Kapitel 3
Sonnabend, 17. März 1889
Montmartre, Paris
Alec
„Lass es dir schmecken”, sagte er zu seinem Freund, dessen blaue Augen im Kerzenschein verführerisch schimmerten. In der schummrigen Beleuchtung des Restaurants wirkten sie fast so dunkel wie seine Haare.
Die servierten Speisen dufteten köstlich, darunter die hiesige Spezialität Coq au vin , in Wein geschmorter Hahn.
Bon appétit !”, wünschte Victor ihm.
Alec schenkte ihm ein Lächeln. „Danke, dir auch.”
Einen Moment lang schwiegen sie beide und vertieften sich in ihr Essen.
Seit mehr als drei Monaten waren sie schon in Paris. Die erste Zeit hatten sie in einem Hotel gewohnt, bis sie eine günstigere Bleibe gefunden hatten, eine kleine, möblierte Wohnung am Montmartre, die sie wochenweise mieteten.
Zweierlei Gründe hatten sie hergeführt: Zum einen war Paris dieser Tage eine Art Pilgerort für jeden Kunstliebhaber. Zum anderen waren sie vor den Gerüchten geflohen, die ein missgünstiges Mitglied aus Victors Gentlemen’s Club in die Welt gesetzt hatte – der Erfinder Lucas Frampton hatte offenbar Victors Beziehung zu einem Mann ausgeplaudert.
Da homosexuelle Akte aufgrund des Labouchére Amendments 1 unter Strafe standen, war das katastrophal. Zumal auch Victors guter Ruf als Angehöriger der Oberschicht auf dem Spiel stand. Er hatte feststellen müssen, dass plötzlich die üblichen Einladungen zu Abendgesellschaften, Bällen und anderen Anlässen ausblieben, die er sonst regelmäßig erhalten hatte.
Er hatte Alec erzählt, dass einige seiner Nachbarn aufgehört hatten ihn zu grüßen. Um einem Skandal zu entgehen, hatte er kurz nach dem Westminster-Massaker hier in Paris mit ihm Zuflucht gesucht. Hoffentlich würde nach einigen Monaten Gras über die Sache gewachsen sein und sich die Londoner Oberschicht anderen Tratschgeschichten zuwenden. Und vielleicht gab es schon bald andere Skandale, die ebenfalls deren Aufmerksamkeit mehr erregen würden als die Gerüchte um Victor.
„Der Wein ist ganz köstlich. Und dieser Hahn auch”, riss Victor ihn aus seinen Gedanken.
„Ja, das finde ich auch”, sagte er und trank noch einen Schluck.
„Was meinst du – wie lange möchtest du noch hier in Paris bleiben?”, fragte Victor.
Alec lachte. „So darfst du nicht fragen. Ich liebe es hier. Es gibt so viele interessante Motive zu zeichnen und zu malen, ich könnte ein ganzes Jahr hier verbringen oder auch länger. Und anschließend würde ich stapelweise Bilder mit nach London zurückbringen und sie dort teuer verkaufen.”
Alec hatte einen Teil der kleinen Wohnung in ein Atelier verwandelt, doch er war auch oft in der Stadt unterwegs, um dort Skizzen anzufertigen, die er dann später in dem improvisierten Atelier als Grundlage für Gemälde nutzte. Gemeinsam hatten sie mehrere Kunstausstellungen besucht. Hier im Stadtteil waren sie häufiger zu Gast in einigen Cafés und Bars gewesen und hatten bald festgestellt, dass diese gern von den Bohemiéns frequentiert wurden, allerlei Freigeistern und Künstlern.
„Was hältst du davon, wenn wir um Ostern herum wieder nach London zurückkehren?”, erkundigte sich Victor.
„Hmm. Das ist in ungefähr vier Wochen. Meinst du, bis dahin haben sich die Wogen geglättet?”
„Ich hoffe es. Ich denke auch, ich sollte wieder nach dem Landsitz schauen und sehen, ob es Dinge gibt, die ich mit den Pächtern erledigen muss. Ich habe ja einen guten Verwalter, aber auch mit dem muss ich mich von Zeit zu Zeit besprechen. Aber wenn du magst, könnten wir ja nächstes Jahr noch mal für ein, zwei Monate hierherreisen?”
Alec freute sich über diese Aussicht. „Oh, dazu sage ich gewiss nicht Nein, das wäre ganz wunderbar.” Er griff einen Moment nach Victors Hand, die auf dem Tisch ruhte und drückte sie sanft.
„Wird mir ein Vergnügen sein”, erwiderte Victor mit einem Lächeln.
„Ich bin übrigens schon gespannt auf das Le Chat Noir 2 , sagte Alec. Es handelte sich um einen Nachtclub, in dem es allerhand Bühnendarbietungen gab und der ebenfalls bei den Bohemiéns beliebt war. Ein Schriftsteller namens Paul Verlaine, den sie vor kurzem in einer Bar kennengelernt hatten, hatte ihnen den Club empfohlen. An diesem Abend wollten sie nach dem Essen dorthin gehen. Alec hoffte auf weitere interessante Motive für sein Skizzenbuch.
„Und ich freue mich auf die Abendunterhaltung. Was immer dort geboten wird, ich lasse mich gern überraschen”, sagte sein Freund.
Einige Zeit später konnten sie zu Fuß dorthin gehen, denn die Rue de Laval war nicht weit vom Restaurant entfernt. Sie schlenderten vorbei an kleinen Geschäften und weiteren Gaststätten, mehrstöckigen Häusern, in deren Fenster zum Teil Lichter brannten. Die Straßen wurden schwach von Gaslaternen beleuchtet und ein kühler Wind wehte. Ein Mann auf einem Fahrrad fuhr an ihnen vorbei, jenem neumodischen Gefährt, das allein durch das Treten von Pedalen und einem entsprechend ausgeklügelten Mechanismus fuhr, der die beiden Räder antrieb.
„Was meinst du, ob das wohl Zukunft hat?”, wandte er sich an seinen Freund und deutete auf das Rad, ehe der Mann damit in den nächtlichen Straßen verschwand.
„Wer weiß? Ich habe jedenfalls schon öfter Fahrräder in London gesehen”, sagte Victor. „Aber ich würde mich selbst nie auf so ein wackliges Gefährt wagen.”
Kurz darauf fanden sie die dreigeschossige Villa, in der das Le Chat Noir untergebracht war. Eine ungewöhnliche Lokalität für einen Nachtclub, aber sicherlich gab es darin viel Platz.
Sie wurden von einem Herrn hereingelassen, der sie in den Saal führte. Hier gab es zahlreiche Tische, an denen es sich die Gäste bequem gemacht hatten, sowie eine Bühne, die noch hinter einem Vorhang verborgen lag. Die Inneneinrichtung wirkte reichlich skurril – unter der Decke hing ein ausgestopfter Fisch, möglicherweise eine Anglertrophäe. Ein wildes Durcheinander an Gemälden, Skulpturen und allerhand Bric-à-Brac 3 zierte die Wände, zusammen mit Holzschnitten und antiken Schwertern. Immer wieder tauchten Katzen als Motiv auf. Zusammengenommen wirkte das alles nicht gerade stilsicher, sondern eher wie ein buntes Sammelsurium. A llein das wäre schon eine Zeichnung wert . Zum Glück hatte er sein Skizzenbuch mitgenommen.
Victor lachte leise.
„Was ist so komisch?”
„Ach, ich dachte nur gerade daran, wie mein Butler wohl reagieren würde, wenn ich die Villa meiner Familie auf ähnliche Weise umgestalten wollte. Er wäre sicher entsetzt.”
Alec schmunzelte. „Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber im Moment hat er ja erst mal einen längeren Urlaub, nicht wahr?”
„Ja, und das hat er sich auch verdient.”
Sie fanden noch zwei freie Plätze an einem der vorderen Tische, den sie nun für sich hatten. Der Raum war ziemlich verqualmt; ein Dunst aus Zigaretten, Parfüm und Alkohol lag in der Luft. Alec musterte die Gäste. Damen in farbenfrohen Kleider und aufwändigem Haarschmuck. Herren, die eine lässige Eleganz ausstrahlten, wie sie in seiner Heimatstadt eher selten anzutreffen war. Ein Kellner kam zu ihnen an den Tisch und sie bestellten Cidré.
Wenig später begannen die Darbietungen. Alec holte sein Skizzenbuch hervor und begann zu zeichnen. Zunächst trat ein einzelner Mann mit einem Vollbart die Bühne, den er mit schnellen, fliegenden Strichen einfing.
„Guten Abend, meine Damen und Herren”, begrüßte er das Publikum auf Französisch. „Ich bin Monsieur Salis, der Besitzer dieses bescheidenen und zugleich extraordinären Etablissements und werde Sie als Conférencier durch den heutigen Abend geleiten, oder auch wie ich es gern nenne, als Seigneur de Chatnoirville . Heißen wir nun als Erstes den Illusionisten Hermann den Großen willkommen!”
Höflicher Applaus setzte ein, während ein Mann in nachtschwarzer Abendgarderobe, einem Zylinder und weißen Handschuhen mit schwungvollen Schritten auf die Bühne kam.
Alec wechselten einen Blick mit Victor. „Hast du eine solche Vorführung schon einmal gesehen?”
„Ja, aber das ist lange her. Aber seit wir … unsere speziellen Freunde kennen, frage ich mich schon, was es mit der Magie von Bühnenillusionisten wohl auf sich hat. Ich vermute, es sind einfach hervorragend einstudierte Tricks. Aber wer weiß?”
Herrmann der Große begrüßte das Publikum. „Ich freue mich, wieder in meiner Heimatstadt Paris zu sein. Ich bin in den letzten Jahren viel herumgekommen, meine Damen und Herren.”
Er begann nun, mit einem Deck Spielkarten, das er aus dem Nirgendwo hervorzauberte, mehrere Tricks zu zeigen und bezog auch einzelne Gäste mit ein, die jeweils Karten ziehen sollten.
Alec staunte nicht schlecht, als der Magier das Kartendeck später in einen Kelch legte, von dessen Grund aus sie plötzlich nacheinander aufwärts schwebten, bis sie schließlich wieder in dem Gefäß landeten.
Der Illusionist ging später dazu über, eine Münze, die er ebenfalls wie aus dem Nichts hervorholte, in einen Zylinder zu schnippen, den er sich von einem Mann aus dem Publikum geliehen hatte. Immer mehr Münzen landete auf diesem Weg in dem Hut.
Herrmann der Große schüttete sie schließlich in eine Papiertüte, die er zusammenfaltete und dem Mann zuwarf, dem der Hut gehörte.
„Schauen Sie nur hinein, Monsieur, dann werden Sie wissen, ob Sie heute Abend ein wenig reicher geworden sind.”
Der Mann lächelte siegesgewiss und öffnete die Tüte. Doch anstelle der Münzen zog er eine Pralinenschachtel heraus. „Wo sind die Münzen hin?”, fragte er verwirrt.
Herrmann der Große nickte ihm zu und lächelte. „Lassen Sie sich die Pralinen schmecken, Monsieur. Oder schenken Sie sie der Dame Ihres Herzens. Kommen wir nun zu etwas ganz anderem … Was ist Ihnen nun zeigen möchte, ist nichts für schwache Nerven. Es handelt sich um eine äußerst gefährliche Darbietung und ich benötige dafür einen Freiwilligen. Doch keine Sorge, Ihnen droht keine Gefahr, sondern nur mir.”
Er sah sich im Publikum um und deutete schließlich auf Victor. „Monsieur, kennen Sie sich ein wenig mit Handfeuerwaffen aus und haben Sie schon einmal mit einer geschossen?”
Victor bejahte dies mit verblüffter Miene, zunächst auf Englisch, dann auf Französisch.
Der Zauberer machte eine einladende Geste. „Ah, Sie sind Engländer? Kommen Sie doch bitte einmal auf die Bühne.”
Victor sah zu Alec hinüber, dem das ganz und gar nicht gefiel, weil er sich um die Sicherheit seines Freundes sorgte.
Der Illusionist erklärte: „Nur keine Angst, Ihnen wird nichts geschehen. Ich werde Sie gleich darum bitten, eine Kugel mit einem Kreuz zu markieren und ich werde anschließend diesen Vorderlader damit laden.”
Er deutete auf eine altmodische Waffe.
Victor erhob sich von seinem Platz. Am liebsten hätte Alec ihn zurückgehalten, trotz der Beteuerungen des Zauberkünstlers. Aber sein Freund strebte bereits zur Bühne.
„Wagen Sie es, Monsieur?” fragte der Illusionist, als Victor vor ihm stand. Wie er angekündigt hatte, drückte Hermann der Große Victor eine Kugel in die Hand und ein Stück Kreide. Victor malte mit der Kreide ein Kreuz auf die Kugel, reichte sie Herrmann dem Großen und dieser lud die Waffe mit einem klackenden Geräusch. Danach reichte er sie Victor.
„Sind Sie mutig genug, auf mich zu schießen, Monsieur?”, fragte er laut.
Victor sah ihn an, ohne etwas zu erwidern.
Alec starrte den Zauberkünstler ebenfalls an. Das glaube ich einfach nicht… Hatte dieser Mann den Verstand verloren?
„Wie ich schon sagte, der einzige, der hier Kopf und Kragen riskiert, bin ich”, sagte der Illusionist mit Nachdruck. Er wandte sich an das Publikum. „Ich werde nun versuchen, die Kugel mit dem Mund zu fangen, aber wie Sie sich vorstellen können, ist das ist alles andere als leicht. Zwölf Zauberer haben dieses Kunststück nicht überlebt. Werde ich der Dreizehnte sein?”, fragte er mit unheilschwangerer Stimme.
Ein Raunen ging durch das Publikum.
Alec war hin- und hergerissen zwischen aufkeimender Neugier und der Sorge um Victor, aber auch um diesen verrückten Zauberer.
„Nun, Monsieur?”, fragte Herrmann der Große. „Das Publikum wartet …”
Mit einer großen Geste drehte er sich für einen Moment halb von Victor weg und öffnete seinen Gehrock, sodass darunter das weiße Hemd und eine helle, glänzende Weste zum Vorschein kam.
Alec biss sich auf die Lippen. Himmel, wenn das schief ging … Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er sah, wie Victor auf den Zauberer zielte.
Ein dumpfes Dröhnen barst in der angespannten Stille des Saales, als sein Freund schoss. Der Zauberer taumelte ein, zwei Schritte zurück.
Wieder ging ein Raunen durch das Publikum, ein leiser Schrei ertönte.
Doch in diesem Moment drehte sich Herrmann der Große zum Publikum und öffnete seinen Mund einen Spalt breit. Zwischen seinen Lippen hatte er eine Kugel.
Victor gab einen überraschten Laut von sich.
Der Illusionist nahm die Kugel aus dem Mund und hielt sie Victor entgegen. „Sehen Sie sich die Kugel genau an, Monsieur …”
Victor beugte sich vor. „Tatsächlich, ein Kreidekreuz!”, rief er auf Englisch. Danach wiederholte er seine Worte auf Französisch und gab dem Zauberer die Waffe zurück.
Donnernder Beifall setzte ein und auch Alec applaudierte begeistert. So etwas hatte er sein Lebtag noch nicht gesehen. Aber dann fiel ihm ein, dass er schon ganz andere Dinge gesehen hatte, für die es keine logische Erklärung gab. Ob hier am Ende ebenfalls echte Magie im Spiel gewesen war?
Währenddessen verneigte sich der Zauberer, bedankte sich mit strahlender Miene und verließ die Bühne.
Victor kehrte zu ihm an den Tisch zurück. „Erstaunlich, nicht wahr?”
„Ich bin fast gestorben vor Angst um dich”, gab Alec zu.
„Ich war mir erst auch unsicher”, erwiderte sein Freund. „Aber dann hat meine Neugier die Oberhand gewonnen. Dieser Herrmann schien sich seiner Sache so sicher zu sein, da dachte ich mir, bestimmt würde er solch ein Kunststück nicht aufführen, wenn es ihn in Lebensgefahr brächte.”
„Das war trotzdem ganz schön riskant.”
„Aber nicht für mich”, entgegnete Victor.
Alec war sich dessen nicht sicher, aber er beließ es dabei.
Monsieur Salis betrat die Bühne und wies auf das Klavier, welches in einer Ecke stand. „ Mesdames et Messieurs , bitte begrüßen Sie nun unseren geschätzten Pianisten Maurice Rollinat, der die nächste Darbietung begleiten wird!”
Applaus brandete auf. Offenbar war der Pianist hier kein Unbekannter, ein Mann mit etwas wirren, dunklen Haaren und einem Schnurrbart, der nun einige Akkorde anschlug und ins Publikum nickte.
Nur wenig später betrat eine Dame in einem glänzenden hellen Kleid die Bühne, ihr Gesicht halb verborgen hinter einem großen, spitzenbesetzten Fächer, mit dem sie sich Luft zufächelte. In ihre Frisur waren Blüten eingeflochten, die bunte Farbtupfer in dem dunklen Haar bildeten. Der Anblick reizte Alec, eine Zeichnung anzufertigen, deshalb griff er nach einem Stift und öffnete sein Skizzenbuch. Als er die Dame genauer betrachtete, fiel ihm etwas an ihr auf...
Schon bald tönte der klare Gesang durch den Saal, begleitet von den Klängen des Klaviers.
Mon ami me délaisse 4
Ô gué, vive la rose
Je ne sais pas pourquoi
Vive la rose et le lilas
Alec spitzte die Ohren, um den Text zu verstehen. Er ließ den Zeichenstift kurz ruhen und stieß Victor von der Seite an. „Das Kleid steht ihm, findest du nicht?”
Victor blickte ihn von der Seite an. „Ihm?”
Alec grinste. „Sieh mal genauer hin.”
Sein Freund folgte der Aufforderung, auch wenn Alec im Stillen zugeben musste, dass es in dem dunstigen, eher dunklen Raum nicht einfach war. Dennoch waren die sehnigen Schultern der Sängerin ebenso wenig zu übersehen wie die flache Brust unter dem Korsett, dessen Stäbe unter dem Kleid zu erahnen waren. Und auch das stark geschminkte Gesicht hatte seine Aufmerksamkeit erregt, denn es wirkte ungewöhnlich kantig für eine Frau. Die Sängerin war eindeutig ein Mann. Dieser fuhr mit seiner Darbietung fort, unterstrich diese mit expressiven Gesten.
Il va-t-en voir une autre
Ô gué, vive la rose
Qui est plus riche que moi
Vive la rose et le lilas
On dit qu'elle est plus belle
Ô gué, vive la rose
Wie seltsam, dass hier ein Mann im Damenkostüm über eine Rivalin sang – und über einen Liebsten, der sich nun mehr für diese andere interessierte.
Je n'en disconviens pas
Vive la rose et le lilas
On dit qu'elle est malade
Ô gué, vive la rose
Peut-être qu'elle en mourra
Vive la rose et le lilas
Mais si elle meurt dimanche
Ô gué, vive la rose
Ein fast diabolisches Grinsen stahl sich in das Gesicht der „Sängerin”, als sie von dem möglichen Tod dieser Rivalin sang, und das sorgte für einiges Gelächter im Publikum.
Lundi on l'enterrera
Vive la rose et le lilas
Nun verließ „sie” die Bühne. Zu Alecs Überraschung trat sie direkt auf ihn zu und streichelte ihm über die Wange, während sie die nächsten Zeilen sang, in denen ihr Liebster zu ihr zurückkehrte. Einen Moment lang musterte sie seine Zeichnung und warf ihm einen anerkennenden Blick zu.
Mardi, reviendra me voir
Ô gué, vive la rose
Mais je n'en voudrai pas
Vive la rose et le lilas
Bei dieser letzten Strophe wandte sie sich mit einem hochnäsigen Gesichtsabdruck abrupt von Alec ab, da sie ihren ehemaligen Liebsten nun nicht mehr wolle, wie sie sang. Einzelne Lacher antworteten ihr aus dem Publikum. Mit verwirrter Miene sah er ihr hinterher, als sie auf die Bühne zurückkehrte und sich dort zum Beifall verbeugte.
Nach der „Sängerin” trat ein Komiker in einem schlecht sitzenden Anzug auf, der für allerhand Gelächter sorgte. Allerdings sprach er so schnell, dass Alec nur die Hälfte seiner Witze verstand.
Kurz darauf, als Alec gerade seinen Cidré austrank und es eine Pause gab, kam der Damendarsteller zu ihnen herüber. Er trug noch immer das Kleid und die Perücke.
„Meine Schöne, möchtest du etwas zu trinken?”, rief ihm ein Mann nach, was er mit einem Lachen quittierte. „Nicht von dir, Süßer.”
Er zog einen freien Stuhl heran und setzte sich zu ihnen.
„Ich kam nicht umhin, vorhin Ihre Zeichnung zu bewundern. Ganz zauberhaft”, sagte er zu Alec. „Ach, verzeihen Sie, wo bleiben meine Manieren. Mein Name ist François Lefèvre.” Ein gewinnendes Lächeln begleitete seine Worte.
Alec stellte seinen Freund und sich selbst ebenfalls vor.
„Sehr erfreut. Sind Sie das erste Mal in Paris?”
Victor nickte. „Aber hoffentlich nicht das letzte Mal. Eine faszinierende Stadt.”
François’ Lächeln vertiefte sich. „Das ist sie in der Tat. Und wie lange sind Sie schon verbandelt?”
Alec wechselte einen verblüfften Blick mit seinem Freund.
„Woher wissen Sie das?”, fragte Victor mit einem Stirnrunzeln.
„Oh, keine Sorge, Ihr Geheimnis ist bei mir sicher. Ich habe ein Gespür für so etwas. Ich merke es, wenn Leute einander innig zugetan sind. Oft merke ich es an der Art wie sie einander ansehen oder miteinander sprechen.”
Er lachte leise, ein Laut, der fast im Gesprächslärm der Gäste und der Klaviermusik unterging. „Ich muss zugeben, vorhin war ich mir nicht sicher, ob Sie beide vielleicht miteinander verwandt sind. Sie haben eine gewisse Ähnlichkeit, aber das liegt sicher an den dunklen Haaren. Von nahem betrachtet, sehe ich da doch einige Unterschiede.”
Alec sah von François zu Victor, der den Franzosen mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. François legte eine Hand auf Alecs Arm. Wie kam er zu dieser vertraulichen Geste? Alec entzog sich der Berührung.
François schien das keinesfalls zu entmutigen. „Sagen Sie, hätten Sie beide vielleicht Lust, nachher mit zu mir zu kommen? Sie könnten eine Zeichnung von mir anfertigen, zusätzlich zu dieser Skizze. Wenn Sie möchten? Ich habe schon gelegentlich für andere Leute Modell gesessen.”
„Ja, also ich weiß nicht…” Alec sah zu seinem Freund hinüber.
„Es ist nur eine Idee. Ich zahle Ihnen auch gern etwas für das Bild. Ich habe nämlich keines, auf dem ich in meiner Damenkleidung zu sehen bin.”
Victor musterte den Franzosen einen Moment lang nachdenklich. „Warum nicht?”, fragte er schließlich. „Wenn du Lust dazu hast, meine ich.”
„Das habe ich in der Tat”, musste Alec zugeben, denn dieses ungewöhnliche Motiv reizte ihn. Einen Damendarsteller hatte er noch nie gezeichnet.
„Wunderbar” François lächelte ein weiteres Mal. „Ich habe auch noch einen Wein zu Hause, den könnten wir uns teilen.”
„Ich würde vorschlagen, dass wir bald aufbrechen. Je länger der Abend, desto schwieriger wird es für mich mit dem Zeichnen”, sagte Alec frei heraus. Abends zu zeichnen war immer eine Herausforderung, weil die Beleuchtung mit Kerzen oder Öllampen den Augen nicht gut tat. Malen war so gut wie unmöglich, weil durch das künstliche Licht die meisten Farbnuancen ganz anders wirkten. Und je später es wurde, desto schwieriger war es auch um seine Konzentration bestellt.
„Das ist mir recht, ich habe heute keinen weiteren Auftritt”, sagte François. „Ich werde das Kleid einfach anbehalten, es dauert sonst so lange mit dem Umziehen. Es ist ja abends, da fällt wohl nicht weiter auf, dass ich keine Dame bin. Warten Sie, ich hole nur rasch meinen Mantel und dann können wir aufbrechen.”
Kurz darauf verließen sie das Kabarett und wanderten durch die Straßen von Montmartre. Einige Nachtschwärmer waren unterwegs. Ein Betrunkener torkelte auf sie zu. François wich ihm hastig aus und zischte auf Französisch: „Aus dem Weg!”
Der Betrunkene stolperte an ihm vorbei.
„War das wirklich notwendig?”, fragte Victor.
„Die Taschendiebe hier werden immer raffinierter”, erklärte François. „Manche tarnen sich als Betrunkene und greifen dann einfach nach Passanten, oder vielmehr nach deren Taschen.”
„Oh. Danke für die Warnung.”
Auf dem weitläufigen Boulevard de Clichy kamen sie an einer Baustelle vorbei, die zwischen zwei mehrstöckigen Wohnhäusern lag. Auf einem Schild war eine rote Mühle abgebildet, wie im Schein einer Gaslaterne zu erkennen war.
„Dort bauen sie auch ein Varieté”, erklärte François. „Das Moulin Rouge , so soll es heißen, habe ich gehört. Ich bin gespannt darauf, was sie wohl für Darbietungen bringen werden. Wer weiß, vielleicht können sie dort auch einen Damendarsteller gebrauchen? Aber es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sie es eröffnen.”
François wohnte in einer kleinen Seitenstraße, in einer Dachgeschosswohnung. Diese war zwar klein, aber recht behaglich eingerichtet. Große Samtkissen lagen auf einem Diwan im Wohnzimmer, floral gemusterte Vorhänge hingen an den beiden schmalen Fenstern. Die Wand ging in eine Dachschräge über. François kümmerte sich als Erstes um ein Kaminfeuer, das schon bald für angenehme Wärme sorgte und vor sich hin knisterte.
„Möchtet ihr ein Glas Wein?”, wandte er sich an sie, nachdem er einige Kerzen angezündet hatte.
„Gern”, sagte Victor.
„Da sage ich auch nicht Nein”, schloss Alec sich an.
Er servierte ihnen einen recht süßen Rotwein, der Alec schon nach wenigen Schlucken ein bisschen zu Kopf stieg.
François entzündete noch einige Öllampen. „Damit es hier schön hell ist zum Zeichnen”, erklärte er.
Alec stellte sein Glas hin. „In welcher Pose möchtest du gern abgebildet werden?”, wandte er sich an den Franzosen.
„Was würdest du mir denn vorschlagen?”, erwiderte dieser lächelnd.
„Setz dich am besten auf den Diwan, und dann sehen wir weiter”, schlug Alec vor.
François rutschte ein wenig auf dem Diwan hin und her, legte den Kopf erst schief, dann hielt er ihn gerade und er straffte seine Haltung.
„Ruhig etwas lockerer. Und vielleicht ein bisschen mehr wie eine Dame”, sagte Alec.
Nach einigem Hin und Her einigten sie sich darauf, dass François eine betont damenhafte Haltung einnahm, die Hände locker auf einem Knie platziert. Alec holte das Skizzenbuch und einen Bleistift aus der Tasche, legte beides auf den Esstisch und verrückte einige der Öllampen so, dass sie François besser ausleuchteten.
„Ist es gut so?”, fragte François ihn, nachdem er sich in die vereinbarte Pose gesetzt hatte.
Alec dirigierte ihn noch ein wenig hin und her, bis er zufrieden war. Als er zu zeichnen begann, merkte er den Alkohol in seinem Blut noch stärker. Seine Bewegungen waren lockerer als sonst und dasselbe galt auch für seine Striche. Der Stift flog über das Blatt, während er sich langsam vortastete und Umrisse und erste Schraffierungen skizzierte.
„Was sollte man eigentlich in Paris unbedingt sehen, haben Sie ein paar Ratschläge für uns?”, erkundigte sich Victor im Plauderton.
„Hmm … wart ihr schon auf dem Friedhof Père Lachaise? Sehr sehenswert, finde ich. Und da gibt es für dich sicherlich auch einiges zu zeichnen.”
Alec nickte ihm zu. Dass François ihn mittlerweile einfach auf Französisch duzte, irritierte ihn im ersten Moment, aber vielleicht war das hier in der Stadt unter Künstlern so üblich?
„Im 7. Arrondissement soll ein neues Wahrzeichen der Stadt entstehen, der Eiffelturm”, erklärte François. „Sie bauen schon zwei Jahre daran, aber demnächst ist er wohl fertig. Wenn ihr mich fragt, ich finde ihn ziemlich hässlich, und mit der Ansicht bin ich nicht allein. Er soll allerdings als Eingangsportal und Aussichtsturm für die Weltausstellung dienen.”
„Die ab Mai stattfindet? Ich habe davon in den Zeitungen gelesen.”
„Ja, genau. Ach, ich glaube, die ganze Stadt wird dann Kopf stehen. Werdet ihr dann auch noch hier sein?”
„Nein, wohl eher nicht. Auch wenn diese Ausstellung sicherlich sehenswert ist”, sagte Alec bedauernd.
Er wandte sich nun in seiner Zeichnung François’ Gesicht zu. Dieser hatte hohe Wangenknochen und leicht geschwungene, sinnlich wirkende Lippen, was beides durch die Schminke betont wurde, die er noch immer trug.
„Soll ich dich mit der Schminke zeichnen?”, fragte Alec vorsichtshalber nach.
„Genau so, Süßer.”
Alec verkniff sich einen Kommentar, auch wenn ihn die Anrede erröten ließ, wie er an der Wärme in seinen Wangen merkte. Stattdessen nickte er einfach. Ein Gesicht zu zeichnen, das hatte immer etwas Intimes, weil man dabei sein Gegenüber sehr lange und genau betrachtete, wie es sonst wohl eher nur bei einem geliebten Menschen der Fall war – oder einem Gegner, den man taxierte. Trotzdem hatte er kein schlechtes Gewissen Victor gegenüber, schließlich gehörte es nun einmal zum Zeichnen dazu und anders hätte er das Bild nicht zustande bekommen.
François erwies sich als diszipliniertes Modell. Obwohl er sich weiter mit ihnen unterhielt, veränderte er dabei weder die Haltung seines Kopfes noch seines Körpers, sodass Alec ungestört weiterarbeiten konnte. Kurz darauf erzählte François, dass er als Tänzer im Corps de Ballet an der Opéra Garnier arbeite. „Die Auftritte im Le Chat Noir sind nur ein Zuverdienst, aber ich habe viel Spaß daran. Ich singe an der Oper auch gelegentlich im Chor, aber für Soloauftritte dort reicht mein Talent nicht aus.”
Etwa eine Dreiviertelstunde später war die Zeichnung fertig. Alec hätte noch mehr daran machen können, zum Beispiel mehr Schattierungen hineinbringen oder die Falten des Kleides stärker herausarbeiten. Aber die Kunst bestand oft genug darin, rechtzeitig aufzuhören, denn manchmal war weniger mehr. François’ Augen blickten ihm wach und neugierig vom Papier entgegen, sie wirkten ganz lebensecht. Genau das hatte er erreichen wollen.
„Ach, das ist ja ganz zauberhaft”, sagte François mit einem freudigen Lächeln, als er ihm das Bild reichte. „Aber du hast mich ja hübscher gemacht, als ich bin. Wie schmeichelhaft.”
Alec hob mit einer hilflosen Geste die Hände. „Ich zeichne einfach das, was ich sehe. Jeder Künstler sieht die Welt auf seine eigene Weise.” Nun hatte er doch ein schlechtes Gewissen. Würde Victor eifersüchtig sein, weil er einen gutaussehenden Mann in seiner Zeichnung noch attraktiver gemacht hatte?
Falls Victor das nicht gefiel, ließ er es sich nicht anmerken. Er betrachtete das Bild einen Moment lang. „Ich finde, er hat dich gut getroffen. Und das sage ich nicht nur, weil er mein Freund ist.”
„Ah, das freut mich sehr. Was bin ich dir schuldig, Alec?”, erkundigte sich François.
Alec verlangte absichtlich um einiges weniger als bei wohlhabenderen Kunden, denn er ging davon aus, dass François mit seinen Auftritten und als Tänzer an der Oper nicht allzu sehr verdiente.
François gab ihm das Geld und Alec steckte es in seine Geldbörse.
Danach nahm der Franzose die Perücke ab und zupfte sich einige Haarklammern vom Kopf. Zerzauste, hellbraune Haare kamen zum Vorschein. „Noch etwas Wein?”, fragte er.
„Nein danke, aber hättest du vielleicht ein Glas Wasser für mich?”, fragte Alec. Wenn er an diesem Abend noch mehr trank, würde er gewiss ähnlich torkeln wie der Betrunkene, der sie beinahe angerempelt hätte.
„Aber sicher doch.” Kurz darauf reichte ihm François ein Glas. Das Wasser schmeckte ein bisschen abgestanden, aber das war ihm gleichgültig.
„Seid ihr beide eigentlich schon lange zusammen?”
„Fast zwei Jahre”, erwiderte Victor. „Manchmal frage ich mich ja, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich Frauen bevorzugen würde. Vermutlich wäre ich längst verheiratet und hätte Kinder.” Nachdenklich drehte er sein Glas in den Händen.
„Ach weißt du, bei uns sagt man: Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît point – das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt”, erwiderte François lächelnd. „Ich habe schon lange aufgegeben, darüber zu grübeln, warum ich eine Vorliebe für Männer habe.”
Im nächsten Moment bewölkte sich seine Miene. „Ich war eine Zeitlang mit einem anderen Tänzer zusammen, Jean. Aber er hatte bei Proben einen Unfall und die Knochen in seinem Bein sind schief zusammengewachsen. Die Ärzte haben ihm gesagt, dass er nie wieder Ballett tanzen kann. Er hat es nicht ertragen, mich weiter tanzen zu sehen. Das Ballett war sein Leben … Das Ende vom Lied war, dass er sich von mir getrennt hat. Und heute arbeitet er in einer Fabrik. Aber ich vermisse ihn noch immer manchmal.”
„Das tut mir leid”, begann Alec.
François machte eine wegwerfende Geste. „Ach, das muss es nicht, es ist ja nicht dein Problem. Es ist schon eine Weile her und ich habe mich an das Alleinsein gewöhnt. Auch wenn ich manchmal eine gewisse Sehnsucht habe ...” Plötzlich strich er über Alecs Hand, eine flüchtige, zarte Berührung.
François schenkte ihm ein Lächeln, biss sich auf die Lippe und sah zu Victor hinüber. „Mir kamen vorhin ein paar ganz verbotene Gedanken.”
Victor runzelte die Stirn und stand auf.
Mit einem Mal schien die Atmosphäre im Raum verändert; Alec fühlte eine seltsame Anspannung von sich Besitz ergreifen. Forschend betrachtete er François, der noch immer lächelte. In seinem Gesichtsausdruck lag eine Art Versprechen, aber Alec war sich nicht sicher, ob er mehr darüber herausfinden wollte.
Victor sagte nichts, er starrte François mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Der Tänzer näherte sich ihm, streckte die Hand aus und streichelte seine Wange. Dann sah er zu Alec hinüber.
„Die Nacht ist noch jung ...”, sagte er, seine Stimme kaum mehr als ein Wispern. Victors Miene entspannte sich allmählich, er neigte den Kopf und schmiegte seine Wange mit einem Mal an François‘ Hand, gab der Berührung nach.
Alec versetzte es einen Stich. War seinem Freund der Alkohol zu Kopf gestiegen? Hin- und hergerissen zwischen plötzlicher Eifersucht und einer merkwürdigen Faszination betrachtete er die beiden. Diese widerstreitenden Gefühle wurden noch stärker, als François sich vorbeugte und Victor einen Kuss auf die Lippen drückte. Sein Freund ließ es zu, legte einen Arm um François‘ Taille. Als dieser sich von ihm löste, sah Victor zu Alec, ein fragender Blick.
Alec fühlte sich wie hypnotisiert. Er ging zu ihnen hinüber, seine Schritte hallten ihm zu laut in den Ohren.
François lächelte Alec entgegen, schlang einen Arm um Victor und einen um ihm. Ein Teil von ihm hatte Angst, um sich selbst, um Victor, ein anderer brannte vor Neugier. François beugte sich vor zu ihm, sein Gesicht kam immer näher.
Alec schwankte, im ersten Moment wollte er zurückweichen, doch dann siegte die Neugier. Er schloss seine Augen und ließ es zu, dass François ihn küsste. Das war so anders als mit Victor … und doch nicht unangenehm. Er schämte sich für diese Empfindung, doch nicht lang, denn ein anderes Gefühl gewann die Oberhand, als eine Hitzewelle in seinem Inneren aufstieg. Er gab sich dem Kuss hin und erwiderte ihn, denn er begehrte diesen Mann, den er eben noch gezeichnet hatte. Eine zweite Hand glitt über seinen Rücken, hinauf zum Nacken, bis ihm die Finger das Haar zerzausten. Er spürte eine sanfte Berührung auf seiner Wange und begriff, dass es Victor war, der ihn dort küsste.
Er bekam keine Luft mehr und löste sich aus dem Kuss.
Victor sah ihn an, die Augen ganz dunkel, das Gesicht gerötet.
François stieß einen seufzenden Laut aus und sah von einem zum anderen. „Ich möchte mehr … von euch beiden. Wenn ihr das auch wollt?”
Victors Mundwinkel zuckten. „Ich muss gestehen, ich komme mir gerade sehr verdorben vor.”
„Ach weißt du … Napoléon Bonaparte soll einmal gesagt haben, Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt ”, erwiderte François mit einem Schmunzeln.
„Ein seltsames Sprichwort”, erwiderte Victor. Sein Gesicht verdüsterte sich ein wenig.
François zuckte mit den Schultern. „Nun, wir sind hier allein. Niemand wird uns stören und niemand wird erfahren, was hier heute Nacht zwischen uns geschieht.” Er sah von Victor zu Alec. „Und ich würde diese Nacht gern mit euch verbringen … wenn ihr das möchtet.”
Alec wusste nicht, was er empfinden sollte. Angst oder Scham? Faszination oder Begehren? Alles auf einmal wirbelte in ihm durcheinander. Aber seine Neugier war erwacht und er wollte diesen widersprüchlichen Gefühlen auf den Grund gehen.
„Ich … ich möchte das auch.” Die Worte stolperten aus seinem Mund. Er sah Victor an.
„Warum eigentlich nicht”, sagte dieser, seine Stimme fast nur noch ein Flüstern.
François lächelte und deutete auf den gepolsterten Diwan unter der Dachschräge, auf dem eine Decke lag. Sie alle setzten sich dorthin, François in der Mitte. Er griff nach Victors Hand und legte dessen Finger auf die Knöpfe seines Oberteils. „Mach sie auf”, sagte er leise.
Nach und nach entkleideten sie sich gegenseitig. Alec wurde dabei immer wärmer, und das lag nicht allein am Kaminfeuer. Er spürte die Hitze in seine Wangen steigen, als er vollständig entblößt war, sicherlich wurde er ganz rot im Gesicht. Dabei waren sein Freund und François nun auch fast nackt, das Kleid und ihre Anzüge ein Haufen zerknüllter Stoff auf dem Boden.
Zuletzt öffnete Victor die Ösen auf François’ Korsett und zog ihm das dünne Unterhemd aus. François, der noch immer zwischen ihnen saß, streichelte und küsste sie abwechselnd ohne Scheu, wenn auch sanft, ohne Drängen. Alec streichelte François’ Rücken mit unbeholfenen Bewegungen, spürte dessen sehnige Muskeln sich unter seinen Fingerspitzen bewegen.
Aus Victors Kehle drang ein rauer Laut, als François über seinen Hals streichelte. Seine Finger glitten über die Brust und wanderten allmählich tiefer. Er sagte etwas zu Victor.
Alec brauchte einen Moment, um es innerlich zu übersetzen – „Darf ich dir Vergnügen bereiten?”
Was meinte er damit? Victor sah Alec an, seine Brust hob und senkte sich deutlich und in seinem Blick stand eine unausgesprochene Frage.
Nun sah auch François ihn an. „Wenn es dir recht ist?”
Alec sah von einem zum anderen. In seinem Inneren konkurrierte ein Gefühl von Eifersucht mit einer plötzlichen Welle von Erregung, die seinen Unterleib erfasste. Das hier war alles fremd und doch irgendwie willkommen in dieser seltsamen Nacht. Vielleicht würde er es später bereuen, doch … er wollte mehr davon. „Ja”, sagte er deshalb.
Dennoch kam es einem kleinen Schock gleich, als sich François über Victors Schritt beugte und genau das tat, was sie sonst allein teilten, mit leisen, schmatzenden Geräuschen.
Victor sah Alec ein weiteres Mal an, überwand die Distanz zwischen ihnen und küsste ihn, während François sich weiter zwischen ihnen bewegte. Alec legte eine Hand in Victors Nacken, während ihm von diesem intensiven Kuss fast schwindlig wurde. Ein Kuss, der nach Wein und Verlangen schmeckte und die Eifersucht vertrieb, die ihm eben noch schwer im Magen gelegen hatte.
Aber noch immer nagte Scham an ihm, oder vielleicht war es eher ein Widerhall von alten Gefühlen, die er lang vergessen geglaubt hatte. Damals, als ihm bewusst geworden war, dass er Männer bevorzugte. Als es ihm falsch erschienen war, ja krank sogar, und er mit niemandem darüber zu sprechen gewagt hatte, über diese Empfindungen, die ihm so oft den Schlaf geraubt hatten. Bis er auf der Kunstakademie andere Männer kennengelernt hatte, die so wie er waren …
Victor löste sich langsam von ihm, verscheuchte die Gedanken an damals. Sein Freund bog den Kopf zurück und keuchte auf. Dann vergrub er seine Finger in François’ hellbraunem Haarschopf. Victors Brust hatte sich gerötet, er atmete schwer und auf seiner Haut glänzte Feuchtigkeit. Seine Erregung war für Alec wie zum Greifen nah und ein Teil davon übertrug sich auf ihn selbst, allein durch den Anblick der beiden und dem vertrauten Geruch seines Freundes, der sich mit dem des Kaminfeuers vermischte und dem leicht herben Duft, der von François ausging.
Dieser hörte nicht auf, Victor zu stimulieren, sein Kopf bewegte sich ruckartig auf und ab. Ein Stöhnen verließ die Kehle seines Freundes, erst leise, dann immer lauter. Er schloss für einen Moment die Augen, schien sich ganz seinen Empfindungen hinzugeben. Alec streichelte ein weiteres Mal François’ Rücken, glitt mit einer Hand darüber, strich über dessen Schulterblätter.
Victor öffnete die Augen wieder, sie waren wie dunkle Seen. Alec beugte sich vor zu ihm, fühlte dessen Erregung noch stärker in sich selbst widerhallen. Mit seinen Lippen umschloss er eine von Victors Brustwarzen und biss leicht hinein. Ein Zittern lief durch seinen Freund, im nächsten Moment bäumte er sich auf und gab einen keuchenden Laut von sich.
Alec löste sich von ihm und auch François richtete sich wenig später wieder auf. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund, verschmierte die Reste des Lippenstiftes vollends. Er hauchte Victor einen Kuss auf den Mund, den dieser hungrig erwiderte.
Alec fühlte sich mit einem Mal ausgeschlossen, doch diese Empfindung verging wieder, als sich die beiden voneinander lösten und ihn ansahen.
„Ah … das habe ich schon lange nicht mehr gemacht”, sagte François. Er warf einen Blick auf Alecs Leibesmitte, was ihn ein weiteres Mal erröten ließ; seine Erregung war mehr als deutlich sichtbar.
François lächelte und strich über Alecs Wange, eine hauchzarte Berührung. „Kein Grund rot zu werden für etwas, dass die Natur nun einmal so eingerichtet hat und was uns so viel Freude schenken kann.”
Und genau das taten sie noch mehr als einmal in dieser Nacht – gemeinsam schenkten sie einander sinnliche Freuden und erforschten sich gegenseitig, berührten und liebkosten sich, sie alle drei. Je länger sie sich einander hingaben, desto mehr vergaß Alec alle Scham und Eifersucht, denn beides spielte irgendwann keine Rolle mehr. Die Gespenster und Schuldgefühle der Vergangenheit, sie suchten ihn nicht wieder heim, nicht in dieser Nacht, nicht mit Victor und François. Der Franzose hatte recht – was sie miteinander teilten, war wie ein unerhofftes Geschenk.
Später, als die Müdigkeit sie alle doch noch einholte, kuschelte sich Alec auf dem Diwan an seinen Freund und zog die Decke über sie beide.
„Ich hatte eine wunderbare Nacht mit euch. Schlaft gut”, sagte ihr Gastgeber mit einem Lächeln. Victor wünschte ihm ebenfalls eine gute Nacht. François löschte die Lichter im Zimmer und zog sich in sein Schlafzimmer zurück.
*
Alec saß in der ersten Reihe in einem Zuschauerraum, der im Dunkeln lag und bis auf ihn komplett leer war. Die große Bühne vor ihm war vollkommen schmucklos, auch gab es kein Bühnenbild. Doch sie war in ein gelbliches Licht getaucht. François stand in seinem Damenkleid auf der Bühne und begann nun zu singen, begleitet von einem Pianisten, der nicht zu sehen war. Was war das hier? Eine Darbietung allein für ihn? Wie seltsam. Und wie kam er überhaupt zu dieser Ehre?
Es war ein bisschen wie im Le Chat Noir , doch nach nur einer Strophe des Liedes veränderte sich die Szene unversehens. François und auch das Klavier verstummten, nun trug er dunkle, enganliegende Kleidung, wie ein Balletttänzer. Der Stoff schmiegte sich an seinen Körper, zeichnete dessen Konturen nach. Alec fühlte einen Widerhall jener Erregung in sich, die er abends im Zusammensein mit Victor und dem Franzosen verspürt hatte.
François tanzte mit einer zierlichen Frau in einem weißen Kleid, mit einem kurzen Rock. Zarte Geigenklänge begleiteten ihren Tanz. Anmutig drehten sich die beiden, François hob seine Partnerin hoch und ließ sie wieder zu Boden gleiten. Sie knickste vor ihm, danach verließ sie kerzengerade und mit eleganten Schritten die Bühne. An ihre Stelle trat ein Mann, dessen Gesicht unter einer weißen Halbmaske verborgen war.
Auch er trug die enganliegende Kleidung eines Tänzers und griff nach François‘ Hand. Die Musik veränderte sich, zu der Geige gesellte sich ein Klavier, aber Alec konnte die Musiker nirgends entdecken. Ein fröhlicher, schneller Walzer erklang und die beiden Tänzer drehten sich im Takt der Musik über die Bühne, als ob sie auf einem Ball tanzten. François ließ sich von dem Maskierten führen.
Alec blinzelte. Irgendetwas stimmte nicht. In die fröhlichen Klänge mischte sich etwas Bedrohliches … dumpfe, grollende Bassakkorde dröhnten von dem Klavier herüber, gepaart mit vereinzelten, schrill-kreischenden Geigentönen. Die zunehmenden Dissonanzen der Musik hallten ihm hässlich in den Ohren wider. Die Bewegungen der beiden Männer verloren ihre fließende Eleganz, wurden ruckartig, abgehackt. Dennoch drehten sie sich noch eine Weile weiter, ein bizarrer, wilder Tanz, bei dem sie mit den Füßen im Takt der schauerlichen Musik aufstampften. Aber damit endete es nicht – ihre Arme und Beine zuckten bald unkontrolliert, sie ließen einander los und François blickte hinunter in den Zuschauerraum, sah Alec direkt an. Sein Gesicht war mit einem Mal leichenblass, um die Augen lagen tiefe Schatten. Wie ein Totenschädel. François lächelte ihn an, doch es sah aus wie ein diabolisches Grinsen. Und er streckte die Hand nach ihm aus, kam immer näher …
*
Mit einem keuchenden Laut fuhr Alec aus dem Schlaf hoch. Victor, der neben ihm lag, murmelte undeutlich etwas und drehte sich auf die andere Seite. Alec spürte sein Herz in der Brust trommeln. Nur ein Traum … nur ein schlechter Traum.

1 Ein britisches Gesetz von 1885
2 Französisch: „Die schwarze Katze”
3 Sammlung an Kunst- und Ziergegenständen, die in der viktorianischen Ära sehr beliebt waren
4 Übersetzung des Liedes am Ende des Buches