Manfred Schwenk war weder Bürgermeister noch Gewerke gewesen, als er die erheblich jüngere Ilse kennenlernte. Als Abteilungsleiter in einem Unternehmen für Elektronik, Automatisation, Industrie, Produktion, Maschinen- und Anlagenbau verdiente er sehr schön , wie man damals sagte. Als Fachkraft – heute würde es Key Account Manager oder ähnlich heißen – war er auf der einen Seite überaus geschätzt. Als Mensch jedoch war er unter anderem wegen seiner beruflichen Unerbittlichkeit zwar nicht gehasst, aber in hohem Maße unbeliebt. Er nutzte damals seine Position als Mitglied der Geschäftsleitung weidlich aus. So fing er mit vielen der jungen Büro-Menscher , wie er die Damen im Betrieb nannte, etwas an, um es nach einiger Zeit eiskalt wieder zu beenden. Manfred Schwenk war nicht das, was Frauen ohne Einschränkungen als feschen Mann bezeichnen würden, dafür war er zu klein und gedrungen, und auch sein früh einsetzender Haarausfall tat das Seine, aber seine Position im Betrieb gab ihm das Flair von interessant und die Aura von Macht. Bei romantischem Verführungsgeflüster pflegte er häufig heiser ins jeweilige Frauenohr zu flüstern: »Weißt, ich kann dir vielleicht nicht viel nützen, aber ich könnt dir ziemlich schaden.«
Das Lächeln in der Stimme nahm dem Satz aber kaum etwas von seinem Imponiergehabe, ja seiner Drohgebärde, und beschleunigte meist den diesbezüglichen Erfolg. Die Schreib- und Bürokräfte im Unternehmen, aber auch die Frauen außerhalb der Firma fühlten sich geschmeichelt ob seiner Aufmerksamkeit. Pausbäckig und blauäugig, glaubten sie, er wäre in sie verliebt, rechneten sich Vorteile für ihre Karriere aus und ließen sich für die Dauer der Liaison von ihm aushalten . Die einen waren gekränkt, traurig, bestürzt, wenn Schwenk sie satthatte, die anderen zuckten zwar mit den Schultern, als machte es ihnen nichts aus, sprachen aber dann doch von ihm als glatzertes Orschloch .
Als eines Tages die blutjunge Ilse eingestellt wurde, begann in Schwenk eine Saite zu schwingen, die noch nie in ihm erklungen war. Hatte er im Innersten an all seinen Affären irgendetwas auszusetzen gehabt – entweder zu große Füße, zu breite Hüften, zu dicke Waden, unverzeihlich dicke Fesseln oder eine zu hohe Stimme, schlechte Zähne, zu kleine oder zu große Brüste (blöde Trutschn waren sie ohnehin alle) –, so erkannte er, dass nun das Ideal, die Perfektion der mädchenhaften Reize, in sein Leben getreten war. Er griff auch sofort mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln an: Da war die Rede von der Liebe auf den ersten Blick, von den Vorteilen, die eine junge Frau von einem Verhältnis mit einem älteren Mann hätte, und vom Luxusleben, das teure Textilien, wertvollen Schmuck und kostspielige Urlaubsreisen mit einschließen würde. Er begann, sich bei seinen zweiwöchentlichen Friseurbesuchen Einreibungen gegen Haarausfall, ja, schlechterdings für neuen Haarwuchs, verabreichen zu lassen, begann, sich deutlich jugendlicher zu kleiden, sich unbekümmerter und lockerer zu geben und in beruflichen Belangen schon mal fünfe g’rade sein zu lassen. Es fiel ihm nicht auf, dass er dadurch ein wenig lächerlich wirkte.
Nur Ilse schaute vom ersten Tag an durch ihn hindurch. Sie war höflich, zuvorkommend und respektvoll, lächelte ihn aber nie an oder tat sonst etwas Kokettes, das ihn ermutigte.
Nun war es nicht so, dass Schwenk etwa verliebt war oder gar ein unschuldiges, scheues Gefühl für Ilse entwickelt hätte. Es war naturgemäß Geilheit, wie sonst auch. Aber nicht diese gewöhnliche Geilheit, sondern außergewöhnliche Geilheit, nicht größer als sonst, aber spezieller, aufregender und nicht von der üblichen, fast zynischen Siegesgewissheit getragen. Und je gleichgültiger, ja, unnahbarer ihr Verhalten ihm schien, desto obsessiver wurde sein Begehren. Seine Bemühungen, seine Anstrengungen bekamen etwas Trotziges, und er musste sich zusammennehmen, um seine Absichten nicht zu vordergründig darzulegen. Selbstverständlich waren da junge männliche Mitarbeiter, denen Ilse auch angenehm auffiel und die um sie herumscharwenzelten. Ein neuer, noch unbekannter Gedanke brach sich in Schwenk Bahn: zu alt zu sein. Trotz seiner Position, seines Gehaltes und seiner Erfahrung nichts zu gelten. Hinterrücks belächelt und als erotisch wertlos empfunden zu werden.
Nach mindestens drei Abenteuern mit jungen Mitarbeitern, die Schwenk ihr insgeheim unterstellte, musste er seine ganze Routine, seine ganze Niedertracht und perfide Beredsamkeit aufwenden, dass sie schließlich doch mit ihm ausging.
Ilse knüpfte, zwar mit launigen Worten, aber beredten Blicken, die Bedingung daran, sie zu heiraten, wenn er in den Genuss ihrer Gunst kommen wollte. Schwenk offerierte ihr daraufhin eine – heimliche – Verlobung, die er selbstverständlich nicht einzulösen gedachte. Ilse jedoch bestand auf einer Verlobungsfeier im Beisein aller Angestellten des Unternehmens und ihrer Familie, bei der auch gleich der konkrete Hochzeitstermin angekündigt werden sollte.
Getrieben von dem Fieber, Ilse zu besitzen, stimmte Schwenk letztlich allem zu. Erst Monate später, nach öffentlicher Verlobungsfeier – weil Ilse es so haben wollte – und pompöser Hochzeit, in der unvermeidlichen Hochzeitsnacht, kam er endlich zum Schuss. In dieser Hochzeitsnacht zeigte sich Ilse weder besonders leidenschaftlich noch liebevoll. Auch Schwenk empfand nicht den Triumph des Sieges wie sonst, war im Gegenteil tollpatschig und lendenlahm. Und beide waren danach in keiner Weise befriedigt.
Auch die Flitterwochen verliefen nicht, wie er es sich vorgestellt hatte: Keine Spur von der verschwörerischen, infantilen Verliebtheit, der sommerlichen Ausgelassenheit und prickelnden Intimität, wie er das aus Filmen und Magazinen oder vom Hörensagen kannte. Auf eigene Erfahrung in dieser Richtung konnte er, wie gesagt, kaum zurückgreifen.
Ilse ließ ihn von Anfang an jedes Mal fühlen, dass es sie Überwindung kostete, mit ihm zu schlafen, und Schwenk hatte niemals den Eindruck, dass sie sich ihm hingab oder wenigstens so tat als ob. Es gab so gut wie keine Momente, wo einer der beiden aus übervollem Herzen »Ich liebe dich« sagte.
Als im Laufe eines knappen Jahres die sexuelle Frequenz kontinuierlich nachzulassen begann, verstärkte sich Schwenks Verdacht, gewissermaßen in eine Falle gegangen zu sein. Und in dem Maße, in dem sich dieser Verdacht verstärkte, verringerten sich seine gönnerhafte Selbstsicherheit und sein herablassendes Siegesbewusstsein. Er hörte mehr und mehr auf, eine Führungskraft zu sein, und je weniger er eine war, desto stärker schlug ihm Ilses Geringschätzung, die sich bald in Verachtung umkehrte, entgegen. Er musste sich in stillen Momenten eingestehen, dass seine Ehe ein Geschäft war, aber nur für seine junge Frau ein gutes.
Er verlor seine Stellung, siedelte sich sehr zum Missfallen Ilses in Ursprung an und brachte es in kurzer Zeit mit den Rudimenten seiner Führungsqualitäten zum Bürgermeister und dem Titel Gewerke, den er sich letztlich selbst verlieh.
Am Sonntag war Adalbert Eibl schon früh in der Kirche, um für den ersten Gottesdienst des neuen Pfarrers alles vorzubereiten. Er ordnete gewissenhaft die Gebetbücher in den Bänken, stellte neue Kerzen auf den Altar und reinigte die Hinterglasmalerei des verklärten Christus. Das große Kreuz mit dem Schmerzensmann reinigte er mit einem Wettex-Tuch. Der Gekreuzigte selbst war nun nicht das, was man ein Kunstwerk nennen konnte. Der zweidimensionale Körper war lieblos auf das marginal an Holz erinnernde Kreuz montiert – oder besser geklebt – worden. Er blickte mit einem misslungenen, verwirrten Ausdruck im Antlitz geradewegs in die Kirche. Bei den kostspieligeren, serienmäßig körperhaft aus Holz gesägten Gekreuzigten war der gelockte Kopf mit der Dornenkrone ja meist nach links oder rechts auf die Schulter gefallen, und das Gesicht drückte ersterbende Demut und vor allem Ohnmacht aus. Aber dieser in keiner Weise göttliche Blick des Ursprunger Christus, der so unpassend nach vorne gerichtet war, legte das Götzenhafte und grundsätzlich Unbeseelte dieser Riesendevotionalie offen.
Adalbert Eibl deutete jedes Mal eine Kniebeuge an, wenn er, seine Pflichten verrichtend, vor dem Alter von links nach rechts oder retour ging. Er sollte mit dem Mano über die Anschaffung eines ordentlichen Jesus am Kreuz sprechen, dachte er bei sich. Vielleicht sollte er eine Sammlung im Dorf organisieren? Er wusste aber, dass die Spendenbereitschaft der Ursprunger nicht recht groß sein würde. Eigentlich eine Schande, dachte er, wo doch, zumindest jeden Sonntag, die Gläubigen selbst irgendetwas von diesem Jesus erbaten. Vielleicht lag es daran, dass die Gebete der Ursprunger prinzipiell nicht erhört wurden.
Draußen auf dem Kiesweg hörte Eibl den neuen Pfarrer näher kommen, Schritt-tack, Schritt-tack . Mano Urian betrat die Kirche, und Eibl bemerkte verwirrt das kurze Zögern an der Schwelle und das merkwürdige Kreuzzeichen, das Mano nicht im Knien machte. Etwas an dem neuen Pfarrer war anders, aber er wusste nicht, was.
»Schönen Sonntag«, grüßte Mano aufgeräumt und wollte sich auf den Weg in die Sakristei machen.
»Entschuldigung, Hochwürden! Nachdem noch niemand hier ist … wäre es möglich, gleich jetzt meine Beichte abzulegen?«, hielt Eibl ihn auf.
»Selbstverständlich, lass mich nur schnell …« Geübt half Eibl dem Pfarrer in der Sakristei ins Messgewand, legte ihm die Stola um die Schultern und folgte ihm dann in den Beichtstuhl.
»In Demut und Reue bekenne ich meine Sünden«, sagte Eibl im Beichtstuhl kniend und vermied den Blick auf den neuen Pfarrer, dessen Züge er durch das holzvergitterte Fenster ohnehin nicht wahrnehmen hätte können.
»Sprich zu mir, sag mir alles.«
»Hochwürden, ich lebe im Zustand der schweren Sünde.«
»Wodurch hast du schwer gesündigt?«
»Durch Gedanken, Herr Pfarrer, durch Gedanken.«
»Und welcher Natur sind diese Gedanken?«
»Sie sind«, Eibl räusperte sich, »sie sind unkeuscher Natur.«
Mano schwieg.
»Ich bin«, fuhr der Mesner fort, »ich bin durch das heilige Sakrament der Ehe mit meiner Frau Elfriede verbunden. Sie ist sehr krank, wie Sie wissen, Herr Pfarrer. Aber anstatt im stummen Gebet um ihre Genesung zu bitten, denke ich immer wieder – obwohl ich dagegen ankämpfe! – begehrlich an eine junge Frau …«
»Wer ist diese junge Frau, an die du immer auf diese Weise denken musst?«
Eibl sagte nichts.
»Nun?«
Der Mesner flüsterte: »Die Mirli Egger, Herr Pfarrer, die Kellnerin im Holzinger. Ich sehe Bilder in meinem Kopf, die mir nur der Teufel eingeben kann. Ich sehe, wie sie mich begehrt und nackt, ganz nackt, Hochwürden, mit mir …«
»Und?«, fragte Mano unerbittlich nach.
»Ich bin selbst entsetzt von mir, Herr Pfarrer …«
»Aber du empfindest auch Freude, nicht wahr?«
Eibl nickte stumm.
»Und du fasst dich selbst an?«
»Ja«, hauchte er.
»Und du befleckst dich selbst?«
»Ja«, stöhnte Eibl, »mein Jesus, Barmherzigkeit!«
»Nun«, sagte Mano Urian, »hast du schon mit Fräulein Egger über deine Sehnsüchte gesprochen, hast du schon um sie geworben?«
»Um Gottes willen, nein. Wo doch Elfriede so krank ist. Und was würden die Leute im Dorf sagen?«
»Wenn du aus Liebe zu deiner kranken Frau Verzicht übst und nur dieses fruchtlose Begehren in deiner Seele trägst, so sündigst du nicht. Du würdest auch nicht sündigen, wenn du diesem Trieb nachgeben würdest.«
»Nein?«, staunte Eibl.
»Dein Verzicht macht dich unglücklich und lässt dich deine Pflichten als Beistand deiner armen Frau vernachlässigen und ihnen nur missmutig nachkommen. Der Herr möchte nicht, dass die Menschen unglücklich sind. Er wünscht sie sich froh und unbeschwert – nicht belastet von unterdrückten Leidenschaften, denn der Herr liebt dich. Klopfe doch abends an Fräulein Eggers Tür und lasse sie von deiner Sehnsucht wissen. Der Herr wird dich leiten.«
»Sie wollen, ich soll …?«
»Nicht ich, gott will es, mein Sohn. Ich entlasse dich frei von Schuld aus dieser Beichte und spreche dir Mut zu. Deine Schritte seien gesegnet. Gehe hin und sei glücklich. Amen.«
Eibl stand der Mund offen.
»Amen«, wiederholte Mano.
»Amen«, stieß Eibl hervor, erhob sich und verließ verstört den Beichtstuhl. Pfarrer Absenger hätte ihn eine ganze Reihe Vater unser, Gegrüßet seist du Maria und dergleichen beten lassen und ihm mit ewiger Verdammnis gedroht. Aber der neue Pfarrer, der Mano, ermutigte ihn ja geradezu, seine sündigen Pläne auszuführen und seinem inneren Pochen nachzugeben. Trotz seiner zweifelnden Gedanken nahm er beschwingt seine Arbeit auf.
»Diese modernen Geistlichen«, dachte er froh.
Nur einer fiel es deutlich auf, dass die Kirchenglocken an diesem Sonntag weniger unangenehm und blechern tönten als gewöhnlich. Sie lockten die Gemeinde auf eine dunkle Art, mindestens eine Oktave tiefer als sonst.
»Kein Zweifel«, raunte Hildgard, die auf Resi gestützt in Richtung Kirche schritt, »er ist es und er offenbart sich schamlos.«
Die Kirche war an diesem Sonntag voll wie schon lange nicht mehr, denn alle wollten bei der Premiere des neuen Pfarrers dabei sein. Obwohl der Mesner wie immer knapp vor Eintreten der Gemeinde routinemäßig versucht hatte, den schweren Geruch von Gülle, der wohl allen ruralen Gotteshäusern eigen ist, mithilfe des messingfarbenen Weihrauchkessels aus der Luft zu bekommen, schien an diesem Sonntag alles ganz anders. Erst als Josef Lüftl, der Lehrer an der kleinen Volksschule, an der Orgel so gar nicht sakrale Musik improvisierte, stellten die Kirchgeher verwundert fest, dass die Tafel links neben dem Altar, die normalerweise die Liederauswahl im Gesangbuch, dem Gotteslob , ankündigte, leer war.
Der neue Herr Pfarrer hatte Lüftl vor der Messe mit Bestimmtheit angewiesen: »Herr Lehrer, in meinen gottesdiensten werden keine Kirchenlieder gesungen. Spielen Sie zu den gegebenen Anlässen Meditatives, aber nicht etwa heilige Melodien, sondern etwas Leichtes, Entspannendes, vielleicht mit ein wenig Swing.«
»Ist gut, Hochwürden«, hatte Lüftl ein wenig befremdet geantwortet, »ich werde mich bemühen.«
»Und schon gar nichts Bemühtes!«, hatte ihm Mano Urian noch nachgerufen.
Josef Lüftl, der Lehrer an der Volksschule Ursprung, der auch das Amt des Schuldirektors innehatte, war nicht beliebt. Er war aber auch nicht unbeliebt, er war gewissermaßen nicht vorhanden, war im Bewusstsein der Ursprunger kaum präsent. Josef Lüftl war mit niemandem im Dorf auf Du und Du, und dass die Ursprunger untereinander alle per Du waren, berührte ihn unangenehm. So erschien es ihm geradezu suspekt, dass sich der neue Pfarrer – wenn auch nur außerhalb der Kirche – plump mit den derben Ursprungern duzte. Er ignorierte diese Unsitte geflissentlich und sprach Mano Urian ausdrücklich mit Hochwürden oder Herr Pfarrer an. Er saß so gut wie nie im Holzinger, beteiligte sich kaum am öffentlichen Leben im Ort und hatte nur Kontakt mit der Bevölkerung, wenn es sich um schulische Belange handelte – und hier wieder vorwiegend mit den Frauen, den Müttern der Kinder. Einmal im Jahr, bei der Verteilung der Jahreszeugnisse, trat er vor die Kinder und Eltern, sprach ein paar freundliche, unverbindliche Worte und wünschte schöne Ferien . Ansonsten wurde Josef Lüftl nicht wahrgenommen, nicht einmal am Sonntag in der Kirche, denn da saß er ja auf der Empore hinter der Orgel und spielte. Unter dem alten Absenger feierliches Kirchenliedgut und seit Mano Urian die Pfarre übernommen hatte, eben säuselnde Fahrstuhlmusik. Niemand im Ort wusste etwas über ihn, weil niemand etwas über ihn wissen wollte. Er wurde, wenn überhaupt, gesprächsweise nur erwähnt, wenn wieder jemand den Lehrern ihre neun Wochen Urlaub neidete. Er war so verzweifelt unauffällig, dass niemandem auffiel, wie verzweifelt er war.
Als Mano Urian dann vor den Altar trat, fehlte nicht viel und man hätte applaudiert. Er zelebrierte die Messe mit einer gewissen Beiläufigkeit, und keine seiner Bewegungen oder rituellen Posen drückten Demut oder gar Gottesfurcht aus.
Das mochte daran liegen, dass Mano im Vergleich zu anderen Geistlichen nichts Gebeugtes, vorauseilend Unterwerfendes, Buckelndes oder Bigottes an sich hatte. Mano war, was zumindest den Ursprunger Frauen angenehm auffiel, ein Mann – im besten oder vielmehr verwegensten Sinne des Wortes. Er führte akkurat durch die Liturgie, segnete knapp, fast peripher, und schlug das Kreuz auf diese ungewohnte Art.
»Das Teufelskreuz«, entfuhr es der alten Pfarrersköchin. Auf Resi gestützt, sank sie auf die harte Holzbank.
»Sei stad, du Hex«, zischte Resi, denn über ihren Mano ließ sie nichts kommen.
»Brüder und Schwestern in Christo«, sagte Mano laut in die spannungsgeladene Atmosphäre hinein. »Ich werde heute und in Zukunft keine langen Predigten halten. Über so gut wie alles wurde bereits aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln gepredigt. Deshalb werde ich jedes Mal nur einen Satz sagen, den ihr kontemplativ reflektieren sollt und der dadurch in eurer Lebensführung einen zentralen Platz innehaben wird.«
Stille.
Die Ursprunger sahen einander ratlos an. Kontemplativ reflektieren? War das irgendwie mit Arbeit verbunden? Stumm und – was seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen war – gespannt blickte die Gemeinde zur Kanzel, voller Ungeduld, aber auch voll Genugtuung, dass es nur eine sehr kurze Predigt werden würde. Die meisten erinnerten sich an die langweiligen Suaden von Pfarrer Absenger, die jedes Mal durch und durch einschläfernd wirkten.
Die festen, zwingenden Worte Mano Urians dröhnten wie in Stein gemeißelt durch das Kirchenschiff: »Lebt euer Leben, ihr habt nur eines! Alles andere sind Gerüchte. Amen.«
Und er segnete sie wiederum mit seinem schlampigen Kreuzzeichen.
»Amen«, antwortete die Gemeinde zögerlich.
Beim Agnus Dei ging ein Raunen durch die Bänke, denn für einen Augenblick schien es, als wäre die Hostie, die der neue Pfarrer in die Höhe hielt, giftgrün. Hildgard schloss die Augen, atmete hörbar durch den Mund ein und drückte Resis Oberarm so heftig, dass diese förmlich aufschrie: »Au weh! Was zwickst mich denn derartig?«
»Gott steh uns bei«, rief Elfriede Eibl.
Bei der Kommunion, der Gottesverspeisung , knieten die Menschen mit unnatürlich aufgerissenen Mäulern vor dem Altar, streckten bei geschlossenen Augen ihre Zungen heraus, schnappten fast wie Hunde, denen man eine Scheibe Wurst hinhält, nach dem Leib Christi . Die Oblate schmeckte diesmal ungewöhnlich scharf, und so kehrten sie hustend oder hechelnd, manche sogar mit hochrotem Kopf, zurück an ihre Plätze.
Resi führte die alte Hildgard am Arm aus der Kirche. Ihre Laune hatte sich auch während der Kommunion nicht gebessert, und so murmelte sie weiter in sich hinein, bis Resi schließlich der Kragen platzte: »Jetzt hör doch schon auf mit deiner schwarzen Sprach«, zischte sie, »was soll denn der Blödsinn?«
Hildgard blieb stehen, hob ihren Kopf und sagte leidenschaftslos: »Der neue Pfarrer ist ein Dämon!«
»Geh, du spinnst doch! Warum soll denn der Man…, der neue Herr Pfarrer ein Dämon sein? Du wirst ja auf deine alten Tage noch deppert.«
»Er ist der Leibhaftige!«, beharrte Hildgard eigensinnig. »Er führt uns alle ins Verderben. Das ist seine Bestimmung.«
Resi, der die Nacht mit Mano nicht aus dem Kopf gehen wollte, antwortete nicht ohne Schärfe und persönliche Betroffenheit: »Jetzt halt dein böses Maul, Hildgard! Was weißt denn du schon?«
Wenn sie an die Nacht mit Mano dachte, wusste sie nicht recht, ob es so etwas wie die heiligmachende Gnade gewesen war, die ihr durch Mano verliehen wurde, oder doch nur ein beseeltes Traumgesicht. Sie glaubte grundsätzlich aber fest an die Tatsächlichkeit, denn so sagte sie sich, verschämt, aber glücklich: »Das war sicher wirklich. Ich war dabei ja gar nicht recht bei Sinnen …«
»Und führe uns nicht in Versuchung«, seufzte Hildgard.
»Wenn du jetzt nicht deine Papp’n hältst, lass ich dich einfach stehen, du Beißzange.«
Hildgard wollte es nicht zum Äußersten kommen lassen und sagte zu Resi, während sie ein verschlossenes Kuvert aus ihrer Manteltasche nahm: »Bitte, geh mit mir zum Postkasten, ich muss diesen Brief einwerfen.«
»Wem schreibst denn du einen Brief?«
»Bitte, sei einfach so gut, Resi.«
Auf dem Weg ins Holzinger wurde laut über den von den meisten als angenehm kurz empfundenen Gottesdienst diskutiert.
Nur Elfriede Eibl, die sich unübersehbar zitternd am Arm ihres Mannes Richtung Wirtshaus führen ließ, beschwerte sich über den Gottesdienst. Ja, sie habe sich direkt darüber geärgert, dass kein einziges Mal gesungen wurde und die Predigt nicht nur viel zu kurz, sondern überhaupt gotteslästerlich gewesen war. Der neue Pfarrer mit dem grünen Dings am Handgelenk missfalle ihr insgesamt gewaltig.
»Also mir hat die Singerei nicht gefehlt«, sagte der Mesner. »Beim alten Absenger haben wir doch ständig sämtliche Strophen singen müssen.«
»Der Lüftl hat auf der Orgel nur dahingeklimpert – keine Spur von Feierlichkeit und Ehrfurcht. ›Lebt euer Leben, ihr habt nur das eine‹, hat der Pfarrer gesagt. Bei Hochwürden Absenger bin ich immer voll Hoffnung heimgegangen … Heute hab ich aber alles andere als Vertrauen in das ewige Leben im Angesicht Gottes gefasst.«
»Er hat ja eh gesagt, ›alles andere sind Gerüchte‹«, meinte Eibl boshaft.
Elfriede blieb jäh stehen und sah ihren Mann voll Missbilligung an. Als sie nach den ersten Schritten stark schwankte und fast hinzufallen drohte, meinte der Mesner nur: »Schau besser, wo du hintrittst, bevor du den neuen Herrn Pfarrer schlechtmachst. Denn genau das, meine Liebe, ist eine Sünde.«
Ein paar Reihen weiter gingen die Ursprunger Männer. Angeführt wurde der kleine Zug in Richtung Frühschoppen von Karl Paradeiser, dem Filialleiter der örtlichen Raiffeisenkasse, und Walter Horvath.
»Hast du auch den Eindruck gehabt, dass die Hostie grün war?«, fragte Karl.
»Ja, ich war kurz ganz perplex. Aber das war wohl vom einfallenden Licht durch die farbigen Kirchenfenster.«
»Es ist zwar ein recht trüber Tag … aber höchstwahrscheinlich«, sagte Paradeiser, dessen Frau Marianne wie eine Fremde neben ihm herging. »Auf jeden Fall war es insgesamt gnädig kurz. Wenn ich denk, dass wir beim alten Absenger nie vor eineinhalb Stunden aus dem Tempel draußen waren.«
»Was Besseres als der Mano hätte uns gar nicht passieren können«, murmelte Horvath, obwohl er das, seit Mano ihm Grüße an Ilse aufgetragen hatte, gar nicht so bedenkenlos unterschrieben hätte.
Seine Frau Klara tänzelte frivol und – zumindest für Ursprung – glamourös aufgemacht neben ihm her, so als hätte sie ein Glas Prosecco in der Hand und würde vom Blitzlichtgewitter verfolgt über den Red Carpet schweben. Sie blickte sich mit unsinnig weit geöffneten Augen um und zeigte ein entrücktes Lächeln, das sie sich von den Fotos glänzender Magazine abgeschaut hatte, in denen vorwiegend bundesdeutsche Promis und Damen aus dem europäischen Hochadel zu sehen waren, mit ihren sündteuren Kleidern, ihren Luxusproblemen und Bagatell-Schicksalen. Wenn sie sprach, bediente sie sich auch des diesen Zeitschriften ureigenen Dodelsprechs . Dann sang sie leise einen Schlager von Andrea Berg , der, wie man vernehmen konnte, offenbar den Titel Traumpiraten hatte.
»Hat er eigentlich ein Konto bei dir?«, fragte Horvath, der sich immer wieder wie von ungefähr nach der Frau des Bürgermeisters umdrehte.
»Der Mano? Nein« sagte Paradeiser. »Ich sollt mich drum kümmern.«
Als Walter Horvath Klara kennenlernte, war er gefangen von ihrer Prinzessinnenhaftigkeit. Prinzessinnen hatten Horvath bereits fasziniert, als er ein Knabe war. Wenn seine Eltern im Dreiwochenrhythmus zur Fußpflege gingen, bestand er darauf, sie zu begleiten, denn im Wartebereich lagen zahlreiche Illustrierte auf, die sich gegenseitig in ihrem opulenten Bildmaterial übertrafen, wenn eine junge Adelige heiratete. Die in weiße Brautkleidspitzen gehüllten jungen Frauen – für ihn waren sie alle Prinzessinnen – erregten ihn, schickten seine Fantasie auf Reisen, nicht nur gesellschaftlich, sondern mit der Zeit vermehrt auch erotisch. Die sauberen, reinen, stets bezaubernd lächelnden jungen Frauen mit ihren rot geschminkten Lippen, die – das gefiel ihm besonders – oft zu einem Kussmund gespitzt waren, konnte er gar nicht lange genug anschauen. Wenn einmal eine Prinzessin ein gewagteres Kleid mit hohem Schlitz oder tiefem Dekolleté trug, spürte er dieses Ziehen in den Lenden und wäre gerne ein Prinz.
Als er Ende zwanzig Klara kennenlernte, war es um ihn geschehen. Sie erinnerte ihn an die Prinzessinnenbilder und die diesbezüglichen Fantasien seiner Knabenjahre im Fußpflege-Wartezimmer, schien es ihm doch, als wäre Klara einer Illustrierten von damals entstiegen. Sie war nicht ganz so schön, wie er die Mädchen auf den Fotos in Erinnerung hatte, aber ausreichend puppenhaft in Aussehen und Verhalten, dass Walter sie vom ersten Moment an hinreißend fand. Es war keine Liebe auf den ersten Blick, weil es nicht Liebe war, was ihn zu ihr hinzog, sondern eine Art Verklärtheit. Die Traumbilder seiner frühen Jugend waren Fleisch geworden. Wenn er mit ihr schlief, verwechselte er ihr erotisches Posieren mit Hingabe und war glücklich, wenn vielleicht auch nicht seine , so doch eine Traumfrau für sich gefunden zu haben.
Erst viel später sickerte durch, dass es bei Klaras Geburt Komplikationen gegeben hatte. Ihr Gehirn hatte, wenn auch eine gerade noch tolerable Zeitspanne, zu wenig oder gar keinen Sauerstoff bekommen. Im Laufe der Jahre war es dann nicht mehr zu leugnen, dass sie ein wenig zurückgeblieben war, und ab der dritten Volksschulklasse musste sie schließlich in die Sonderschule wechseln. Sie befand sich mit vierzehn Jahren etwa auf dem Niveau einer Neunjährigen. Dabei war sie von erfreulichem Äußeren, und besprach man mit ihr keine anspruchsvolleren Themen, so bemerkte man nichts. Klara war, ganz ähnlich wie Walter als Bub, in der Welt der Illustrierten gefangen, ohne diese jedoch jemals verlassen zu haben. Von größtem Interesse war für sie: wo unsere Stars Urlaub machen oder für welche die Sonne scheint, für welche es Ärger gibt oder Claudia Schiffer, nackt hinter dem Vorhang.
Von alldem war Walter Horvath anfangs hingerissen und berauscht, bis er erkannte, dass Klaras Lebensäußerungen nichts als Kopien, ihre übertrieben leidenschaftlichen Posen beim Beischlaf so gut wie immer die gleichen, ja, dieselben waren, und ansonsten nichts von einer originären Klara überblieb – außer latentem Schwachsinn. Sie redete, wie die Bildlegenden unter den Fotos von Adeligen, Mannequins und anderen Promis formuliert waren, übte vielfach die gezierten Körperhaltungen der Models vor ihrem Spiegel.
Pfarrer Absenger hatte einmal zu ihr gesagt, dass der Teufel sich im Spiegel verstecke, und wenn sich junge Mädchen gar zu gut gefielen, käme er hervor, zeige sich und hole sie.
Als sie Mano einmal vor dem BILLA begegnet war und knicksend sein sittsames Kompliment über ihren Look , ihren Style und ihre Beauty entgegengenommen hatte, erzählte sie dem neuen Pfarrer mit geschürzten Lippen von Absengers Spiegelgeschichte.
»Da hat mein Vorgänger zweifellos recht«, antwortete er. »In den Spiegeln wohnt der Teufel. Oder hast du jemals in einer Kirche einen Spiegel gesehen?«
Er gab Klara die Hand, und für einen Augenblick war alles Gekünstelte aus ihrem Gesicht verschwunden, um im nächsten Moment, begleitet von einem rolligen Seufzer, in vollem Glanze zu erstrahlen.
Im Gasthaus Holzinger lag der Geruch von gebackenen Schweinsschnitzeln und großzügig geknofeltem Schweinsbraten in der Luft, der von dem Qualm der gerauchten Zigaretten und Stumpen nur wenig überdeckt wurde.
Mano stand mit einem kleinen Bier an der Budel und rauchte. Gerade als Mirli ihn mit unverhohlener Weiblichkeit in der Stimme um Feuer für ihre Zigarette der Marke Kim bat, trat Resi Haslinger, die Pfarrersköchin, durch die Tür und schritt auf ihn zu. Es wäre an der Zeit, den Menüplan für die Woche zu besprechen, meinte sie. Sie wisse ja noch gar nicht, was er gerne esse, was seine Leibspeisen seien und was er denn so gar nicht möge.
»Liebe Resi«, sagt Mano, »ich esse alles gerne, wenn es gut zubereitet ist.« Und fügte sarkastisch hinzu: »Was ich allerdings gar nicht brauche, sind Bischofsbrot und Kardinalschnitten. Sehr gerne esse ich übrigens einen steirischen Heidensterz oder Teufelsroller.«
»Na, du bist ja ein braver Esser«, sagte Resi. Sie zögerte, sagte aber doch, wenn auch etwas leiser: »Wann schaust du denn wieder einmal bei mir vorbei … in der Nacht?«
Mano sah sie verblüfft an: »Wie meinst du das, Resi?«
Resi riss die ohnehin durch ihre Brillengläser vergrößerten Augen auf und meinte fast ein wenig entrüstet: »Das kannst du doch nicht vergessen haben … unsere gemeinsame Nacht …« Dann aber begriff sie. Der Mano war ja ein Geistlicher, ein Hochwürden, der durfte das ja gar nicht, der musste es ja abstreiten, auf Teufel komm raus! Und wenn es doch ein Traum gewesen sein sollte, so durfte sie wiederum gar nicht an diesen denken. Sie schlug sich selbst mit der Hand auf den Mund und nickte verschwörerisch.
Mano sagte noch zu Resi geneigt, mit garstiger Kälte: »War ich ein mal bei dir, bleibe ich dir bis zu deiner letzten Stunde.«
»Nur der guten Ordnung halber, Mano«, jemand tippte Mano schüchtern auf die Schulter, »brauchst du nicht ein Konto, auf das dein … ähh … Salär überwiesen wird? Ich könnte dir auch ein gutes Angebot machen, wenn zum Beispiel Arbeiten an oder in der Kirche notwendig werden.«
Adalbert Eibl, der Mesner, der gerade an die Bar getreten war, kommentierte Paradeisers Angebot, ohne Mirli aus den Augen zu lassen – es kam ihr sogar vor, als zwinkerte er: »Gib ihm gleich einen Kredit, damit wir uns einen ordentlichen Gekreuzigten für die Kirche leisten können, der jetzige ist ja eine Schande für die Christenheit!«
»Du sollst dir kein Bildnis machen!«, mahnte Mano in Richtung Eibl, und zum Raiffeisenchef gewandt sagte er: »Kommt Zeit, kommt Rat, lieber Karl.«
»Ich stehe dir zu jeder Zeit zur Verfügung«, sagte Paradeiser, als spräche er einen Eid.
»Die Zeit fängt uns zuerst ein und verschlingt uns dann allmählich«, antwortete Mano.
Paradeiser sah ihn direkt an und meinte, als Manos Blick in den seinen tauchte, er blicke in ein offenes Grab, gerade so, wie er es oft in schweißnassen Träumen tat.
»Ja, natürlich …«, stammelte er. Und nach einer Pause fügte er in konstruierter Gemütlichkeit hinzu: »Auf mich und auf die Raiffeisenkasse kannst du immer zählen, Mano. Sämtlicher Geldverkehr der Pfarre wurde schon immer über meine Filiale abgewickelt. Das hat vor ein paar Jahren die Diözese St. Pölten, namentlich seine Exzellenz Bischof Pfundtner, erneut unterschrieben.« Er bedeutete Mirli, dass sie dem neuen Pfarrer noch ein Seidel zapfen sollte: »Auf Kosten der Raiffeisenkasse, gewissermaßen!«
»Bei dem musst du aufpassen, Mano«, flüsterte Eibl, »höllisch aufpassen!«
»In der Hölle kenne ich mich aus«, schmunzelte Mano und blickte Eibl mit seinen sprechenden Augen an.
»Wie?«, fragte Eibl zuerst verwundert. Dann aber, mit einem weiteren unverschämten Blick auf Mirli, schmunzelte auch er.
Adalbert Eibl machte sich auf den Nachhauseweg in das kleine Mesnerhaus mit der verwitterten Eternitfassade und dem handtuchgroßen Garten zwischen Kirche und Friedhof. Elfriede erwartete ihn bereits in ihrem abgewetzten Ohrensessel und zitterte stärker als je zuvor.
»Du bist Mesner, Bertl, dein Wort hat Gewicht. Du musst dich höheren Orts beschweren über diesen Pfarrer Urian. Das ist ja fast schon Blasphemie, wie der die Sonntagsmesse runterratscht! Und ist dir aufgefallen, was er für ein komisches Kreuz schlägt? Ich hab gehört, was die Hildgard gesagt hat: Teufelskreuz, hat sie es genannt!«
»Elfi, ich bitte dich«, sagt Eibl. »Wo sollte ich mich denn beschweren: Beim Papst vielleicht oder beim heiligen Bimbam? Und worüber? Dass meine Frau sagt, der neue Pfarrer schlage ein merkwürdiges Kreuz, und eine alte Schachtel, die nicht mehr ganz richtig im Kopf ist, meint, es wär das Teufelskreuz? Ich bin jetzt seit 29 Jahren Mesner und ich habe diesen Ausdruck noch nie gehört. Die lassen mich doch einliefern, Elfi. Nimm lieber deine Tabletten und kümmere dich nicht um den Ma…, den neuen Herrn Pfarrer.«
»Überhaupt, dass sich der Mano nennen lässt … Das hätte der alte Absenger nie gemacht.«
Eibl grinste: »Hättest du zum Absenger vielleicht gar Borromäus sagen wollen? Das ist doch kein Name, das ist doch ein Witz!«
»Ja, du«, sagte Elfriede, und ein Zittern überkam sie, »du hast doch nur dieses sündhafte Weib, diese Mirli, im Kopf. Das ganze Dorf redet schon darüber, dass du sie im Wirtshaus mit den Augen auffrisst. Glaubst du, ich merk das nicht, wenn du an dir herumspielst, fast jede Nacht? Das ganze Bett zittert!«
Der Mesner schwieg einen Augenblick peinlich berührt, dann aber sagte er schroff und eine Spur zu laut: »Das Einzige, was in diesem Bett zittert, bist du, Elfriede. Weil du krank bist – und deine Krankheit scheint sich jetzt auch auf dein Hirn auszuweiten.«
Elfriede schluchzte auf: »Seit dieser Satan bei uns Pfarrer ist, bist du wie ausgewechselt, Bertl. Ich spüre doch, dass du mich nicht mehr liebst und mir den Tod wünschst, damit du dich mit dieser Hur abgeben kannst.«
»Blödsinn. Natürlich liebe ich dich«, log Eibl. Als er fortfuhr: »Ich will gar nichts von der Mirli, hörst du?«, log er noch einmal. Und als er sagte: »Ich wünsch dir doch nicht den Tod. Um Gottes willen, Elfriede!«, log er ein drittes Mal.
Und kein Hahn krähte.
Unter einer fahlen Sonne vergingen die Tage in Ursprung beklemmend schleichend. Die Wiederkehr des ewig Gleichen war hier beinahe zu greifen. Das Neue, das Unbekannte war ihnen so fremd, dass sie es vermutlich gar nicht bemerkten, selbst wenn es wie ein Monolith vor ihnen stünde. Sie spürten es erst, wenn das Ungewohnte, das Neue zum Gewohnten, zum Alten geworden war.
Josef Lüftl parkte seinen schmucklosen Mittelklassewagen nahe dem bischöflichen Palais am Domplatz in St. Pölten und ging mit hüpfendem Gang, wobei er bei jedem Schritt seine Ferse ungewöhnlich anhob, am prächtigen Hauptportal vorbei zum Hintereingang. Erst nachdem er mehrmals die auf den ersten Blick kaum sichtbare Klingel in bestimmtem Rhythmus gedrückt hatte, ertönte ein Summen. Lüftl zog die Tür auf und verschwand im Inneren des Gebäudes. Er ging einen Bogengang entlang, der von teilweise devastierten mannshohen Steinfiguren gesäumt war, und stieg eine Seitentreppe hinauf. In einem mit katholischem Mobiliar ausgestatteten Flur hielt der Schulleiter kurz an, um sich umzublicken, und ging dann geradewegs auf eine Holztür zu, die in die Wohn- und Amtsräume von Bischof Herbert Pfundtner führte. Mit raschen Schritten durchquerte er ein Kabinett, das als kleine Privatbibliothek diente, und betrat einen großzügigen Raum, das Wohnzimmer eines kirchlichen Würdenträgers. Seine Exzellenz Bischof Pfundtner wandte sich ihm jäh zu. Passend zur leichten, grauen Hose und ärmellosen Weste trug der zur Korpulenz neigende Mann ein hellgraues Hemd mit integriertem Kollar – das einzige Merkmal, das ihn als Geistlichen auswies. Rasch trat er auf Lüftl zu. Er umarmte den deutlich kleineren, schmächtigen Mann, der sich – so hätte man meinen können – in diese Umarmung hineinschmiegte. Dann hob er seinen Kopf, blickte dem Bischof in die Augen, und als dieser ihn überraschend leidenschaftlich küsste, schloss er sie.
»Wie geht es dir, Josef?«, fragte der Bischof. »Wir haben uns ja eine ganze Weile nicht gesehen.«
»Danke, gut«, antwortete Lüftl, er zögerte, bevor er fortfuhr. »Du solltest in nächster Zeit einmal nach Ursprung kommen … wir haben da einen neuen Pfarrer. Er hat so gar nichts … Priesterliches.«
Pfundtner nahm Lüftl abermals in die Arme: »Bleibst du heute über Nacht?«
»Ja, Herbert«, hauchte Lüftl.
»Hast du Sehnsucht nach mir gehabt, Herbert?«, fragte Lüftl verspielt, als er wenig später nackt neben dem Bischof im Bett saß. Voll Zartheit und Respekt sah er ihn an.
»Das auch, mein lieber Josef, aber es gibt ein veritables Problem«, fast väterlich strich Pfundtner dem Dorflehrer über den Kopf und griff nach einem Buch, das auf seinem barocken Nachttisch lag. Er zog einige Schwarz-Weiß-Fotos heraus, atmete laut aus und legte sie vor Lüftl auf die Bettdecke. Dieser nahm sie, schaute sie kurz durch, erstarrte und warf sie angewidert, als hätte er Fäkalien berührt, von sich.
»Wer … wer hat die gemacht?«, fragte er mit brüchiger Stimme.
»Ich weiß es nicht. Gestern lag ein Kuvert auf meinem Schreibtisch«, antwortete Pfundtner und deutete in Richtung der anschließenden Räume. »Mir war, als griffe Gottes Hand an mein Herz, als ich sie angesehen habe.«
»Das war nicht Gottes Hand«, beeilte sich Lüftl zu widersprechen, »Gott kann nichts Verwerfliches an unserer Liebe finden. Das ist die Klaue Satans.«
»Wie auch immer, Josef«, beschwichtigte der Bischof, »wie sollen wir uns verhalten?«
»Jemand will uns erpressen, Herbert. Wer könnte das sein? Wir müssen die Polizei einschalten.«
»Bist du verrückt?«, stieß Pfundtner hervor, stand auf und ging, die Hände auf seinem Rücken, oberhalb seines umfangreichen, weißen Gesäßes verschränkend, im Schlafzimmer auf und ab, bevor er am Bettrand Platz nahm und Lüftl, wenn auch ein wenig verkrampft, wieder übers Haar strich. »Niemand darf diese Bilder je sehen! Ich stehe vor der Ernennung zum Erzbischof, der Kardinal hat, beiläufig zwar, etwas von Rom erwähnt, vom Vatikan … nein, wir brauchen eine Lösung, Josef. Wir brauchen einen Plan!«
»Was für einen Plan denn? Um Gottes willen, Herbert.«
»Hör zu«, Pfundtner senkte die Stimme, stand wieder auf und zog sich seine großflächige Unterhose an. »Wer diese Bilder gemacht hat, der will Geld erpressen, dazu muss er sich bei mir melden, verstehst du?«
»Nicht ganz.«
»So begreif doch: Wenn wir wissen, wer es ist, dann geben wir ihm Geld, und er muss die Negative hergeben …«
»Herbert, heutzutage werden die Fotos anders gemacht. Alles digital. Wenn wir ihm Geld geben, kann er uns nur schwören, dass er alles … ähh … alle betreffenden Daten löscht. Aber ein Erpresser hält sich gewiss nicht an die Heiligkeit des Eides.«
Pfundtner fuhr mit einer Hand unter die Bettdecke und berührte Lüftl sanft: »Josef«, sagte er und blickte ihm sekundenlang in die Augen, »Josef, wie sehr liebst du mich?«
Lüftl richtete sich auf und warf sich dem Bischof fast schluchzend an den Hals: »Bis in die Ewigkeit und zurück.«
»Josef«, sagte Pfundtner, »sag jetzt nichts. Hör mir nur zu.«
Der Bischof breitete vor Lüftl einen Plan aus, der ihn entsetzte, und er schrieb die Gedanken des Bischofs seiner nur allzu verständlichen Panik zu.
»Herbert«, sagte er, »ich glaube, ich habe eine bessere Idee.«
Pfundtner sah ihn erstaunt, aber in erster Linie hoffnungsvoll an.
»Lass mich machen, Herbert. Die Hoffnung stirbt zuletzt«, sagte Lüftl.
»Aber tot ist sie dann auch«, entgegnete der Bischof verzagt.
An einem trüben Nachmittag in der Mitte der folgenden Woche schlich der Ursprunger Bürgermeister Gewerke Manfred Schwenk schon eine ganze Weile nervös um die Kirche herum. Er hatte zuerst das Grab seiner Familie besucht, goss das Gras, stellte ein paar Blumen in die grün patinierte Kupfervase und tat so, als würde er ein Gebet sprechen, während er immer wieder den Blick über die Schulter in Richtung Sakristei gleiten ließ. Als Mano Urian aus der Kirche trat, erhob er sich sofort und eilte zu ihm.
»Du hast auf mich gewartet, Manfred«, sagte Mano, ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Schwenk zögerte kurz, bevor er sie nahm, denn er erinnerte sich an den heftigen Schmerz, aber auch an das wunderbare Gefühl, das ihn durchschauert hatte, als er Mano das letzte Mal die Hand gegeben hatte.
»Nein«, antwortete Schwenk, ungeschickt sein überbordendes Glücksempfinden verschleiernd. »Oder eigentlich ja, ich möchte gerne dein Angebot annehmen … ähh … die ausführliche Seelsorge in der Sakristei.«
»Gerne, Manfred«, sagte Mano.
In der Sakristei wies er Schwenk an, auf einem der abgewetzten Sessel, die rund um den Tisch an der feuchten Wand standen, Platz zu nehmen. Die Umrisse des Deckchens, auf dem unlängst noch das Kruzifix gestanden hatte, waren noch zu sehen. Offenbar hatte es erst unlängst jemand entfernt. Er selbst setzte sich ihm gegenüber, zündete sich eine Zigarette an und fragte in den ihn umwehenden Rauch hinein: »Möchtest du einen Schnaps, Manfred? «
Mano nahm zwei Gläser und füllte sie, ohne seine Antwort abzuwarten.
»Prosit omnes«, sagte er an Schwenk gewandt und nahm einen großen Schluck.
»Prost … und so«, antwortete dieser verwirrt und leerte das Glas.
»Nun«, sagte Mano, »sprich zu mir, sag mir alles.«
»Ja, es ist so …«, begann Schwenk. »Meine Seele … also ich … ich bin voll von Zorn, Hass und dem Gefühl der Demütigung.«
»Demut ist Christenpflicht«, sagte Mano. »Und wie kommt das?«
»Also, ich sage es rundheraus: Meine Frau Ilse, ich glaube, du weißt, dass sie etwas jünger ist als ich …«, er stellte Mano sein Glas hin, » … meine Frau betrügt mich.«
Als Mano nichts sagte, sondern ihn nur mit seinen sprechenden Augen ansah und beiden neuerlich Schnaps eingoss, fuhr Schwenk fort: »Sie betrügt mich mit dem Walter … dem Horvath, vom BILLA.«
»Und woher weißt du das, Manfred?«
»Ich bin nicht blind, Mano. Ich merke doch, wenn meine Frau mit einem anderen fi…«
»Manfred, wir sind in der Sakristei einer Kirche«, unterbrach ihn Mano bestimmt.
»Ich bin nicht blind, Herr Pfarrer. Ich schau schon lange zu, wie sie sich Blicke zuwerfen, miteinander flüstern, sich berühren und sich wie zufällig aneinander reiben, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Jetzt habe ich sie gewissermaßen ertappt und eine Weile zugesehen, wie sie in dem alten Heuhäusl gleich am Beginn des Weges auf den Dunkelstein ⸸ zugange waren.«
»Du hast zugesehen?«, fragte Mano, und es klang amüsiert.
»Ja, aber nur kurz. Um ganz sicher sein zu können.«
»Und gegen wen richten sich dein Zorn und dein Hass?«
Schwenk meinte etwas Lauerndes in der Stimme Manos zu vernehmen.
»Gegen beide. Immer wieder stelle ich mir vor, dass ich die beiden erschlage oder auf andere Weise töte.«
»Du sollst nicht töten«, sagte Mano leichthin und drohte scherzhaft mit dem Finger.
»Das ist mir ja bewusst, aber ich bin machtlos gegen diese Gedanken, und der Drang wird immer stärker. Schon seit Monaten. Immer wieder finde ich Spuren, Heu in ihrem Haar, an den Kleidern oder Röcken, und sie tut so, als bedeute es gar nichts. Ich habe sie schon mehrmals zur Rede gestellt und ihr auf den Kopf zugesagt, dass sie eine Affäre mit dem Walter hat. Sie lacht immer nur … auf eine so hinterfotzige Art, dass ich sie … Was soll ich nur tun, Hochwürden?«
Schwenk hatte die Stimme erhoben und seine Fäuste geballt. Ungesunde Röte war ihm ins Gesicht gestiegen: Ja, er fühlte sich gedemütigt. Christenpflicht hin oder her. Er sah, wie ihn die Männer und Frauen beim Holzinger spöttisch ansahen: Da sitzt er, der alte Hahnrei. Wir haben doch immer gesagt, das mit seiner erheblich jüngeren Frau, das wird nicht halten. Die wird außer Haus gehen, und bitte – jetzt hat er es. Das ganze Dorf weiß Bescheid, nur er nicht. Sollen wir so einen alten Sack noch einmal zum Bürgermeister wählen? Alle Flächen, die wir gebraucht haben, um unsere Häuser zu bauen, sind bereits vor Jahren umgewidmet worden, und es geht nichts weiter in Ursprung. Wir versumpern hier, während die halbe Welt sich neu erfindet. Er schämte sich und fühlte sich wertlos. Das taubenhalsgraue Gefühl des Lebensekels regte sich immer stärker in ihm.
»Sei dir bewusst«, sagte Mano und umfasste mit beiden Händen sein rechtes Knie, »dass sie brennen werden im Feuer der Vergeltung, und dieses Feuer wird auch deinen Hass und deinen Zorn versengen.«
»Ich weiß ja, dass sie für diesen schamlosen Ehebruch in die Hölle kommen, irgendwann. Aber meine Gefühle sind gegenwärtig, verstehst du? Sie quälen mich, sie machen mich zum Sünder.«
»Manfred«, sagte Mano mit ernster Stimme, »du sollst nicht lügen. Du warst ein Leben lang Sünder, und es hat dich noch nie gestört oder gar aus der Bahn geworfen. Erzähle mir also nicht, dass du deinen Hass und deinen Wunsch zu töten auf einmal als Sünde empfindest. Umso mehr, als wir beide wissen, dass du auch in Zukunft sündigen wirst!«
Schwenk verschlug es in der Sekunde die Sprache. Woher wusste dieser vertrauenserweckende und dennoch so unnahbare Pfarrer, dass er gesündigt hatte und weiterhin sündigen würde? Schwenk hatte den Eindruck, dass Mano Urian bereits alles wusste, bevor er es überhaupt ausgesprochen hatte.
»Nun«, sagte Mano, »sprich zu mir, sag mir alles.«
»Was soll ich tun, wie kann ich jemals wieder … glücklich werden, Herr Pfarrer?« Etwas Abgründiges lag in seiner Stimme.
»Sie werden brennen«, sagte Mano in jenem Tone, den er am Sonntag auch in diesen einen Satz gelegt hatte: Lebt euer Leben! »Sie werden brennen.«
Er stand auf und reichte Schwenk die Hand. Mit Genugtuung nahm dieser Schmerz und Erlösung entgegen. Als er die Sakristei verlassen hatte und sich, ohne genau zu wissen, warum, beinahe erleichtert auf den Weg ins Gemeindeamt machte, sprach er halblaut bekräftigend zu sich selbst: »Sie werden brennen!«
In seinem Innersten sagte etwas: »Amen.«
»Bis neulich!« Nachdem ihr Mann wie jeden Morgen mit diesen Worten in seine Raiffeisen-Filiale aufgebrochen war, griff Marianne Paradeiser zu ihren Pillen. Zunächst die forte-Version eines Antidepressivums, das bei ihr immer wieder zu starkem Juckreiz in der Unterbauchregion und im Genitalbereich führte. Der Kreisarzt Doktor Matthias Allinger wollte sie aber nicht absetzen, weil sie – wie er sagte – Mariannes zentnerschwere Trübsal dadurch halbwegs im Griff hatten. Die Nebenwirkungen wären im Gegenzug vernachlässigbar. Gegen die blutig gekratzten Hautpartien hatte er eine Kortisonsalbe verschrieben, und so schleppte sich Marianne im seelischen Halbdunkel mit düsteren Gedanken und fixen Ideen durch die Tage. Ihr Zustand verschlimmerte sich nur bei Sonnenschein oder wenn sie – was sie zwar tunlichst vermied – unversehens in Gesellschaft ausgelassener, lebensfroher oder gar lustiger Menschen kam. Da konnte es geschehen, dass sie ohne jede Vorwarnung von einer derartigen Wut befallen wurde, dass sie Menschen aufs Unflätigste beschimpfte. Doktor Allinger vermutete ein fortschreitendes Tourettesyndrom, behielt die vorläufige Diagnose aber vorerst für sich und versuchte, die Symptome mit einem zusätzlichen Sedativum niederzudrücken. Eine Ahnung blassen Frohsinns überkam Marianne nur, wenn sie, über den Tag verteilt, immer wieder einen Schluck Scharlachberg-Weinbrand zu sich nahm, was die Wirkung des Antidepressivums segensreich verstärkte. Am Abend war sie dann sogar in der Lage, eine schrille Fröhlichkeit vorzutäuschen, wenn ihr Bankdirektor , wie sie ihn nannte, nach Hause kam.
Eine ihrer fixen Ideen hatte sich über die Jahre gehalten und geisterte ihr in Form abstruser Gedanken mehr oder weniger stetig durch den Kopf: Klara Horvath, die mittlerweile leicht angejahrte, aber stets glamourös aufgemachte und frivol kichernde Frau des BILLA-Filialleiters, machte ihrem Karl schöne Augen! Niemand bemerkte etwas von dem, was sich in Marianne aufbäumte. Sie verließ das Haus kaum, und die Medikamente taten das Ihre, um jeden Ausdruck aus ihrem Gesicht zu wischen. Ihr Mann, war sie überzeugt, war dieser Metze wehrlos ausgeliefert. Und so saß sie tagsüber, gepeinigt von ihren Gedanken, auf der Eckbank in der Küche und starrte durchs Fenster auf den Dunkelsteinerwald. Erst nach etlichen Scharlachbergs war sie in der Lage, ihren Mann vor den lästerlichen Absichten Klara Horvaths nicht zu warnen.
Dabei wäre es Klara niemals eingefallen, Paradeiser zu umgarnen, denn der war zwar von hohem Wuchs, dabei aber schwammig, weichfleischig und gewissermaßen auf ekelhafte Art unmuskulös. Da war ihr Mann Walter ganz anders. Zwar nicht größer als einen Meter sechsundsiebzig, aber elastisch, und durch mehr oder minder regelmäßiges Hanteltraining und immer wieder eine Stunde Dauerlauf durch den Dunkelsteinerwald war Walter das, was landläufig fit genannt wurde. »Kein Wunder«, dachte sie, »dass die Frau Bürgermeister, obwohl in keinster Weise eine Prinzessin wie ich, sich meinem Walter mit freudiger Begeisterung hingibt.«
Karl Paradeiser nahm seine Frau seit Jahren nur noch als Ding wahr. Verliebt war er in sie nie gewesen, selbst die anfängliche Leidenschaft für Marianne verkam im Laufe der Zeit. Und das nicht einseitig.
Als Paradeiser damals die Leitung der Ursprunger RAIKA-Filiale übernahm, war Marianne bereits dort angestellt. Eine Mitarbeiterin mit null Ambitionen und keinerlei Kompetenz. Sie war ihm aufgefallen, weil sie mit waidwundem Blick ihre anspruchslose Arbeit machte und zwischendurch – verstörend lange, in scheinbar mentaler Abwesenheit – unbewegt Paradeiser anstarrte. Nach anfänglicher Irritation fasste er das als Bewunderung, vielleicht sogar Begehren auf und lud sie auf weitgehend sprachlose Rendezvous ein. Nach einigen Treffen ließ sich Marianne widerstandslos und unaufgeregt begatten.
Der Versuch des Pfarrers Absenger, der die kirchliche Hochzeit rituell anleitete, seine Predigt etwas aufzulockern, scheiterte naturgemäß am katholischen Humor, der streng pointenlos stets ins Salbungsvolle verkam. Während Absengers Worten knieten die Eheleute Paradeiser auf der für diesen Zweck vorgesehenen Bank vor dem Altar, und Marianne hielt während der ganzen Zeit Karls Hand mit einer Kraft, als würde sie in einen Abgrund stürzen, ließe sie sie los.
Die Ehe war von Beginn an von einer veritablen Düsternis überschattet. Nicht nur weil Karl Paradeiser keineswegs mit überbordender Eloquenz gesegnet war, sondern vor allem, weil Marianne dermaßen introvertiert war, dass ihre Tage in fast bedrohlicher Schweigsamkeit vorübergingen. In der Bank lief es – von Paradeiser präzise organisiert – grundsätzlich reibungslos. Außer, dass Marianne Karl nicht mehr so häufig und so durchdringend ansah wie vor der Eheschließung. Als von der Raiffeisen-Zentrale immer mehr eingefordert wurde, dass die Mitarbeiter an Schulungen und Seminaren teilnahmen, entschied Karl, dass Marianne sich dem Überprüfungsprozedere besser nicht stellen sollte – vor allem um das Gerede in der Bank zu unterbinden. Ein freudloses Hausfrauenleben folgte auf das freudlose Angestelltenleben.
Nach außen hin trug Paradeiser eine Weltläufigkeit zur Schau, die er sich angewöhnt hatte, seit Marianne ihn mein Bankdirektor nannte. Er ging Fragen nach seiner Frau und seiner Ehe aus dem Weg, was ein Leichtes war, da ihn kaum jemand nach Marianne fragte. Wenn sie doch einmal schweigsam und verschlossen im Holzinger saß, gelang es ihm, durch eine gewisse Großspurigkeit von ihr abzulenken, ja, sie unsichtbar zu machen. Mit ihr direkt zu sprechen vermieden die Ursprunger geflissentlich, da sie mit den Symptomen des beginnenden und zügig fortschreitenden Tourettesyndroms nichts anzufangen wussten. Obwohl Doktor Allinger einmal zu später Stunde einem kleinen und alkoholisierten Publikum bei einem Vogelbeer das zu erklären suchte. Als er damals nur stürmische Heiterkeit erntete, ließ er es bleiben, Mariannes Anamnese zu erörtern.
»Heute hat der Holzinger Ruhetag«, dachte Adalbert Eibl, »heute gehe ich am Abend zur Mirli, heute mache ich es!«
Diese Gedanken ließen den Mesner beschwingt seine rücksichtslos zitternde Frau auf den Abort begleiten. Gerade hatte er Doktor Allinger verabschiedet, der Elfriedes Medikamente neu dosiert und tröstend zu ihr gesprochen hatte. Es ginge ihr den Umständen entsprechend ganz gut, meinte er. Eibl wusste Worthülsen wie den Umständen entsprechend mittlerweile korrekt zu deuten. Der Kreisarzt hatte vor der Haustür die Hand auf Eibls Schulter gelegt und eindringlich geraten, Elfriede nach diesem neuerlichen Krankheitsschub besondere Zuwendung und liebevolle Pflege angedeihen zu lassen.
»Ich tue ja, was ich kann«, beteuerte Eibl unkonzentriert.
»Bertl!«, rief seine Frau von drinnen, »Bertl, so komm doch! Lass mich nicht hier verrecken wie einen Hund!«
Allinger verabschiedete sich eilig, und als Eibl ins Zimmer trat, roch es säuerlich nach Erbrochenem.
»Putz mich ab, Bertl«, zeterte Elfriede immer noch würgend. »Was hast du mit dem Allinger vor der Tür zu flüstern?«
»Du könntest dich wenigstens entschuldigen und vor allem bitte sagen, wenn ich schon deinen Dreck wegmachen muss«, sagte er scharf und wischte das Erbrochene von Elfriedes Kleiderschürze.
»Heute Abend«, dachte er sogar jetzt und blickte sie angeekelt an.
Als seine Frau endlich eingeschlafen war, stahl sich Eibl aus dem Bett, zog sich ein vorbereitetes, seiner Meinung nach jugendlich wirkendes, Hemd an, wuchtete sich in seine Jean, zwang seine stets etwas geschwollenen Füße in die alten Cowboystiefel und schlich aus dem Haus. Als er die Tür ins Schloss fallen ließ, glaubte er, die widerwärtig hohe Stimme seiner Frau zu hören, die verschlafen »Bertl, was machst du?« rief. Er schrieb es aber seiner Erregung und seinem schlechten Gewissen zu.
Mirli hatte sich gerade ausgezogen, stand nackt vor dem Spiegel, betrachtete sich, und was sie sah, gefiel ihr. Sie drehte sich hin und her und freute sich, dass ihre handlichen Brüste weder schaukelten noch hingen.
»Eigentlich bin ich viel zu cool, als dass ich in diesem düsteren Kaff hier verkomme«, dachte sie bei sich. Mirli Egger war die einzige Tochter der gleichnamigen Wirtsleute, die in Scheibbs das Gasthaus »Zu den zwei Linden« führten, wo sie nach ihrem Hauptschulabschluss eine Kellnerinnen-Lehre begann, die ihr – wie man im elterlichen Betrieb vielleicht hätte meinen können – in keiner Weise Privilegien einbrachte. Besonders der Vater war streng, weil er nicht wollte, dass Mirli wie eine Königstochter aufwuchs, sondern alles von der Pike auf lernte, ja, verinnerlichte, denn wenn wir einmal nimmermehr sind , müsse sie den Betrieb übernehmen. Die Idee war, dass die Tochter den um drei Jahre älteren Sohn des Safferwirtes heiratete, der dann die beiden Betriebe zusammenlegen und gewissermaßen den Grundstein für eine Wirtshausdynastie in Scheibbs legen würde. Mirli, damals knapp siebzehn, fühlte sich von dem männlichen Nachkommen des Safferwirtes aber von Anfang an abgestoßen, und so schien die beabsichtigte Grundsteinlegung in weite Ferne zu rücken. Vor allem, da sich Mirli dann in einen geschmeidigen zuag’rastn Italiener verliebte, der sich Vittorio nannte und in Scheibbs eine Pizzeria aufmachte. Die Scheibbser beäugten diese Liaison mit Misstrauen und ergötzten sich in satter Zufriedenheit über prognostizierte und tatsächlich eingetretene Katastrophen, als Vittorio, der schneidige Pizzabäcker, wegen Suchtgiftmissbrauchs und geschäftsmäßiger Weitergabe von Marihuana verhaftet wurde. Wir haben es immer schon gesagt . Vittorio hatte nämlich eine Geschäftsidee, die (nicht nur) von der Scheibbser Jugend begeistert aufgegriffen wurde. Für Eingeweihte gab es auf der Speisekarte eine Pizza Müdl genannte Kreation, die anstelle von Rucola, Oregano oder Ähnlichem mit Marihuana bestreut wurde. Vittorio verkaufte diese Spezialanfertigung nur an veri amici , und den Stoff selbst – in kleinen Gebinden – per consumare a casa .
Über ein Jahr lang verdienten Vittorio und Mirli gutes Geld, bis Roland Göttl, ein eifriger Gendarm der Scheibbser Dienststelle, als amici getarnt, alles auffliegen ließ. Auch Mirli Egger wurde als Mitwisserin oder gar Mittäterin mehrmals verhört, aber dann in Ruhe gelassen, während Vittorio in den Mühlen der Justiz verschwand.
Mirli lief dann mehr oder weniger bei Nacht und Nebel davon und landete im Holzinger in Ursprung, wo sie nicht als Lehrmädel, sondern von Anfang an als vollwertige Servierkraft eingestellt wurde. Fritz Holzinger sah sofort, dass ihre Anmut und ihre offene Art umsatzfördernd wirkten. Auf ihr Salär sollte sich das zunächst allerdings nicht auswirken.
Mirli wandte den Blick von ihrem Spiegelbild ab, zündete sich eine Zigarette an und schenkte sich ein Gläschen Vogelbeer ein – die Flasche war fast leer, also würde sie bald eine neue aus dem Holzinger schmuggeln müssen. Nach dem Betthupferl ging sie daran, sich die Zähne zu putzen, und spülte den Mund mit einem überaus scharfen Mouthwash , als es verschwörerisch in einem ungewohnten Rhythmus an ihre Tür klopfte.
»Mirli, mach auf, ich bin es, der Bertl!«
»Herr Eibl? Was wollen Sie denn da? Um diese Zeit?«, fragte sie ungläubig. Sie warf sich ihren Bademantel über, öffnete die Tür einen Spaltbreit und lugte vorsichtig ins Freie.
»Mano?«, lachte sie, ihre Freude kaum verbergend.
Sie öffnete Mano die Tür. Er nahm sie wortlos in seine Arme, trug sie zu ihrem Bett, schälte sie aus ihrem Bademantel und warf sie nackt, wie sie war, hin, knöpfte seine Hose auf und nahm sie wortlos . So wie sie es schon oft gelesen, im Fernsehen oder Kino gesehen und sich insgeheim immer schon gewünscht hatte.
Sie sank in ein Paradies der Lust und spürte, als Mano sie spaltete, eine knappe Sekunde lang einen grauenhaften Schmerz zwischen den Beinen. Eng verschlungen, wie sich paarende Vipern, liebten sie sich, und gleich darauf entfuhr ihr schrill, kehlig und zugleich orgiastisch »Oh, mein Gott!« und konnte deshalb Manos Worte, die er ihr ins Ohr wisperte, nicht verstehen.
Danach, Mano lag neben ihr und sah sie – sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren – höhnisch an, legte sie ihren Kopf mit dem kurzen, gelockten Haar auf seine Brust, nahm sein Glied zärtlich in eine Hand und flüsterte zutiefst befriedigt und liebevoll erstaunt: »Oh … Mano … du Hochwürden du, du bist ja noch immer ganz hart!«
»Kein Schwanz ist so hart wie das Leben«, sagte Mano Urian.
Es dämmerte bereits ein wenig, als sich Mirli, nachdem sie frierend von der Toilette zurück ins Bett zu Mano schlüpfte, an ihn schmiegen wollte. »Oh, mein Gott«, entfuhr es ihr panisch. Aber dieses Mal aus einem ganz anderen Grund. Neben ihr lag leise schnarchend Adalbert Eibl, der Mesner.
Sie hüllte sich in ihren Bademantel und schrie in einer Frequenz, die für das menschliche Ohr kaum mehr zu hören war. Erschrocken richtete sich Eibl auf, ein Beben durchlief seinen massigen Körper, als jemand gegen Mirlis Wohnungstür hämmerte. Eine hysterische Frauenstimme erklang von draußen: »Du Hure, du Schlampe. Weibsteufel, du, mach die Tür auf!«
Elfriede rüttelte in ihrer ganzen Zittrigkeit an der Tür: »Bertl, du Dreckschwein. Mach auf und komm raus!«
Es war interessant, dass Ehefrauen, wenn sie der Argwohn, das Misstrauen und die Eifersucht packten, einen schier magischen Spürsinn hatten, der sie mit untrüglicher Sicherheit wissen ließ, wo, oder vielmehr bei wem, sich der Gatte gerade befand. Mit übernatürlichem, masochistischem Impetus führte er die Gekränkte zu der – für sie letztlich schmerzhaften – Wahrheit. Der fatale Drang, das Vermutete zu einer mit eigenen Augen gesehenen Gewissheit werden zu lassen, stellt jede Miss Marple in den Schatten. So kam es also, dass Elfriede Eibl trotz ihrer Hinfälligkeit die Kraft aufbrachte, sich zu Mirli Eggers Wohnung zu schleppen, um ihren Bertl zur Rechenschaft zu ziehen.
»Lass mich rein, Bert, ich weiß alles!«, rief sie und hämmerte – sie wäre beinahe umgefallen – mit ihrem Stock gegen die Tür.
All das löste bei dem Mesner einen schweren hämorrhagischen Schlaganfall aus, »verbunden mit der Ruptur eines größeren Gefäßes« – so Doktor Allinger, der die Todesursache später festhalten sollte. Eibl lag entseelt, das Geschlecht mit Smegma und Fäkalien verklebt, in Mirlis Bett. An den Füßen hing immer noch die großflächige Unterhose, die er im Eifer des Gefechts nicht über die Cowboystiefel bekommen hatte.
Resi, die mit großer Einkaufstasche auf dem Weg zum BILLA war und Elfriedes Gekreische mit angehört hatte, informierte aufgeregt den Ursprunger Postenkommandanten. Inspektor Roland Göttl eilte sofort herbei.
»Fräulein Egger, öffnen Sie, Polizei!«, rief er und warf sich in bester Tatort -Manier immer wieder gegen die Wohnungstür, bis diese endlich aufsprang. Mirli kauerte in der Ecke bei ihrem Waschtisch, es war ihr vollständig gleichgültig, dass ihr Bademantel weit offen an ihr hing.
Elfriede stürmte hinter dem Inspektor ins Schlafzimmer und schrie: »Du läufiger Hund, du vermaledeiter. Schau dich an, wie du da liegst, wie ein Schwein im eigenen Dreck, und wie du stinkst, du …«
Göttl, von der Szene völlig überfordert, witterte Mord und begann auf der Stelle, die halb nackte Kellnerin zu verhören: »Sie waren zur Tatzeit anwesend?«
Doktor Allinger, von Göttl telefonisch herbeizitiert, schätzte die Situation einigermaßen realistisch ein und wandte sich dem Dorfpolizisten zu, der voll und ganz in der unerwarteten Rolle des Ermittlers aufging.
»Gehn S’, Göttl, hören S’ doch auf. Sie können ja nicht wirklich glauben, dass die Mirli vermittels Auslösung eines schweren Insults den Eibl umgebracht hat. Der alte Mesner wird sich übernommen haben, wenn Sie wissen, was ich meine …«
»Ich mache nur meine Arbeit«, sagte Göttl im Tonfall der zurzeit so beliebten Landkrimi- Kommissare. »Überhaupt kenne ich die junge Dame von früher. Ich habe sie schon einmal als Komplizin im Rahmen eines Suchtmittelvergehens verhört.«
Roland Göttl frönte seiner Leidenschaft, Hüter des Gesetzes zu spielen, meist im Verborgenen – war doch seinerzeit die Aufdeckung des Pizzeria-Falles in Scheibbs sein einziger nennenswerter kriminalistischer Erfolg geblieben. Dann fuhr er mit dem klapprigen Polizeiwagen an den Rand der vorbeiführenden Autobahn, wo er streng die Geschwindigkeit der Autos und das Fahrverhalten ihrer Lenker beobachtete. Ahnden durfte er – mangels Befugnis – Geschwindigkeitsübertretungen oder Gesetzwidrigkeiten nicht, ja, konnte es gar nicht, weil der Ursprunger Posten über keine Radarpistole verfügte. Er stand hinter einer Hecke und hatte mit der Zeit Augenmaß entwickelt, wenn einer schneller als 130 km/h fuhr.
»Dich tät ich reinholen und saftig eintunken«, murmelte er dann und erinnerte sich wie so oft mit großer Freude zurück an die drei Wochen, als auf diesem Abschnitt eine Baustelle gewesen war. Die Autobahn war damals nur einspurig befahrbar, und eine 60-km/h-Beschränkung galt. Er durfte mit einer Kelle, die rot leuchten konnte, hinter seiner Hecke stehen und Verstöße gleich vor Ort bestrafen. Wiegenden Schrittes ging er um das angehaltene Fahrzeug herum und stellte dem Lenker, sofern er keine vorschriftsmäßigen Fahrzeugmängel fand, ein Organstrafmandat aus, hielt noch eine ausufernde Moralpredigt und wünschte zum Abschluss zynisch salutierend eine gute Fahrt.
Schon während seiner Pubertät war Diabetes diagnostiziert worden. Die damit einhergehende Impotenz – drei frustrierende geschlechtliche Begegnungen bestätigten diese aufs Beschämendste – bescherte ihm ein Leben voller Minderwertigkeitskomplexe und Neurosen. Wenn er Zeuge von Männergesprächen über nicht enden wollende Begattungen und unbesiegbare Manneskraft wurde, begann er zu röcheln. Das wiederum beendete die Gespräche, weil man meinte, man müsse ihm zu Hilfe kommen. Jedes Mal musste er ein hohes Maß an Verdrängungsarbeit aufwenden, um sich wieder halbwegs normal zu fühlen. Den Drang, seinem Leben, das ihm unter dieser Prämisse sinn- und freudlos erschien, ein Ende zu machen, musste er geradezu niederringen. Hoffnungsvoll hatte er, damals noch in Scheibbs, diese neuen Potenzpillen, über die zahllose Witze gemacht wurden, in einem Amstettner Laufhaus bei einer jungen Weißrussin ausprobiert. Weit entfernt von einer ausreichenden Durchblutung seines Sexualorganes fiel er beinahe ins Koma und wurde mit Blaulicht und Folgetonhorn aus dem Separee direkt auf die Intensivstation des Landeskrankenhauses verbracht. Er flehte die Ärzte an, seinen Fall mit äußerster Diskretion zu behandeln, er bot sogar an, sich für das Krankenhauspersonal zu verwenden, sollte es jemals zu polizeilichen Kalamitäten kommen. Die Herren und Frauen Doktoren versprachen, den weißen Mantel des Schweigens über die wahren Gründe seines Aufenthalts auf der Intensivstation zu breiten und alles seinem Diabetes zuzuschreiben.
Der angeschlagenen Autorität wegen hatte man für ihn daraufhin diesen – im Innersten wusste er es – bedeutungslosen, lächerlichen Posten in Ursprung gefunden, der keinerlei Aussicht auf Versetzung oder gar Beförderung beinhaltete.
Abgesehen davon, dass er Diät halten musste, hatte er ab sofort den Alkohol zu meiden, was seinem Ansehen in Ursprung nicht gerade förderlich war. Er schob Bier und Schnaps, die im Zuge von Fraternisierungen für alle am Tisch bestellt wurden, dem Nebenmann zu und orderte Mineralwasser. Naturgemäß wurde ihm das übel genommen und führte zu Ächtung sowie herablassendem Mitleid. Daran änderte auch seine schmucklose Uniform nichts, deren Pflege er schimpflich vernachlässigte. Oft sagten die Frauen des Dorfes, wenn sie Göttl mit seiner fleckigen und nicht selten sogar muffig riechenden Montur begegneten: »Roland, du schaust schon wieder aus wie ein Strotter . Komm, ich bring dir die Uniform in die Putzerei.«
Was dann folgte, waren ein paar Tage Dienst in Zivil – und so war es amtlich, dass er derartig unwichtig war, dass ihm nicht einmal eine zweite Uniform zustand.
Wenig später betrat Mano Urian die Szene. Mirli sprang auf und warf sich ihm nackt in die Arme.
»Da!«, schrie Elfriede Eibl mit dem Gesichtsausdruck einer Erinnye, »sogar an unseren Hochwürden schmeißt sie sich dran, diese Potiphar, diese verdammte … diese Kurtisane.«
Doktor Allinger warf einen überraschten Blick auf Elfriede, denn dass ihr diese alttestamentarische Figur geläufig war, verblüffte ihn.
Sie beugte sich zu Eibl hinab und schrie ihm ins Gesicht: »Und wer wird mich jetzt pflegen, du verwunschene Seele, du Todsünder … wer pflegt mich denn jetzt? Wollt ihr mich zugrunde gehen lassen?«, wandte sie sich an alle.
Doktor Allinger versuchte sie zu beruhigen, was nur in Ansätzen gelang. Schulterzuckend wandte er sich an die Umstehenden: »Ich trau mich ihr kein Sedativ mehr zu geben, sie ist ohnehin voll mit Diazepam. Andererseits …«
Göttl horchte auf: »Diazepam? K.-o.-Tropfen!«
Allinger holte ein Fläschchen heraus: »… Kommen S’ her, Frau Eibl, ein bisserl was geht immer noch.«
»Wie gibt es das?«, schluchzte Mirli in Manos Achselhöhle. »Wie kann das sein? Wie kommt denn der in mein Bett? Du bist doch …« Mano verschloss ihr mit der Hand den Mund.
»Versuche dich zu fassen, Schwester in Christo«, sagte er und schob sie sanft von sich und half ihr, sich wieder in ihren Bademantel zu hüllen.
»Ich glaub, ich werde irrsinnig!«, schluchzte Mirli. »Das geht ja mit dem Teufel zu!«
»Fräulein Mirli«, sagte Mano amtlich, »du bist bei mir in der Sakristei immer willkommen, und wir wollen im geschwisterlichen, seelsorgerischen Zwiegespräch dieses Vorkommnis durchgehen.«
»Vorkommnis?«, rief Mirli, »Vorkommnis sagst du?«, sie machte eine ausholende Handbewegung. »Das ist wie in einem bösen Traum, das ist Hexerei!«
Mano trat auf sie zu und strich ihr wie vor ein paar Wochen über das zerzauste Haar. Mirli spürte wieder diesen Schmerz, erinnerte sich aber, dass dieser damals schlimmer gewesen war. Mit einem tiefen Einatmen ließ sie sich in die sie durchrieselnde Seligkeit fallen.
Nach einer guten Woche, die gewohnte Gleichgültigkeit und das unglückselige Einerlei in Ursprung hatten sich wieder eingestellt, stand Mano am Grabe des alten Mesners und verlor in beinahe sarkastischem Tone ein paar Worte darüber, dass der Herr in seiner umfassenden Liebe und übergroßen Gnade unseren Bruder in Christo, Adalbert, zu sich ins Paradies geholt hätte.
»Der ist nicht im Paradies, der ist im tiefsten Höllenschlund«, sagte seine Witwe Elfriede Eibl, gestützt von der Pfarrersköchin Resi, für alle hörbar.
»Archont. Schwarzkünstler«, murmelte neben ihr die sich strikt aufrecht haltende alte Hildgard, die mit wässrigen Augen in Richtung des neuen Pfarrers blickte. Sie hatte dessen wahres Sein erkannt und erschauderte bis ins Innerste, als er die Trauernden segnete.
Resi zischte energisch: »Schscht, halts euer Papp’n, wenn der Herr Hochwürden redet.«
Es hatte sich nur eine kleine Trauergemeinde zu Eibls letztem Weg eingefunden, obwohl das Wetter weit freundlicher war als bei der Beerdigung des alten Absengers. Aber die Umstände um Adalberts Ableben waren den Ursprungern eher Belustigung als Anlass zur Trauer. »Eigentlich ein schöner Tod«, dachten vor allem die Männer. Nicht einmal die obligaten Blasmusiker waren gekommen, und so geriet das finale Versenken des Sarges in der Ursprunger Erde gewissermaßen zu einem Kammerspiel.
Die Gäste im Holzinger, die, die der Beerdigung ferngeblieben und lieber gleich ins Wirtshaus gegangen waren, saßen an den Tischen und tranken bestens gelaunt Bier, Wein oder Vogelbeer. Die Herren gefielen sich mit steigendem Alkoholspiegel darin, Mirli mit Hohn und Häme zu übergießen.
»Bei der muss man ja vorsichtig sein als Liebhaber«, sagte zum Beispiel Walter Horvath, »dass einen in ihrem Bett nicht der Schlag trifft.«
»Das hab ich immer schon gewusst«, ergänzte Karl Paradeiser, »stille Wasser und so … die Mirli ist eine ganz eine Wilde!«
Der Bürgermeister Manfred Schwenk lachte: »Die Mirli ist zu hundert Prozent das, was man als Liebesabenteuer bezeichnet!«
»Geh, was verstehst du denn schon davon, Manfred«, zischte seine Frau Ilse und warf dabei einen verstohlenen Blick in Richtung Horvath.
Schwenk schnaubte, ballte eine Faust, zündete sich ein Zigarillo an und schaute Horvath hasserfüllt an.
»Essen und Beischlaf waren seine beiden großen Begierden«, äußerte Josef Lüftl, der Herr Lehrer, »Konfuzius.« Danach verließ er, wie immer, ohne etwas zu konsumieren, das Gasthaus.
»Und beides hat ihm die Mirli serviert!«, sprach der Dorfpolizist Roland Göttl.
»Bis sie ihn abserviert hat«, sagte Fritzl Holzinger und kniff Mirli ungeniert in die Wange.
Inspektor Göttl tippte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte und meinte: »Dass sich die Mirli keinen Schöneren gefunden hat … Ich sage euch, da stimmt was nicht. Am Tatort war sie!«
»Ja, freilich«, antwortete Holzinger, »um eine Tat zu tun, braucht es einen Ort.« Er klopfte Mirli, die sich gerade hinunterbückte, um die Gläserspülmaschine auszuräumen, auf den Hintern. Von der Dreistigkeit des Gastwirtes überrascht, drehte sie sich um und gab ihm eine Ohrfeige.
Ein Raunen ging durch die Gaststube, und jemand grollte: »Ah, da schau her: aufs Herrl schnappen!«
Mirli war über ihre eigene Courage erschrocken und hielt sich eine Hand vor den Mund. Holzinger starrte sie an und sagte erst leise und langsam, immer lauter und schneller werdend, bis er fast schrie: »Ja, was glaubst denn du, du freches Mensch? Deinem Chef ins Gesicht schlagen, bist denn du noch ganz bei Trost? Du Flitsche, du, du Badhur!«
Bei den letzten Worten ging er bedrohlich auf Mirli zu, sprang sie förmlich an, holte aus …
Mano, der bei den letzten Worten gemeinsam mit der Trauergemeinde eingetreten war, packte Holzingers Handgelenk. Mit einem Wehklagen, dass man meinen könnte, die Hand werde ihm abgesägt, wimmerte der Wirt auf und ließ die zum Schlag erhobene Faust sinken.
»Bruder in Christo«, sprach Mano ernst zu Holzinger gewandt, »gedenke der Worte des Herrn: Wenn dir jemand auf die eine Backe schlägt, dann biete ihm auch die andere dar .«
Er legte Holzinger seine Hand auf die Schulter, und nach dem neuerlichen Schmerz überkam ihn dieses Hochgefühl, das bewirkte, dass er sich bei der schluchzenden Mirli entschuldigte und ihr verschämt einen Geldschein in die Hand drückte. Mano lehnte sich federnd an die Schank und zündete sich eine Zigarette an, blickte auf seine Baume & Mercier , richtete sein hellgrünes Kunststoffband, in das ENJOY eingestanzt war, und bestellte ein Seidel.
Mirli stellte ihm das Bier hin und flüsterte: »Mano, bitte, ich muss mit dir reden.«
»Gerne«, sagte dieser, »komm am Nachmittag in die Sakristei.«
»Ich möchte aber privat mit dir reden. Ich kann nicht begreifen, was geschehen ist. Du bist doch zu mir gekommen und wir haben …«
Mano legte den Finger an seine Lippen: »Ich erwarte dich heute Nachmittag in der Sakristei. Und jetzt schweige.«
Resi, die Pfarrersköchin, stellte sich neben Mano, schaute ihn durch dicke Brillengläser an und sagte schlecht gelaunt: »Was gibt es denn zu wispern mit dieser Sünderin?«
»Therése«, sagte Mano, »was weißt du schon von den Sünden der anderen? Nimm zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge.«
»Ich kann nichts dafür, dass ich solche Brillen tragen muss«, sagte Resi beleidigt und flüsterte weiter: »Hast du mich gar nicht mehr gern, Mano? Ich warte jeden Abend auf dich.«
»Ich weiß nicht, was du von mir willst. Ich war an keinem Abend bei dir, das musst du geträumt haben, Resi.«
»Du bist ein Schuft!«, zischte sie aufgebracht, so laut, dass es ein paar von den Umstehenden hören konnten.
»Hat dem Herrn Pfarrer etwas nicht geschmeckt, was du ihm gekocht hast?«, fragte Ilse Schwenk und lachte schief. »Der Mano hat jetzt sicher ganz andere Sorgen«, wandte sie sich Mano zu. »Wer wird denn jetzt den Platz vom Eibl einnehmen?«
»Ich!«, rief Resi Haslinger mutig. »Ich werde der neue Mesner. Ich meine, die neue Mesnerin.«
Alle lachten: »Das wäre ja noch schöner, Resi. Eine Frau, das glaubst du ja selber nicht.«
»Das ist gar keine schlechte Idee, Freunde.« Mano lächelte. »Gut, Resi, ich versuche es mit dir.«
Er reichte ihr die Hand, sie schlug ein, zuckte zusammen und stieß dann ein zufriedenes Aaahh hervor und schielte heftig.
»Mano«, sagte Ilse Schwenk, die aufgestanden und zu Mano an den Tresen getreten war, halblaut, »ich möchte kommenden Sonntag vor der Messe zu dir beichten kommen, okay?«
»Wohlan«, sagte Mano, trank sein Bier aus, drehte sich um und verabschiedete sich mit einer grüßenden Geste bei den übrigen Gästen. Dann rief er dem Holzinger ein herzliches »Servus Fritzl« zu und verließ das Wirtshaus.
Für einen Moment herrschte in der Gaststube völlige Stille. Draußen entfernten sich – Schritt-tack, Schritt-tack – die Schritte des Pfarrers.
⸸ Aus dem Griechischen: Architekt, Baumeister, Hersteller, Handwerker. In der Gnosis: Schöpferdämon, Baumeister, Architekt einer hologrammatischen Welt.
⸸ Kottan ermittelt war eine hoch erfolgreiche, skurrile österreichische Kultserie.
⸸ Der Dunkelstein ist eine Erhebung (625 m) in der Umgebung von Ursprung, die aus verschiedenen Gneisen besteht. Seinen Namen verdankt er der dunklen Tönung des Amphibolits.