Man genoss den Abend, weil er nach der harten Hitze des Julitages weich wirkte. Man saß an den runden Tischlein, die vor dem Café standen, nahm bisweilen den Strohhalm zwischen die Lippen, der aus dem mit farbiger Flüssigkeit gefüllten Glase ragte, sog daran und horchte auf das Klappern der Eisstücke, die gegen die durchsichtigen Wände stießen. Eine Turmuhr schlug elf tiefe Schläge, drei hellere folgten den dunklen, man stellte fest, dass es nun eine Viertelstunde bis Mitternacht sein müsse. Man saß auf dem ziemlich harten Stühlchen, das leider keine Armlehne besaß, stützte das Kinn auf den Knopf eines Stockes, der zwischen den gespreizten Schenkeln stand, runzelte die Stirn und sagte: »Hedy, du wirst dir noch die Augen verderben!« Die Frau jedoch schüttelte den Kopf und murmelte irgendetwas, und man wurde wütend, weil es ganz unnütz schien, einen so schönen Abend mit einem Schundroman zu verderben, der von einer Liebe erzählte, wie sie nur im Hühnerschädel einer sogenannten Romanschriftstellerin entstehen konnte. Nichts war Wirklichkeit in diesen Seiten, nichts, gar nichts!
Die Tische standen unter der Decke einer Terrasse, die im ersten Stock aus der Hausmauer ragte. Eine Lampe hing dort oben, die wenig Licht gab; der Mond, der gerade über das Dach eines der gegenüberliegenden Häuser kroch, war erst am Wachsen und sah aus wie die Hälfte eines Silberstücks. Mücken sirrten, setzten sich manchmal auf den Handrücken – es war langweilig, dass man sie immer erst dann bemerkte, wenn sie ihren Stachel schon in die Haut gestochen hatten.
»Habe ich die Ehre, mit Herrn Jakob Studer zu sprechen?«
»Ja. Aber …«
Wie lächerlich war diese Situation! Mit was wohl hatte man sich so angestrengt beschäftigt, dass man das Erscheinen des Mannes nicht bemerkt hatte, der nun vor dem Tischchen stand; seine Hände umspannten den Rand der Tischplatte, und sehr aufgeregt musste er sein, denn die Knöchel glänzten weiß, was bewies, dass der Druck stark war.
»Aber – was wünschen Sie?«
Ein weißes Hemd, cremefarbige Leinenhosen, offene Sandalen an den nackten Füßen … Eine lange, hagere Gestalt mit einem Schädel, der die Form eines Eis hatte, das Kinn war kaum vorhanden, von der Unterlippe lief eine schiefe Linie bis zum Hals.
»Würden Sie so freundlich sein mitzukommen?«
»Mitkommen? Wohin? Jetzt, um Mitternacht? Ich will schlafen gehen, ich bin müde, habe heute gebadet. Überhaupt, ich bin nicht im Dienst, wenn Sie das meinen, ich bin in den Ferien, Herr … Herr …?«
»Spiegel, Moritz Spiegel, Herr Kommissär. Es ist nötig, es ist bitter nötig, dass Sie uns helfen. Ich habe eine Empfehlung. Hier … Wenn Sie so freundlich sein wollen, einen Blick darauf zu werfen.«
»Hm … Aber nur einen Blick!« Der andere lächelte, schwieg. Die Zähne breit, nicht nur breit, auch lang – wie Rosszähne. Die Visitenkarte flatterte durch die Luft, blieb in einer kleinen Lache liegen, die aus herabgeronnenen Tropfen sich gebildet hatte, man presste die Schenkel zusammen, um den Stock am Umfallen zu hindern, wenn man ihn nun losließ; man hob die Karte nahe an die Augen – wirklich, die Lampe oben gab ein miserables Licht, wie konnte das Hedy den kleinen Druck ihres Büchleins entziffern? … Die Frauen! Ja, die Frauen! Wenn die sich etwas in den »Gring« gesetzt haben, dann … Auf der Visitenkarte aber stand in Druckbuchstaben:
»Dr. Lorenz Arenfurth«
Und in Handschrift: »bittet Herrn Kommissär J. Studer, seinen Freund Moritz Spigl zu beraten, da dieser in einer höchst gefährlichen Lage sich befindet, in welcher er auf uneigennützige Hilfe angewiesen ist. Auch andere Menschen, die sich das Interesse meines alten Bekannten erobert haben, sind in einer unangenehmen Situation und benötigen Rat. Wir erwarten den Kommissär in kürzester Zeit.
Andrino, den 7. Juli 1921«
Und während man weiter auf die winzige Schrift starrte, die man seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte, klopften an den anderen Tischlein Münzen ungeduldig auf den Marmor. Ausländer versuchten zu beweisen, dass ihnen die italienische Sprache geläufig sei, und riefen: »Eh! Cameriere! Pagare!« Doch kein Kellner erschien, sondern eine Jungfer, die freundlich fragte: »Was? Zahlen wollen die Herrschaften?« Ihr Deutsch tönte wienerisch oder bayrisch – das war nicht genau festzustellen –, sodass man vergessen konnte, dass diese Stadt dennoch zur Schweiz gehörte, obwohl sie in dem einzigen Kanton lag, in welchem die Landessprache Italienisch war. Sie zahlten, die letzten Gäste des Cafés, die Saaltochter kam zuletzt an Studers Tisch, und der Kommissär der Berner Stadtpolizei ärgerte sich, weil die neue Mischung, die er heut Abend probiert hatte – Sherry, Brandy, Kirsch, Siphon und Eis – zwei Franken das Glas kostete, während der Kaffee seiner Frau nur sechzig Rappen wert war. Studer zog einen Fünfliber aus der Uhrentasche seiner Tennishose, warf die Münze auf den Tisch, stand auf und schickte seine Frau heim.
»Allein?«, klagte ’s Hedy.
»Kannst ja lesen, bis ich zurück bin!«, brummte Studer, denn er wollte den jungen Mann, der schweigend wartete, seine Geschichte erst erzählen lassen, wenn kein Zeuge mehr zugegen war. Sonst mischte sich die Frau noch in die Angelegenheit – und dies war etwas, was man besser vermied.
Nun ging man über den dunklen Marktplatz, die Häuserwand warf einen breiten Schatten auf die quadratischen Pflastersteine, man kam an einem Sträßlein vorbei, das den Häuserblock spaltete, und ein linder Wind kam vom See, der wohl deshalb so müde war, weil er lange mit dem Wasser gespielt hatte – die Wellen waren die Bälle, prallten gegen die Kaimauer, rollten zurück … Es schwiegen die beiden Gefährten – der breitschultrige feste Mann, der wegen der harten Julihitze einen schwarzen Alpakarock trug, und der magere Schmale, dessen Sandalen hart sein mussten wie Holz, denn sie klapperten auf den Steinen. Noch immer herrschte Schweigen, denn der Ältere dachte nach, um Erinnerungen aufzufrischen.
Eine große Neuigkeit: Früher hatte man nicht gewusst, dass Baron Lorenz zur Arenfurth das Recht besaß, einen Doktortitel zu tragen. Zwar wusste man, dass in jenen vier vergangenen Jahren, die wie eine riesige Säge den Block der Zeit zerschnitten hatten, sonderbare Menschen in dem kleinen Land, das man die Heimat nannte, aufgetaucht – wieder verschwunden waren; nachher alsdann, da der Schnitt gelungen war, zeigte es sich, dass der Block viele winzige Gänge enthielt: Würmer krochen daraus hervor, mästeten sich, wurden dick, begannen zu tanzen nach einer Musik, die an einen Totentanz gemahnte, und spürten nicht die dumpfe Trostlosigkeit dieser Rhythmen, sondern freuten sich. Wieso entstanden derart dumme Phantasien in dieser Nacht, da man an der Seite eines jungen Mannes einherschritt, dessen Gesicht kein Kinn besaß, dessen Lippen jedoch ständig die Zähne entblößten, die lang und breit waren wie Rosszähne?
Studer zog das Lederetui aus der Tasche, bot dem Schweigsamen eine Brissago an, die mit einem leisen »Danke« abgelehnt wurde. So blieb denn der Kommissär einen Augenblick stehen, rieb sich ein Streichholz an, die Flamme tanzte in der Höhlung seiner Hände …
Vier Geräusche platzten hintereinander in die Stille: ein Knall, ein Anprall gegen die Mauer im Rücken, ein Surren, das dem Brummen einer bösen Hornuss ähnelte, ein leiser Schrei.
Studer hatte gerade noch Zeit, seinen Begleiter am Arm zu packen, denn der Mann wollte fortlaufen. Sie standen in einem dunklen Gässlein, das fünfzig Meter weiter vorne von einem anderen zerschnitten wurde. Dort hing an einem Draht, zwischen zwei Fronten, eine matt glimmende Birne. Noch einmal platzte ein Knall, gefolgt von einem schwächlichen zweiten, Glasscherben klirrten auf den Boden, die Lampe war erloschen. Dann, in der Finsternis, war deutlich das Trappen laufender Füße zu hören.
»Was … ist … denn … das?«, fragte Studer erstaunt, ließ den Arm los, den er noch immer hielt, denn eine klebrige Flüssigkeit rieselte ihm über die Finger. »Sind Sie verwundet, Herr Spigl?« Und während er die Frage stellte, fiel ihm ein, dass er sich dahinten, am Tischlein des Cafés, besonders über eins gewundert hatte: Der Name Spigl hatte zwei Buchstaben zu wenig – das Fehlen der beiden »e« unterschied ihn streng von dem Ding, das jeder Mann notwendig braucht, wenn er sich rasieren will.
»Nein … das heißt, es ist ein Streifschuss … Haben Sie gehört, Herr Kommissär? Er hat uns beide verfehlt, die Kugel ist gegen die Mauer hinter uns geprallt, abgesprungen und hat mir gerade die Haut am Oberarm aufgeritzt. Ich möchte gerne wissen, wer es auf uns abgesehen hat.«
»Soso, das möchten Sie gerne wissen … Ich auch. Haben Sie denn Feinde? Sie werden zugeben, dass ich Sie nicht mit Fragen gequält habe, ich habe gemerkt, dass Sie aufgeregt sind, habe gedacht, wenn wir dann unterwegs sind, werden Sie von selbst anfangen zu sprechen. Aber Sie haben vielleicht ein paar Minuten zu lange gewartet. Hätten Sie mir Ihre Angelegenheit ein wenig früher auseinandergesetzt – ich meine jetzt die Hauptpunkte –, dann wäre ich wohl auf die naheliegende Idee gekommen, dass vielleicht irgendjemand versuchen wird, uns eins auszuwischen, und ich hätte aufgepasst. Nun?«
Studer rieb ein zweites Zündholz an, hielt es senkrecht zwischen Daumen und Zeigefinger, sodass es wie eine kleine Kerze leuchtete, und betrachtete den Hemdärmel, auf dem ein roter Fleck langsam größer und größer wurde.
»Ich habe eine Taschenlampe«, sagte der junge Mann, den Studer bei sich die »traurige Giraffe« nannte.
»Eine glänzende Idee von Ihnen, Herr Spigl. In welcher Tasche? Es wäre besser, Sie würden Ihren rechten Arm senkrecht in die Luft halten, sonst bekommen Sie Flecken auf Ihre Hose.«
Die beiden standen in der Dunkelheit. Vor dem Erlöschen hatte das Streichholz Studers Fingerspitzen gebissen, doch er fluchte nicht einmal. Vielleicht war die Nacht daran schuld, das silberne Schweigen des Himmels oder die klebrige Kühle der Mauer, an der er lehnte. Tagsüber gelang es der Sonne wohl nur für kurze Zeit, in diesen steinernen Abgrund zu leuchten. Da der andere schwieg, wurde eine Wiederholung der Frage nötig: »Wo haben Sie die Taschenlampe?«
»In der linken Hosentasche, aber ich kann sie ja selbst mit der Hand …«
»Nein, nein. Und haben Sie keine Angst, ich stehle Ihnen nichts. Ich bin kein Taschendieb … Hier, ich hab sie schon … die Wunde ist nicht arg, wenn Ihr Nastuch nicht sauber ist, werde ich meines spenden, und Ihre Frau wird Sie dann daheim verbinden, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie, Herr Kommissär, dass ich verheiratet bin?«
»Sie meinen, woher ich das weiß, obwohl ich Sie nicht kenne? Kinderleicht. Sie haben zwar keinen bürgerlich-korrekten, goldenen, glatten Ehering, sondern einen silbernen von seltsamer Form – breit ist er, wie ein Siegelring, er lag ganz nahe vor meiner Nase, als Sie die Hände auf meinen Tisch stützten – ein St.-Georg-Ring? –, nun, ich habe mir gedacht, es müsse so etwas sein. Wir sind an viele Dinge gewöhnt seit dem Ende des Krieges, und ich habe schon einmal in Bern ein Paar getroffen – zwei Ausländer waren es –, die trugen ähnliche Ringe, und sie waren verheiratet. Ja. Darum …« – Studer ließ den Lichtkegel der Taschenlampe auf das Gesicht des andern fallen; die Lippen waren verzogen – und doch war es schwer festzustellen, ob ein Lächeln sie verzog oder ob es sich um einen nervösen Tic handelte.
Nun tönten wieder die tiefen Töne der Turmuhr, rollten über die Dächer, schwebten zwischen den Häuserwänden wie Seifenblasen und zerplatzten an der Mauer. Zwölf große Kugeln, eine kleine nachher – viertel eins.
»Vorwärts!«, sagte Studer. »Ich glaube, wir riskieren nichts mehr. Der andere ist fort. Haben Sie wirklich keine Ahnung, wer geschossen hat?«
Da der andere schwieg, war Studer froh, dass er die Taschenlampe noch nicht abgeknipst hatte, so konnte er doch wenigstens das langsame, aber doch energische Kopfschütteln feststellen. Sie schritten weiter, erreichten das Ende des Gässleins, nun begann ein schmaler Weg an der Seite eines eingetrockneten Flussbettes. Die Böschung war bedeckt mit hohen Gräsern, überreifen, deren Gelb im Lichte des Mondes schimmerte wie gestanzte Goldplättchen.
»Wollen Sie mir nicht erzählen, warum Sie mich holen gekommen sind?«
Wieder das Kopfschütteln. Die Haare dieses Moritz Spigl waren kurz geschoren, vielleicht war es das, was dem Kopf des Mannes eine Eiform gab – um genau zu sein: Bisweilen war es ein Ei, wenn man ihn von vorne sah, doch im Profil glich er einem Giraffenschädel.
»Nein, Herr Kommissär, gerade dies kann ich nicht. Doktor Arenfurth, dessen Rat ich folgte, hat mich ermahnt, Ihnen nichts zu erzählen. Sie sollen zuerst selber sehen können. Dann werden wir Ihnen erzählen, was wir wissen. Es ist eine düstere, eine traurige Sache, verstehen Sie? Doktor Arenfurth kennt Sie gut, wenigstens hat er das behauptet, und er hat gemeint, dass Sie immer zuerst Fakten haben wollen, Tatsachen – und dann erst die Erzählung, die Aussagen, wenn Sie lieber wollen.«
»Gut! … Aber vielleicht können Sie mir dennoch zwei Dinge mitteilen. Wissen Sie, dass Doktor Arenfurth, wie Sie ihn nennen, eigentlich Baron zur Arenfurth heißt …«
Ein tiefes Lachen … »Natürlich! … Aber Sie wissen doch, in Deutschland war Revolution – keine so ernste wie die französische, aber immerhin –, der Adel ist nicht mehr beliebt. Ein Doktortitel hingegen …«
»Ich verstehe … Sind Sie Deutscher, Herr Spigl?«
»Nein. Schweizer. Auslandsschweizer, wenn Sie wollen. Mein Vater war Französischlehrer in Riga. Dort bin ich aufgewachsen. Mein Vater ist gestorben vor zwei Jahren, ich habe Verwandte in der Schweiz, darum bin ich in meine Heimat zurückgekommen. Jahrgang fünfundneunzig – somit sechsundzwanzig Jahre alt. Ich habe Riga schon 1915 verlassen und bin nach Paris. Dort habe ich studiert – Kunstgeschichte –, und weil ich eine Arbeit zu beenden habe, bin ich hierhergekommen.«
Studer dachte, wie hellhörig die Nacht mache. Der letzte Satz seines Begleiters: »Weil ich eine Arbeit zu beenden habe …«, war sicher eine halbe Lüge. Wahrscheinlich hatte Spigl eine Arbeit zu beenden – doch sicher keine wissenschaftliche. Warum klang sonst seine Stimme – die zuerst sehr trocken und ehrlich gewesen war – plötzlich weich und – ja: feucht!
Das Weglein an der Uferböschung mündete in eine breite Autostraße, die mehliger Staub bedeckte. Lautlos waren die Schritte, plötzlich erhielten sie Widerhall, denn eine Brücke spannte sich über das Flussbett. Eine Kurve bog die Straße dann nach links, Spigl bog in einen ziemlich breiten geschotterten Weg ein, der einen mit Strauchwerk überwachsenen Abhang schief durchschnitt. Und Studer begann zu schnaufen, weil dieser Weg frisch geschottert war und weil er ziemlich steil bergan stieg. Er dachte an vieles, jedoch nur bruchstückweise …
Vor sechzehn Monaten war er zum Kommissär der Stadtpolizei ernannt worden, nachdem er, während des Krieges, eigentlich nichts anderes gewesen war als Kanalräumer. Und Leuten, die eine derartige Arbeit zu verrichten haben, schenkt man gewöhnlich keine Titel. Er hatte an der offiziell fast unbekannten Bundespolizei mitgearbeitet, erfahren müssen, dass das Wort »Neutralität« nur in den Zeitungen einen sauberen Klang hat. In Wirklichkeit musste man versuchen, Leute zu fangen, die aus allen Himmelsrichtungen kamen, miteinander, gegeneinander arbeiteten, für Geld oder Orden – ganz wenige aus Sport und Leidenschaft, manche aus Liebe. Entdecken musste man sie, fangen, einsperren. Zur Strafe kam es selten, dafür dauerte die Untersuchung zu lange, und während dieser lebten sie üppig in den Zellen der Gefängnisse von Genf, Zürich, Lausanne, Basel, Frauenfeld, Luzern – und im Amtshaus der Bundesstadt Bern. Dort wohnten die Gefangenen gar nicht gerne, denn dort war es am ungemütlichsten. Studer jedoch musste reisen, reisen, von Genf bis Rorschach, von Lugano bis Neuenburg. Die Frau daheim langweilte sich, weil das kleine Töchterlein in die Schule ging und lieber mit Freundinnen spielte, als der Mutter Gesellschaft leistete. So kam es, dass die Frau, viel allein, anfing Bücher zu lesen; sie begann am Morgen, wenn das Meitschi in die Schule gegangen war, das Mittagessen war in einer Viertelstunde parat, nachher saß die Frau wieder in einem Lehnstuhl, las bis zum Abend, zündete das Licht an, legte sich ins Bett, las weiter bis tief in die Nacht – und wenn der Mann einmal heimkam von einer Reise, ärgerte er sich über alles: über den Staub auf den Möbeln, über den Schmutz in der Küche, über die ungelüfteten Betten und über die Kleider, die Mutter und Tochter trugen. Er seufzte, fuhr wieder fort, kam heim. Endlich schien die Hetz aufzuhören – 1919 wurde Studer zum Kommissär an der Stadtpolizei gewählt. Aber nun begann eine neue Arbeit. Über die Grenzen quollen wieder in Scharen Flüchtlinge, sie waren arbeitslos, verarmt, in der Bundesstadt stieg die Kriminalität, der neue Kommissär musste manchmal sechzehn Stunden im Bureau verbringen, Diebstahl, Raub, Mord … er war froh, dass er vor den »vier Jahren« in Graz, in Wien, in Paris, in Lyon studiert hatte; dies erlaubte ihm nun, in Bern eine Fingerabdruckstelle zu organisieren, die später von einem anderen ausgearbeitet werden sollte; und dieser andere heimste den Ruhm ein …
Nun hatte der Kommissär nach sechzehn Monaten Arbeit Ferien genommen und war mit seiner Frau ins Tessin gefahren, weil allzu viele Leute in die Berge fuhren, um dort ihre Ferien zu verbringen. Seit einer Woche wohnte er in der Pension Mimosa oberhalb einer Tessiner Stadt, in der einmal eine internationale Konferenz sich versammeln würde.25
Nachdem das Sträßlein ziemlich hoch am Abhang emporgeklettert war, bog es um und teilte ein Hochplateau, das zwei Hügel rechts und links einsäumten, sodass es wie ein Pass wirkte.
»Wir sind bald da«, tröstete Moritz Spigl. »Nur noch etwa zweihundert Meter. Hinter jenen Bäumen liegt die Mühle, die ich gemietet habe. Ich brauche nicht viel zu zahlen, weil das Dorf fast eine halbe Stunde entfernt ist. Aber wahrscheinlich werde ich jetzt ausziehen müssen, weil …«
Er schwieg, Studer schielte in sein Gesicht. Der Mund war geschlossen, und die Schneidezähne seines Unterkiefers gruben sich in die Unterlippe ein.