Anlässlich des Literaturfestivals schloss das Teehaus Loreley eine halbe Stunde später als sonst. So konnten Cattaneo und ich in einem der Pavillons inmitten der Ruhe des Japanischen Gartens Platz nehmen und zwei Minztees bestellen.

»Das erinnert mich an die Wüste«, seufzte Cattaneo.

Abseits des Tagungszentrums hatte sich der anarchistische Dichter entspannt. Er schweifte aus, erklärte mir, dass die Teepflanze Camellia sinensis auf dem Monte Verità, dank des speziellen Mikroklimas, sehr gut gedieh. Dann legte er die Unterschiede zwischen der Teezubereitung im fernen Osten und der Art, wie man ihn in Marokko trank, dar, rief sich seine Reisen in Erinnerung, die Anstrengungen der ersten Jahre in der Legion.

»Apropos Fremdenlegion«, sagte ich. »In dem letzten Manuskript, das Sie mir zugeschickt haben, begegnet Studer auch Ihrem Großvater.«

Mit einem Schlag wurde er ernst.

»Ja …«

»In dem gelben Kuvert, das Sie mir bei der Mühle gegeben haben, findet sich keine Fortsetzung dieser Szene, oder?«

»Nein, es enthält eine weitere Version der ersten Kapitel.«

Schon wieder der Anfang. In diesem Augenblick

»Und die Begegnung zwischen Studer und Ihrem Großvater?«, fragte ich. »Geht die Szene noch weiter?«

»Ich glaube schon … Ich habe nicht alles genau verstanden, weil es auf Deutsch ist. Es gibt noch mehr Kapitel. Auch Briefe und Notizen. Es ist ziemlich kompliziert.«

Ich nickte. »Wenn Sie mich selbst einen Blick darauf werfen lassen würden, könnte ich vielleicht …«

»Bestehen Sie nicht darauf.«

Ich hatte das Gefühl, weit weg zu sein von der handfesten, konkreten Welt, wie ich sie alle Tage erlebte. Die Schiebewände aus Reispapier, die Tatamis, die Gesten der Teezeremonie, der geplagte Mann mir gegenüber, die Manuskriptblätter in den gelben Kuverts … all das führte mich in einen Zwischenzustand, in dem alles ungeheuer greifbar und wahrhaftig schien, viel stärker noch, als man das etwa beim Lesen eines Romans oder während eines Films empfindet.

»Ich werde die Texte Stück für Stück der Übersetzerin schicken, nachdem ich sie in Augenschein genommen habe. Aber sagen Sie, haben Sie bereits eine Vorstellung von dem, was passiert?«

»Sie meinen …«

»Wer hat Anja umgebracht?«

Ich musste unwillkürlich lächeln bei dem Gedanken, dass Glauser eigentlich erklärt hatte, es spiele keine Rolle, wer der Mörder sei. Aber er hatte auch eine verwirrende Passage geschrieben. Ich hatte sie in meinem Notizbuch festgehalten, und so gab ich sie Cattaneo zum Lesen, bevor ich antwortete.

 

 

»Ich glaube, Studer wollte nicht preisgeben, wer der Mörder war«, kommentierte Cattaneo. »Das macht aber nichts, wir werden ihn trotzdem finden.«

Aber Studer hatte es in Wirklichkeit doch gar nicht gegeben, oder? Und das Tagebuch Spiegels (oder Spigls) war eine Erfindung … oder etwa nicht? Für Cattaneo war all das ganz offenbar real.

»Wissen Sie, was merkwürdig ist, Fazioli? In diese Geschichte sind vier Männer verwickelt, die alle in der Fremdenlegion waren. Zuerst mein Großvater Fredo Cattaneo. Dann Glauser, der zwischen 1921 und 1923 der Legion angehörte. Und viele Jahre später war auch ich dabei.«

»Und der Vierte?«

»Studer. In dem Roman Die Fieberkurve schließt er sich der Legion an, um einen Fall zu lösen. Nur für kurze Zeit, aber auch er war dabei.«

Studer, dachte ich. Studer, den es nie gegeben hat.

»Wissen Sie, was ihnen allen gemeinsam ist?«

»Die Einsamkeit. Irgendwann begreifst du, dass hier, zwischen den normalen Menschen, kein Platz mehr für dich ist. Vielleicht hat der ein oder andere gestohlen, leidet an gebrochenem Herzen, ist verzweifelt oder hat, wie Glauser, den Eindruck, jeden Tag gegen eine graue Mauer anzurennen.«22

»Wenn wir dem Text glauben, war Ihr Großvater 1921 bereits zurückgekehrt, von daher …«

»Vier Einsamkeiten«, unterbrach er mich. »Denn auch Studer hat sich einsam gefühlt. Zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedliche Weise standen wir alle irgendwie außen vor.«

»Ich meine …«

»Ich weiß schon, Sie sprechen von dem Adjutanten Cattaneo.«

Er hatte es erfasst. In fast allen Berichten und Erzählungen über die Legion erwähnt Glauser einen gewissen »Adjutanten Cattaneo«. Ich war ein wenig in Verlegenheit, da der Soldat als »Schweinehund«, wenn auch »von großer Tapferkeit«, beschrieben wird. Ein »breitschultriger, dicker Mann«, der fluchte und brüllte, der jedoch, wenn er viel getrunken hatte, »ganz menschlich« werden konnte.23

»Das war nicht mein Großvater«, erklärte Cattaneo.

Er unterbrach sich, als fürchtete er, zu viel gesagt zu haben.

»In der Tat hat er Briefe geschrieben, nicht wahr?«, fragte ich ihn. »An wen? An Spigl, oder gar an Glauser?«

»Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Ja, ein paar Briefe, aber das ist nicht von Bedeutung. Wissen Sie, was ich glaube? Dass Glauser meinen Großvater Fredo gekannt hat und dass er ihn, damit er unerkannt bleibt, anders beschrieben hat, als er tatsächlich war.«

»Möglich ist es. Aber warum hätte er das tun sollen? Und warum nicht auch den Namen ändern?«

»Cattaneo ist ein weitverbreiteter Familienname.«

In diesem Augenblick kam mir ein Gedanke. Ich zögerte, ob ich dem alten Ex-Legionär davon erzählen sollte, aber schließlich hatte er selbst mich ja gebeten, über die Geschichte nachzudenken. So setzte ich ihm also meine Überlegungen auseinander.

Es gehe darum, erklärte ich, den Ascona-Roman als das zu betrachten, was er sei, nämlich als Roman, und dabei die Verbindungen zur Familie Cattaneo auszublenden. Ich bitte die Leserschaft um Entschuldigung, wenn ich Gefahr laufe, den Spannungsbogen zu zerstören, aber in diesem Moment, während ich schreibe, weiß ich nicht, wie die Geschichte enden wird, somit sind all das nur Vermutungen. Da Glauser die Machart englischer Krimis nicht mochte, hätte er in dem

»Was?« Cattaneo sprang so ungestüm auf, dass die Teetasse umkippte. »Das ist unmöglich!«

»Wer sollte das sonst sein? Baron von Arenfurth? Spigl? Welchen Sinn hätte das? Sie werden verstehen, dass in einem Roman der Mörder immer eine der Figuren sein muss, zumindest …«

»Alles Unfug!« Er hatte wieder Platz genommen, eine Zigarette herausgezogen und dann zurück in das Päckchen geschoben. »Mein Großvater Fredo war verzweifelt! Nach Anjas Tod ist er fast verrückt geworden, regelrecht durchgedreht. Deshalb hat er die Flucht ergriffen, er ist nie wieder nach Europa zurückgekehrt.«

»Hat er seiner Tochter Ada nie geschrieben?«

Cattaneo blickte finster. »Er wollte lieber, dass die Pflegefamilie sie aufzieht. Aber aus der Ferne hat er Informationen über sie eingeholt.«

»Spricht Glauser darüber?«

»Ich habe noch nicht alles gesichtet. Ich werde die Texte an Signora de’Grandi schicken, die sie an Sie weiterleiten wird. Sie soll auch den Anfang übersetzen, den ich Ihnen heute übergeben habe. Und eins dürfen Sie nicht vergessen.«

»Fredo hat seine Frau geliebt, mit Leib und Seele hat er sie geliebt. Und er hätte ihr niemals etwas zuleide getan.«