Der Mond war untergegangen. In der Dunkelheit zeichnete sich, einer Verheißung gleich, der erste Widerschein der Morgendämmerung ab. Auf der Landebrücke war eine Frau in den Anblick des Sees vertieft. Lange Zeit stand sie reglos da, dann wandte sie sich den Häusern von Ascona zu. Sie trug ein einfaches Leinenkleid und darunter ein Paar Zoccoli. Um den Kopf hatte sie ein rotes Taschentuch geschlungen, das im Halbdunkel schimmerte.
Studer näherte sich mit langsamen Schritten. Er wollte sie nicht erschrecken. Wenn das Geschwätz, das er im Dorf aufgeschnappt hatte, stimmte, konnte es nur sie sein. Die Signora, wie die Fischer, Weinbauern und Handwerker sie nannten. Ihre Fürsorglichkeit gegenüber den Armen, denen sie mit Rat und Tat zur Seite stand, hatte ihr noch einen weiteren Beinamen eingebracht: »Großmutter von Ascona«. Sie war Malerin, genau wie all die »Expressionisten«, die der Wachtmeister den ganzen Abend lang befragt hatte. Doch sie scheute sich nicht, sich unter die Einheimischen zu mischen.
»Guten Abend«, grüßte Studer.
Sie sah ihn an.
»Du bist der Polizist«, sagte sie zu ihm.
Studer nickte. »Und du bist die Malerin.«
Marianne von Werefkin war nach dem Krieg nach Ascona gekommen, um die Bronchitis ihres Lebensgefährten, des russischen Malers Alexej von Jawlensky, zu kurieren. Auch sie war Russin und stammte aus adliger Familie. Studer war zu Ohren gekommen, dass Jawlensky sie vor einigen Monaten verlassen hatte und nach Deutschland gegangen war. Es hieß, er habe eine Geliebte. Es hieß sogar, die Geliebte sei das Dienstmädchen oder, wie einige behaupteten, die Köchin des Hauses, und Jawlensky habe ein oder sogar drei Kinder mit ihr.30
»Du bist auf der Suche nach etwas«, sagte die Signora.
Studer heftete den Blick auf sie. Eine dunkle Haarsträhne lugte unter ihrem Kopftuch hervor.
»Ich bin auf der Suche nach einem Mörder.«
»Und du hast eine Frage an mich?«
Vielleicht hatte die Frau einen Hinweis. Aber welcher Art? Studer wusste nicht, was er sie fragen sollte. Derweil schaute sie ihn an und wartete, als wolle sie schieben wie bei einer Partie Jass31 und ihm die Wahl des Trumpfs überlassen.
»Du weißt, dass ich mit Anja Peters’ Tod beschäftigt bin?«
Die Werefkina deutete auf zwei an ein Mäuerchen gelehnte Bilder. »Hilfst du mir, sie zu tragen? Ich bin ein bisschen müde.«
Studer betrachtete die beiden Leinwände. Die eine war schneeweiß, noch unbemalt. Die andere zeigte das Dorf Ascona vom See gesehen. Es war Nacht, doch die Häuser hatten lebhafte Farben und spiegelten sich im Wasser. Studer dachte, dass vielleicht auch auf dem Gemälde die Sonne kurz vorm Aufgehen war. Vor der Kaimauer lagen einige Fischerboote; dahinter, in weiter Ferne, zeichnete sich das dunkle Gebirgsmassiv ab. Es herrschte ein seltsames Licht, als müsse von einem Augenblick auf den anderen etwas geschehen.
»Hast du das heute Nacht gemalt?«
»Aber nein! Ich male nicht en plein air. Ich habe es hierhergeschafft, weil ich es nochmals bei diesem Licht sehen wollte. Und ich habe noch ein anderes im Kopf.«
»Aber du hast noch nicht damit begonnen.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht im Freien male. Außerdem bin ich noch nicht so weit.«
Studer kratzte sich am Kopf. Er war auf der Suche nach einem unauffindbaren Maler, sie erzählte ihm von einem Gemälde, das es nicht gab … vielleicht bewegten sie sich in die richtige Richtung?
»Was hast du vor zu malen?«
»Den Schmerz.«
»Hm.« Studer spähte auf die weiße Leinwand. »Das wird nicht leicht.«
»Man sieht ihn nicht. Es ist eine ruhige Nacht, gerade brechen die Fischer mit ihren Booten auf. Derweil schläft das Dorf. Der See schläft. Und der Schmerz ist genau das, was nicht schläft.«
»Also sind wir beide es«, bemerkte Studer.
Sie brach in Gelächter aus. Es war ein ansteckendes, fast kameradschaftliches Lachen. Dann schüttelte sie den Kopf und ließ sich auf das Spiel des Polizisten ein.
»Du bist rot, würde ich sagen.«
»Ach ja?«
»Du verbirgst dich in den Bergen, in dem blutigen Schimmer auf dem Wasser, der Straße. Vielleicht gar auf dem Hemd des Fischers, der sein Boot schiebt. Du kennst den Tod, nicht wahr?« Studer antwortete nicht.
»Auch Schwarz wird es geben, gebeugte Figuren, die langsam voranschreiten … Tut mir leid, mein lieber Studer, aber der Tod ist deine Farbe.«
»Und du? Welche Farbe bist du?«
Die Werefkina lächelte. »Ich bin das Blau. Himmel, Berge, Wasser.« Sie hatte breite, etwas vorstehende Zähne. »Ich bin die, die liebt, was es nicht gibt: die Kunst, die Gedanken, welche die Furcht vor der Unendlichkeit wecken. Tiefblau. Und die Natur … unermesslich, unerschütterlich, wie ein schlafender Riese. Der harte, scharfe Felsen. Aber genau über den Felsen, weißt du, Kommissär, was wir dahin setzen?«
Studer versuchte zu raten: »Den Mond?«
»Bravo! Einen großen Mond mit rosa Hof. Die Augen wandern hinauf und bleiben dort haften.«
»Und was sehen sie?«
»Das, was du vielleicht die Wahrheit nennst. Oder dergleichen. Aber lass uns gehen, auf! Ich möchte gern vor Tagesanbruch daheim sein.«
Studer griff nach den Bildern. Seine Beine waren schwer und, was noch schlimmer war, seine Gedanken wirr. Er hatte die ganze Nacht mit den Künstlern und Tänzerinnen am Lagerfeuer gesprochen, ohne etwas herauszufinden. Sie liefen durch die verlassenen Straßen Asconas. Die Häuser wirkten verschwommen, gleichsam schwebend in einem frühmorgendlichen Traum.
»Es wird ein Gesang der Farben, alle dem Gelb des Mondes unterworfen. Eines Tages wird es mir gelingen, das zu malen, Kommissär. Weißt du, man kennt nur das, was man liebt.«
Diese verrückte Alte machte sich einen Spaß daraus, mit ihm zu spielen und ihm Geschichten vom Mond zu erzählen. Studer ließ sich auf das Spiel ein, obwohl er nichts lieber getan hätte, als es sich vor einem Krug Dunkelbier bequem zu machen.
»Apropos kennen …«
»Touristen wie du lieben den See«, unterbrach sie ihn. »Sonne, Berge, Bäume. Aber für mich geschieht das wahre Wunder jeden Morgen, wenn ich nach einer arbeitsreichen Nacht hierherkomme: Alles wird leicht, hell, und die Seele geht in die Weltseele über.«
Sie begann abzuschweifen. Studer rief ihr in Erinnerung, dass sie sich eigentlich über den Mond unterhielten, den sie noch nicht gemalt hatte.
»Ja«, murmelte sie. »Der Mond. Manchmal denke ich, dass die Größe der Kunst nicht darin besteht, was bereits getan wurde, sondern darin, was noch geschaffen werden muss.«
»Das, was es nicht gibt?«
»Oder das, was man noch nicht sieht.«
»Auch ich bin auf der Suche nach etwas, das es nicht gibt.«
»Ah! Da kommt der Polizist zum Vorschein!« Die Werefkina lächelte, dann wurde sie ernst und senkte die Stimme. »Aber den Mörder gibt es, leider. Ich bin dieser jungen Frau, der Anja Peters, begegnet. Sie kam nicht oft ins Dorf, aber manchmal besuchte sie ihre Tochter im Haus der Brogginis.«
»Was wusstest du über sie?«
»Nicht viel. Klatsch. Es hieß, sie sei die Geliebte von Baron Arenfurth. Übrigens hast du ja wahrscheinlich das Gemälde gesehen …«
Endlich! Studer vergewisserte sich, ob sie tatsächlich auf das Bild anspielte, auf dem Arenfurth Anja Peters angriff. Ob sie vielleicht wisse, wer es gemalt habe? Die anderen Maler hätten nur gemeint, dass es »allzu realistisch« sei.
»Ja, natürlich, machen wir das Ganze zu einer Geschichte der ›Ismen‹. Die andern glauben, dass Kunst eine Erklärung des Lebens sei.«
Studer seufzte. Besser, man hatte es nicht allzu eilig. »Doch in Wahrheit?«
»… ist Kunst das eigentliche Leben – das verletzte, leidenschaftliche, wirre und widersprüchliche Leben, doch sie ist das Leben und das Herz, das ihm antwortet.«
»Auch im Fall dieses unbekannten Malers?«
Die Werefkina schlug ihm vor, sich auf ein Bänkchen zu setzen, um zu verschnaufen. Dann führte sie aus, dass das Gemälde mit der Angriffsszene schlecht sei. Der Maler habe die Gewalt aufgezeigt, bevor es dazu kam, aber nicht mit dem Ziel, Alarm zu schlagen.
»Glaubst du, Arenfurth hat das Meitschi tatsächlich angegriffen?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, wie der Maler heißt: Otto Bakker, ein Holländer. Er hat das Bild gemalt, um den Baron zu erpressen. Er wollte ihm Geld abknöpfen, andernfalls hätte er alles über die Affaire zwischen ihm und Anja ausgeplaudert.«
Irgendetwas passte nicht zusammen. »Hatte er denn Beweise? Aber eigentlich brauchte Arenfurth selbst dann nichts zu befürchten …«
»Arenfurth fürchtet die öffentliche Meinung … und vor allem seine Gattin, obwohl sie in Holland lebt. Er selbst besitzt keinen Heller: Sie ist die Vermögende in der Familie. Wenn sie von seinen Abenteuern wüsste …«
Studer erzählte ihr, er habe noch eine andere junge Frau kennengelernt, Daniella Felder. Auch sie sei offenbar eine Geliebte Arenfurths.
»Weißt du was, Kommissär?« Die Werefkina wurde nachdenklich. »Ich habe den Eindruck, dass dir jemand einen Haufen Märchen aufgetischt hat.«
Die Malerin heftete ihre großen, klugen braunen Augen auf ihn. In diesem Augenblick begriff Studer mit einem Schlag, was geschehen war. Ein Täuschungsmanöver! Wut und Scham ließen ihn verstummen. Das Ganze war ein eigens auf ihn zugeschnittenes Täuschungsmanöver. Und er hatte, wie ein Tölpel, nichts davon bemerkt. Deshalb war er so weit davon entfernt, den Mörder aufzuspüren.
Er senkte den Kopf, als wolle er sich verstecken. Sein Blick fiel auf die Bilder, die an dem Bänkchen lehnten. Die nächtliche Landschaft war nicht zu sehen, davor war die leere Leinwand, auf der eines Tages vielleicht ein großer Mond erscheinen würde.