Kapitel 7
Mittwoch, 21. März 1889
Rue Scribe, 9. Arrondissement
Alec
Gemeinsam mit seinem Liebsten, Nica, deren Freundin und Giselle stand er vor dem Eingang der Opéra Garnier, vor dem sich mehrere Polizisten und zahlreiche Leute in Zivil aufhielten, darunter offensichtlich auch einige Journalisten – Männer mit gezückten Notizbüchern, die sich etwas aufschrieben. Die Polizeibeamten unternahmen zwar ein paar halbherzige Versuche, diese zu verscheuchen, doch die Männer ließen sich nicht vertreiben, ganz im Gegenteil, sie hörten nicht auf, Fragen zu stellen.
Die Oper war ein prachtvolles Gebäude, auf dessen Dach sich links und rechts mehrere goldglänzende Statuen befanden, welche offenbar die Musen der schönen Künste darstellten. Zumindest schien es ihm so, er hatte schon ähnliche Skulpturen gesehen. Unten am Opernhaus gab es einen Bogengang mit mehreren Durchgängen. Zahlreiche Säulen verteilten sich auf dem mittleren Teil der Front, die auch über zwei ovale Ziergiebel mit Fresken verfügten. Direkt am Dach waren zahlreiche goldfarbene, maskenartige Köpfe mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken zu sehen – sehr passend für ein Gebäude, welches die Kunst des Schauspiels zelebrierte.
„Was ist denn hier passiert?”, erkundigte sich Giselle auf Französisch bei einer Dame mittleren Alters, die ein dunkles, schlichtes Kleid trug und sehr blass aussah. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet, die sie mit fahrigen Bewegungen rauchte.
„Ach, es ist entsetzlich … heute Morgen haben sie hier die sterblichen Überreste des Maschinisten Monsieur Buquet auf der großen Treppe im Eingangsbereich gefunden. Er lag in einer Blutlache, aber von ihm war kaum noch etwas übrig. Sein Leichnam sah aus, als ob wilde Tiere über ihn hergefallen wären. Ich meine, Teile seines Körpers waren angefressen.”
„Wie grauenvoll!”, rief Giselle.
Alec wechselte einen Blick mit Victor, der ebenfalls blass geworden war.
„Die Polizei durchsucht die gesamte Oper. Aber es ist wohl so, dass sie bisher noch nichts gefunden haben. Zumindest habe ich noch nichts davon gehört. Eigentlich waren heute Proben für ein neues Stück angesetzt, aber das haben die beiden Direktoren absagen müssen. Der gesamte Betrieb in der Oper ist bis auf Weiteres eingestellt.”
„Das wundert mich nicht”, sagte Victor leise zu Alec. „Wenn es hier um einen Mordfall geht …”
„Was macht ein Maschinist eigentlich in der Oper? Ich meine, ist das eine gefährliche Tätigkeit?”, erkundigte er sich laut bei der Dame.
„Monsieur Buquet war früher Bühnenarbeiter und ist dann zum Maschinisten befördert worden”, erklärte sie. „Er ist … ich meine, er war für die Bedienung und die Überwachung der Bewegungen der beweglichen Bühnenelemente zuständig. Eine verantwortungsvolle Aufgabe. Und auch nicht ganz ungefährlich. Wie jede Arbeit, die mit schwerer Mechanik zu tun hat, würde ich sagen. Aber er ist nicht dadurch zu Tode gekommen, falls Sie das vermuten. Wie gesagt, sein Leichnam wurde auf der großen Treppe im Foyer gefunden.”
Victor nickte nachdenklich.
Alec fiel ein junger Mann mit einem Zylinder auf, der in fliegender Hast etwas in sein Notizbuch schrieb und der Dame offensichtlich ebenso lauschte, wie sie es taten. Sicherlich auch ein Journalist.
„Eine Tänzerin und ein Tänzer sind ebenfalls verschwunden und nun machen sich alle Sorgen, ob sie ebenfalls dem Mörder zum Opfer gefallen sind”, fuhr die Dame fort.
„Davon haben wir schon gehört”, erwiderte Fiona. „François und Celestine, nicht wahr?”
„Woher wissen Sie davon?”, fragte die Damüberrascht.
„Wir kennen die beiden, es sind Bekannte von uns. Wir wollten hier Erkundigungen einziehen und sie suchen.”
„Ah, ich verstehe … Ich hoffe so sehr, dass den beiden nichts zugestoßen ist. Ich habe meiner Tochter Meg verboten, hierherzukommen, bis sich alles aufgeklärt hat. Sie ist auch eine der Tänzerinnen.”
Die Dame senkte mit einem Mal verschwörerisch ihre Stimme. „Aber wissen Sie, das ist noch nicht alles. Ich habe etwas Merkwürdiges von unseren Direktor Monsieur Moncharmin gehört. Er hat gestern einen Brief erhalten, in dem verlangt wurde, dass er rohes Fleisch im Bereich hinter der Bühne bereitlegen sollte. Unterzeichnet war der Brief mit Das Phantom der Oper . Natürlich hat er das zunächst einfach für einen kranken Scherz gehalten, aber nach dem Mordfall erscheint dieser Brief in einem ganz anderen Licht.”
Der junge Journalist war bei ihrer Schilderung nähergetreten. „Ach, du meine Güte!”, rief er nun.
Die Frau im dunklen Kleid sah ihn scharf an. „Sie werden das doch nicht etwa in einem dieser Schmierblätter veröffentlichen?”, fragte sie mit schneidender Stimme.
Ob sie schon bereute, dass sie hier gerade einiges ausgeplaudert hatte?
Der junge Mann deutete eine Verbeugung an. „Gestatten, Gaston Leroux. Ich bin Student der Rechtswissenschaft und arbeite nebenbei als Journalist. Ich schreibe Theaterkritiken und Kriminalberichte für L'Écho de Paris. Und glauben Sie mir, wenn ich diese Geschichte nicht veröffentliche, dann wird es ein anderer tun. Sehen Sie nur, wie viele Journalisten hier sind.”
Wie seltsam, dass dieser Mann sich ihnen sogar namentlich vorstellte. Für einen Journalisten, der vor Ort Erkundigungen einzog, war das gewiss nicht üblich. Oder doch? Oder wollte er mit dieser Höflichkeit das Vertrauen dieser Dame erlangen? Alec musterte ihn argwöhnisch.
„Aber machen Sie sich keine Sorgen”, fuhr Monsieur Leroux mit einem gewinnenden Lächeln fort. „Ich werde selbstverständlich ausschließlich Fakten präsentieren und mir nicht etwas aus den Fingern saugen.”
„Ach, ich habe schon viel zu viel gesagt”, entgegnete die Dame mit gerunzelter Stirn. „Entschuldigen Sie mich nun bitte, ich muss wieder hinein. Die Polizei möchte uns alle verhören.”
Monsieur Leroux tippte an seinen Hut. „Vielen Dank, Madame. Einen schönen Tag noch, die Herren, die Damen”, sagte er auf Französisch und ging zu einem anderen Herrn hinüber, möglicherweise ebenfalls ein Angestellter des Opernhauses.
Die Dame sprach mit einem der Polizisten, der sie eintreten ließ.
„Was machen wir denn jetzt?”, fragte Nica in die Runde.
„Ich fürchte, wir können hier nicht viel ausrichten”, erwiderte Giselle. „Aber wer weiß, vielleicht findet die Polizei die beiden Vermissten? Und hoffentlich können sie auch den Mordfall aufklären. Ich schlage vor, wir kommen heute Abend noch einmal her, vielleicht haben sie ja bis dahin schon etwas herausgefunden.”
„Meinen Sie nicht, wir könnten ihnen unsere Hilfe anbieten, für die Suche?”, überlegte Alec.
„Das kann ich mir nicht vorstellen, immerhin geht es um einen Mordfall und wir sind schließlich keine Angestellten der hiesigen Polizei”, erwiderte Fiona.
„Auch wieder wahr…”, musste er zugeben. Offenbar war sein ausgeprägter Hang zur Hilfsbereitschaft wieder einmal mit ihm durchgegangen. „Dann heißt es wohl abwarten und Teetrinken.”
„Wir könnten nach Eliott sehen”, fiel Victor ein. „Ob es ihm besser geht? Und vielleicht freut er sich ja über einen Besuch?”
„Eine gute Idee”, stimmte Fiona ihm zu.
„Sehe ich auch so”, sagte Alec.
„Mieten wir uns eine Kutsche, die uns zum Hotel bringt”, schlug Giselle vor und deutete zu einer Handvoll der schwarzen Gefährte, die in der Nähe des Opernhauses auf Kundschaft warteten.
Wenig später saßen sie alle in einem davon, das sich rumpelnd in Bewegung setzte. Zu fünft war es eng und stickig darin, doch die Fahrt würde nicht lange dauern.
„Ich frage mich gerade, ob für diesen seltsamen Todesfall des Bühnenmeisters wohl eine übernatürliche Ursache in Frage kommt”, sagte Fiona. „Vielleicht ein Werwolf oder etwas in der Art.”
„Ein Werwolf ?” Von einem solchen Wesen hatte Alec noch nie gehört. „Was soll das sein?”
„Das ist ein Gestaltwandler. Ein Mensch, der sich unter bestimmten Umständen in einen Wolf verwandeln kann”, erklärte Nicas Freundin. „Zum Beispiel bei Vollmond, wie wir ihn jetzt gerade haben. Schon ein seltsamer Zufall. Wer weiß, vielleicht hat dieser auch jenen mysteriösen Brief geschrieben und sich selbst darin als Phantom bezeichnet. Das wäre zwar merkwürdig, denn eigentlich jagen Werwölfe, nach allem, was ich über sie gehört habe, lieber selbst, als dass sie Aas fressen. Aber vielleicht haben ihn ja besondere Umstände dazu getrieben. Und später scheint er über den Maschinisten hergefallen zu sein.”
Alec machte große Augen. „Und gibt es viele solcher … Gestaltwandler?”
„So weit ich weiß, nein. Ich meine, ich habe bisher nur Gerüchte gehört, ich kenne keinen persönlich. Aber nach allem, was ich bisher über sie weiß, werden solche Wesen zu reißenden Bestien, wenn sie sich in Wölfe verwandeln. Sie können ihre Mordlust nicht kontrollieren und ernähren sich dann tatsächlich von rohem Fleisch. Deshalb kam ich auf die Idee, dass der Mörder des Hausmeisters vielleicht ein Werwolf ist. Aber wie gesagt, es gibt wohl nur noch sehr wenige dieser Gestaltwandler. Wölfe werden schließlich gejagt und dadurch sind auch viele Werwölfe ums Leben gekommen. Auf der Zusammenkunft der magisch Begabten habe ich von einem Werwolfsrudel gehört, das für einige Todesfälle verantwortlich war. Aber das war nicht hier in Paris, sondern in Lozère. Ist das nicht im Süden von Frankreich?”
„Ja, das stimmt. Früher hieß dieser Landesteil Gévaudan”, erklärte Giselle. „Und es gibt eine alte Geschichte über die sogenannte Bestie des Gévaudan. Ich habe darüber vor einer Weile in der Bibliothek unserer spiritistischen Gesellschaft, den Friends of the Departed, gelesen. Der Bericht stammt aus dem 18. Jahrhundert, möglicherweise ging es damals ebenfalls um einen Werwolf.”
„Giselle, haben Sie jemals etwas darüber gehört, dass hier in der Stadt Werwölfe leben?”, erkundigte sich Victor. „Gibt es darüber auch Texte in der spiritistischen Bibliothek?”
Giselle runzelte die Stirn, ein nachdenklicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. „Nein, darüber ist mir nichts bekannt. Aber wer weiß, es ist gut möglich, dass es welche gibt, die im Verborgenen leben. Ich meine, nach allem, was ich in den vergangenen zwei Jahren erfahren habe – über die Anderswelt, die Magie und von Geistern ganz zu schweigen – halte ich fast nichts mehr für unmöglich.”
Eine Weile lang hüllte sie sich alle in brütendes Schweigen. Alec sann über all das nach, was sie in der vergangenen Stunde erfahren hatten. Und er dachte auch an François. War dieser ebenfalls ein Opfer des Mörders geworden? Ein unerträglicher Gedanke.
Wenig später kamen sie im Hotel an und gelangten über die Treppe in das Stockwerk, in dem sich Eliotts Zimmer befand. Fiona klopfte an seine Tür.
Miss Jhadav öffnete ihnen. „Guten Abend”, sagte sie leise. „Eliott schläft gerade”, erklärte sie. Die Inderin trug die traditionelle Kleidung ihrer Heimat, die aus einer Pluderhose, einem Sari und einem langärmeligen Hemd bestand, alles aus glänzendem türkisfarbenem Stoff. „Bitte, kommen Sie mit mir nach unten in den Aufenthaltsraum, dort können wir in Ruhe sprechen.”
In jenem Raum, der abgesehen von ihnen leer war, nahmen sie auf gepolsterten Sesseln und Stühlen Platz, die dort bereitstanden.
„Ich fürchte, es geht Eliott noch schlechter”, begann Miss Jhadav mit betrübter Miene. „Und ich bin ehrlich gesagt mit meinem Latein am Ende. Ich habe es noch mit einer anderen magischen Untersuchung versucht, einer Methode aus meiner Heimat, aber auch die ist gescheitert. Ich konnte die Krankheitsursache einfach nicht herausfinden. Und sollte sein Zustand gar mit einer Art von schwarzer Magie zusammenhängen, so hat sich diese möglicherweise so vollständig getarnt, dass sie für mich nicht zu erkennen war. Ich habe vorhin mit einem der Zimmermädchen gesprochen und es abwimmeln können. Sie wollte das Zimmer säubern, aber ich habe ihr erklärt, dass Eliott unpässlich sei. Die Frage ist, wie lange wir das Hotelpersonal hinhalten können. Es wäre auch durchaus möglich, dass sie irgendwann darauf bestehen, dass wir ihn in ein Krankenhaus bringen. Aber da wir weiterhin nicht wissen, woran er leidet, habe ich keine Ahnung, ob das eine gute Idee wäre.”
Sie strich sich über das schwarze Haar, eine Bewegung, die ihre dünnen silbernen Armreifen zum Klingen brachte, als diese gegeneinanderschlugen. „Das Ganze ist mir ein Rätsel. Heute berichtete er mir von einem seltsamen Heißhunger auf blutig gebratenes Steak. Das hat ihn gewundert, weil er Fleisch sonst lieber durchgebraten isst. Und Sonnenlicht ist weiterhin eine Qual für ihn, er liegt im abgedunkelten Zimmer.”
„Er hat Appetit auf blutiges Fleisch und scheut das Sonnenlicht?”, fragte Fiona. „Sagen Sie, Amrita, haben Sie an seinem Körper irgendwelche seltsamen Male entdeckt?”
Miss Jhadav musterte sie überrascht. „Worauf möchten Sie hinaus?”
„Vielleicht wurde er im Schlaf von einem Vampir gebissen und kann sich nicht daran erinnern? Das würde seine Erkrankung und diesen seltsamen Appetit erklären.”
„Ein Vampir?”, fragte Nica mit großen Augen.
„Ja, erinnerst du dich noch, wie wir uns bei Victor damals Gedanken über den East End Mörder gemacht haben? Wir haben auch überlegt, ob es ein Vampir gewesen sein könnte.”
„Helfen Sie meinem schwachen Gedächtnis bitte auf die Sprünge – was wissen Sie über Vampire?”, erkundigte sich Victor.
Das Gleiche hatte Alec auch fragen wollen.
„Deren Existenz ist der allgemeinen Bevölkerung heutzutage nicht mehr bekannt, sie gelten als reine Sagengestalten”, erklärte Fiona. „Aber es gibt sie schon seit der Antike, sie werden bereits als Vampire geboren. Sie jagen Menschen und töten diese auch, indem sie ihr Blut trinken. Allerdings sind sie seit den Zeiten der Inquisition sehr selten geworden. Denn diese hat nicht nur Hexen und Magier auf den Scheiterhaufen gebracht, sondern auch Dämonen und alle möglichen anderen Wesen bekämpft.”
„Und was geschieht, wenn man von einem Vampir gebissen wird?”, wollte Alec wissen.
„Menschen werden, anders als in vielen Legenden, nicht durch einen Vampirbiss ebenfalls in Vampire verwandelt”, erklärte die irische Hexe. „Menschen, die gebissen werden, sterben entweder dadurch oder siechen dahin. Nach außen hin wirkt das dann oft wie eine rätselhafte Erkrankung. Deshalb kam ich in Eliotts Fall darauf. Die verbliebenen Vampire können sich untereinander vermehren, indem sie Kinder zeugen.”
„Also verstehe ich das richtig, sie können nicht durch einen Biss einen neuen Vampir erschaffen?”, fragte Nica.
„Ja, das ist richtig.”
„Also wird Eliott, falls er tatsächlich von einem Vampir gebissen wurde, nicht in einen solchen verwandelt?”, erkundigte sich Alec, den das alles zunehmend verwirrte.
„Ja. Es könnte allerdings sein, dass er an den Folgen des Bisses stirbt”, sagte Fiona, deren Gesicht sich bei diesen Worten verdüsterte.
„Oh, nein”, erwiderte Alec mit rauer Stimme.
„Ich muss gestehen, ich habe noch nicht nachgesehen, ob er irgendwo Bissmale hat. Aber das werde ich später nachholen. Am Hals hat er jedenfalls keine, das wäre mir aufgefallen”, sagte Miss Jhadav.
„Aber ist es denn wahrscheinlich, dass er in der Nacht gebissen wurde, ohne sich daran erinnern zu können? Ich meine, so etwas muss man doch selbst im Schlaf merken – es tut bestimmt weh”, sagte Nica.
Fiona strich sich über das kupferrote Haar. „Es gibt Gerüchte darüber, dass Vampire dazu in der Lage sind, das Bewusstsein ihrer Opfer zu manipulieren. Wer weiß, vielleicht trifft das auch auf deren Gedächtnis zu. Möglicherweise kann Eliott sich nicht an den Biss erinnern, weil ihm die entsprechende Erinnerung genommen wurde.”
„Entschuldigen Sie mich, ich werde mal schauen, ob Eliott mittlerweile wach ist. Und dann kann ich nachsehen, ob er tatsächlich solche Male hat.” Miss Jhadav deutete einen Knicks an und verließ den Raum.
„Ich frage mich ja, ob wir heute Abend an der Oper mehr über den Verbleib von Celestine und diesem Tänzer herausfinden”, sagte Giselle nachdenklich. „Und es ist auch seltsam, dass Celestines Verehrer – Paul Charron – verschwunden ist. Man sollte wirklich meinen, die beiden seien durchgebrannt, aber nach dem, was mir meine Tochter erzählt hat, kann ich mir das ehrlich gesagt, kaum vorstellen. Doux Jésus , nicht auszudenken, wenn die drei ebenfalls diesem Mörder zum Opfer gefallen sind! Ob es nun ein Werwolf war oder nicht.”
„Hoffentlich wissen wir später mehr”, sagte Victor.
Eliott
Es klopfte an seiner Zimmertür. Verwirrt sah er sich um. Er musste geschlafen haben, hatte aber keine Ahnung, wie spät es war, denn die Gardinen waren zugezogen. Besser so, das Tageslicht tat seinen Augen nicht gut. Himmel, ihm war, als ob sein Gehirn mit Watte gefüllt sei. Seine Gliedmaßen dagegen schienen schwer wie Blei. Außerdem fröstelte er, dabei war es gar nicht so kalt im Zimmer.
„Eliott, sind Sie wach?”, hörte er eine melodiöse, helle Stimme. Miss Jhadav.
„Ja, kommen Sie herein”, sagte er und erschrak, denn die Worte kamen nur krächzend heraus.
Sie trat ein, im Zwielicht des Zimmers kaum mehr als ein Schemen. Oder hatten seine Augen nun auch Schaden genommen? Bloody hell, was für eine seltsame Krankheit …
„Ihre Freunde waren hier und haben sich nach Ihnen erkundigt, aber da haben Sie geschlafen”, erklärte sie.
„Ist sicher besser, wenn sie mir nicht zu nahekommen. Falls es ansteckend ist. Ich habe schon ein schlechtes Gewissen Ihnen gegenüber, weil Sie sich so um mich kümmern. Geht es Ihnen gut?”
„Machen Sie sich um mich keine Sorgen”, sagte sie, trat ans Fenster und zog eine der Gardinen halb auf. Selbst das wenige Licht, das nun ins Zimmer strömte, tat seinen Augen weh. Er konnte allerdings nicht umhin, festzustellen, dass die türkisfarbene Kleidung Miss Jhadav äußerst gut stand. Sie bildete einen interessanten Kontrast zu ihrer etwas dunkleren Haut. Mensch, Breeches du musst dir diese Schwärmerei aus dem Kopf schlagen, das führt doch zu nichts …
„Wie steht es um Ihren Appetit, von dem Sie mir berichtet haben? Auf blutiges Fleisch?”, riss sie ihn aus seinen Gedanken.
Er spürte tatsächlich wieder diesen seltsamen Heißhunger. Dabei war ihm blutig gebratenes Fleisch eigentlich ein Gräuel. „Der ist immer noch da”, gab er zu.
„Ich werde nachher beim Hotelpersonal fragen, ob sie Ihnen etwas entsprechendes zubereiten können.
„Danke, sehr freundlich von Ihnen.”
Sie sah ihn einen Moment lang direkt an, ehe sie auf ihre Schuhspitzen hinuntersah. „Würden Sie sich bitte bis auf die Unaussprechlichen ausziehen?”
„Wie bitte?!”, fragte er verwirrt.
Sie wurde rot. „Oh, Verzeihung, ich glaube, meine Worte waren ein wenig missverständlich. Ich möchte Ihre Haut auf Bissmale oder andere Spuren untersuchen. Damit wir ausschließen können, dass Sie des Nachts von einem Vampir gebissen worden sind.”
„Das bin ich mit Sicherheit nicht, das wäre mir doch aufgefallen.”
„Nicht unbedingt. Gerüchten nach sind Vampire dazu in der Lage, das Bewusstsein ihrer Opfer zu manipulieren. Ich gebe zu, die Wahrscheinlichkeit ist gering, aber möglicherweise wurden Sie tatsächlich von einem solchen Wesen gebissen. Es würde Ihren Appetit auf fast rohes, blutiges Fleisch und ihre Empfindlichkeit gegenüber Sonnenlicht erklären. Und falls ein Vampir Ihr Bewusstsein entsprechend manipuliert hat, wurde Ihnen vielleicht die Erinnerung an den Biss genommen.”
Eliott gefiel das alles ganz und gar nicht. Widerstrebend begann er dennoch sein Hemd aufzuknöpfen. „Also wenn Sie darauf bestehen … Sie kennen sich mit übernatürlichen Wesen sicher besser aus als ich, auch wenn ich in den letzten zwei Jahren so einiges gesehen habe.”
Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wann er sich das letzte Mal in Anwesenheit einer Dame entkleidet hatte. Es musste in einem der Bordelle in London gewesen sein. Die Erinnerung daran ließ ihm die Hitze in die Wangen schießen.
Sich hier vor Miss Jhadav auszuziehen, war ihm ziemlich peinlich, auch wenn sie natürlich lediglich ein medizinisches Interesse daran hatte. Zugleich merkte er, wie schwer ihm mittlerweile selbst diese einfachen Bewegungen fielen. Was war das nur für eine vermaledeite Erkrankung?
Schließlich stand er nur noch in den Unaussprechlichen vor ihr, weiße Baumwollwäsche. Auch die Strümpfe hatte er ausgezogen.
„Bitte stellen Sie sich einmal hin”, bat sie mit sanfter Stimme. Er folgte der Aufforderung und sie ging um ihn herum. „Nein, auf den ersten Blick sehe ich hier nichts. Heben Sie bitte einmal die Füße an, damit ich mir Ihre Fußsohlen ansehen kann.”
Das machte er ebenfalls.
„Nein, da ist auch nichts zu sehen”, sagte sie.
Sie bat ihn auch die Arme zu heben, damit sie in seine Achselhöhlen schauen konnte.
„Bitte, auch wenn das unangenehm für Sie ist – ziehen Sie einmal die Unaussprechlichen herunter. Schauen Sie vorn und ich … sehe mir Ihre Rückseite an.”
Eliott errötete noch mehr. Himmel, war das peinlich! Aber ein Arzt hätte vermutlich in dieser Situation ähnliches von ihm verlangt, deshalb kam er der Aufforderung nach und schaute an sich herunter. Da war nichts, was dort nicht hingehörte, zum Glück.
„Hmm…” machte Miss Jhadav. Das gefiel ihm nicht; musste er sich nun Sorgen machen?
„Hier ist nichts zu sehen”, sagte sie schließlich. Das war eine Erleichterung.
„Sie haben da ein kleines Muttermal, aber das sieht normal aus. Sie können sich wieder anziehen.”
So rasch wie möglich zog er die Unaussprechlichen wieder hoch. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, während er sich wieder anzog. Doch er machte es zu schnell, ihm wurde schwindlig.
„Ich würde Ihnen meine Hilfe anbieten, aber ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, Sie anzufassen”, sagte sie. „Falls diese Krankheit auch durch Berührung übertragbar ist. Ach, ich wünschte wirklich, wir wüssten mehr darüber.”
„Lassen Sie ruhig, ich muss es einfach ein bisschen langsamer angehen”, erwiderte er mit einem Schulterzucken und zog sich das Unterhemd wieder über. „Jedenfalls bin ich froh, dass ich offenbar nicht von einem Vampir gebissen worden bin.”
„Ja, das können wir mit Sicherheit ausschließen.”
Verdammt, blieb also weiter die Frage – woran zur Hölle war er erkrankt?
*
„Monsieur, so leid es mir tut, Sie können nicht hierbleiben.” Mit diesen Worten wurde Eliott einige Zeit später aus dem Halbschlaf gerissen. Er sah den Hoteldirektor an seinem Bett stehen, Miss Jhadav neben ihm. Seine Sicht war merkwürdig verschwommen, doch er konnte gerade eben so erkennen, dass der ältere Mann eine Zeitung schwenkte.
„In Paris geht eine Seuche um, gerade heute habe ich davon gelesen”, sagte er auf Englisch. „Bislang weiß niemand, um was für eine Erkrankung es sich handelt. Ich kann nicht riskieren, dass Sie hier meine Mitarbeiter oder gar Gäste anstecken. Ihre Bekannte hat sich bereit erklärt, Sie in ein Krankenhaus zu bringen.”
Eliott sah ein, dass ihn keine Diskussion weiterbringen würde. Zumal er ohnehin zu geschwächt war für viele Worte. Schon wieder verspürte er diesen unglaublichen Appetit auf rohes, blutiges Fleisch. Vielleicht war es wirklich keine schlechte Idee, sich in einem Krankenhaus untersuchen zu lassen?
„In Ordnung, ich gehe”, sagte er mit kraftloser Stimme. „Lassen Sie mich nur meine Sachen zusammenpacken.”
„Gewiss, Monsieur.” Der Hoteldirektor verließ das Zimmer.
„Ich helfe Ihnen beim Packen”, sagte Miss Jhadav.
Eliott war ihr dankbar, denn als er aufstand, fühlte er sich sehr wackelig auf den Beinen.
„Und dann bringe ich Sie ins Krankenhaus Hôtel-Dieu de Paris ”, erklärte sie.
„Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen.”
„Der Hoteldirektor sagte mir, die Opfer dieser Seuche werden alle im Hôtel-Dieu de Paris behandelt. In dem Zeitungsbericht standen auch Symptome – starke Lichtempfindlichkeit, ein merkwürdiger Appetit auf blutiges Fleisch, allgemeine Schwäche …”
„Glauben Sie, man wird mir im Krankenhaus helfen können?”, fragte er mit zittriger Stimme.
„Das werden wir dann sehen”, erwiderte Miss Jhadav, während sie einzelne Kleidungsstücke in einen seiner Koffer packte. „Ich für meinen Teil kenne keine Erkrankung, die solche Symptome aufweist. Und dabei kenne ich selbst exotische Krankheiten, wie zum Beispiel Malaria. Aber das mag nichts heißen. Ich habe einiges über die Geschichte der Medizin gelesen. Im Laufe der Jahrhunderte hat es immer mal wieder neue Krankheiten gegeben, die einfach so in Erscheinung getreten sind. Während andere wieder verschwunden sind. Was soll ich mit diesen Sachen machen?”
Sie deutete auf die Tasche, in welcher er die gestohlenen Artefakte aufbewahrte.
„Würden Sie diese an sich nehmen und auf sie aufpassen, bis ich das Krankenhaus wieder verlassen kann?”, fragte er. „Falls Sie bereits früher wieder nach London zurückmüssen, nehmen Sie sie bitte mit.”
Er wollte noch mehr sagen, doch sie unterbrach ihn.
„Ich hatte eigentlich vor, in zwei Tagen wieder aufzubrechen. Aber ich möchte Sie und Ihre Freunde ungern hier zurücklassen, ohne dass ich weiß, was Ihnen fehlt. Ich habe auch noch kein Billett für die Rückreise gekauft. Die Tasche kann ich gern in meine Obhut nehmen.”
„Danke. Aber was ist mit Ihrer Arbeit in London?”
„Das ist kein Problem, ich habe noch zwei Wochen Urlaub. Dann muss ich allerdings wirklich zurück.”
„Ich verstehe. Wie kann ich Ihnen nur für Ihre Hilfe danken?” Die Worte kratzten in seinem Hals, sie kamen mit einem Röcheln heraus.
„Machen Sie sich darum keine Gedanken. Werden Sie nur wieder gesund, Eliott.”
Eliott versuchte sich an einem Lächeln, doch das gelang ihm nur halbwegs.
Kurze Zeit später saßen sie in einer Kutsche. Eliott schloss die Augen, er war zu erschöpft, um aus dem Fenster zu sehen oder sich mit Miss Jhadav zu unterhalten.
Das Krankenhaus Hôtel-Dieu de Paris war ein stattliches Gebäude, das sich auf einer dicht bebauten Insel mitten in der Seine befand. Nur eine Straße trennte es vom Fluss.
Eine Krankenschwester brachte sie zu einem Arzt, der Englisch sprach, nachdem Miss Jhadav ihr mit allerhand Gesten klargemacht hatte, dass sie beide kein Französisch sprachen. Eliott fühlte sich zu schwach, um selbst zu sprechen. Er durfte sich setzen, während Miss Jhadav dem Arzt seine Symptome schilderte.
„Ich fürchte, damit hat Sie ebenfalls diese Seuche erwischt, die seit wenigen Tagen in der Stadt grassiert. Ich sage den Schwestern Bescheid, sie werden Sie in ein Zimmer bringen. Wir werden Ihnen Blut abnehmen und es untersuchen. Wir konnten bei anderen Erkrankten eine auffällige Veränderung im Blut feststellen und wir sollten besser ausschließen, dass Sie vielleicht doch an einer anderen Erkrankung leiden.”
„Ja, das verstehe ich”, sagte Eliott. Er musste husten, schon wieder kratzte es in seinem Hals.
Die Sicht verschwamm ihm ebenfalls wieder, er blinzelte, doch das half nichts. Eine Schwester brachte ihn und Miss Jhadav, die seinen Koffer trug, in einen größeren Saal. Er wollte die Betten zählen, doch selbst das war ihm zu mühsam. Auf jeden Fall waren es mehr als zehn. Bleiche Gesichter mit geröteten Augen blickten ihm entgegen, eine Frau hatte ein offenes Geschwür an der Wange. Der Raum war so weit wie möglich abgedunkelt, sicherlich, um die angegriffenen Augen der Patienten zu schonen. Es roch nach Kernseife, Krankheit und Tod. Ein scheußlicher Gedanke kam ihm – würde er hier drin sterben?
Reiß dich zusammen, Breeches. Noch ist nicht aller Tage Abend.
Die Krankenschwester führte ihn zu einem freien Bett. Mit einem ächzenden Laut ließ er sich auf den Stuhl daneben fallen und zog seine Schuhe aus. Danach ließ er sich mit einem Seufzer der Erleichterung ins Bett gleiten.
„Ich werde unsere gemeinsamen Freunde suchen”, versprach Miss Jhadav ihm. „Und ich besuche Sie sobald wie möglich. Vielleicht kommen die anderen dann ja mit, oder zumindest einige von ihnen.”
„Das würde mich sehr freuen”, sagte er leise. „Vielen Dank, Miss … ich meine, Amrita.”
Für Eliott wurde es ein langer Tag, an dem die Minuten zäh dahinflossen. Zu seiner Überraschung erkannte er unter den Patienten auch den Diener von Sébastien Dubois. Er hatte eine ganz graue Gesichtsfarbe und schlief, dabei wälzte er sich unruhig von einer Seite zur anderen.
Einer von Eliotts anderen Mitpatienten, der im Bett nebenan lag, versuchte ein Gespräch mit ihm zu beginnen, doch schon nach wenigen Worten stellte sich heraus, dass der Mann kein Englisch konnte.
Je ne parle pas français ”, erklärte Eliott ihm mit einem Schulterzucken.
„Spricht hier irgendjemand von Ihnen Englisch?”, fragte er in die Runde, doch die einzige Antwort waren ratlose Mienen. Einige der Anwesenden reagierten überhaupt nicht oder schliefen.
Etwas später wurde ihm Blut abgenommen. Hin und wieder kam eine der Schwestern herein, um sich um andere Patienten zu kümmern. Das Essen, das ihnen serviert wurde, rührte er nicht an, auch wenn er es unter normalen Umständen sicherlich gegessen hätte. Doch er verspürte keinen Appetit, abgesehen von jenem unsäglichen Hunger nach blutigem Fleisch. Etwas derartiges wurde hier niemandem serviert. Vielleicht hielten es die Ärzte für keine gute Idee. Oder war er der einzige mit diesem mysteriösen Appetit?
Später versuchte er aufzustehen und einige Schritte zu gehen, doch schon bald wurde ihm schwindlig und er musste sich wieder hinlegen. Er schaffte es immerhin, in seinem Koffer nach dem Groschenroman zu kramen, den er mit auf Reisen genommen hatte – passenderweise eine Detektivgeschichte, ein rätselhafter Kriminalfall. Doch die Buchstaben verschwammen ihm schon bald vor den Augen. Nein, das machte keinen Sinn.
Eliott war schon immer ein Mann der Tat gewesen. Einfach nur im Bett zu liegen gefiel ihm überhaupt nicht. Andererseits konnte er nicht einmal herumlaufen; er war viel zu schwach auf den Beinen. Wo hatte er sich nur diese Krankheit eingefangen? Er hatte keinerlei Kontakt mit Tieren gehabt, die vielleicht Krankheiten übertrugen. Oder war es während der Reise hierher passiert, hatte ihn ein anderer Passagier angesteckt? Oder der Diener von diesem Dubois? War es am Ende irgendeine exotische Krankheit, vielleicht aus einer der englischen Kolonien? Aber das ergab keinen Sinn. Und dann war da auch noch die Frage, wie die Seuche sich hier in der Stadt ausgebreitet hatte. Selbst diese wenigen Überlegungen fielen ihm schwer, er konnte sich nicht vernünftig konzentrieren. Wenig später glitt er in einen Dämmerschlaf hinüber.
Rue Scribe, 9. Arrondissement
Victor
Abends fuhr er zusammen mit seinem Freund sowie Fiona, Nica und Giselle ein weiteres Mal zum Opernhaus, das von der Abenddämmerung in ein blutig-rötliches Licht getaucht wurde.
Noch immer standen Polizisten am Eingang. Mehrere Schaulustige hatten sich ebenfalls auf dem Vorplatz versammelt. Einige von ihnen diskutierten lautstark.
Giselle wandte sich an einen untersetzten Polizeibeamten und sprach mit ihm auf Französisch. Victor hatte Schwierigkeiten, der Unterhaltung zu folgen.
„Was hat der Herr gesagt?”, erkundigte er sich deshalb kurz darauf bei ihr.
Giselle verzog das Gesicht. „Er hat mir gesagt, dass er uns keine Auskunft geben darf.”
„Ach, herrjeh. Aber das war zu befürchten.” Victor schaute sich um. Unter den Schaulustigen entdeckte er ein bekanntes Gesicht.
„Schauen Sie mal, das ist doch die Dame, die heute Vormittag mit uns gesprochen hat. Vielleicht kann sie uns mehr sagen?”
Fiona nickte ihm zu und sie alle gingen zu ihr hinüber.
Bonsoir , Madame – Guten Abend”, wandte sich Giselle an sie. „Hat die Polizei mittlerweile etwas herausgefunden?”
Sofort wandten sich ihr mehrere der Schaulustigen mit neugierigen Mienen zu.
„Kommen Sie mit, weg aus diesem Pulk?”, antwortete die Dame. „Dann können wir ungestört sprechen.”
Sie folgten ihr, bis sie etwas abseits stehen blieb.
„Die Polizei hat sämtliche Mitarbeiter der Oper verhört, von den Reinigungskräften bis hin zu den Direktoren. Sie haben das Opernhaus durchsucht, auch den Keller. Aber bisher haben sie nichts gefunden. Von der armen Celestine und François fehlt weiterhin jede Spur. Ich habe auch nichts davon gehört, dass Paul Charron wieder aufgetaucht ist.”
Sie räusperte sich. „Dazu muss ich sagen, das Kellergewölbe der Oper reicht über mehrere Stockwerke, alles unterirdisch. Es ist das reinste Labyrinth und nicht ganz ungefährlich. Außerdem munkelt man, dass es dort unten Geheimgänge geben soll. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Jedenfalls wundert es mich nicht allzu sehr, dass die Polizei dort nichts gefunden hat.”
„Wir wollten unsere Hilfe anbieten und nach den Verschwundenen suchen”, erklärte Giselle. „Aber wenn selbst die Polizei niemanden gefunden hat …”
Die Dame in dem dunklen Kleid musterte sie einen Moment lang nachdenklich. „Wollen Sie das wirklich tun?”
„Wir haben schon einmal Leute gesucht, die verschwunden waren”, sagte Nica. „Und wir haben sie wiedergefunden, auch wenn das recht abenteuerlich war.”
„Ich für meinen Teil bin für jede Hilfe dankbar”, erwiderte sie. „Ach verzeihen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, ich bin Madame Giry. Ich arbeite an der Oper als Concierge. Die verschwundene Tänzerin, Celestine, ist mit meiner Tochter befreundet. Meg macht sich große Sorgen um sie.”
„Sie sagten vorhin, der Keller sei gefährlich”, warf Fiona ein. „Wie meinen Sie das?”
„Nun, es gibt dort Treppen, die sehr alt sind, einige Stufen und Teile des Geländers sind kaputt. Ein einziger unvorsichtiger Tritt kann schnell zu einem Sturz führen. Außerdem gibt es im Keller keine Beleuchtung, man muss sich also mit Laternen ausstatten. Und es ist wie gesagt, mit einem Labyrinth vergleichbar. Man kann sich leicht verirren.”
Nica wechselte einen Blick mit ihrer Freundin.
Victor dachte an François. Ihm wurde ganz heiß, als er sich an die gemeinsam verbrachte Nacht erinnerte. Bei dem Gedanken daran, dass der sympathische Franzose vielleicht irgendwo im Keller zusammen mit der Tänzerin und ihrem Verehrer von dem Mörder des Maschinisten gefangen gehalten wurde, wurde ihm ganz anders.
„Wir könnten die Direktoren der Oper fragen, ob wir den Keller durchsuchen dürfen”, riss Alec ihn aus seinen Gedanken.
Madame Giry schüttelte energisch den Kopf. „Ganz im Vertrauen – Monsieur Richard und Monsieur Moncharmin stehen beide ein bisschen neben sich seit dem Mordfall. Das ist ja auch kein Wunder. Aber ich sage Ihnen etwas – ich werde Sie in den Keller begleiten. Ich arbeite seit mehr als zwanzig Jahren an der Oper und kenne mich dort unten ein wenig aus. Ich habe vorhin auch die Polizei dorthin begleitet, doch wir haben nichts gefunden, nicht einmal irgendwelche Spuren. Allerdings gibt es in der untersten Kellerebene eine Zisterne 1 und man bräuchte ein Boot, um sie zu überqueren. Ich habe mal gehört, dass früher dort auch ein Ruderboot lag, aber das ist viele Jahre her. Als wir dorthin gekommen sind, war keines da. Möglicherweise hat es jemand benutzt, wer weiß?”
„Könnte man nicht auch durch das Zisternenbecken hindurch waten?”, fragte Alec.
„Oh nein, Monsieur, das halte ich für keine gute Idee, das Becken ist ziemlich tief. Wenn man nicht schwimmen kann, wäre das äußerst waghalsig. Da fällt mir ein, wir hatten kürzlich ein echtes Boot auf der Bühne. Für die Oper Lohengrin von Richard Wagner. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es fahrtauglich ist, aber vielleicht können Sie sich das einmal ansehen?”
„Aber wie sollten wir denn ein Boot über Treppen, gefährliche noch dazu, transportieren?”, fragte Fiona.
Madame Giry runzelte die Stirn. „Ach, daran habe ich eben gar nicht gedacht. Das ist allerdings wahr.”
„Ich schlage folgendes vor – wir durchsuchen den Keller so gründlich wie möglich.”, sagte Victor. „Und was diesen See betrifft, wer von Ihnen kann schwimmen?”
Betretenes Schweigen antwortete ihm. Alec zuckte mit den Schultern.
„Oh, ich bin also der einzige? Nun, wir könnten schauen, ob wir nicht doch hindurch waten können, vielleicht finden wir ja genügend flache Stellen. Und falls nicht … dann müssen wir eine andere Lösung finden.”
„Ich begleite Sie zu der Zisterne”, sagte Madame Giry. „Was dahinter ist, das weiß ich nicht und dort kenne ich mich auch nicht aus. Aber jetzt ist es zu früh, es sind zu viele Leute hier unterwegs, von der Polizei ganz zu schweigen. Kommen Sie später wieder, sagen wir um acht Uhr. Zum Hintereingang, auf der Rückseite des Gebäudes. Ich werde dort auf Sie warten. Ich schaue nach Laternen, wir haben einige hier, weil nicht alle Bereiche der Oper mit elektrischem Licht ausgestattet sind. Und sollte sich der Täter tatsächlich im Keller verstecken, wäre ein Waffe sicherlich auch gut, falls jemand von Ihnen eine besitzt.”
„Ich könnte Eliott fragen, ob er seinen Revolver mitgenommen hat”, überlegte Victor laut.
Giselle wandte sich auf Englisch an die anderen. „Was meinen Sie, sollen wir das machen? Den Keller durchsuchen?”
„Ich bin dafür”, sagte Alec. „Wenn François, Celestine und Paul wirklich irgendwo da unten gefangen sind, wer weiß, vielleicht ist es eine Frage von Stunden und möglicherweise geht es um Leben und Tod.”
Typisch für ihn, immer die Hilfsbereitschaft in Person. Aber das war einer der Gründe, warum Victor diesen Mann so sehr liebte. Am liebsten hätte er ihn umarmt, aber das war hier in der Öffentlichkeit keine gute Idee.
„Ich bin auch dafür”, sagte Fiona.
„Da kann ich mich nur anschließen”, ergriff Nica das Wort.
Giselle nickte ihnen zu. „Danke, das freut mich. Und meine Tochter wird es auch freuen, schließlich zählt Celestine zu ihren langjährigen Freundinnen. Ich hoffe sehr, dass wir sie und die anderen beiden finden.”
Sie wandte sich wieder an Madame Giry und wechselte ins Französische. „Vielen Dank für Ihre Hilfe, wir werden um acht Uhr, wie von Ihnen vorgeschlagen, am Hintereingang sein.”
„Sehr gut. Sie können die Tür nicht verfehlen, es ist die erste auf der linken Seite. Normalerweise wird sie abends abgeschlossen, aber ich weiß, wo sich die Schlüssel befinden.”
„Wir werden da sein”, sagte Giselle mit Nachdruck. Damit verabschiedeten sie sich vorerst.
„Wir haben noch rund zwei Stunden bis acht Uhr. Und um ehrlich zu sein, knurrt mir der Magen”, sagte die Witwe mit einem Blick auf die Taschenuhr, die an ihrer Chatelaine 2 befestigt war.
„Was halten Sie davon, wenn wir in einem Restaurant in der Nähe des Hotels zu Abend essen, in dem Eliott und Sie untergekommen sind?”, schlug Victor vor. „Und dann schaue ich kurz bei ihm vorbei und frage ihn nach dem Revolver.”
„Sicher keine schlechte Idee”, stimmte Giselle ihm zu.
Im Hotel trafen sie Miss Jhadav. „Der Hoteldirektor hat darauf bestanden, dass Eliott ins Krankenhaus geht”, erzählte sie. „Er hat von einer in Paris umgehenden Seuche in der Zeitung gelesen und machte sich Sorgen wegen einer möglichen Ansteckungsgefahr. Also habe ich Eliott in das Krankenhaus Hôtel Dieu gebracht.” Sie senkte ihre Stimme. „Ich konnte übrigens keine Spuren eines Vampirbisses an ihm entdecken.”
Fiona sah sie nachdenklich an. „Hmm … also können wir das ausschließen. Eigentlich eine gute Nachricht, aber es bringt uns trotzdem nicht weiter. Ich frage mich, ob die Ärzte im Krankenhaus wohl mehr wissen.”
Vielleicht war es wirklich besser, wenn sich Eliott in ärztliche Behandlung begab? Victor machte sich Sorgen um den Amerikaner, der ihm in den letzten Jahren ein guter Freund geworden war. Er nahm sich vor, ihn bald zu besuchen.
Miss Jhadav erklärte, sie habe auf Eliotts Wunsch hin Teile von dessen Gepäcks an sich genommen.
„Wissen Sie, ob er zufälligerweise eine Waffe mit nach Paris gebracht hat?”, erkundigte er sich bei der Inderin.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe ihm beim Packen geholfen, aber ich habe weder eine Waffe gesehen dabei, noch hat er eine erwähnt.”
„Ah, ich verstehe. Sagen Sie, möchten Sie uns vielleicht zum Abendessen begleiten?”
Miss Jhadav schenkte ihm ein höfliches Lächeln. „Danke, das ist sehr nett, aber ich bin heute Abend mit Bekannten hier in der Stadt verabredet.”
Kurz darauf verabschiedete sie sich. Victor brach mit den anderen ein weiteres Mal auf. Sie machten sich auf die Suche nach einem Restaurant, um sich ein wenig zu stärken.
*
Als sie nach einem reichhaltigen Abendessen in einem kleinen, aber feinen Lokal um acht Uhr wieder das Opernhaus erreichten, hatte sich die Menge der Schaulustigen zerstreut und der Haupteingang war geschlossen. Polizisten waren weit und breit keine zu sehen, was aber nichts heißen mochte. Vielleicht hielten sich ja noch welche im Operngebäude auf?
Der Hintereingang, von dem Madame Giry gesprochen hatte, war wirklich leicht zu finden.
„Ist es schon acht?”, erkundigte sich Nica.
„Auf die Minute”, erwiderte Victor, nachdem er auf seine Taschenuhr geschaut hatte.
Alec und er wechselten einen Blick, dann klopfte sein Freund an die Tür.
Die Mitarbeiterin der Oper öffnete ihnen, eine Laterne in der Hand. Sie sah sich hastig nach links und rechts um. „Kommen Sie herein.”
„Die Polizisten sind vorhin gegangen, sie werden erst morgen wiederkommen”, erklärte Madame Giry, während sie die Gruppe durch einen schlichten dunklen Flur führte. Ihre Laterne warf flackernde Schatten und Lichter an die Wand. Sie öffnete eine Tür. Der weitläufige Raum, der vor ihnen lag, war mit elektrischem Licht ausgestattet. Das wurde deutlich, als Madame Giry einen entsprechenden Hebel betätigte.
Victor überlegte. Vielleicht sollte er sein Haus auch mit Elektrizität ausstatten? Seine Räumlichkeiten würden um einiges heller werden, was vor allem im Winter ein Segen sein könnte …
Der Raum entpuppte sich als Lager für alle möglichen Objekte, vermutlich Requisiten, die größtenteils in Regalen und Kisten gelagert wurden. Victor sah auch ein Ruderboot mit einem eleganten Schwanenkopf und -hals am Bug. Vielleicht war es dieses Boot, das sie mit Bezug auf die Oper Lohengrin erwähnt hatte?
„Haben Sie eine Waffe dabei?”, erkundigte sich die Dame bei niemand Speziellem.
Sie alle schüttelten den Kopf.
„Bedauerlich. Aber ich habe eine Idee.” Sie schaute sich um und blieb schließlich vor einer Kiste stehen. Madame Giry öffnete diese und holte zwei Dolche heraus, die fast so lang wie ein Unterarm waren.
„Nur als Vorsichtsmaßnahme. Nehmen Sie sie mit, es kann gewiss nicht schaden. Und es wäre mir lieb, sie später zurückzuerhalten.”
„Aber gewiss doch”, versicherte Victor ihr. Hoffentlich würden sie die Dolche nicht brauchen ...
„Kann jemand von ihnen fechten?”, erkundigte sich die Französin.
„Wir alle haben ein Schwertkampftraining absolviert”, sagte Alec. Victor erinnerte sich an die Trainingsstunden in der Hanbury Hall in Spitalfields zurück, die sie im vergangenen Jahr absolviert hatten.
„Aber ich fürchte, ein Schwert mitzuführen, das wäre zu sperrig”, gab Giselle zu bedenken. „Wir würden uns am Ende noch selbst verletzen.”
„Nun, das mag sein. Dann werden die beiden Dolche reichen müssen”, erwiderte Madame Giry. „Kommen Sie bitte mit, ich hatte Ihnen ja Laternen versprochen.”
Gemeinsam gingen sie in den hinteren Teil des Raumes. In einem Regal waren eine ganze Reihe an schlichten Laternen zu finden, neben dekorativen Kerzenhaltern und mehreren Schachteln mit Kerzen in verschiedenen Größen.
Sie rüsteten drei Laternen mit passenden Stumpenkerzen aus.
„Folgen Sie mir bitte”, sagte die Französin schließlich, nachdem sie zwei der Laternen an Fiona und Giselle weitergegeben hatte, während sie selbst die dritte nahm.
Ein Glück, dass sich die Dame hier so gut auskannte, denn Victor hatte das Gefühl, dass sie sich in dem Gewirr aus Fluren und Räumen schon bald verirrt hätten. Bei ihrem Weg durch das stille, nächtliche Opernhaus kamen sie auch durch das Grand Foyer , das im Dunkeln lag. Allerdings sorgte ein wenig Beleuchtung von den Straßenlaternen draußen für ein schummriges Zwielicht, das durch die Fenster nach innen drang.
Selbst in diesem schwachen Licht wirkte die mehrstöckige Eingangshalle fürstlich, aber auch ein wenig einschüchternd. Der gesamte Raum war in hellen Tönen gehalten, die nun eher grau wirkten. Eine breite Freitreppe aus Marmor führte rechts und links hinauf in eine Galerie mit zahlreichen Säulenbögen und prachtvollem Dekor, das bis unter die Decke reichte und auch vor den Säulen selbst nicht Halt machte. Mannshohe dunkle Skulpturen säumten die gewaltige Treppe, an ihrem oberen Ende waren große Kerzenhalter befestigt.
Als sie an einer dieser Skulpturen vorübergingen, erkannte Victor, dass hier statt Kerzen Glühbirnen zum Einsatz kamen. Wie wunderbar musste es aussehen, wenn all diese zahlreichen Lichter eingeschaltet wurden! Einige der Durchgangstüren waren links und rechts ebenfalls mit Skulpturen geschmückt. Im Zwielicht wirkten sie fast wie lebendige Gestalten, oder vielleicht lag es auch an dem flackernden Licht der Laternen. Alles in allem wirkte das Foyer auf ihn wie der Eingangsbereich eines Palastes. Das weckte Erinnerungen an den St. James Palace, in dem sie im vergangenen Jahr eine Audienz bei der Königin gehabt hatten.
Madame Giry ließ ihnen keine Zeit, die Pracht dieser Räumlichkeiten weiter zu bewundern, sondern führte sie weiter durch das Gebäude, bis sie sich nach einem weiteren Gang vorbei an mehreren Türen und verwinkelten Fluren alle in einem vergleichsweise schlichtem Treppenhaus wiederfanden.
Ihre Schritte auf den Stufen machten einen Heidenlärm, aber zum Glück waren sie allein hier. Dennoch lauschte Victor immer wieder nervös, ob er irgendwo in der Nähe Schritte hörte. Doch da war nichts. Zum Glück.
Mehrere Stockwerke ging es hinunter, bis Madame Giry schließlich vor einer eher unscheinbaren Tür erklärte: „Hier beginnt der Keller.”
Sie griff nach einem Schlüsselbund, das an ihrer Chatelaine befestigt war, nahm es ab und öffnete mit einem der Schlüssel die Tür, die mit einem dunkel knarrenden Laut aufging. Dahinter war nichts als Schwärze. Victor stellten sich die Nackenhaare auf. Das fing ja gut an. Aber was hatte er auch erwartet? Schaudernd sah er in die Dunkelheit. Mensch, Victor, reiß dich zusammen…
„Glauben Sie wirklich, dass sich da unten jemand versteckt hält oder gefangen gehalten wird? Ich meine, hat noch jemand außer Ihnen einen Schlüssel zum Keller?”, fragte Nica.
„Nein, das hier ist der Einzige, soweit mir bekannt ist. Aber wissen Sie, es ist ein ganz gewöhnliches Schloss. Wer sich damit auskennt, Schlösser zu knacken, beispielsweise mit einem entsprechenden Sperrhaken, für den dürfte es kein Problem darstellen. Leider, sollte ich dazu sagen.”
„Oh. Ich verstehe.”
Der erste Kellerraum, den sie betraten, lag in völliger Dunkelheit. Die schwankenden Lichter ihrer Laternen wirkten alles andere als vertrauenerweckend, konnten sie doch die Finsternis kaum vertreiben. Ein abgestandener, muffiger Geruch lag in der Luft, wie in Räumen, die schlecht oder gar nicht belüftet wurden.
Nica gab einen erschrockenen Laut von sich, als ein kleines Tier an ihr vorbeihuschte.
„Nur eine Ratte, Mademoiselle”, sagte Madame Giry. „Die Räume auf dieser Ebene hat die Polizei bereits gründlich durchsucht. Kommen Sie, dort hinten ist eine Treppe, die weiter nach unten führt.”
Bei dieser Treppe, die durch eine rechteckige Öffnung im Boden führte, wurde bereits deutlich, was die Concierge mit „gefährlich” gemeint hatte – die steinernen Stufen waren unregelmäßig, an einigen Stellen rutschig, an anderen fehlten kleine Stücke.
„Achten Sie auf Ihre Schritte, Mesdames et Messieurs ”, warnte sie.
Es gab kein Geländer, keine Möglichkeit sich festzuhalten. Auch hatten drei von ihnen ja Laternen in der Hand. Nica trug einen der Theaterdolche, Alec den anderen. Ob deren Klingen überhaupt scharf war? Victor hatte vergessen zu fragen und nun war es zu spät.
Giselle stolperte auf der Treppe und wäre fast gestürzt, aber Fiona reagierte geistesgegenwärtig und hielt sie fest.
„Danke! Doux Jésus , das hätte ins Auge gehen können”, sagte Giselle, die ganz außer Atem klang.
Immer tiefer ging es hinunter, begleitet vom flackernden Licht, das über grauen Stein huschte. Zu dem muffigen Geruch gesellte sich noch ein anderer, nach Moder. Kein Wunder, denn als sich Victor an einer Wand abstützte, stellte er fest, dass diese feucht war. Hätte er doch den warmen Wollmantel angezogen. Hier unten war es eisig kalt und er fröstelte.
Am liebsten hätte Victor nach der Hand seines Freundes gegriffen, nur einen Moment lang, aber das war nicht möglich, denn dieser trug in einer Hand den Dolch und stützte sich mit der anderen Hand an der Wand ab.
Schließlich erreichten sie ein tieferes Stockwerk, nachdem sie über weitere kaputte Treppenstufen balanciert waren.
Allmählich ging ihm auf, dass Madame Giry nicht übertrieben hatte. Die Räume und Flure hier unten glichen einem Irrgarten. Der Keller war ein Gewirr aus verwinkelten Gängen, von denen mehrere in einer Sackgasse endeten, sodass sie umdrehen mussten.
„Auch hier haben wir alles abgesucht”, erklärte Madame Giry. „Lassen Sie uns zur Zisterne gehen, noch ein Stockwerk tiefer.”
Sie folgten ihr zu einer weiteren Treppe, die nicht aus Stein, sondern aus Holz bestand. Fiona rutschte auf einer abschüssigen Stufe aus; es ging so schnell, dass niemand sie festhalten konnte. Mit einem krachenden Geräusch fiel ihre Laterne zu Boden und das Glas zersprang, während sie selbst mehrere Stufen hinunterstürzte.
„Fiona!”, rief Nica erschrocken und eilte zu ihrer Freundin. „Ist alles in Ordnung?”
„Ich habe mir den Kopf angestoßen”, erwiderte Fiona stöhnend, während der Rest von ihnen langsam die Treppe hinunterstiegen. Das Licht der Laterne war mittlerweile erloschen.
„Lass mich einmal sehen.” Vorsichtig strich Nica ihrer Freundin über den Kopf. Fiona zuckte zusammen.
„Oh je, du blutest. Aber nicht stark, glaube ich.”
„Es tut ziemlich weh”, erwiderte Fiona. „Aber es wird schon gehen.”
„Wie wäre es, wenn du mit Madame Giry am Rand der Zisterne bleibst?”, schlug Victor vor. „Es wäre keine gute Idee, wenn die Dame allein bleibt. Du könntest einen der Dolche nehmen, falls ihr euch verteidigen müsst.”
„Dann nimm du meinen Dolch”, wandte sich Alec an ihn. „Und ich bleibe bei den beiden Damen.”
„Ich habe eine ganz andere Idee”, sagte Madame Giry. „Ich bringe Sie zur Zisterne und die junge Dame kommt anschließend mit mir. Wir beide gehen wieder nach oben und ich lege ihr dort einen Verband an. So etwas haben wir für Notfälle immer da.”
„Mach das, es ist sicher besser”, bat Nica ihre Freundin.
„Aber ich will dich hier unten nicht allein lassen”, widersprach diese.
„Wir werden schon zurechtkommen, immerhin sind wir zu viert und wir haben zwei Dolche.”
„Also gut …” Selbst im Zwielicht hier unten, das nur von den verbliebenen zwei Laternen etwas beleuchtet wurde, sah Victor Fionas Stirnrunzeln.
„Mach dir keine Sorgen”, sagte er zu ihr, mit mehr Zuversicht, als er tatsächlich aufbringen konnte. „Wir passen aufeinander auf.”
Zweifelnd sah sie ihn an, nickte aber nach einem Moment.
„Dann sollten wir uns beeilen”, sagte Madame Giry.
Weiter ging es durch diesen scheußlich dunklen Keller. Plötzlich ein Fiepen und ein Rascheln – schon wieder eine Ratte. Fast hätte er vor Schreck geschrien. Was ihm allerdings ziemlich peinlich gewesen wäre.
Victor musste an das denken, was Fiona über Werwölfe erzählt hatte. Konnte es tatsächlich sein, dass sich ein solches Wesen hier unten versteckt hielt und den unglückseligen Maschinisten zerfleischt hatte? Und alles, was sie zur Verteidigung dabeihatten, waren zwei Dolche – die möglicherweise gegen eine solche Bestie nicht ausreichen würden. Auch war mehr als fraglich, ob die drei Verschwundenen überhaupt hier unten waren. Sicher, zwei von ihnen waren zuletzt in der Oper gesehen worden, aber das musste doch nichts heißen … Ach, zu gern hätte er darum gebeten, dass sie alle den Rückzug antraten. Andererseits wollte er nicht als Feigling dastehen. Was für eine Zwickmühle.
Sein nächster Gedanke galt François. Sie hatten sich zwar gerade erst kennengelernt, aber falls dieser sympathische Mann tatsächlich hier unten festsaß und ihn nicht einmal die Polizei hatte finden können … sie mussten es einfach versuchen.
Einige Zeit später standen sie am Rande eines Gewässers. Im schwachen Licht wirkte dieses fast wie ein See, aber es war deutlich zu sehen, dass es sich um ein künstlich angelegtes Becken handelte. Dessen Ende war in der Dunkelheit nicht zu erkennen.
„Danke, dass Sie uns hierhergeführt haben”, sagte Alec.
„Gern. Kommen Sie, Mademoiselle, lassen Sie mich Sie oben verarzten”, wandte sie sich an Fiona. Diese nickte ihr zu und wandte sich an die anderen: „Gebt auf euch acht.”
„Gewiss doch”, antwortete Nica und umarmte ihre Freundin. Danach folgte Fiona Madame Giry.
„Wir sollten unsere Röcke ablegen”, überlegte Giselle. „Es ist zwar unschicklich, aber der Stoff wird sich voll Wasser saugen und sehr schwer werden.”
Nica lachte und dieser Klang hallte von den Wänden wieder. „Es ist ja nicht gerade so, dass die Herren in unserer Begleitung sich sonderlich für Damen interessieren”, sagte sie frei heraus.
Natürlich hatte Nica nicht ganz unrecht. Victor war sicherlich der letzte, der ihre halb entblößten Beine mit begehrlichen Blicken bedenken würde, und mit Alec verhielt es sich ebenso.
Giselle und die Künstlerin legten also ihre Röcke ab und standen kurz darauf in langen Unaussprechlichen vor ihnen, die bis zu den Knien reichten. Alec und er selbst hatten ihre Jacken ausgezogen.
„Ich sollte mir wirklich einmal Bloomer-Hosen zulegen”, sagte Nica nachdenklich. „Das wollte ich schon im letzten Jahr. Wenn wir wieder in London sind, werde ich mich bald darum kümmern.”
„Zieht besser auch die Schuhe aus”, sagte Victor. „Es dauert sonst ewig, bis diese wieder trocken sind.”
Alle folgten seiner Aufforderung, allerdings behielten die Damen ihre Strümpfe doch lieber an. „Es ist unschicklich genug, überhaupt Bein zu zeigen”, sagte Giselle. „Ich werde sie gewiss nicht auch noch entblößen.”
Nacheinander kletterten sie in das Becken der Zisterne, wobei sie die Dolche und Laternen hochhielten. Mit einiger Erleichterung stellte er fest, dass ihm das Wasser nur bis zur Brust reichte, allerdings war es ziemlich kalt.
„Brrr …”, machte Giselle, der es offenbar ähnlich ging wie ihm. Gemeinsam kämpften sie sich langsam vorwärts.
„Ach verdammt!”, rief Alec plötzlich. Seine Laterne war erloschen. „Das war ein Versehen, ich habe sie eingetaucht.”
Nun hatten sie nur noch eine Laterne, denn die andere hatte Madame Giry mitgenommen. Die Schatten hier unten streckten ihre Klauen nach ihnen aus. Zumindest kam es ihm so vor. Victor rann ein kalter Schauder über den Rücken, und das lag nicht am Wasser.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie das Ende der Zisterne erreichten. Victors Füße waren zu Eisklumpen geworden und auch an den Beinen fror er immer mehr. Von einem Boot oder irgendeinem anderen Gefährt war hier nichts zu sehen.
Alec kletterte als erster an Land und half Giselle aus dem Wasser. Victor nahm sich das zum Vorbild und streckte Nica die Hand hin, die sie dankbar ergriff.
Ihre Zähne klapperten so laut, dass es deutlich zu hören war. „Wenn es doch nur nicht so kalt wäre!”, sagte sie schlotternd.
Sie untersuchten den Raum hinter der Zisterne. Es gab mehrere Rohre, die das Sammelbecken offensichtlich mit Wasser versorgten und die in der Wand verschwanden. Aber hier gab es keine Treppen, auch keine weiteren Räume, nur eine einzige, verschlossene Tür. Alec ging vor dieser zu Boden. „Da unten ist ein Luftzug. Ich vermute, diese Tür führt nach draußen”, stellte er fest.
„Dann war unser Bad hier also ein Reinfall?”, fragte Nica.
„Sieht so aus. Hier ist ja nichts weiter”, murmelte Victor.
„Aber wo sollen wir dann noch suchen?”, fragte Giselle.
„Moment mal … hat die Concierge nicht vorhin das Gerücht erwähnt, hier unten gebe es Geheimgänge?”, fiel Nica ein.
„Ja, aber die Frage ist, ob da etwas Wahres dran ist”, erwiderte Alec.
Giselle stellte die Laterne ab. „Und falls es hier wirklich Geheimgänge gibt, wer weiß, ob wir überhaupt die entsprechenden Zugangswege finden?”
„Wir sollten es zumindest versuchen”, sagte Alec mit Nachdruck. Victor wusste, dass sein Freund ziemlich hartnäckig sein konnte, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.
„Lasst uns erst mal den Rückweg antreten”, schlug Giselle vor. „Ich habe eine Idee. Wir könnten wieder nach oben gehen und fragen, ob wir uns vorübergehend Kleidung aus dem Fundus der Oper leihen können. Wenn wir mit unseren nassen Kleidungsstücken bei diesen Temperaturen noch lange hier unterwegs sind, werden wir uns sonst eine Lungenentzündung oder Schlimmeres holen.”
„Das ist eine gute Idee”, stimmte Victor ihr zu. „Ich bin auch dafür. Wir sollten zumindest fragen. Und vielleicht gibt es oben in der Oper ja auch eine Möglichkeit, unsere nasse Kleidung zum Trocknen aufzuhängen, solange wir hier sind.”
Triefend vor Nässe schlichen sie einige Zeit später durch den Keller. Allerdings gerieten sie wieder in eine Sackgasse und nach kurzer Zeit hatten sie sich in den Gängen verirrt.
„Verflixt und zugenäht, das kann doch nicht wahr sein!”, rief Alec.
„Wir müssen da hinten lang, ich bin mir ziemlich sicher”, sagte Nica, der beim Sprechen die Zähne klapperten. Sie musste entsetzlich frieren.
Also versuchten sie es weiter hinten, doch auch dieser Gang brachte sie nicht zum Anfang des Kellers zurück.
Nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum schlichen sie eine ganze Weile kreuz und quer die dunklen Flure entlang. Victors Herz raste mittlerweile. Wenn sie hier nicht mehr herausfanden, dann … er musste sich zwingen, nicht weiter darüber nachzudenken. Sonst würde er in Panik ausbrechen.
Victor folgte einem Impuls und griff nach Alecs Hand, der neben ihm ging. Sein Freund erwiderte die Berührung wortlos, drückte seine Hand einen Moment lang, ehe er wieder losließ. In dieser Geste fand Victor ein wenig Trost. Aber dieser scheußliche, feuchte Keller nahm einfach kein Ende!
Wenig später standen sie vor einer verschlossenen Tür, die ihm vorher nicht aufgefallen war. „Nein, hier sind wir auch falsch. Lasst es uns in der anderen Richtung versuchen”, schlug Giselle vor.
„Von mir aus”, sagte er niedergeschlagen.
Rund eine halbe Stunde später fanden sie endlich eine der fürchterlichen Treppen wieder, die in ein höheres Stockwerk führte. Auf den Weg nach oben hörten und sahen sie nichts. Aber wer mochte schon wissen, was in den Schatten lauerte? Vielleicht Schattenwesen? Jene übernatürlichen Kreaturen, von denen Giselle ihm einmal in seinem Haus in London erzählt hatte. Diese Wesen waren alten Legenden zufolge Energieräuber und man hielt sich besser von ihnen fern. Nein, lieber nicht darüber nachdenken, sonst würde er sich kein zweites Mal hier herunterwagen. Deshalb fragte er auch die Spiritistin lieber gar nicht erst nach diesen mysteriösen Kreaturen.
Endlich hatte das Labyrinth ein Ende und sie fanden zum Treppenhaus zurück, das den Keller mit dem Rest der Oper verband. Dort ließ es sich nicht vermeiden, dass sie nasse Spuren auf dem Boden hinterließen, aber das würde gewiss bis zum nächsten Morgen getrocknet sein.
„Ach, verdammt”, platzte Alec heraus. Im nächsten Moment entschuldigte er sich für den Ausdruck. „Mir ist nur gerade eingefallen, dass wir gar nicht gefragt haben, wo wir die beiden nachher finden. Wenn wir Pech haben, müssen wir das ganze Opernhaus nach ihnen absuchen.”
„Wir könnten auch einfach nach ihnen rufen”, erwiderte Victor.
„Und wenn das draußen jemand hört? Die Leute werden denken, dass wir Einbrecher sind.”
„Auch wieder wahr. Vielleicht sollten wir uns aufteilen?”
„Nein, besser nicht, dann finden wir uns womöglich gegenseitig nicht wieder”, gab Nica zu bedenken.
„Guter Punkt.”
Schließlich ähnelte nicht nur der Keller, sondern auch das Opernhaus einem Labyrinth. Vor allem hinter dem Bühnenbereich gab es unzählige Räume, von denen manche offen und andere verschlossen waren. Sie kamen auch an einem Schnürboden vorbei, in dem unter der Decke ein wahres Wirrwarr aus Seilen, Gewichten und aufgerollten, riesigen Leinwänden hing.
Die beiden Damen fanden sie schließlich in einer Art Aufenthaltsraum, in dem mehrere Stühle und etwas durchgesessene Sessel standen. Fiona trug nun einen Kopfverband, der an einer Stelle einen blutigen Fleck hatte. Madame Giry hatte einen Tee zubereitet, das entsprechende Geschirr und eine Teekanne standen auf einem Beistelltisch.
„Ah, da sind Sie ja”, sagte die Concierge.
Giselle erzählte auf Französisch, was sie herausgefunden hatten. Oder vielmehr, was sie nicht herausgefunden hatten. „Leider haben wir weder die drei noch irgendwelche Spuren gefunden. Sagen Sie, dürfen wir uns etwas Kleidung aus dem Opernfundus ausleihen und unsere nasse Kleidung aufhängen? Nur vorübergehend, versteht sich”, erkundigte sie sich.
„Nun, also eigentlich geht das nicht”, begann Madame Giry. „Aber angesichts der Umstände … hier steht seit dem Mordfall ohnehin alles Kopf. Mademoiselle O’Reilly, trinken Sie gern in Ruhe Ihren Tee aus.”
„Mit Verlaub – ich glaube, wir alle könnten einen Tee vertragen, um uns etwas aufzuwärmen”, sagte Victor.
„Soll mir recht sein. Und danach gehen wir in den Fundus, würde ich vorschlagen. Ich denke, wir werden etwas Passendes für Sie alle finden.”
Während sie sich kurz darauf an dem Tee wärmten, sagte Giselle: „Ich halte es für eine gute Idee, wenn Sie und Fiona nachher hierbleiben. Damit Sie beide Hilfe holen können, falls uns im Keller bei der weiteren Suche etwas zustoßen sollte.”
„Sie wollen noch einmal in den Keller?”, fragte Madame Giry ungläubig.
„Das wollte ich die anderen gerade fragen. Vielleicht haben wir etwas übersehen beim ersten Versuch? Immerhin ist das da unten der reinste Irrgarten.”
„Und wenn wir uns wieder verlaufen, so wie vorhin?”
„Wir sollten weitere Laternen mitnehmen. Und Kreide. Falls Sie welche hier haben? Dann könnten wir den Weg mit Kreidezeichen kennzeichnen”, sagte Giselle.
„Ich werde nachschauen”, erwiderte Madame Giry.
„Aber…”, begann Fiona.
„Bedenke bitte, dass dir noch … andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen”, sagte Giselle auf Englisch.
„Oh. Ach so. Aber könnte das nicht gerade bei der weiteren Suche hilfreich sein?”
„Das mag sein. Aber im Zweifelsfall mag es halt auch helfen, falls ihr uns suchen müsst.”
„Würden Sie bitte auf Französisch sprechen?”, warf die Concierge ein. „Ich verstehe kein Englisch.”
„Also, ich schlage vor, wenn wir nachher wieder in den Keller gehen und Sie nach zwei Stunden nichts von uns gehört haben, dann nimm dir eine Waffe mit und suchen uns bitte. Notfalls wende dich an die Polizei”, sagte Giselle in ihrer Muttersprache zu Fiona.
„Also gut, ich bleibe hier. Aber mir ist nicht wohl dabei. Ich werde mir solche Sorgen um dich machen, Nica.” Fionas Blick wanderte von ihrer Freundin hinüber zu dem Rest von ihnen. „Um euch alle.”
Nica drückte Fionas Hand. „Das ehrt dich. Aber wir haben doch schon ganz andere Sachen überstanden.”
Fiona blickte sie zweifelnd an, sagte aber nichts mehr.
Kurz darauf standen sie in einem großen Fundusraum mit allerhand Garderobenständern. Jemand, der sich für Theaterkostüme begeistern konnte, hätte sich hier sicherlich im siebten Himmel gewähnt. Für sie dagegen bestand nun die Schwierigkeit, möglich rasch etwas zu finden, das sowohl passte als auch halbwegs praktisch war. Nica wählte für sich eine Hose, aber Giselle weigerte sich, etwas Derartiges anzuziehen.
„Ich gehe auf die sechzig zu und ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine Hose getragen. Da werde ich auf meine alten Tage gewiss nicht damit anfangen.” Stattdessen wählte sie einen eher schlichten Rock, der nicht allzu ausladend war.
Victor und Alec wurden ebenfalls nach einigem Suchen fündig – zwei zeitgenössische Anzüge, die zwar nicht ideal passten, aber dennoch ihren Zweck erfüllen würden.
Es gab keine Umkleide hier, aber Madame Giry machte sie auf zwei spanische Wände aufmerksam, die sie dafür benutzen konnten. „Und geben Sie mir ruhig ihre nasse Kleidung, ich werde sie aufhängen”, sagte sie.
Giselle
Nachdem sie sich umgezogen hatten, verabschiedete sich Nica mit einer weiteren Umarmung von ihrer Freundin. Der jungen Irin schien es wirklich schwer zu fallen, sie gehen zu lassen.
„Geben Sie uns zwei Stunden. Nein, besser drei”, bat Victor die beiden Damen.
„Ist gut”, erwiderte Fiona, wenn auch mit zweifelnder Miene.
„Madame Giry, hätten Sie wohl etwas Kreide für uns?”, fiel Giselle ein. „Dann könnten wir den Weg markieren und verirren uns da unten nicht.”
„Ach ja, davon sprachen Sie ja vorhin. Warten Sie kurz, ich schaue mal, ob ich welche finde.” Die Concierge verließ den Raum. Etwa zehn Minuten später kehrte sie mit einem einzelnen, länglichen Kreidestück zurück. „Hier, mehr habe ich leider nicht finden können.”
„Danke, das wird schon ausreichen, denke ich”, erwiderte Giselle.
Ob eine weitere Suche im Keller wirklich etwas bringen würde? Sie bezweifelte es, immerhin war die Polizei auch schon dort gewesen.
Aber sie würde es nicht übers Herz bringen, ihrer Tochter Catherine zu sagen, dass sie nicht alles versucht hatten, um deren Freundin Celestine und die anderen Verschwundenen wiederzufinden.
Dieses Mal waren sie auf sich allein gestellt, ohne die Concierge.
Giselle schauderte unwillkürlich, als sie wieder in das finstere Gemäuer herabstiegen. Sicherlich gab es hier Schattenwesen. Aber sie hatte kein D.I.P.P. dabei, ein Gerät zur Untersuchung paranormaler Phänomene 3 , mit dem sie solche Wesen oder auch Geister hätte aufspüren können. Roberta Mathers und ihr Bruder, die Gründer der spiritistischen Gesellschaft in London, hatten es gebaut. Aber sie würde es eh nicht brauchen, schließlich suchten sie hier nicht nach übernatürlichen Kreaturen, sondern vermissten Personen. Außerdem bezweifelte sie, dass man mit dem D.I.P.P. einen Werwolf hätte aufspüren können. Dafür war das Gerät mit Sicherheit nicht ausgelegt.
Im Keller markierte sie den Boden in regelmäßigen Abständen mit Kreide-Pfeilen. Wieder gingen sie gemeinsam durch lange Flure, vorbei an vielen Türen. Die meisten davon waren offen. Dahinter lagen teilweise vollkommen leere, staubige Räume, in denen ein muffiger Geruch vorherrschte. Andere Räume dienten eindeutig als Lager, hier war eine bunte Mischung an Regalen, Schränken sowie anderen Möbeln und Gegenständen zu finden, darunter auch gewaltige, aufgerollte Leinwände – vermutlich alte Kulissenbilder.
In einem dieser Lagerräume gab Alec einen erschrockenen Schrei von sich.
„Wieder eine Ratte?”, fragte sie.
„Nein, aber sieh mal dort …” Mit seiner Laterne deutete er in eine Richtung. Ein riesiger Kopf lehnte dort an der Wand – von einem Elefanten, wie sie überrascht feststellte, mit großen Ohren und riesigen Stoßzähne. Sie trat näher und strich über dessen Haut
„Der ist nicht echt. Sicherlich ein Requisit.”
„Puh, und ich dachte schon, das sei eine Trophäe aus einer Großwildjagd”, sagte Alec.
Giselle wollte sich wieder umdrehen, doch dabei stieß sie an einen anderen Gegenstand, der im Regal neben dem Elefantenkopf stand. Im nächsten Moment erklang eine liebliche, zarte Melodie, welche die Stille des dunklen Kellers zerschnitt. Giselle schrak zusammen.
„Himmel, was ist das denn?!”, rief Victor, dessen Stimme einen schrillen Klang angenommen hatte.
Giselle wandte sich dem Objekt zu. „Eine Spieluhr …”, hauchte sie. Das Gebilde war aus Pappmaché hergestellt, es hatte die Form einer Drehorgel, darauf befand sich ein Äffchen, das zwei Zimbeln in den Händen hielt, die es aneinanderschlug. Die sanfte Melodie verklang nach wenigen Takten wieder.
„Also noch mehr solcher Entdeckungen und mich wird der Schlag treffen”, murmelte der junge Lord Berlington.
„Kommen Sie weiter, hier werden wir die Verschwundenen nicht finden”, schlug Nica vor.
Raum um Raum nahmen sie sich vor. Doch etwas Verdächtiges war nicht zu finden, zumindest nicht im schwachen Licht ihrer Laternen.
„Wenn wir wirklich nach Geheimgängen Ausschau halten wollen, worauf sollten wir dann eigentlich achten?”, fragte Alec.
„Das ist schwierig. Ich habe davon in unserer spiritistischen Bibliothek gelesen”, antwortete Giselle. „Das Problem mit Geheimgängen ist, dass sie auf hunderte verschiedene Arten getarnt werden können. Manchmal ist der Zugang zu ihnen in einer Wand versteckt und manchmal im Boden und bei ganz ausgeklügelten ist er sogar nur über die Decke eines Raumes zu erreichen. Also theoretisch müssten wir in jedem Raum Zentimeter für Zentimeter absuchen, aber dann sitzen wir noch ewig und drei Tage hier. Und es ist ja auch fraglich, ob es hier wirklich Geheimgänge gibt.”
Sie durchsuchten weitere Räume, ohne Erfolg. Giselle fiel das Atmen in der muffigen Luft zunehmend schwer, zumal es auch viele Ecken gab, die ziemlich staubig waren. Sie hustete und sehnte sich nach einer weiteren Tasse Tee.
„Wie lange suchen wir nun eigentlich schon?”, fragte Nica nach einer Weile. Giselle sah auf die Taschenuhr an ihrer Chatelaine. „Zwei Stunden. Noch eine Stunde, bis wir wieder nach oben gehen sollten.”
Alec ging in einem leeren Raum hinein, den Giselle zuerst hatte abhaken wollen. Am anderen Ende deutete Alec auf den Boden. „Schaut mal, ist das da hinten nicht eine Falltür?”
Sie alle gingen in den Raum hinein. Eine annähernd quadratische Platte aus Holz war weiter hinten in den Boden eingelassen und verfügte über einen schweren, gusseisernen Griff.
„Das sollten wir uns näher anschauen”, schlug Victor vor. Er trat zu der Falltür, oder was immer es war, und zog an dem Griff. Die hölzerne Klappe ließ sich öffnen und gab dabei ein quietschendes Geräusch von sich.
„Schau mal einer an … ”, sagte Giselle überrascht.
Unter der Falltür befand sich eine Treppe aus Holz, die in die Tiefe führte.
„Lassen Sie uns nachsehen, was sich dort unten befindet”, schlug der junge Lord vor.
„Aber meinst du nicht, die Polizei hat sich das schon angesehen?”, fragte Alec.
„Möglich. Es sei denn, die haben gar nicht bis ans Ende des Raumes geschaut. Auf den ersten Blick sieht er ja leer aus. Und im Dunkeln sieht man hier eh nicht alles.”
„Hmm, auch wieder wahr.”
Kurz darauf kletterten sie nacheinander die Treppe hinunter und fanden sich in einem weiteren staubigen Flur wieder.
„Hände hoch!”, rief plötzlich eine männliche Stimme auf Französisch. Giselle schrak zusammen und wirbelte herum. Im schwachen Lichtschein der Laterne sah sie einen Mann, der sein Gesicht unter einer weißen Halbmaske verbarg. Er zielte mit einem Revolver auf sie. Ob das der Mörder war?
Sie alle hoben nun die Hände, denn gegen seine Waffe waren die beiden Dolche natürlich nutzlos.
„Was haben Sie hier unten verloren?”, rief ihnen der Mann entgegen, dessen Stimme heiser klang.
„Dasselbe könnten wir Sie fragen”, entgegnete Giselle. Ihre Hände zitterten, die Laterne schwankte hin und her.
„Sie kommen mit mir! Dort entlang!” Der Maskierte deutete den Flur entlang.
Angesichts seiner Waffe blieb ihnen nichts anderes übrig. Giselle verfluchte im Stillen höchst undamenhaft die wahnsinnige Idee, hier im Keller mit nichts weiter als zwei Dolchen nach den Verschwundenen zu suchen.
„Bitte”, begann Victor. „Sind Sie Paul? Sind Celestine und François bei Ihnen?”
Die Schritte des Mannes hinter ihnen hörten abrupt auf. Vorsichtig drehte sich Giselle zu ihm um. Durch die Dunkelheit und da die Maske den größten Teil seines Gesichts verdeckte, konnte sie seine Reaktion kaum erkennen.
„Woher kennen Sie die beiden?”, fragte er schließlich, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
„Celestine ist eine Freundin meiner Tochter”, erklärte Giselle.
„Wir haben François vor kurzem kennengelernt”, fügte Alec hinzu.
„Das ist mir gleich”, sagte der Maskierte schroff. „Es ändert ja nichts. Weiter jetzt.”
Minuten später kamen ihnen auf dem Flur zwei Gestalten entgegen.
„Paul, wer ist das?”, fragte ein junger Mann. Selbst im schwachen Licht der Laternen konnte Giselle sehen, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Beim Näherkommen erkannte sie, was es war: Die Haut seines Gesichts war von einem Geschwür zerfressen. Neben ihm stand eine Frau, die kaum besser aussah, außerdem hatte sie eine eiternde Wunde am Handgelenk. Ihre schmutzige, an mehreren Stellen zerrissene Kleidung hing an ihr herunter, als ob sie ihr zu groß sei.
„Sind Sie Celestine?”, fragte Giselle vorsichtig.
„Ruhe!”, rief der Maskierte. Im nächsten Moment hustete er, ein Laut, der in ein Röcheln überging.
Alec stieß hörbar die Luft auf. „François?”, fragte er.
„Wir haben nach euch gesucht”, sagte Victor.
François setzte an etwas zu sagen, wurde aber von dem Mann mit der Maske unterbrochen.
„Das ist nicht von Belang. Wenn man uns findet, wird man uns in Gefängnis sperren. Das kann ich nicht zulassen!”
„Haben Sie Monsieur Buquet umgebracht?”, fragte Giselle. Sie konnte nicht anders, die Frage platzte aus ihr heraus.
„Nein!” schrie der Maskierte mit schriller Stimme. Seine nächsten Worte klangen wieder ruhiger. „Er muss gestürzt sein, auf der Treppe. Hat sich wohl das Genick gebrochen dabei. Verstehen Sie, wir haben ihn schon tot aufgefunden. Aber das wird uns niemand glauben. Wir haben unseren unsäglichen Hunger an seinem Fleisch gestillt …”
Seine Haltung wirkte gefasst, seine Mundwinkel unter der Halbmaske zeigten niedergeschlagen nach unten. Es wirkte fast, als ob er sich schämte. Ob er und die anderen beiden sich wirklich wie Kannibalen über den Leichnam des Maschinisten hergemacht hatten? Giselle lief ein kalter Schauder über den Rücken bei diesem Gedanken.
„Ich glaube Ihnen”, sagte sie dennoch mit fester Stimme und meinte es auch so.
„Wir werden Sie nicht an die Polizei ausliefern”, sagte Victor.
„Und das soll ich Ihnen glauben? Sehen Sie uns doch an, wir sind Monster geworden.” Er wandte sich an Celestine und François. „Lasst uns diese Leute einsperren. Und dann beraten wir, wie wir weiter vorgehen.”
François nickte, wenn auch zögernd. Celestine brach in Tränen aus, ihr magerer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt.
„Ist ja gut”, sagte François und tätschelte ihr unbeholfen die Schulter.
Der Maskierte scheuchte sie in einen leeren, staubigen Raum und verriegelte dessen Tür. Immerhin besaß er den Anstand, ihnen zwei Laternen dazulassen, sodass sie nicht völlig im Dunkeln sitzen mussten.
„Wir sollten längst wieder oben sein”, fiel Nica ein. „Fiona wird sich Sorgen machen.”
„Verdammt noch eins”, murmelte Victor. „Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Was ist bloß mit diesen Leuten passiert, dass sie hier unten hausen?”
„Aber das haben Sie doch gesehen. François und Celestine sind krank. Und vermutlich auch der Mann mit der Maske”, sagte Giselle.
„Aber warum gehen sie dann nicht in ein Krankenhaus? Oder zumindest zu einem Arzt? Und warum verstecken sie sich ausgerechnet hier unten?”, fragte Victor.
„Nun ja, Sie müssen zugeben, der Keller der Oper ist ein ziemlich gutes Versteck. Zumal die Polizei offenbar die Falltür übersehen hat. Vielleicht wusste nicht einmal Madame Giry davon. Selbst, wenn sie sich hier unten auskennt, wie sie sagte, scheint sie trotzdem nicht jeden Winkel zu kennen.”
„Ja, aber warum verstecken die sich überhaupt?”, überlegte Alec.
„Wenn sie an irgendeiner Krankheit leiden, die mit kannibalistischem Appetit einhergeht …” Giselle beendete ihren Satz nicht, sie mochte sich das gar nicht weiter ausmalen.
„Das wäre allerdings ein guter Grund”, erwiderte Nica.
Einen Moment lang schwiegen sie alle. Eine bedrückende Stille verbreitete sich im Raum.
„Ich werde mal schauen, ob sich die Tür aufbrechen lässt”, sagte Alec schließlich.
„Nein, tu das lieber nicht, das würden die anderen garantiert hören”, entgegnete Giselle.
„Daran habe ich nicht gedacht.” Alec ließ sich mit einem Seufzen auf dem Boden nieder.
„Aber was sollen wir denn tun?”, fragte Victor. „Habt ihr irgendeine Idee?”
„Lasst uns mit Paul — oder wer immer sich hinter der Maske verbirgt reden, wenn er wiederkommt.”
„Falls er überhaupt wiederkommt …”, sagte Nica dumpf.
Fiona
„Meine Freunde sind schon viel zu lange da unten”, stellte Fiona mit einem Blick auf ihre Taschenuhr fest. Was, wenn Nica etwas zugestoßen war? Oder den anderen? „Wir sollten sie suchen gehen. Würden Sie mich begleiten?”
„Ja”, erwiderte Madame Giry, deren Aura in einem ruhigen Blau flimmerte. „Warten Sie, ich bin gleich wieder da.”
Kurz darauf kam die Französin mit einer Pistole wieder. „Machen Sie sich keine Sorgen, das ist nur ein Requisit. Sie ist ungeladen. Aber vielleicht kann sie der Abschreckung dienen, falls wir da unten auf … zwielichtige Gestalten stoßen sollten.”
Fiona nickte. „Eine gute Idee.”
Wenig später durchsuchten sie ein weiteres Mal den Keller. Giselles Idee mit den Kreidemarkierungen kam ihnen sehr zugute, denn anhand dieser konnten sie den Weg der anderen schon bald nachvollziehen. Die Pfeile führten sie schließlich in einen leeren Raum.
„Seltsam, hier ist doch nichts”, sagte Madame Giry verwirrt.
Fiona ließ sich davon nicht beirren und ging in den hinteren Teil des Raumes. „Sehen Sie mal hier …” Sie deutete auf den Boden. „Eine Falltür.”
„Na sieh mal einer an. Ich dachte bislang immer, ich würde hier unten praktisch jeden Winkel kennen, aber diesen Raum habe ich mir bisher nie näher angeschaut, weil er auf den ersten Blick leer aussieht. Man lernt nie aus.”
So leise wie möglich öffnete Madame Giry die Falltür. „Eine Treppe führt hinunter.”
„Dann lassen Sie uns schauen, wie es dort unten weiter geht.”
„Das soll mir recht sein.”
Nacheinander stiegen sie die Treppe hinunter und fanden sich schließlich in einem langen Flur wieder.
„Nach links oder rechts?”, fragte Madame Giry leise.
„Erst einmal nach links”, schlug Fiona aufs Geratewohl vor.
Schon bald fanden sie einen offenen Raum, in dem mehrere Möbel standen, darunter auch ein Bett und ein breiter Sessel.
„Puh, was ist das für ein grässlicher Geruch!”, flüsterte die Concierge.
„Sehen Sie mal dort … ” Fiona wurde übel von dem Anblick, der sich ihr bot. Auf einem Tisch lagen die blutigen Überreste einer Mahlzeit, darunter mehrere Knochen.
„Sind das menschliche Knochen?”, fragte sie leise.
„Ich bin mir nicht sicher, ich kenne mich nicht gut mit Anatomie aus”, erwiderte Madame Giry. Von ihrer resoluten Art war nicht mehr viel übrig, ihre Stimme zitterte und auch ihre Aura wechselte die Farbe zu einem nervösen Grünton.
In diesem Moment erklangen Schritte im Flur, die rasch näherkamen. Verdammt, es war zu spät, um zu fliehen! Wer immer da kam, würde sie entdecken.
Madame Giry hatte offenbar denselben Gedanken. „Verstecken wir uns unter dem Bett!”
Etwas anderes blieb ihnen kaum übrig. Das Bett war hoch genug, dass sie sich darunter quetschen konnten. Fiona musste ein Husten unterdrücken, denn unter dem Bett lag eine dicke Staubschicht.
Von den Leuten, die nun hereinkamen, konnte sie nur die Schuhe und einen Teil der Beine erkennen, doch ihr wurde schnell klar, dass es sich nicht um ihre Freunde handelte.
„Wenn ich nur wüsste, woher diese verdammte Seuche kommt”, murmelte einer von ihnen, ein Mann mit einer heiseren Stimme, kaum mehr als ein Krächzen. „Ich habe es so satt, hier unten zu sein.”
„Wie hat es eigentlich bei dir angefangen? Das hast du uns immer noch nicht erzählt”, fragte eine weibliche, sanfte Stimme.
„Das war kurz nachdem ich meinen Freund Sébastien Dubois besucht habe. Er war so stolz, hat mir seine neuen Errungenschaften gezeigt, Kunst aus dem Alten Ägypten. Dummerweise habe ich einen der Gegenstände fallen lassen und der Deckel fiel herunter. Und dann rieselte so ein seltsames, glänzendes Zeugs heraus. An dem Abend fing es an. Ich dachte erst, ich hätte eine Magenverstimmung.”
„Was machen wir nun eigentlich mit den Gefangenen?”, unterbrach ihn ein anderer Mann.
„Wir sollten sie erst mal hier unten behalten”, erwiderte er.
„Und wie willst du sie ernähren?”
„Wir nehmen das Wasser aus der Zisterne, und was Lebensmittel betrifft, wird mir schon etwas einfallen. Wer weiß, vielleicht können wir sie auch als ein Druckmittel einsetzen …”
„Du meinst, wie Geiseln?”
„Wir könnten ein Lösegeld verlangen.”
„Das ist nicht dein Ernst. Und überhaupt, von wem sollten wir es denn verlangen? Wir wissen doch gar nichts über diese Leute. Außer, dass es Ausländer sind. Bis auf die ältere Dame, glaube ich.”
Fiona drehte sich der Magen um bei diesen Worten. Die ältere Dame, das war bestimmt Giselle. Und damit war auch klar, wer die anderen waren.
„Ich werde mit ihnen sprechen, sicherlich finde ich dann mehr heraus.”
„Sei vorsichtig, Paul”, meldete sich nun eine weibliche Stimme zu Wort.
„Das werde ich. Und zur Not habe ich immer noch den Revolver.”
Fiona sah, dass sich einer der Männer entfernte.
Ihr kam eine Idee. Sie war riskant, aber sie musste es einfach versuchen.
„Geben Sie mir die Pistole”, flüsterte sie. Madame Giry reagierte nicht.
„Ich habe eine Idee”, fuhr Fiona fort. Die Concierge schob ihr die Waffe zu. Fiona griff danach und kam so schnell wie möglich unter dem Bett hervor.
Haut les mains! – Hände hoch!”, rief sie den beiden Gestalten zu, die sich an den Tisch gesetzt hatten, Eine zierliche Frau mit grauem Gesicht und einer eiternden Wunde am Handgelenk. Ihre Kleidung war schmutzig und zerrissen und der Mann, der ihr gegenübersaß, sah ebenfalls zum Fürchten aus; bleich wie der Tod, das Gesicht von einem Geschwür zerfressen.
Zögernd hoben beide die Hände.
„Wo ist Ihr Komplize hingegangen? Bringen Sie uns zu ihm!”, sagte Fiona. Die Hand mit der Waffe zitterte mehr, als ihr lieb war.
„Bitte, legen Sie die Waffe weg, Mademoiselle”, begann der Mann.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich denke gar nicht daran. Und wenn Sie nicht tun, was ich sage, werde ich auf Sie schießen.”
Hoffentlich fiel er darauf herein. Selbst wenn sie gewollt hätte und die Pistole keine Atrappe gewesen wäre, hätte sie es nicht wirklich über sich gebracht, auf einen der beiden zu schießen. Gewalt war ihr ein Gräuel. Daran hatten auch die Ereignisse in London und in der Anderswelt nicht geändert.
„Schon gut”, lenkte er ein. „Wie Sie wollen. Celestine, bleib hier, ja?”
„Nein, ich will dich nicht allein lassen”, protestierte die junge Frau mit rauer Stimme.
Er musterte sie einen Moment lang und nickte dann.
Als sie zu viert den Flur betraten, sah Fiona den anderen Mann an dessen Ende.
„Paul!”, rief der Jüngere ihm entgegen. Der Angesprochene drehte sich langsam um. Sein Gesicht war durch eine weiße Halbmaske verdeckt.
Fiona zielte auf ihn. „Legen Sie die Waffe weg, Monsieur, oder ich schieße.”
„Ich konnte sie nicht aufhalten, Paul”, sagte der Mann mit dem Geschwür im Gesicht.
Zut alors! – Verdammt und zugenäht!” Der Mann mit der Maske legte seinen Revolver vorsichtig auf den Boden.
„Madame Giry, wenn Sie so freundlich wären?”, fragte Fiona und wies mit dem Kopf auf die Waffe. Die Concierge näherte sich dem Mann und griff nach dem Revolver.
„Lassen Sie die Gefangenen sofort frei”, sagte Fiona. Ihre Hand mit der Pistole zitterte noch immer, aber nicht mehr so sehr wie noch vor wenigen Minuten.
„Wenn Sie darauf bestehen …” Der Maskierte griff in seine Hosentasche und förderte einen Schlüssel zutage. Damit machte er sich an einem Türschloss in der Nähe zu schaffen.
Anschließend öffnete er die Tür und sprach in den Raum hinein: „Sie können gehen.”
Nacheinander verließen ihre Freunde den Raum. Am liebsten hätte sie auf der Stelle Nica umarmt, die nun mit aufgelöster Frisur im Flur stand, doch hier waren drei Leute, die sie und Madame Giry in Schach halten mussten.
Doux Jésus , bin ich froh, Sie zu sehen”, rief Giselle und stieß hörbar den Atem aus.
„Und ich erst”, schloss sich Nica an.
„François, lass uns dir doch helfen”, begann Alec. „Hast du schon mal daran gedacht, zu einem Arzt zu gehen?”
Doch der Angesprochene schüttelte traurig den Kopf. „Was glaubst du denn, warum wir uns hier unten versteckt halten? Zum einen vertragen wir das Sonnenlicht nicht mehr. Wir sind Kreaturen der Nacht geworden. Irgendetwas Böses hat uns sogar so sehr verändert, dass wir nur noch rohes Fleisch essen mögen. Wir konnten ja selbst vor dem armen Joseph Buquet nicht haltmachen, als wir seine Leiche auf der Treppe im Foyer gefunden haben.”
Sie waren das?”, rief Madame Giry mit großen Augen.
„Wir haben ihn nicht umgebracht!”, entgegnete der Maskierte. „Er muss gestürzt sein, das habe ich vorhin schon erzählt. Hat sich das Genick gebrochen, der arme Teufel. Er hat nichts mehr gespürt, als wir von ihm … ” Er sprach nicht weiter, wandte den Blick ab.
Fiona begriff erst jetzt, was François angedeutet hatte. Eine Welle von Übelkeit erfasste ihren Magen.
Madame Giry fasste sich an die Stirn, ihr Gesicht verzerrte sich. „Das ist … oh, ich finde keine Worte dafür.”
„Wir konnten uns selbst nicht mehr beherrschen”, sagte der Mann mit der Maske. „Diese Krankheit, sie hat uns auf Abscheulichste verändert. Und ich glaube nicht, dass es irgendeinen Arzt in der Stadt gibt, der sie kennt und zu behandeln weiß. Ich habe Medizin studiert. Ich habe das Studium zwar nicht beendet, aber ich habe auch danach noch viel über Medizin und alle möglichen Krankheiten gelesen. Eine wie unsere ist mir dabei nicht untergekommen.”
„Aber es könnte doch auch eine exotische Krankheit sein. Vielleicht hat sie jemand von einem anderen Kontinent eingeschleppt?”, gab Giselle zu bedenken.
„Das mag ja sein, aber dann werden wir hier wohl kaum einen Arzt finden, der sich damit auskennt. Außerdem will ich verhindern, dass wir noch mehr Leute anstecken, wenn wir zu einem Arzt oder gar in ein Krankenhaus gehen.”
„Ich werde wiederkommen.” Victor sah Paul direkt an. „Wenn wir herausgefunden haben, wie wir Ihnen helfen können. Das verspreche ich.”
„Das glaube ich kaum”, sagte der Maskierte. Ein Hustenanfall schüttelte ihn. „Eher hetzen Sie uns die Polizei auf den Hals.”
„Das werden wir gewiss nicht tun”, widersprach Alec ihm. „Nicht wahr?”, wandte er sich an Victor.
„Wenn Sie uns keinen Grund dazu liefern … ”
„Wie dem auch sei”, meldete sich Madame Giry zu Wort. „Wagen Sie es ja nicht, uns zu folgen.”
Während Fiona und sie die drei mit den beiden Waffen in Schach hielten, gingen die anderen rasch in Richtung der Treppe. Madame Giry und Fiona folgten ihnen bald, behielten dabei aber den Maskierten und die beiden Jüngeren im Auge.
Hastig kletterten sie nacheinander die Treppe hoch und dort verlor Fiona die drei aus den Augen.
Kurz darauf verließen sie gemeinsam das unterirdische Gemäuer.
Nica umarmte Fiona stürmisch. „Ich bin so froh, dass ihr uns da herausgeholt habt.”
„Glauben Sie, die drei werden im Keller bleiben? Dieser Paul scheint mir ein richtiger Sturkopf zu sein”, fragte Giselle nachdenklich, während sie das nächtliche, dunkle Opernhaus ein weiteres Mal durchquerten.
„Das kommt darauf an”, erwiderte Victor. „Wenn François meinem Versprechen Glauben schenkt und er die beiden überzeugen kann, vielleicht. Aber es mag auch sein, dass dieser Paul sie dazu überreden wird, sich anderswo zu verstecken.”
„Ich habe diesen Maskierten etwas sagen hören, was mich nachdenklich stimmt.” Fiona berichtete den anderen, was Paul über Sébastien Dubois und dessen Kunst aus dem Alten Ägypten erzählt hatte. „Das ließ mich daran denken, was Eliott uns auf der Reise hierher erzählt hat – dass er einen detektivischen Auftrag hat, einige antike Kunstgegenstände aus dem Alten Ägypten wiederzufinden, die gestohlen worden sind. Und nun ist er ebenfalls krank. Schon ein seltsamer Zufall, findet ihr nicht?”
„Du meinst, es könnte etwas mit diesem Dubois zu tun haben?”, fragte Nica. „Ich habe Eliott dorthin begleitet, aber wir haben erfahren, dass er kürzlich verstorben ist. Herzversagen. Das kam offenbar recht unerwartet.”
„Wer weiß, vielleicht? Ich denke, wir sollten Eliott morgen früh einmal ein paar Fragen stellen.”
„Das ist sicherlich eine gute Idee”, sagte Alec. „Aber ich schätze, wir sollten zusehen, dass wir alle noch eine Mütze voll Schlaf bekommen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin nach all den Aufregungen hundemüde.”
„Treffen wir uns doch morgen bei uns im Hotel, was haltet ihr davon?”, schlug Nica vor.
„Ich bin dabei”, erwiderte Victor.
„Ich ebenfalls”, sagte Giselle.
Wenig später verabschiedeten sie sich von der Concierge, nachdem diese ihnen das Versprechen abgenommen hatte, sich bei ihr zu melden, sobald sie irgendetwas von Belang herausgefunden hatten.
Eine Stunde später lag Fiona in ihrem Hotelbett und auch Nica hatte sich zur Ruhe begeben. Sie lauschte den leisen Atemzügen ihrer Freundin, doch es fiel ihr schwer, ebenfalls in den Schlaf zu finden. Viel zu viele unbeantwortete Fragen kreisten ihr durch den Kopf.
Hôtel-Dieu de Paris, 1. Arrondissement
Eliott
Als er wieder erwachte, war es vollkommen dunkel im Raum. Ist es schon abends, oder gar nachts? Im Raum war es still, doch nicht völlig – aus manchen Ecken erklangen Schnarchgeräusche, während er anderswo röchelnden Atem hören konnte.
Eliott hatte fürchterlichen Durst und tastete nach dem kleinen Schrank, der wie ein Nachttisch neben seinem Bett stand. Dort fand er ein Glas mit Wasser und stürzte es hastig herunter.
Eliott wollte sich gerade wieder zum Schlafen umdrehen, als in seiner Nähe ein heiserer Schrei erklang. Er fuhr herum.
Au secours ”, schrie ein Mann. Eliott taumelte aus dem Bett. Im Zwielicht des Raumes verschwamm ihm wieder mal die Sicht, doch von draußen drang ein wenig Licht von einer Straßenlaterne herein. Er strengte sich an und konnte seine Augen schließlich auf das fokussieren, was vor ihm lag. Eliott schrak zusammen – einer der Patienten hatte sich in den Arm des anderen verbissen. Rohes Fleisch!
Eliott griff nach dem Angreifer, der sich mit einem wütenden Zischen umdrehte, das nicht mehr menschlich klang. Der Kerl ließ von dem gepeinigten Mann ab und schlug um sich. Eliott war zu schwach, um ihn ganz von seinem Opfer wegzureißen. Zugleich stieg ihm der Geruch von Blut in die Nase.
Normalerweise hätte er dem neutral gegenüber gestanden, doch in dieser Nacht hatte der Geruch etwas seltsam verführerisches. Plötzlich verspürte er einen starken Drang, sich über die Wunde des Opfers zu beugen und sich an dem Blut zu laben. Aber ist doch wahnsinnig! Reiß dich zusammen, Breeches! Er drängte den Impuls wieder aus seinem Bewusstsein.
Stattdessen verpasste er dem Mann eine schallende Ohrfeige und rief: „Kommen Sie zu sich! So etwas tut man nicht!” Erst im nächsten Moment fiel ihm ein, dass dieser Herr ihn wahrscheinlich gar nicht verstehen konnte.
Au secours! ”, rief der andere Mann ein weiteres Mal und nun fiel auch eine Frau in die Rufe mit ein.
Der Beißwütige schlug weiter nach Eliott. Er verlor das Gleichgewicht und stolperte zu Boden. Der Kerl stürzte sich auf ihn und rammte ihm seine Faust ins Gesicht. Eliott sah grell leuchtende Sterne vor seinen Augen tanzen, als der Angreifer seinen Wangenknochen traf. Dann setzte der Schmerz ein, begleitet von einem dumpfen Pochen. Vergeblich versuchte er, sich von dem Mann zu befreien, der noch immer auf ihn einprügelte. Diesmal traf er Eliotts Brust, was ihm die Luft aus der Lunge drückte.
Seine eigenen Bewegungen verursachten ein erneutes Schwindelgefühl. Im nächsten Moment schlug sein Angreifer ihm mitten in den Magen. Erneuter Schmerz explodierte in seinem Innern, heiße Glut, die ihn verätzte. Röchelnd holte Eliott Luft. Mit mehr Glück als Verstand gelang es ihm, seinem Gegner den Ellenbogen in die Kehle zu donnern.
Der prallte mit einem gurgelnden Geräusch zurück und ließ sich neben ihn fallen. Eliott versuchte, aufzustehen, aber das Schwindelgefühl war zu stark. Da regte sich sein Gegner wieder und diesmal biss dieser verrückte Bastard ihm in den Arm. Ein brennender Schmerz war die Antwort darauf. Eliott wollte sich losreißen, doch dabei wurde ihm schwarz vor Augen.
Ce qui se passe ici? ”, ertönte eine laute Stimme hinter ihnen.
Eliotts Peiniger ließ ihn los, vielleicht hatte ihn der Ausruf überrascht. Rasch rollte er sich weg von ihm, unter dessen Bett.
Mit einem Mal redeten mehrere Leute durcheinander, er verstand kein Wort davon. Die Frau begann leise zu schluchzen.
Der beißwütige Mann wurde von einem Krankenpfleger weggezerrt. Bloody hell … Einen Moment lang blieb Eliott einfach liegen, dann rollte er unter dem Bett hervor. Ein Arzt im weißen Kittel sprach leise mit zwei Krankenpflegern, die den Verrückten daraufhin wegbrachten. Der Arzt beugte sich zusammen mit einer Schwester über den gebissenen Patienten. Einen Moment lang redete er mit der Schwester und sie nickte ihm zu. Danach eilte sie aus dem Saal.
„Ich wurde auch gebissen”, brachte Eliott hervor. „Ich habe versucht, ihn aufzuhalten.”
„Lassen Sie mich mal sehen”, bat der Arzt. Er sprach mit einem schweren Akzent, doch sein Englisch war fehlerfrei. Eliott schwankte beim Aufstehen.
„Kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrem Bett und dann schaue ich mir Ihre Wunde an.”
Gesagt, getan. „Sie haben mehr Glück gehabt als der andere Patient”, erklärte der Arzt kurz darauf. „Bei Ihnen hat er nur hineingebissen, Ihnen aber kein Fleisch herausgerissen. Die Schwester holt medizinisches Besteck, dann werde ich seine Wunde versorgen. Bei Ihnen reicht eine Desinfektion und ein Verband.”
Kurz darauf kümmerte sich der Arzt zusammen mit der Schwester um den Verletzten. Sicherlich musste dessen Wunde genäht werden. Die Schwester hatte außer den medizinischen Instrumenten auch eine Laterne mitgebracht, mit der sie dem Arzt leuchtete. Beide trugen Handschuhe. ob das half, sich vor einer Ansteckung zu schützen? Eliott war sich nicht sicher.
Anschließend versorgten sie auch seine Wunde.
„Wie konnte das nur geschehen?”, fragte der Arzt nachdenklich, fast so, als ob er mit sich selbst sprach.
„Alle diese Patienten haben Appetit auf rohes, blutiges Fleisch, nicht wahr?”, fragte Eliott. „Mir geht es auch so. Warum haben Sie uns nicht entsprechendes Essen serviert?”
„Ich muss gestehen, meine Kollegen und ich sind uns uneins, ob das eine gute Idee wäre. Es gibt Viren, die sich in erster Linie von Protein ernähren, und das ist natürlich in Fleisch reichlich vorhanden. Deshalb haben wir an die Krankenhausküche die Order erteilt, dass die Patienten der Seuche ausschließlich pflanzliche Kost erhalten sollen, zumindest, bis wir mehr über die Erkrankung wissen.”
„Oh. Ach so. Sie meinen, wenn wir rohes Fleisch essen, könnte das die Krankheit noch verschlimmern?”
„Das ist zumindest eine Theorie. Wir wissen bisher nur sehr wenig über die Seuche. Ich habe auch schon angefragt bei Kollegen, die sich mit Krankheiten aus Afrika und Asien gut auskennen – aus den Kolonien, meine ich. Aber auch das hat uns bisher keine neuen Erkenntnisse gebracht. Die Symptome, wie wir sie bei Ihnen und den anderen Patienten hier beobachten, sind in dieser Art des Auftretens nicht bekannt, auch nicht in den Kolonialgebieten. Es bleibt zu hoffen, dass uns die Blutuntersuchungen und medizinische Versuche weiterbringen.”
„Ich lasse mich doch nicht zu einem Versuchsobjekt machen!”, protestierte Eliott. Die Worte kamen nur krächzend heraus.
„Eventuell ist das ja auch gar nicht notwendig. Vielleicht finden wir bald eine Lösung. Bitte regen Sie sich nicht auf”, beschwichtigte ihn der Arzt.
„Was machen Sie nun eigentlich mit diesem beißwütigen Patienten?”
„Er kommt in ein Einzelzimmer, das wir abschließen. Ich habe angeordnet, dass einer der Pfleger jede Stunde einmal nach ihm schaut. Er ist möglicherweise nicht nur eine Gefahr für andere, sondern auch für sich selbst.”
„Ich verstehe. Sollten wir nicht Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, falls noch einer der Patienten beißwütig wird?”, fragte Eliott.
„Monsieur, das hier ist kein Gefängnis. Wir können uns keine Rund-um-die-Uhr-Bewachung leisten. Aber ich werde den Nachtwächter bitten, auch im Schlafsaal bei seinen Runden nach dem Rechten zu sehen”, erwiderte der Arzt. Er strich sich über die Stirn und musterte Eliott einen Moment lang. „Bitte, Monsieur, versuchen Sie wieder zu schlafen. Es ist mitten in der Nacht, gerade mal ein Uhr.”
„Also gut.” Was blieb ihm auch anderes übrig? Doch angesichts des Vorfalls fiel es ihm schwer, wieder zur Ruhe zu finden.

1 künstlich angelegtes Sammelbecken, für Grund- oder Abwasser
2 Ein Anhänger, an dem verschiedene kleine Gegenstände befestigt werden konnten und der von Damen am Gürtel getragen wurde
3 Englisch: Device for the Investigation of Paranormal Phenomena