jeweilige Szene vor einem Hintergrund (zum Beispiel dem vergangener Geschichten) zu skizzieren:

Der Mann, den seine Frau rausgeworfen hat, die letzten Sachen flogen damals aus dem Fenster, sitzt jetzt in seinem Wagen vor ihrer Tür, auffallend rasiert und gekämmt, und überlegt. Soll er ? Er öffnet die Wagentür, steigt aus, geht ein Stück, bleibt stehen. Geht wieder ein kleines Stück. Bleibt stehen. Magerer Typ, früher irgendwas beim Film. Promilleblut. Geht schließlich wieder zum Auto, fährt davon.104

Das serielle Verfahren entwickelt auf diese Weise in der Tat nicht nur einzelne, nebeneinander gestellte Bilder, sondern »das Porträt« einer Straße. Zum »Porträt« werden die kleinen, aneinandergereihten Texte, indem Details der wahrgenommenen Personen oder Objekte miteinander in Beziehung gesetzt und auf mögliche Vor- oder Nachgeschichten befragt werden.

Alles, was auftaucht, ist dadurch Teil eines »Kosmos«, der durch die Milieus eines bestimmten Berliner Stadtteils geprägt wird. Als Bruchstücke dieses Kosmos sind die Details als großes »Porträt« lesbar. Daher sind sie im Verlauf der Beobachtungen immer weniger beliebige kleine Straßenszenen, sondern Szenen, in denen sich ganz bestimmte Lebensformationen abzeichnen und entwickeln:

Das Fenster erzählt, sonntagmorgenmild, von dem Professor, der jetzt Windeln trägt, der Dame mit dem Hündchen, die noch jeden Mann verlor, dem Schlaganfallgefällten, der nicht versteht, warum es ihn traf, der Pubertierenden, die die Zigarette fortwirft, sobald sie in unsere Straße einbiegt, und der Frisöse, die Haare schneidet und unser aller Leben erzählend verwaltet. Klarkaltblauer Septemberhimmel. Noch Kaffee ?105

Schreibaufgabe

Schreiben Sie kurze Aufzeichnungen von Fensterblicken, in denen Sie immer auf nur ein einziges Detail (Person, Gegenstand, Szene) fokussieren.

Schreiben Sie diese Aufzeichnungen täglich, in einem bestimmten Zeitraum (mindestens aber einen Monat lang). Beobachten und notieren Sie, welche »Geschichten« sich in diesem Zeitraum herausbilden.

Denken Sie darüber nach, wie diese Geschichten in einer Erzählung zusammenzufügen wären.

2. Serielles Schreiben 2: Räume in der Wohnung / im Haus / draußen

Unser Blick überfliegt den Raum und gibt uns die Illusion des Reliefs und der Distanz. So setzen wir den Raum zusammen: mit einem Oben und einem Unten, einer Linken und einer Rechten, einem Vorn und einem Hinten, einem Nah und einem Fern.106

Der Blick aus dem Fenster erschließt uns ein bestimmtes Raumdetail, in dem sich bei jeder Beobachtung ein kleiner Film mit mal wechselnden, mal gleichen Darstellern abspielt. Indem wir diese Filmsequenzen notieren, verbinden sie sich zu einem Porträt, das die markanten und dauerhaften Szenen miteinander kombiniert.

Statt ein und denselben Raumausschnitt einzufangen und zum Leben zu erwecken, widmen wir uns nun den Räumen in unserer Wohnung und in unserem Haus. Von ihnen aus dringen wir langsam zu den Räumen draußen vor und nähern uns schließlich den Räumen in einiger Entfernung.

Eine Folge solcher wichtigen Räume unseres Lebens genauer zu studieren hat sich der uns schon bekannte Schriftsteller Georges Perec in seinem Buch »Träume von Räumen« vorgenommen. Perec zeigt sich zu Beginn seiner Schilderungen von einer einfachen, aber doch elementaren Überlegung fasziniert: Wir bewegen uns an einem Tag unablässig durch die verschiedensten Raumformationen und müssen uns immer aufs Neue auf sie einstellen.

Solche Raumformationen (eine Straße, ein Platz, eine Kreuzung, mehrere parallele Straßen, ein Stadtviertel etc.) kommen uns selbstverständlich vor. Wir können Elemente dieser Formationen berühren und uns mit ihnen anfreunden, dann erscheinen sie uns vollends »normal«. In Wirklichkeit aber bringen die einzelnen Raumprofile und die Anforderungen, die sie in kurzen Abständen an uns stellen, ganz eigene Realitäten hervor. Wir bewegen uns in ihnen zwar wie Fische im Wasser, reagieren in Wahrheit aber auf die geheimen Kräfte, mit denen uns die Raumformationen steuern:

… es gibt eine ganze Menge kleiner Raumzipfel, und einer dieser Raumzipfel ist ein Untergrundbahnschacht, und ein anderer ist eine Parkanlage; ein anderer (hier kommt man sofort in weitaus unterschiedlichere Räume), von ursprünglich bescheidener Größe, hat kolossale Ausmaße angenommen und ist zu Paris geworden, während ein benachbarter Raum, der zu Anfang nicht weniger Talent besaß, sich damit begnügt hat, Pontoise zu bleiben.107

Georges Perec beginnt seine Raumforschungen mit dem Bett. Als »rechteckiger Raum, länger als breiter, in den oder auf den man sich gemeinhin in Längsrichtung legt«108, ist es die Startbasis einer bewussten Raumwahrnehmung. Sie fragt danach, wie der Raum aufgebaut und beschaffen ist und wie wir uns in diesem Aufbau und den Dramaturgien, die sich durch ihn ergeben, zurechtfinden.

Vom Bett ausgehend, studieren wir das Schlafzimmer; es ist der Raum, an den wir uns vor allem klammern, wenn wir »wohnen« (und das heißt: in bestimmten Räumen bleiben) wollen. Wie aber sieht dieses Bleiben aus? Man sollte die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung nun auch darauf richten, wodurch wir Räume als nah oder fern empfinden:

Was heißt das, ein Zimmer bewohnen ? Heißt einen Ort bewohnen, ihn sich aneignen ? Was heißt, sich einen Ort aneignen ? Ab wann wird ein Ort wirklich der Ihre ? Ist es der Fall, wenn man seine drei Paar Socken in einer rosa Plastikschüssel eingeweicht hat ? Ist es der Fall, wenn man sich auf einem Gaskocher Spaghettis warm gemacht hat ?109

Vom Schlafzimmer aus geht es im Buch von Perec zur Wohnung, ihren Türen, Wänden und unterschiedlichen Räumen – sowie den Prozessen, die wir mit ihrer Aneignung verbinden: Einziehen – Ausziehen. Dann wird die Wohnung verlassen und das Mietshaus studiert, von dem aus wir auf die Straße, das Viertel und in die Stadt gelangen, bevor wir der Stadt auf dem flachen Land entfliehen.

Perecs Studien verfolgen während dieser Untersuchungen und der Versuche, die jeweiligen Räume in ihrer Eigenheit möglichst genau zu beschreiben (und »zu verstehen«), aber noch ein weiteres literarisches Interesse. Indem sie nach den besonderen Stadien der Aneignung von Räumen fragen, stellen sie auch Fragen danach, welche Geschichten in den jeweiligen Räumen spielen könnten. Auf diese Weise ordnen sie den Räumen bestimmte Textgenres zu, und sie erzählen solche Genregeschichten an, indem sie manchmal erste, autobiografisch grundierte Erzählsplitter präsentieren:

… ich liebe es, auf dem Lande zu sein: man ißt Landbrot, man atmet besser, man sieht manchmal Tiere, die man in den Städten zu sehen praktisch nicht gewöhnt ist, man macht Feuer in den Kaminen, man spielt Scrabble oder andere kleine Gesellschaftsspiele. Oft hat man mehr Platz als in der Stadt, das muß man zugeben …110

Perecs »Träume von Räumen« ist ein geradezu besessen gründliches Buch, mit dem man sehr gut arbeiten kann, wenn man sich als Autorin oder Autor auf die Spezifik von Räumen (und dem, was für ihre Behandlung in einem Text daraus folgt) konzentriert. Es argumentiert, fragt und denkt analytisch, es untersucht Strukturen, es hat keinerlei historisches Interesse.

Man könnte sich aber auch historisch-vergleichende Wege denken, um sich Räumen zu nähern. Diese Wege ist der amerikanische Schriftsteller Bill Bryson in einem Buch »Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge« gegangen. Auch in ihm geht es um konkrete Räume, und das sogar in noch weit reichhaltigerem Maß als bei Perec. Bryson segmentiert, indem er sich auch auf kleinste Wohneinheiten einlässt: die Eingangshalle, die Küche, die Speisekammer, den Flur, den Ankleideraum. Indem er diese Räume genauer beobachtet, skizziert er ihre Einrichtung im Haus in unterschiedlichen Zeiten:

Und so kam ich auf die Idee, einmal hindurchzugehen, von Raum zu Raum, und zu überlegen, was für eine Rolle jeder einzelne über die Jahrhunderte hinweg im Alltag der Menschen gespielt hat.111

Dabei geht es ihm aber nicht nur um die Raumkonzepte der Menschen in verschiedenen Epochen, sondern auch um all die Gegenstände, die in den jeweiligen Räumen präsentiert wurden und ein bestimmtes Raumensemble bildeten. Durch die Lektüre von Brysons Buch gleitet man daher allmählich hinüber in das Reich der Dinge, die ihre eigenen Biografien erhalten:

Man hielt Gabeln beim Essen für komisch, für affektiert und unmännlich – und recht bedacht, sogar für gefährlich. Da sie nur zwei scharfe Zinken hatten, waren die Möglichkeiten, sich Lippen oder Zunge aufzuspießen, groß, besonders wenn die Zielsicherheit durch Wein, Weib und Gesang eingeschränkt war. Die Hersteller probierten es mit zusätzlichen Zinken, manchmal bis zu sechs, bis sie sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts für vier entschieden.112

Schreibaufgabe

Schreiben Sie kleine Skizzen der Räume, die Sie bewohnen. Gehen Sie dabei auf Lage, Aussehen und all die Gegenstände ein, die sich in den jeweiligen Räumen befinden.

Schreiben Sie ein kleines Fragment einer Erzählung, in der sich mehrere Personen in den Räumen aufhalten, die Sie zuvor skizziert haben. Lassen Sie diese Personen Gebrauch von den Gegenständen machen, die sich in den Räumen befinden.

3. Serielles Schreiben 3: Monologe und Dialoge in Räumen

Große Räume, hohe Decken, viele Fenster und die Lage einfach super. Zentral und ruhig, Blick ins Grüne, Altbauwohnung, das war ein echter Glücksgriff. Und verrückt viel Arbeit, bis die komplett saniert war. Kaputtes Klo und keine Küche, Wasserleitungen verkalkt und Tapetenschichten ohne Ende. Das war so verrückt viel Arbeit, jedes Wochenende, hat sich aber doch gelohnt, ist traumhaft schön geworden, ich bin so gerne in der Wohnung.113

In den letzten beiden Übungen haben wir uns auf bestimmte Raumausschnitte und Räume konzentriert, um genauer zu erfahren, wie wir uns Räumen beobachtend nähern und ihre Besonderheiten in einem Erzähltext darstellen können.

Im nächsten Schritt geht es jetzt darum, die Verbindungen zwischen einem Raum und seinen Bewohnern (oder Benutzern) noch deutlicher in den Vordergrund zu rücken. Wir werden also danach fragen, wie im Einzelnen Räume »angegangen«, verlebendigt, getestet, bespielt oder zugänglich gemacht werden.

Solchen Fragen ist die Dramatikerin Ingrid Lausund in zwölf Monologen einer Frau oder eines Mannes nachgegangen, in denen sie jeweils einen bestimmten Raum oder Raumgegenstand (Badezimmer, Esstisch, Bett, Sammeltassen etc.) zum zentralen Thema macht. Die Monologform hat dabei den großen Vorteil, Raumerfahrungen unmittelbar in Szene setzen zu können.

Anders als in einem Prosatext sind wir als Leser/Zuschauer ganz direkt dabei (und angesichts der Bühne auch gleichsam vor Ort), wenn sich eine Frau oder ein Mann handgreiflich und raumfixiert in einem Raum aufhalten oder sich durch ihn hindurch bewegen. Wir lesen also nicht nur von Räumen, sondern erleben mit, wie diese Räume akzentuiert, zerlegt oder durch kleine Rituale der Raumgestaltung angeeignet werden:

DC-Fix, die Klebefolie für alle glatten Oberflächen, genau das brauch ich für mein Bad, und die ist schön, ja, die gefällt mir, die mit dem, was steht da drauf, effektvollen Dekor in Carrara-Marmor-Optik. Schon effektvoll, muss man sagen, und für Feuchträume gut geeignet, das ist wichtig, pflegeleicht und wasserfest, muss ja, wenn Feuchträume extra draufsteht.114

Zum Zweiten erleben wir in den Monologen von Ingrid Lausund, die zwischen sechs und mehr als zwanzig Seiten lang sind, ein längeres Kontinuum der Auseinandersetzung mit einem Raum. Eine einzelne Figur tritt einem einzelnen Raumgegenstand oder Raum gegenüber und erlebt in diesem Kontinuum des Zusammenseins die ganze Palette von Unterwerfung, Konflikt und Siegeswillen. So erweitern sich Monologe, von einem aufgeladenen Erlebnismoment zum anderen fortschreitend, auch zu einem Erzähltext, in dem die Räume zu Kontrastfiguren und Gegenspielern der Monologisierenden werden.

Ein anderes serielles Verfahren wendet der Fotograf und Texter Erkan Dörtoluk an, indem er sich in einen öffentlichen, von sehr vielen Menschen genutzten Raum (den öffentlichen Nahverkehr) begibt und Monolog- bzw. Dialogpartien jener Personen aufzeichnet, die gerade telefonieren.

Ich wollte einfach sichergehen, dass das, was ich höre, echt ist. Dass die Leute intimste Details aus ihrem Leben in der Öffentlichkeit preisgeben. Auch Augenblicke, in denen Menschen beim Denken stolpern, die Grenzen der Grammatik überwinden oder monumentale Lebensweisheiten verkünden, gehören dazu.115

Dörtoluk entdeckt auf diese Weise Beutestücke, in denen die Telefonierenden Segmente ihrer Lebensdramen verlautbaren lassen, die den öffentlichen Raum bestücken und beleben. In ihm fühlen sie sich paradoxerweise freier, ungebundener und spontaner als zu Hause. Die »eigenen vier Wände« grenzen das Sprechen ein und machen aus vielen Verlautbarungen Rufe oder Kommentare wie aus einem Gefängnis. Im öffentlichen Raum aber sind diese Fesseln und Schranken verschwunden, und es herrscht ein geradezu grenzenloses (und eben auch bewusst lautstarkes) Mitteilungsbedürfnis.

So stellen die Sprechenden ihre Probleme, Eigenheiten, Fantasien und Exzesse betont offen, pointiert und drastisch aus. Sie werben nicht um Anerkennung oder Anteilnahme, sondern schleudern das Geheimste und oft Widerlichste lustvoll in den Raum, damit es wuchern und sich verbreiten kann. Niemand von ihnen erwartet eine Antwort oder gar ein »Entgegenkommen«. Den Hass, den sie teilweise verkünden, wollen sie auch zurück. Denn genau darin zeigt sich die Stärke des öffentlichen Raums: Er ist eine anonyme und Anonymität erhaltende, gewaltige Echokammer.

Sorry, Jungs, ich gehe heute nicht mit zum Döner, ich hab heute das teure Aftershave drauf. / Eigentlich habe ich Urlaub, aber der Hund von Silke ist gestorben, und jetzt ist die krankgeschrieben wegen Depressionen. / Seitdem man in der Straßenbahn nicht mehr saufen darf, muss ich immer zu Fuß zur Arbeit.116

Ein drittes serielles Verfahren der Monolog- bzw. Dialoggestaltung in einem bestimmten Raum stellt der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil in seinem autobiografischen Roman »Der Stift und das Papier« vor. Darin erzählt er im Rückblick auf seine Kindheit davon, wie ihn sein Vater häufig gebeten hat, Dialoge aufzuzeichnen. Dabei handelte es sich um Dialoge, die der kleine Junge bei seinen Einkaufsgängen zusammen mit der Mutter in den Läden und Geschäften einer westerwäldischen Ortschaft mitbekam.

Einerseits handeln sie von den Waren und ihrem Verkauf, andererseits springen sie aber auch immer wieder nach draußen, um ein kleines Stück anderer Welt in den engen Raum des Warenverkehrs hineinzuholen. Indem der Junge sie aufschreibt und sammelt, entwickelt er ein gutes Gespür für die Stimmen, Tonlagen und möglichen Themen in einem Raum. Er lernt, was geht und was nicht, wie man sich in Raumgrenzen bewegt und wie man sie mit kleinen Fluchtmanövern überwindet. Schließlich wird seine Dialogsammlung zu einer Art Sprachpartitur des Ortes, gesungen von vielen verschiedenen Figuren, in ganz bestimmten Räumen, zu einer ganz bestimmten Zeit:

Dialog 1. Beim Metzger im Dorf.

Die Mutter des großen Metzgers: Die Kinder machen Ferien im Süden.

Mama: Dann sind Sie jetzt ganz allein ?

Die Mutter des großen Metzgers: Ja, ich schmeiße den Laden allein.

Mama: Das ist allerhand.

Die Mutter des großen Metzgers: Na, es sind ja nur zwei Wochen.

Mama: Noch ein Stück von der groben Leberwurst bitte.

Dialog 2. Im Zeitschriftenladen des Dorfes.

Die Zeitschriftenhändlerin: Wir haben neue Micky-Maus-Sonderhefte.

Mama: Nein, danke.

Die Zeitschriftenhändlerin: Liest der Junge keine Micky-Maus-Hefte?

Mama: Nein, er mag sie nicht.

Die Zeitschriftenhändlerin: Und wieso nicht ? Ich kenne keinen einzigen Jungen, der Micky-Maus-Hefte nicht mag.

Mama: Ich aber, ich kenne einen.117

Schreibaufgabe

Schreiben Sie Monologe und Dialoge, die sich auf einen ganz bestimmten Raum beziehen.

Bauen Sie diese Monologe und Dialoge in kurze Erzähltexte ein, die in diesen Räumen spielen.

4. Serielles Schreiben 4: Einen bestimmten Raumtyp immer wieder aufsuchen

Hotel Essener Hof, Essen. Genau dort, wo das Kopfkissen die hellgebeizte Wandtäfelung hinter dem Bett berührt, ist ein Lautsprecher eingebaut –für Einflüsterungen im Schlaf?118

Monologe und Dialoge, die in einem bestimmten Raum gesprochen werden und sich auf diesen Raum beziehen, lösen die Statik und Trägheit eines Raumgebildes auf. Es ist, als wollten sie dieses Gebilde reizen, herausfordern und in Schwingungen versetzen. Das rasche, direkte, hörbare Sprechen macht sich an Details fest, rüttelt und zerrt an ihnen, verkleinert oder vergrößert sie und installiert auf diese Weise in einem Raum lauter unterschiedliche Schallfrequenzen. Mit der Ruhe und Gelassenheit des Raums ist es vorbei, er wird beschallt und verändert sich damit laufend.

Solche Texte ähneln Kompositionen, die für die Aufführung in bestimmten Räumen komponiert wurden. Ihre Musik ist mit den Räumen verbunden und wäre ohne sie gar nicht möglich. Der Raum wird zum einzigartigen Organon von Klängen, die aus einem massiven Objekt ein wandelbares, seine Fülle laufend neu zusammensetzendes Gebilde machen.

Davon setzen sich serielle Texte ab, die das massive Objekt geduldig zerlegen. Sie tun es in der Absicht, unterschiedliche Varianten eines einzelnen Raumtyps zu erfassen und sich dadurch dem Raumtyp selbst genauer zu nähern.

Der Schriftsteller David Wagner hat dieses Experiment auf seinen Lesereisen durchgeführt. Er hat die Strukturen und Details der Hotelzimmer beschrieben, in denen er einquartiert wurde, und er hat aus den vielen Beschreibungen ein Buch mit dem Titel »Ein Zimmer im Hotel« gemacht, das die unterschiedlichsten Methoden, ein Hotelzimmer bewohnbar und erlebbar zu machen, vorführt:

Hotel L’Ermitage, Tallinn. Kleines Zimmer im fünften Stock. Warum fühle ich mich so wohl? Weil alles so neu und solide wirkt ? Ich könnte mich doch eingeengt fühlen, noch immer verstehe ich nicht, was in einem Zimmer bei mir welches Gefühl hervorruft. Gefällt mir der graugrüne Teppichboden mit einigen türkisfarbenen Blütenmotiven, die sich aus gepunkteten und einander überschneidenden Kreisen zusammensetzen ? Oder sollen es gar keine Blüten, sondern technische Ornamente sein ? Mag ich das Doppelbett …119

Wagner beginnt die meisten Zimmerbeschreibungen mit dem Betreten des Zimmers. Kein langes Davor und meist kein Danach. Und keine sonstigen Geschichten, die auf den jeweiligen Zustand des Beobachters eingehen würden. Der Beobachter ist vielmehr auf fast immer dieselbe, geradezu unheimliche Weise neutral. Er öffnet die Hotelzimmertür und sieht sich um. Was zieht die Blicke zuerst an? Wohin bewegt sich der Gast? Welche Segmente des Zimmers entdeckt er in welcher Folge? Und wo befinden sich jene Gegenstände oder Zeichen, die es wohl nur in diesem einen Zimmer gibt?

Ich sehe eine Electrolux-Minibar, einen Messingfluter und eine Wandstableuchte, die an eine Fackel erinnert. Und da ist ein mit blauem Samt und goldener Zopfborte besetzter Papierkorb – soll ich mich fragen, ob er zu der Eichenvertäfelung an der Bettseite passt ?120

Durch die serielle Reihung der Beschreibungen wird der Leser für die Details von Hotelzimmern sensibilisiert. Langsam entwickelt er während der Lektüre Theorien über die Besonderheit dieses Raumtyps und die Möglichkeiten, die in ihm befindlichen Welten in einem erzählenden Text zu beleben.

Ganz anders geht der Filmemacher und Schriftsteller Michael Glawogger (1959–2014) mit dem Thema um. In seinem Buch »69 Hotelzimmer« sind die Hotelzimmer jeweils Stationen einer Reiseerzählung. Die Stunden vor dem Betreten und die danach sind von derselben Bedeutung wie der Aufenthalt im Zimmer selbst. In ihren ruhigen Momenten bleiben die privaten Geschichten, die das Zimmer gleichsam umkreisen und »mitbewohnen«, weiter lebendig.

Der Erzähler bringt aber nicht nur diese Geschichten, sondern natürlich auch andere Personen und deren Geschichten mit ins Spiel. All diese Erzählstränge werden im Hotelzimmer gebündelt und verlangsamt. Sie kommen zu sich, werden reflektiert, schlafen ein und erleben häufig eine unerwartete Auferstehung:

Es war dieser Moment kurz vor dem Verlassen eines Hotelzimmers. Alles war gepackt, der Koffer und die Umhängetasche standen noch offen, aber bereit zur Abreise da. Ein kurzes Innehalten und Nachdenken, was er alles getan hatte in den letzten Tagen. Hatte er die Laden der Nachtkästchen geöffnet ? Hatte er sich die Zähne vor dem Badezimmerspiegel geputzt oder in der Dusche ? Hatte er etwas auf den Schreibtisch gelegt ? Vielleicht ein Hemd in den Kasten gehängt? Er entschloss sich, noch einmal alles abzugehen …121

Gleicht David Wagners Besucher von Hotelzimmern einem ausgewiesenen Experten, der jedes Zimmer genau mustert, prüft und am Ende jene kleine Zelle im Zimmer findet, in der sich am besten »wohnen« lässt, so ist Michael Glawoggers Hotelgast ein weit in der Welt herumkommender Reisender, der Hotelzimmer um der Geschichten und Fantasien willen betritt, die sich darum ranken.

So liest man seine Serie wie einen fortlaufenden Abenteuerroman, dessen Held ganz unterschiedliche Räume von Hotelumgebungen durchläuft und durchkreist, bis er in den Hotelzimmern mit Entscheidungen konfrontiert wird. Ganz dem Abenteuergenre entsprechend, werden dann Fragen gestellt: Bleiben? Sich zur Rezeption im Foyer bewegen, um Erkundigungen einzuziehen? Nichts auf die Geräusche in der Nähe geben oder ihnen nachgehen? Oder: die Flucht antreten, sofort, heimlich ?

Er erwachte von Schüssen draußen in der Stadt. Er wusste von seinem letzten Aufenthalt, dass echte Schüsse nicht sehr bedrohlich klingen. Sie zischten eher. Die Wirklichkeit hat ja nichts zu beweisen, dachte er, sie ist entweder gefährlich oder nicht. Er wickelte ein Leintuch um seine Hüften und ging hinaus auf den Balkon. Da standen schon andere in Leintücher gehüllt auf den Nachbarbalkonen und schauten, ob man erkennen konnte, woher die Schüsse kamen.122

Serielle Annäherungen an einen bestimmten Raumtyp bedürfen einer Strategie und führen dann zu einem bewussten Umgang mit ein und demselben Raum. David Wagner und Michael Glawogger vertreten mit ihren Büchern die Extreme: den unemotionalen, prüfenden, sezierenden Beobachter und den emotionalen, sich aussetzenden und gefährdeten Reisenden.

Zwischen diesen beiden Extremen warten viele mögliche Schreibprojekte dieses Themas auf Ausarbeitung: der ängstliche Hotelgast, der nie allein in einem Zimmer schlafen kann, der manische Hotelgast, der in jedem Hotelzimmer die Minibar vollständig leert, der penetrante Hotelgast, der viele Räumlichkeiten eines Hotels betreten möchte, um sich »einen Überblick zu verschaffen«, der Hotelgast, der jedes Hotel mit der Absicht aufsucht, dort »ein sexuelles Abenteuer« zu erleben.

Es kann eine besondere Lust bedeuten, in Hotelzimmern zu übernachten. Schriftsteller sind in dieser Hinsicht begünstigt. Wenn sie auf Lesereisen sind, wählen die Veranstalter im günstigsten Fall solche für sie aus, über die sie dann auch mit Vergnügen schreiben.123

Schreibaufgabe

Konzipieren Sie die Figur eines Hotelgasts, der Hotelzimmer aus einer dezidierten, von ihm selbst gewählten Perspektive betrachtet und erlebt. Erzählen Sie seriell seine Geschichten, indem Sie ihn in jene Hotelzimmer führen, in denen Sie dann und wann selbst übernachten.

5. Serielles Schreiben 5:
Schreiben im städtischen Raum

… der Bus gibt unter der Last der Einsteigenden nach, der Fahrer schwingt sich auf den Sitz, die Fahrgäste im Oberstock (die Aussichtsplätze rechts besetzt) sind auf die Anfahrt schon gefasst, die Tür geht DING-DONG zu, wieder auf, das Mädchen bedankt sich atemlos, ein junger Mann(walkman) bleibt lässig an die Scheibe gelehnt stehen …124

Die letzten Schreibübungen galten Räumen, die relativ unveränderlich sind. In ihnen »installierten« Autorinnen und Autoren Erkundungstexte, die der Statik dieser Räume entgegenwirkten. Monologe und Dialoge waren darüber hinaus in der Lage, die Räume zu erweitern und zu beleben.

Die nun folgende, allerletzte Übung gilt dem städtischen Raum und damit dem Versuch, größere, zusammengewachsene Raumpartien zu beschreiben, darzustellen und einzufangen. Der österreichische Schriftsteller Bodo Hell hat in seinem Buch »Stadtschrift« mehrere solcher Experimente gesammelt und dabei den Schwerpunkt jeweils auf eine andere Methode gelegt.

Der Text »Linie 13 A« dokumentiert eine Busfahrt durch Wien aus der Sicht eines Mitfahrenden, der seine Beobachtungen in einem fortlaufenden, nicht abreißenden Strom von »Momentmeldungen« registriert. Aufgezeichnet wird, was alles gerade geschieht: die Bewegungen und Aktionen im Bus, die Durchsagen des Busfahrers, die Sprachbrocken der Fahrgäste, die Blicke nach draußen, die Fahrt des Busses:

… die alte Frau geht geradeaus weiter, auf die frischgesetzten Stadtbäume (Stuttgarter System) zu, eine junge Frau mit übergroßem Busen geht die Hofmühlgasse hinunter, Pulli hohe Absätze aufrecht, der Busen wippt mit jedem Schritt mit, die Männer im Oberstock rücken näher an die Fenster, Bewegung nach rechts, als ob der Bus zu kippen drohte, werfen sich gegenseitig Blicke zu, geben Laut, der Bus hält an der Ampel Wienzeile, Pilgramgasse U-Bahn, Kurzstreckengrenze, Umsteigen zu den Linien U4 und 14 A, die Frau überquert vor dem Fahrer die Straße, meinen Sie mich / meinen Sie wirklich mich, Sie meinen doch nicht mich …125

Bodo Hells Text reflektiert (indirekt) darauf, dass sich die Perspektive des Beobachters während der Fahrt unablässig verändert. Er befindet sich zwar auf einem festen Platz im Businnern, verarbeitet aber im Verlauf des Unterwegsseins die vielen Reize, die sich in seiner Umgebung melden. Sie bestehen zum großen Teil aus laut gewordener oder auch stummer Sprache. Laut werden die Durchsagen und die Kommentare der Fahrgäste (und diese in den unterschiedlichsten sprachlichen Nuancen), stumm (aber eben doch »beredt«) bleiben die vielen Texte, die in den Umgebungen der Fahrt angebracht sind (Zeitungsüberschriften, Werbung, Anzeigen etc.).

Aus alldem entsteht eine »Gemengelage«, die Bodo Hell nicht mehr strukturiert, sondern wie einen rasch fließenden, mäandernden Strom einfängt. Die vielen Details, die dadurch in den Blick geraten, gehören dabei immer bestimmten Räumen, Personen und Szenen an, sodass die Fahrt als ein Durchlaufen der verschiedensten öffentlich ausgestellten Bühnenbilder zu lesen ist. Die Haltestelle, die Kreuzung, die Durchfahrt, die Gerade, auf der beschleunigt wird – das sind einige dieser zentralen Bilder, die zur seriellen Spur einer einzigen Busfahrt werden.

In einem weiteren Text (»An der Wien 7 Besichtigungen«) geht Bodo Hell anders vor. Er geht an dem Fluss Wien, der durch die Stadt fließt, entlang und studiert sieben Stationen, die er durch weitere Begehungen in ihrem Umkreis oder von außen nach innen erschließt. So etwa ein Jugendheim, die dritte Station:

Ein besteigbares Haus, mit zweigeschossigen Wohneinheiten, in offener Sprechverbindung von oben/unten nach unten/oben, hier auf der Gartenseite des Komplexes, in durchaus städtischer Dimension, an keiner Stelle soll die Vorstellung von der Beschränktheit eines Jugendheims aufkommen können, auch nichts KinderDörfliches, im Aufbau eher wie eine Felswand, gleichsam ein Berg, auf dem jeder seinen eigenen Felsvorsprung beziehen kann …126

Die Erkundung hält sich zunächst an architektonische Details, ortet dann aber auch ihre besonderen Wirkungen. Welche Bilder entwirft die Architektur? Zu welchen anderen Bildern stellt sie Verbindungen her? Wie kann man diese Bilder angehen und sich zu ihnen verhalten?

Das Leitmotiv, dem Bodo Hell während dieser Recherchen vor allem folgt, ist aber das der Sprache. Laufend liest er kleinste, versteckte sprachliche Zeichen oder horcht auf die vielen Sprachen, mit denen Menschen in der Umgebung seine Wege begleiten. In diesen Sprachen werden die Deutungsmanöver erkennbar, mit denen die Sprecherinnen und Sprecher den jeweiligen städtischen Raum überziehen und durchdringen wollen.

Kommentarlos und neugierig stellt Bodo Hell die ganze Fülle solcher Kommentare und »Aneignungen« aus: ihre Unbeholfenheiten, ihre Langsamkeit, aber auch ihre Komik. Die räumlichen Details »schwimmen« durch diese Methode im Sud der Wörter, Sätze und sprachlichen Fragmente. Sie existieren nicht für sich, sondern als Reizmittel für die Sprachen, die sich an ihnen abarbeiten und sich mit ihnen verbinden.

Um zu zeigen, wie sie – ebenfalls zu Zeichen erstarrt – an den räumlichen Details haften und kleben, hat Bodo Hell in sein Buch mehrere Fotostrecken eingebaut. Auf den Fotos erkennt man Wände, Gegenstände und städtische Räume (den Laden, das Geschäft, die Straße etc.), in denen die »Aufschriften« gleichsam eine zentrale Deutungsfunktion übernommen haben: Die Details sollen – bitte schön – so und keineswegs anders gelesen werden, diesen strengen Zug vermitteln die Aufschriften.

Schließlich geht es in einem weiteren Experiment Bodo Hells noch darum, einem vorgegebenen visuellen und sprachlichen Motiv (der Erscheinung der Farbe Gold im Stadtbild) zu folgen. Der Beobachter kreist das jeweilige Bild (ein »güldenes Gekuppel«, goldene Weltkugeln, goldene Adler etc.) ein und nähert sich nach ihrer Beschreibung den vielen Zeichen ihrer unmittelbaren Umgebung. Solche Annäherungen platzieren die einzelnen Erscheinungen in einem Kontext. Er kann dazu beitragen, das jeweilige Gold-Motiv mit gegenwärtigen oder auch historischen Signaturen kunstvoll in Verbindung zu bringen:

Parlament
wenn Sie während einer Sitzungsperiode der Volksvertreter Lust darauf verspüren, das weitläufige antikisch-palladianeske Gebäude zu umrunden und sich in die Details zu vertiefen, dann kann es
schon vorkommen, daß einer der Wachpolizisten diskret Nachschau hält, was Sie da an der Rückseite des prekären Komplexes so angelegentlich anvisieren, und vielleicht fällt somit auch diesem jungen Ordnungshüter zum ersten Mal auf, wie glänzend vergoldet die beiden rückwärtigen GitterkäfigRauchfänge, flankiert von dunklen Quadrigen mit Viktorien, in den blauen Sommerhimmel ragen, ihrerseits die funktionslosen ionischen Volutenkapitelle des Fassadenfrieses davor als Schmuckmotiv wiederaufnehmend …127

Der Betrachter nähert sich dem historischen Gebäude zu einem bestimmten Zeitpunkt, umrundet es, bezieht eine weitere Person (den jungen Ordnungshüter) in seine Umrundung mit ein und lässt auch ihn an der Entdeckung der besonderen Details teilnehmen. So hat man es mit viel mehr als einer bloßen Beschreibung zu tun: Der Leser erlebt eine Stadtszene, die Szene gerät in Bewegung und gibt den konzentrierten Blick auf ein städtisches Raumdetail frei.

Schreibaufgabe

Widmen Sie sich den »Stadtschriften« im Sinne Bodo Hells und durchstreifen Sie zu Fuß, mit dem Bus oder mit der Straßenbahn Partien einer größeren Stadt. Notieren (oder zeichnen Sie per Diktiergerät auf), was Sie alles sehen, hören und wie die Personen in ihrer Umgebung mit den wechselnden Raumdetails umgehen.

Schreiben Sie die Geschichte einer Frau / eines Mannes, die/der durch eine bestimmte, Ihnen gut bekannte Straßenpartie geht und auf diesem Weg vielen Bekannten und Passanten an unterschiedlichen »Raumstationen« begegnet.

101 Torsten Körner: Aus dem Fenster, S. 9.

102 Torsten Körner: Aus dem Fenster, S. 6.

103 Torsten Körner: Aus dem Fenster, S. 6.

104 Torsten Körner: Aus dem Fenster, S. 26.

105 Torsten Körner: Aus dem Fenster, S. 36.

106 Georges Perec: Träume von Räumen, S. 139.

107 Georges Perec: Träume von Räumen, S. 12.

108 Georges Perec: Träume von Räumen, S. 29.

109 Georges Perec: Träume von Räumen, S. 43.

110 Georges Perec: Träume von Räumen, S. 117.

111 Bill Bryson: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge, S. 13.

112 Bill Bryson: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge, S. 244.

113 Ingrid Lausund: Bin nebenan, S. 33.

114 Ingrid Lausund: Bin nebenan, S. 17.

115 Erkan Dörtoluk: Du hast mir das Kind gemacht, nicht ich, S. 5 f.

116 Erkan Dörtoluk: Du hast mir das Kind gemacht, nicht ich, S. 24/23/22.

117 Hanns-Josef Ortheil: Der Stift und das Papier, S. 66 f.

118 David Wagner: Ein Zimmer im Hotel, S. 44.

119 David Wagner: Ein Zimmer im Hotel, S. 92.

120 David Wagner: Ein Zimmer im Hotel, S. 65.

121 Michael Glawogger: 69 Hotelzimmer, S. 13.

122 Michael Glawogger: 69 Hotelzimmer, S. 9.

123 Rainer Moritz: Der schönste Aufenthalt der Welt. Dichter im Hotel.

124 Bodo Hell: Stadtschrift, S. 55.

125 Bodo Hell: Stadtschrift, S. 56 f.

126 Bodo Hell: Stadtschrift, S. 88.

127 Bodo Hell: Stadtschrift, S. 150 f.