Nachbetrachtung: Weiterschreiben
Wer die fünfundzwanzig Textprojekte und Schreibaufgaben dieses Buches studiert und mit ihnen gearbeitet hat, wird nun genauer verstehen, was die Einrichtung einer schriftstellerischen »Werkstatt« bedeutet und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
Als Erstes folgt daraus, dass die Werkstatt ein räumliches Zentrum braucht, zu dem eine Autorin oder ein Autor möglichst regelmäßig zurückkehrt (Tisch und Stuhl / Schreibraum). Mit der Zeit sollte die Einrichtung dieses Raums sich etablieren und der Einsatz der Materialien (Schreibgeräte, Papiere etc.) in Gewöhnung übergehen. Dann hätte man festgelegt, wo und womit man worauf in welchen zeitlichen Abständen schreibt.
Als Nächstes wäre zu klären, mit welchen »Einschreibmanövern« man das tägliche Schreiben beginnt. Mit dem Abschreiben anderer Texte, mit der Sammlung und dem Kommentar von Zeitungsausschnitten des Vortags, mit kurzen Statusmeldungen? Oder beginnt man gleich mit Texten, in denen man noch eine Spur anspruchsvoller und konzentrierter die jeweilige Gegenwart einfängt ?
In so einem Fall würde man vielleicht mit der Arbeit an der Chronik (Porträt des vorigen Tages) beginnen oder jene »Szenen mit anderen Menschen« zusammenstellen und kommentierend erweitern, die man in den letzten Tagen »mitgeschrieben« hat.
Sollte sich dagegen im persönlichen Umfeld oder mit einem selbst etwas ereignet haben, das ungewöhnlich ist und stark nachwirkt, könnte man das im Tagebuch berichten oder erzählen. Hätte sich schließlich »in der Welt« (und damit draußen, in den kleineren oder weiteren Umgebungen des eigenen Lebens) Bedenkenswertes ereignet, so könnte man diese Ereignisse oder Veränderungen reflektieren und kommentieren.
Verdeutlicht man sich diese Alternativen, so wird einem klar, dass man sich an jedem Tag vor Beginn des Schreibens entscheiden muss, wie man es strukturiert und in welcher Reihenfolge man an welchen Texten arbeitet. Auf jeden Fall sollte man mit solchen Texten beginnen, die keine langen Vorüberlegungen brauchen, sondern das Schreiben ohne Umwege in Gang bringen. Der Vorgang des Schreibens, das In-Bewegung-Setzen des Schreibprozesses – das sollte an erster Stelle stehen. Indem man »mit dem Schreiben« irgendwo, in noch vorläufigem, harmlosem Gelände »anfängt«, arbeitet man den Schreibsperren entgegen. Man fängt einfach an – und dann sieht man weiter.
Die fünfundzwanzig Textprojekte und Schreibaufgaben dieses Bandes sollte man zunächst aber alle durchlaufen und mehrmals getestet haben. Als Alternativen verschiedener Formen, die Werkstatt zu installieren, in Szene zu setzen und zu nutzen, sind sie ein breites Spektrum, aus dem man jeweils neu einige Formate für die tägliche Praxis und Anwendung auswählen sollte. Die oder der Schreibende begibt sich zu Beginn der täglichen Arbeit in die Werkstatt, schaut sich nach ihren Angeboten um, entscheidet sich für die Ausarbeitung einiger Projekte und entwirft, so vorbereitet und initiiert, Ideen für umfangreichere, literarische Werke.
Solche anspruchsvolleren, auf Veröffentlichung zielenden Werke können sich jedoch auch sehr direkt durch Ausarbeitung bestimmter Textprojekte in diesem Band ergeben. Ein Roman kann aus Chroniken eines Erzählers oder einem fortlaufenden Tagebuch bestehen, in dem der Erzähler mehr oder weniger distanziert sein eigenes Leben porträtiert – wie etwa dieser Erzähler, der nach Paris kommt und dort mit dem Schreiben beginnt:
11. September, rue Toullier. So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank.128
Ein Roman kann aber auch aus der Perspektive einer Erzählerin oder eines Erzählers entstehen, die oder der sich in bestimmten Räumen (einem Zimmer, einer Wohnung, einem Haus und seiner Umgebung) aufhält und über einen längeren Zeitraum die Geschichten dieser Räumlichkeiten erzählt:
Wenn wir sagen, daß wir in der Rue Edel wohnen, antwortet man uns meist, ach ja, da haben wir am Anfang auch gewohnt. Unsere Straße scheint also eine Straße des Anfangens oder Ankommens zu sein, bevor man nämlich in die besseren Viertel umzieht, die ruhiger sind und in deren Häusern nur zwei, drei Parteien wohnen …129
Möglich wäre auch, dass ein umfangreiches Buch aus vielen, seriell aneinandergereihten, kürzeren Texten besteht, die jeweils ein bestimmtes Thema, einen Raum oder eine Figur umkreisen. So hat der Schriftsteller Torsten Körner einen Band mit »Geschichten aus dem Speisewagen« veröffentlicht:
Ich habe mich schon als Schüler und Student immer in den Speisewagen gesetzt, vorausgesetzt, ich hatte Geld und ein Platz war frei. Er hat mich selten enttäuscht, er war Flucht- und Fundort, er war Zeitmaschine und Geduldsspiel, Museum verflogener Hoffnungen, Labor für kommende Träume und biographische Bastelwerkstatt …130
Und der Schriftsteller Günter Ohnemus hat in einem Buch eine einzige Frau in siebenundsechzig Ansichten porträtiert:
Manchmal ist sie ganz deutlich zu sehen, und manchmal ist sie wie der Schatten eines Tennisballs an einem Sommertag: etwas, das niemand bemerkt. So ist das mit der Frau in diesem Buch. Ich muss das wissen. Ich habe sie schließlich gemacht, so wie sie zuvor mich gemacht hat.131
Das heißt: Die fünfundzwanzig Textprojekte dieses Buches sind keineswegs bloße Schreibaufgaben. In jedem von ihnen stecken vielmehr viele weitere Projekte und letztlich sogar ganze Bücher und Bibliotheken. Löst man sich von der Schreibaufgaben-Perspektive, erkennt man ein weites Feld: die Geschichte von dem Mann, der Zettel sammelte und versuchte, ihre anonymen Schreiber zu finden; die Geschichte der Frau, die jeden Tag eine Erzählung schrieb, deren Inhalt sie aus den »Vermischten Nachrichten« einer Zeitung bezog; die Geschichte einer anderen Frau, die jeden Tag einige Freunde und Verwandte anrief und aufschrieb, was diese ihr erzählt hatten; die Geschichte zweier Männer, die zusammen eine Reise machten und von denen jeder ein Tagebuch führte, dessen Inhalt er vor dem anderen geheim hielt.
Unendlich viele Geschichten! Und, ebenfalls schon erkennbar: unendlich viele Romane! (Der Roman von der Frau, die eine Stadt Straße für Straße erkundete und immer wieder umzog. Der Roman …)
Das Schreiben wurde also mithilfe dieses Buches nicht nur initiiert, sondern ist mit seinen Projekten auch längst zu einem Bestandteil der Fantasien geworden. Vom täglichen Schreiben führt der Weg zu den ausgearbeiteten, eigenen Schreibprojekten.
Und auch für diese gilt: Fangen Sie (probeweise) einfach damit an, schreiben Sie die ersten Sätze, die Ihnen in den Sinn kommen …132
Dieses einfache »Anfangen« (einer kurzen Geschichte, Erzählung etc.) könnte mit ein paar wenigen Zeilen beginnen, die einen zupackenden, in die Geschichte/Erzählung einsteigenden Anfang markieren. Solche sich »unmittelbar«, plötzlich (»wie aus heiterem Himmel«) anbietenden Einstiege haben etwas Überzeugendes, sie drängen sich manchmal geradezu auf. Man hat unkompliziert und direkt mit einer Geschichte begonnen, und die ersten Sätze der Geschichte sind bereits fixiert.
Danach kann freilich bereits alles wieder ins Stocken geraten. Was dann? Der überzeugende, direkte Einstieg in eine Geschichte bedarf im zweiten Schritt einiger distanzierter Beobachtungen. Zunächst sollte man sich fragen, mit welcher Erzählerfigur man begonnen hat (Ich-Erzählung? Er-Erzählung? Weibliche Erzählerin? Männlicher Erzähler? Personale Erzählung? Auktoriale Erzählung?).
Mit der Wahl einer bestimmten Erzählerin oder eines Erzählers legt man sich bereits fest. Mit ihrer oder seiner Gestalt ist die Erzählung fundamental verbunden. Deshalb sollte man gerade über diese Gestalt viel wissen, von den einfachsten Details (Alter, Herkunft, Beruf) bis hin zu den verborgenen (Vorlieben, bestimmte Verhaltensformen etc.).
Wichtig ist ferner, in welchem Verhältnis der Erzähler – oder die Erzählerin – zu den anderen Figuren der Erzählung steht. Kennt er sie gut? Gehört er zu ihrem Kreis (Zirkel)? Oder lernt er sie im Verlauf der Erzählung vielleicht erst gerade kennen? Möglich wäre auch, dass er sie aus weiter Distanz beobachtet und seine Erkenntnisse über ihr Dasein nur aus sich fortsetzenden (und korrigierenden) Vermutungen bestehen.
Zu klären ist also die Figurenkonstellation einer Geschichte/Erzählung. Bevor man sie »weiterschreibt«, sollte man sich notieren, aus welchen Figuren sie besteht und wie diese Figuren miteinander in Kontakt treten. Damit verbunden sind Fragen danach, welche Figuren eine starke, dominante Rolle spielen und welche eher nur beigeordnet sind (und deshalb als »Nebenfiguren« bezeichnet werden könnten).
Auch von den Figuren sollte man vor dem »Weiterschreiben« der Geschichte kurze Porträts erstellen. Solche Porträts halten nicht nur bestimmte Charakterzüge oder Eigenschaften fest, sondern lassen sich szenisch ausdehnen. Dann notiert man ausführlicher kurze Sequenzen, in denen die jeweiligen Figuren in Erscheinung treten.
Mit den szenischen Sequenzen ist man schon bei den Räumen angekommen, die in einer Geschichte eine Rolle spielen. Jede Figur lebt in bestimmten Räumen und orientiert sich auf andere Räume hin. Sie hat also ein statisches Moment (das jeweilige Zuhause) und ein dynamisches (die Bewegungen in einem Ort, einer Stadt, einer Landschaft). Legen Sie zunächst kleine Skizzen von den Räumen an, in denen sich jede Figur aufhält oder aufhalten könnte – auch wenn diese Räume in der späteren Erzählung vielleicht gar keine Rolle spielen. Beschreiben Sie diese Räume: Woraus bestehen sie? Welche Strukturen und Farben haben sie? Kleine Zeichnungen können die Räume (und ihre Verbindung) gut vergegenwärtigen. Während des Schreibens kann man auf sie zurückgreifen, um sich die Raumdetails noch einmal einzuprägen.
Die Erzählerin / Der Erzähler, die einzelnen Figuren (und ihre Geschichten), die mit ihnen verbundenen Räume (und deren Aussehen) – in diesen Schritten notiert und entwirft man eine Geschichte/Erzählung. Fehlt nur noch das Moment der Zeit. Geklärt werden sollte hier, zu welchem Zeitpunkt man in eine Geschichte einsteigt und welche Phasen ihrer Entwicklung in der Erzählung auftauchen sollen. Solche Zeitphasen sind mit den Figuren und Räumen natürlich eng verbunden. Um das zu verdeutlichen, sind kleine Skizzen ebenfalls hilfreich: Welche Figuren sind an bestimmten Ereignissen (die wo stattfinden?) beteiligt? Und wie entwickeln sich diese Ereignisse weiter?
Hat man sich über all das Gedanken gemacht und verschiedene Varianten durchgespielt (was oft Tage und Wochen in Anspruch nehmen kann), sollte man die Geschichte in der einfachen Form einer im Präsens formulierten Inhaltsangabe zusammenfassen: Elke feiert mit ihrem Freund Peter im Freundeskreis ihren dreißigsten Geburtstag. Am späten Abend verschwindet Peter plötzlich und ist nicht mehr auffindbar. Die Freunde machen sich in der Umgebung auf die Suche. Einige geraten auf seine Spur, verraten ihre Beobachtungen aber den anderen nicht. Offensichtlich hat Peter zusammen mit einer Person des Freundeskreises die Flucht angetreten etc.
Eine solche Inhaltsangabe lässt man eine Weile liegen, erweitert und korrigiert sie eventuell. Will man parallel dazu noch einige weitere Vorstudien betreiben, so bieten sich Kurzgeschichten anderer Autorinnen oder Autoren an, die gerade in diesem Genre erfahren sind und hier Außerordentliches geleistet haben. Zu ihnen gehört zum Beispiel die amerikanische Schriftstellerin Lydia Davis, deren Kurzgeschichtenbände in den letzten Jahren von der Kritik und den Lesern gefeiert worden sind. Lektüren solcher Texte vermitteln eine gute Vorstellung davon, wie Kurzgeschichten angelegt und erzählt werden könnten. Hilfreich wäre auch der Versuch, den Anfang einer solchen Kurzgeschichte von Lydia Davis fortzusetzen. Zum Beispiel diesen hier:
Ich komme von der Arbeit nach Hause, und da ist eine Nachricht von ihm: dass er nicht kommt, dass er zu tun hat. Er wird wieder anrufen. Ich warte darauf, von ihm zu hören, dann, um neun, fahre ich dorthin, wo er wohnt, entdecke seinen Wagen, aber zu Hause ist er nicht, ich klopfe an die Tür seines Apartments, dann an alle Garagentore, weil ich nicht weiß, welches Garagentor seines ist – keine Antwort. Ich schreibe einen Zettel …133
Oder man liest etwas längere Erzählungen der amerikanischen Schriftstellerin Grace Paley (1922–2007) und wählt auch hier einen Anfang, von dem aus man selbstständig weiterschreibt:
Ob ich früh oder spät aufstehe, spielt keine Rolle, der Tag läuft mir davon. Sommer oder Winter, ob die Bäume Dämmerlicht oder harte Schatten werfen – vor Mittag futtere ich meine Rice Krispies nie.
Ich bin ehrgeizig, aber eher auf lange Sicht. Insgeheim will ich hoch hinaus, aber dahinzukommen dauert ein halbes Leben. Bis dahin halte ich die Augen offen und kleide mich gut …134
Schließlich gibt es zu all diesen hilfreichen Vorschlägen, mit dem »Weiterschreiben« zu beginnen, aber noch eine allerletzte Alternative. Es gibt nämlich Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ohne jede Vorarbeit (Skizze/Entwurf etc.) auskommen. Sie ahnen nicht, wie ihre Erzählung verlaufen wird. Oft haben sie nur den ersten Satz im Kopf. Mit ihm beginnen sie und stürzen sich so in den Text.
Zu diesen Schriftstellern gehört Franz Kafka (1883–1924). Er hat viele kürzere und längere Erzählungen geschrieben und einfach darauf vertraut, dass eine Geschichte unter seinen Augen wie von selbst entsteht. Dann hat er angefangen. Im (für Kafka) besten Fall sind die Erzählungen dann in einem einzigen (meist nächtlichen) Anlauf entstanden – so etwa eine seiner berühmtesten, »Das Urteil«. Franz Kafka hat sie in einer einzigen Nacht geschrieben:
Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendeman, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloß ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluß, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün …135
128 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 709.
129 Barbara Honigmann: Chronik meiner Straße, S. 5.
130 Torsten Körner: Geschichten aus dem Speisewagen, S. 18.
131 Günter Ohnemus: Siebenundsechzig Ansichten einer Frau, S. 10.
132 Amos Oz: So fangen die Geschichten an.
133 Lydia Davis: Reise über die stille Seite, S. 7.
134 Grace Paley: Die kleinen Widrigkeiten des Lebens, S. 71.
135 Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen, S. 23.