Moritz Spigl saß vor der Mühle neben einem Holzstapel. Er hatte einen Tisch und eine Schreibmaschine nach draußen geschafft, aber in diesem Augenblick las er Zeitung.

»Neuigkeiten?«, erkundigte sich Studer.

»Das Übliche. Keine Aussicht auf ein Ende der Hitze, Dürre in Frankreich, achtunddreißig Grad in Straßburg, stellen Sie sich das vor. Aber das hier ist eine alte Ausgabe. Ich muss Ihnen etwas gestehen, Herr Kommissär.«

Studer nahm auf einem Holzklotz Platz.

»Ich lese regelmäßig das Feuilleton«, fuhr Spigl fort. »Ausgerechnet ich, der ich vorgebe, ein besonderer Schriftsteller zu sein … ausgerechnet dann, wenn ich eigentlich schreiben sollte, lese ich in der Zeitung Das Drama in der Villa Paola32 von Arnaldo Mohr.«

»Jeder hat seine Schwächen«, sagte Studer.

»Darin kommt ein Meitschi namens Ada vor, genau wie Anjas Töchterchen. Und es gibt einen Verbrecher, der kein Verbrecher ist … gibt es so etwas auch in Wirklichkeit? Hören Sie sich das an: O Ada, welch schmerzvolle Reise, welch herzzerreißende Stunden; nicht  – Wie finden Sie das?«

»Ich glaube nicht an reine Seelen«, erwiderte Studer. »Und ich bin sicher, dass niemand als Verbrecher geboren wird.«

»Meinen Sie?«

»Niemand ist dazu bestimmt, der Menschheit zu schaden. Im Gegenteil, oft werden Verbrechen eher aus Dummheit denn aus Bosheit begangen.«

»Spielen Sie vielleicht auf eine bekannte Persönlichkeit an?«

»Ich spiele auf Sie an.«

Spigl machte eine merkwürdige Bewegung mit dem Hals, als wolle er die Flucht ergreifen. In diesem Augenblick ähnelte er mehr denn je einer Giraffe.

»Herr Kommissär, Sie … Exgüsi, ich bin ein wenig müd. Ich habe heute bereits in der Morgendämmerung Holz gehackt.« Er deutete auf den Stapel. »Dann habe ich versucht, etwas zu Papier zu bringen. Das Verbrechen, der mysteriöse Angreifer …«

Insgeheim begann Studer das Wort »mysteriös« zu hassen.

»Wie viel hat Ihnen Arenfurth gezahlt?«

Wieder das Gebaren einer verschreckten Giraffe. »Ich … ich habe es weniger wegen des Geldes als vielmehr deshalb getan, um den Ruf eines Freundes zu wahren …«

»Wie viel?«

Beide schwiegen. Studer begann auf das Blatt zu schielen, das in der Schreibmaschine steckte. Bloß zwei Worte standen darauf: »Erste Begegnung«. Studer dachte, dass Spigl mit diesem Titel irgendetwas x-Beliebiges hätte schreiben können.

»Ist Ihnen bewusst, dass Sie möglicherweise einen Mörder gedeckt haben?«

Spigl sprang auf. »Nein! Der Baron hat dieses Verbrechen mit Sicherheit nicht begangen. An besagtem Abend … haben Sie die Alibis nicht überprüft?«

»Er war in der Osteria, betrunken«, murmelte Studer. »Aber nichts spricht dagegen, dass er hergekommen sein könnte, um Anja umzubringen, und dann wieder in die Osteria zurückgekehrt ist …«

»Das glaube ich nicht. Meist hält er sich kaum noch auf den Beinen. Und außerdem, weshalb hätte er Anja ausgerechnet so umbringen sollen, wie es dieser namenlose Maler auf dem Gemälde dargestellt hat?«

»Er heißt Otto Bakker.«

»Was?« Offenbar hatte niemand Spigl über die Details aufgeklärt.

»Der namenlose Maler ist Otto Bakker. Auch ich glaube, dass der Baron Anja nicht getötet hat, aber wissen Sie, weshalb? Weil ich denke, dass er sie erschossen hätte. So, wie er auf Sie geschossen hat.«

Spigl schluckte so hastig, dass er fast daran erstickt wäre. Während er hustete, erschien Siss im Eingang zur Mühle, barfuß und in einem langen Kleid. Studer erklärte den beiden, dass Arenfurth extra so geschossen

»Der ist doch verrückt!«, rief Siss.

»Wer ist das hier nicht?«, antwortete Studer. »Ich selbst bin so verrückt, dass ich all eure Lügen glaube. Verrückt ist auch Ihr hier anwesender Freund, Moritz Spigl, der sich von einem gescheiterten Baron betrügen und beschießen lässt. Und verrückt auch Daniella, die vorgibt, Arenfurths Geliebte zu sein.«

»Was?«, brachte Spigl stockend hervor.

»Derweil die Wahrheit …«

Studer ließ den Satz in der Schwebe. Sie alle waren fehl am Platz. Siss mit ihrem baltischen Akzent, Spigl, der in Ascona jeden kannte und sich als Journalist ausgab, in Wahrheit aber bloß einer dieser vielen Ausländer war, die in den Wäldern nach merkwürdigen Dingen suchten. Und er selbst, Studer. Wie sahen ihn die hiesigen Einwohner? Als den behäbigen, stämmigen Polizisten aus Bern, der den ganzen Tag herumlief und mit jedem sprach, ohne zu merken, dass man ihm einen Bären aufband. Vielleicht war ja ausgerechnet Anja die Einzige, die nicht fehl am Platz gewesen war. Sie hatte Arenfurth verschmäht, aber sie war dageblieben, um in der Residenza zu leben. Und ihr Töchterchen wuchs im Dorf auf, ganz in der Nähe. Anja hatte einen echten Grund, in Ascona zu bleiben. Und tatsächlich hatte man sie ermordet.

Nun begriff Studer: Sie war ebendeshalb gestorben, weil sie nicht hatte fortgehen wollen.