Kapitel 10
Sonnabend, 24. März 1889
Musée du Louvre, 1. Arrondissement
Giselle
Fiona und sie trafen sich vormittags am Louvre. Giselle kannte das alte Museum bereits aus ihrer Jugendzeit hier in Paris, aber sicherlich hatte sich seitdem einiges verändert. Die äußere Fassade des langgestreckten Gebäudes war noch immer so, wie sie diese in Erinnerung hatte: Drei Stockwerke mit hohen Fenstern, Säulen und Statuen.
Am Empfang in der Eingangshalle brachte sie ihr Anliegen vor.
„Einen Sachverständigen für das Alte Ägypten?”, hakte der Mitarbeiter des Museums nach. „Warten Sie hier, ich erkundige mich in der entsprechenden Abteilung.”
„Sehr freundlich, danke”, erwiderte sie.
Er verließ den Empfangstresen. Kurze Zeit später kam ein weiterer Mitarbeiter auf sie zu, der sich an den Tresen setzte und ihnen einen guten Tag wünschte. Einige Besucher erschienen und kauften sich Eintrittskarten.
Sie mussten nicht lange warten, bis der andere Mann zurückkehrte. „Gehen Sie bitte in die Altägyptische Abteilung und fragen Sie nach Monsieur Roussel”, teilte er ihnen mit. „Er ist Archäologe und wird versuchen, Ihre Fragen zu beantworten.”
„Vielen Dank, Monsieur”, sagte Giselle.
Die altägyptische Abteilung befand sich nicht weit entfernt von der Eingangshalle, im Saal Denon, der sich im südlichen Teil des Erdgeschosses befand. Hier gab es allerhand Skulpturen in den verschiedensten Größen und Farben. Mit würdevoller Miene blickten Pharaonen und Götter mit Tiergesichtern auf sie herab. Eine recht lebensechte, bemalte Skulptur zeigte einen Mann mit bloßem Oberkörper, der im Schneidersitz saß und im Schoß etwas zu schreiben hatte. Daneben befand sich ein prächtiger Sarkophag, der zum Teil vergoldet war, und ein steinernes Wandbild, das ebenfalls bemalt war. Ein Mann und eine Frau waren darauf abgebildet, letztere mit einer ungewöhnlichen Krone. Neben dem Sarkophag gab es einen Glaskasten mit einem Podest, auf dem eine Mumie lag, deren Gesicht mit einer Totenmaske aus Ton bedeckt war.
Giselle wandte sich an eine Dame, die in diesem Saal Aufsicht hatte und fragte sie nach dem Archäologen. Die Frau nickte ihr zu und forderte sie auf, ihr zu folgen. Sie führte Fiona und Giselle aus dem Saal. Kurz darauf kamen sie in einen schlichten Flur und dort klopfte die Dame an einer Tür an.
Ein Mann, der ungefähr in Giselles Alter war, öffnete ihr.
„Monsieur Roussel, hier sind zwei Damen, die Sie sprechen möchten.”
„Ach ja?” Er rückte seine Brille zurecht und musterte Giselle und Fiona interessiert. „Guten Tag, die Damen.”
Giselle und die junge Irin begrüßten ihn ebenfalls und stellten sich vor. Die Dame von der Aufsicht verabschiedete sich und ließ sie allein.
„Womit kann ich Ihnen dienen? Bitte, kommen Sie doch herein.”
Der Raum entpuppte sich als eine Art Mischung aus Büro und Werkstatt. Auf einem langen Tisch lagen mehrere antike Gegenstände, darunter auch eine Reihe an Tonscherben, die teilweise Reste einer Bemalung aufwiesen. An den Wänden befanden sich mehrere Regale, in denen zum Teil Bücher, zum Teil weitere Objekte lagerten. Einen Schreibtisch gab es auch, auf dem sich zahlreiche Papiere und einige Aktenordner befanden.
„Wir bräuchten bitte eine Übersetzung für diese Hieroglyphen”, erklärte Fiona und zog den Zettel aus ihrer Handtasche.
„Woher stammt denn der Text?”, erkundigte sich der Archäologe.
Giselle und Fiona wechselten einen Blick. Mit dieser Frage hatten sie bereits gerechnet und sich auch eine entsprechende Antwort überlegt.
„Von einem antiken Gegenstand, der einem Kunstsammler hier in der Stadt gehört”, erklärte Giselle so vage wie möglich. „Wir wollen ihm eine Freude machen, zu seinem Geburtstag, deshalb kamen wir auf die Idee, den Text übersetzen zu lassen.”
„Ah, ich verstehe. Gut, dann lassen Sie mich bitte einmal sehen. Es ist nur dieser eine Zettel, oder?”
„Ja, Monsieur.”
„Eigentlich gehört das ja nicht direkt zu meinen Aufgaben. Ich meine, dann könnte ja jeder herkommen und nach Übersetzungen fragen … ”
„Das ist uns bewusst”, beeilte sich Giselle zu sagen. „Aber wir wären Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn Sie für uns eine Ausnahme machen. So wie es aussieht, ist es auch kein allzu langer Text.”
„Nun, freundlichen Damen eine Bitte abzuschlagen, das ist mir schon immer schwergefallen”, sagte der Archäologe und schenkte Giselle ein herzliches Lächeln, das sie erröten ließ. „Ach, warten Sie, am besten, ich schreibe die Übersetzung gleich auf, oder?”
„Das wäre sehr freundlich”, sagte Fiona.
Er nahm den Zettel mit zu seinem Schreibtisch, schob einigen Papierkram beiseite und betrachtete die Hieroglyphen.
Wenige Minuten später griff er zu einem Tintenfässchen und einer Feder und begann, die Übersetzung aufzuschreiben. „Das ist ungewöhnlich … erstaunlich”, murmelte er.
„Was denn, Monsieur Roussel?”, erkundigte sich Giselle.
Einen Moment lang sah er sie verwirrt an. Vielleicht war er so in die Übersetzung vertieft gewesen, dass er fast vergessen hatte, dass sie beide hier warteten?
Der Archäologe rückte ein weiteres Mal seine Brille zurecht und räusperte sich. „Nun, meine Damen, ein solcher Text ist mir bisher noch nicht untergekommen. Ich muss gestehen, dass ich den entsprechenden Gegenstand gern einmal mit eigenen Augen sehen würden. Aber ich möchte Sie nicht lange auf die Folter spannen, lesen Sie selbst …”
Er reichte Giselle den Bogen Papier, den er beschrieben hatte. Darauf las sie die folgenden Zeilen, während Fiona ihr über die Schulter schaute.
Dies ist die letzte Heimstatt des Nefermaat. Niemals soll er Duat [Anmerkung: das altägyptische Jenseits] betreten, niemals soll seine Ba-Seele sich mit seinem Leichnam vereinigen. Niemals soll seine Seele vor dem Totengericht gewogen werden, denn schon im Leben ist sie schwer geworden.
Deshalb wurde Nefermaat verbrannt, denn es wurde bekannt, dass er schwarze Magie zum Schaden seiner Mitmenschen gewirkt und dem göttlichen Pharao den Tod gewünscht hat. Oh verachtenswerter Nefermaat, du hast dein Anrecht auf ein glückliches Leben im Jenseits verwirkt! Dieses Gefäß wird deine Asche halten, dieser Zauber wird dich daran hindern, nach Duat zu gelangen.
„Das ist wirklich erstaunlich”, sagte Giselle nachdenklich.
„Ja, in der Tat. Wissen Sie, die Alten Ägypter waren ein sehr abergläubisches Volk. Sie haben an Magie geglaubt, in jeglicher Ausrichtung”, sagte Monsieur Roussel. „Sie waren davon überzeugt, dass man Magie sowohl zum Nutzen, als auch zum Schaden seines Umfeldes einsetzen konnte. Dieser Nefermaat muss den Bogen mit seinen Aktivitäten überspannt haben, oder aber er hatte missgünstige Feinde, die ihn in Verruf gebracht haben. Jemanden zu verbrennen, anstatt seinen Leichnam einzubalsamieren, das war wohl mit die schlimmste Strafe, die man sich im Alten Ägypten vorstellen konnte. Denn damit war demjenigen die Ewigkeit im Jenseits verwehrt, das man nach den damaligen Vorstellungen nur mit einem intakten, mumifizierten Körper erreichen konnte.”
„Vielen Dank für Ihre Hilfe, Monsieur”, sagte Giselle. Mit seinen Worten über die Verbrennung hatte er ihnen eine weitere Frage beantwortet, die sie hergeführt hatte.
„Gern. Und ich kann mich nur wiederholen, ich würde diesen Gegenstand gern einmal sehen. Wären Sie so freundlich und überreichen Ihrem Bekannten meine Visitenkarte, zusammen mit meiner Bitte? Ich würde mich sehr freuen.”
„Wir können ihn gern fragen, aber ich kann Ihnen nichts versprechen”, sagte Giselle.
„Vielen Dank, Madame Butler. Seltsam … ich hätte schwören können, Sie seien Französin. Ihr Französisch ist akzentfrei.”
„Mein Mann war Engländer”, erklärte sie.
„Oh. Sie sind Witwe?”, erkundigte er sich.
Sie nickte.
„Mein Beileid.”
„Sehr freundlich von Ihnen. Es ist schon bald zwei Jahre her.” Das stimmte nicht ganz. Der Geist ihres Mannes Nathaniel hatte sie noch längere Zeit nach seinem Tod begleitet, bis er vor rund zwei Jahren in der Anderswelt vernichtet worden war. 1 Aber das würde sie diesem Archäologen gewiss nicht erzählen.
Monsieur Roussel schenkte ihr ein freundliches Lächeln, als sie sich verabschiedeten, und drückte ihr eine weitere Visitenkarte in die Hand. „Ich würde mich freuen, wenn wir uns einmal wiedersehen”, sagte er.
Giselle sah ihn überrascht an. Dann merkte sie, dass er auf eine Antwort wartete. „Mich ebenfalls”, erwiderte sie rasch und steckte seine Karte ein.
„Wäre es vermessen von mir, Ihnen einmal zu schreiben?”, fragte er.
Einen Moment lang zögerte Giselle. Sie musste an ihren verstorbenen Mann denken und kam sich einen Moment lang vor wie eine Verräterin. Andererseits, was war schon dabei, wenn ihr ein freundlicher Mann einen Brief schrieb? „Nein, Ich würde mich freuen”, sagte sie deshalb. „Wenn Sie mir Ihre Feder leihen, schreibe ich Ihnen die Adresse meiner Tochter und ihres Mannes auf. Ich wohne zurzeit bei ihnen.”
„Gern.” Lächelnd reichte er ihr die Feder und ein Stück Papier und sie schrieb ihm die Adresse auf.
„Ein charmanter Mann, oder?”, fragte Fiona auf dem Weg nach draußen. Ein Schmunzeln umspielte ihren Mund.
„Ja, ich fand ihn auch sympathisch”, gab Giselle zu und errötete ein weiteres Mal. „Ich habe übrigens überlegt, ob ich in Paris bleiben sollte”, platzte sie heraus.
Fiona blieb stehen. „Oh, tatsächlich?”
„Ja. Diese Idee treibt mich schon eine ganze Weile um. Seit Nathaniel nicht mehr da ist, fühle ich mich in London oft einsam. Ich meine, ich kenne natürlich dich und die anderen aus Victors Bekanntenkreis und es gibt die spiritistische Gesellschaft, aber … hier könnte ich bei meiner Tochter sein, mein Enkelkind aufwachsen sehen. Ich hätte meine Familie um mich, denn ich habe hier noch mehr Verwandte. Und hier kann ich mich in meiner Muttersprache verständigen. Ich habe auch überlegt, ob ich mich hier ebenfalls nach einer spiritistischen Gesellschaft umhöre. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es hier auch eine gibt, wenn nicht sogar mehr.”
„Wenn du wirklich hierherziehst, werde ich dich vermissen”, sagte Fiona. „Aber ich kann dich verstehen. Wäre ich an deiner Stelle, würde es mir gewiss ähnlich gehen.”
„Wir könnten uns gegenseitig besuchen, von Zeit zu Zeit”, überlegte Giselle.
Fiona nickte. „Das würde mich sehr freuen.”
„Und auf jeden Fall werde ich dir gern schreiben”, versprach sie der jungen Irin. „Dank der Luftschifffahrt brauchen Briefe über den Kanal ja nicht allzu lang, das habe ich an denen meiner Tochter gemerkt.”
„Das ist gut”, erwiderte Fiona. Sie zog den Zettel mit der Übersetzung noch einmal hervor und studierte diesen. „Dieser Nefermaat war also ein Schwarzmagier. Oder zumindest wurde er für einen gehalten. Ach, ich frage mich, ob uns das weiterhilft …”
„Ich habe in den letzten Jahren das eine oder andere über magische Fähigkeiten erfahren, aber ich kenne mich nicht mit den alten Ägyptern aus und schon gar nicht mit schwarzer Magie”, erklärte Giselle, während Fiona den Zettel wieder in ihre Tasche steckte.
Fiona zuckte mit den Schultern. „Ich auch nicht. Aber vielleicht kann jemand von den anderen magisch Begabten damit etwas anfangen.”
Eliott
Bloody hell … Er fühlte sich hundeelend. Zwar ging es ihm schon seit einer Weile schlecht, doch inzwischen bereitete ihm jede Bewegung Schmerzen. Er hatte sich auch arg dabei anstrengen müssen, die Nachricht an seine Freunde zu schreiben. Seine Augen versagten ihm von Zeit zu Zeit den Dienst, immer wieder verschwamm ihm die Sicht und er sah nur noch unscharfe Farbtupfer.
Die Bettdecke fühlte sich viel zu schwer und warm an, auch fand er keine bequeme Position, weil ihm alles weh tat. Wie bei einem starken Muskelkater, der seinen gesamten Körper ergriffen hatte.
Zum ersten Mal, seit er hier im Krankenhaus war, kam ihm der Gedanke ans Sterben. Würde es so mit ihm zu Ende gehen? Hier in einem elenden Bett in einem Krankenzimmer?
Verdammt noch mal, er wollte noch nicht sterben! Und schon gar nicht hier in der Fremde. Er hatte noch so viele Pläne … noch immer hatte er die Sehnsucht nicht aufgegeben, die Frau fürs Leben zu finden und vielleicht eine Familie zu gründen. Auch wenn er bisher nichts als Pech mit den Damen gehabt hatte.
Selten hatte er sich so hilflos gefühlt. Die schwarzen Gedanken drehten sich im Kreis, begleitet von einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Diese scheußliche Krankheit war ein Gegner, den er allein nicht bezwingen konnte.
Wenig später, als er fast eingedöst war, wurde das Mittagessen von mehreren Mitarbeitern des Krankenhauses serviert. Zu seiner Überraschung sah Eliott blutig gebratenes Fleisch auf dem Teller. Der Vorfall mit dem beißwütigen Patienten hatte die Krankenhausleitung offenbar doch zu einem Umdenken gebracht, was die Ernährung der Seuchenpatienten anging.
Selbst das Essen fiel ihm mittlerweile schwer, denn das Kauen tat ihm weh. Außerdem konnte er kaum das Messer halten, geschweige denn, damit schneiden.
Einer der Pfleger sah sich das einen Moment lang an. „ Avez-vous besoin d'aide? ”, fragte er.
Eliott hob hilflos die Hände, denn er verstand kein Wort.
Der Pfleger wies erst auf den Teller und dann auf das Messer.
Eliott nickte ihm zu. Der Pfleger stellte den Teller auf dem Beistelltisch neben dem Bett ab und schnitt das Fleisch für ihn klein.
Merci ”, gab Eliott mit einem Röcheln von sich. ,Danke’, eines der wenigen Worte, die er auf Französisch beherrschte. Er kostete das Fleisch. Zu seiner Überraschung schmeckte es hervorragend und er verschlang die Portion so rasch es angesichts der Schmerzen beim Kauen ging.
Ob er heute wieder eine Nachricht von seinen Freunden erhalten würde? Aber selbst wenn, wie sollte er ihnen nur antworten? Er konnte kaum noch etwas gerade halten. Aber vielleicht fand sich unter dem Personal jemand, der Englisch beherrschte und für ihn schreiben konnte?
Nach dem Essen verspürte er eine bleierne Müdigkeit. Einen Moment lang ging ihm ein grausiger Gedanke durch den Kopf – was, wenn er einschliefe und nie wieder aufwachen würde? Anfangs versuchte er noch, sich gegen die Müdigkeit zu wehren, aber er konnte sich auf nichts konzentrieren und letztendlich gewann sie die Oberhand. Nur wenig später fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Rue Violet, 15. Arrondissement
Fiona
„Bitte seien Sie gewarnt – wir haben einen nicht magisch begabten Arzt eingeladen, einen Engländer”, sagte Madame Laurent leise, als sie Giselle, Miss Jhadav und Fiona abends in ihre Wohnung hereinließ. „Ich bin darüber alles andere als glücklich, aber möglicherweise kann er uns aufgrund seiner bisherigen Forschungsarbeit weiterhelfen. Außerdem sind alle anderen magisch Begabten aus Paris, die sich näher mit Medizin auskennen, zurzeit auf einem medizinischen Kongress in Brüssel, wie wir heute im Verlauf des Tages erfahren haben. Wir können also nicht wählerisch sein, wenn es um Hilfe geht. Dr. MacAlistair weiß nichts von Magie, oder zumindest hat er nichts Entsprechendes erwähnt. Achten Sie also bitte auf Ihre Worte.”
„Aber wenn die Seuche einen magischen Ursprung hat, braucht es dann nicht Magie, um ein Gegenmittel zu entwickeln?”, fragte Fiona.
„Genau das wissen wir noch nicht. Möglicherweise lässt sich ja auch die weltliche Vorgehensweise mit Magie verbinden.”
„Aber müssten wir dann diesen Arzt nicht einweihen?”
Madame Laurent zuckte mit den Schultern. „Das wird sich noch zeigen. Im Zweifelsfall müssen wir es wohl tun. Immerhin steht hier das Wohl unserer Hauptstadt auf dem Spiel, wenn nicht das des gesamten Landes.”
In deren Labor stellte sie ihnen einen Herrn namens Dr. Frederick MacAlistair vor, ein schlaksiger Mann mit rotem Haar und Sommersprossen im blassen Gesicht, der wohl schon auf die Vierzig zuging. Auch die Herren Ayadi, Durand und de Letendre sowie die Krankenschwester Mademoiselle Roux waren wieder da.
„Es freut mich, Sie kennenzulernen”, sagte Dr. MacAlistair. „Wie es der Zufall will, bin ich zurzeit gerade hier in der Stadt, denn die Pariser Universität hat mich eingeladen, einige Vorträge über meine Forschungsgebiete zu halten. Monsieur Ayadi hat mich kontaktiert und meine Assistentin in London erreicht, die ihm das entsprechend mitgeteilt hat. Zeigen Sie mir doch bitte mal den Gegenstand, von dem Sie erzählt haben.”
Madame Laurent holte das Gefäß aus einem der Schränke und der Wissenschaftler beäugte diesen neugierig. „Altägyptisch ... Herrjeh, da muss ich an etwas denken, was ich vor vier Jahren im Sudan erlebt habe. Aber nein, vergessen Sie’s, das glaubt mir kein Mensch. Wir hatten es da auch mit einem altägyptischen Gegenstand zu tun. Sagen Sie, sind Sie denn alle medizinisch geschult?”
Fiona verneinte seine Frage.
„Ich habe früher als Krankenschwester gearbeitet, bevor ich geheiratet habe”, erzählte Giselle. „Ich kann mich noch an einige Grundlagen erinnern. Und an einige Maßnahmen zur ersten Hilfe.”
„Ich bin ebenfalls Krankenschwester”, sagte Mademoiselle Roux.
„Ich auch”, meldete sich Miss Jhadav zu Wort.
„Ich bin Chemiker”, erklärte Monsieur Durand.
„Ich verstehe. Dann würde ich diejenigen, die sich nicht mit medizinischer Forschung auskennen, bitten, den Raum zu verlassen”, erklärte Monsieur Ayadi. „Monsieur Durand, Sie bleiben bitte.”
„Folgen Sie mir, meine Damen”, sagte Madame Laurent. „Ich werde Ihnen gern einen Tee servieren, oder einen Kaffee.”
„Für mich auch einen Tee, bitte”, sagte Dr. MacAlistair.
Sie lächelte. „Eine gute Idee, ich werden eine Kanne oder zwei für uns alle zubereiten.”
Ihre Gastgeberin führte sie ins Wohnzimmer. „Bitte, nehmen Sie Platz. Ich werde mich um den Tee kümmern.” Sie ging in die Küche.
„Ein Freund von uns ist in Ihrem Krankenhaus, Mademoiselle Roux – Eliott Breeches. Wissen Sie, wie es ihm geht?”, fragte Miss Jhadav mit sorgenvoller Miene.
Giselle übersetzte ihre Frage.
Die Krankenschwester runzelte die Stirn. „Ein Amerikaner, recht groß, nicht wahr?”
Giselle nickte.
„Nicht besonders gut, fürchte ich. Aber die Krankenhausleitung ist nun dazu übergegangen, dem Appetit der Patienten nachzugeben und ihnen blutiges Fleisch zu servieren. Es scheint das einzige zu sein, was sie noch essen mögen. Es gab da einen Zwischenfall vor kurzem – ein Patient hat versucht, einen anderen zu beißen. Es ist ihm auch gelungen, aber Mister Breeches hat sich auf ihn geworfen und weiteren Schaden verhindert.”
„Oh. Ihm ist hoffentlich nichts passiert?”
„Er wurde gebissen, aber nicht schwer. Ich muss dazu sagen, ich habe das nur aus zweiter Hand gehört, ich war selbst nicht dabei. Aber danach hatte unser Direktor natürlich Sorge, dass dieses Verhalten um sich greifen könnte. Deshalb versuchen sie es nun mit dieser besonderen Art der Ernährung. Wir können nur hoffen, dass sich das nicht negativ auf die Krankheit auswirkt.”
„Wie sieht es eigentlich im Hôtel-Dieu aus, Mademoiselle Roux? Sind noch mehr Seuchenpatienten hinzugekommen?”
„Ich fürchte ja, mittlerweile sind es fast fünfzig. Davon sind jedoch drei gestorben. Allerdings waren zwei davon ältere, geschwächte Menschen und das andere war ein Kleinkind. Die Eltern haben sich leider auch angesteckt. Es ist eine Tragödie, das Ganze. Wenn das so weitergeht, und wir nicht bald ein Gegenmittel entwickeln können … ”
Ihr Gesicht verdüsterte sich. „Ich habe im Hôtel-Dieu übrigens auch gehört, dass Mediziner an der Universität nun ebenfalls auf der Suche nach einem Heilmittel sind. Aber das ist wohl noch nicht allzu weit gediehen. Zumindest haben sie bisher nichts weiter darüber verlauten lassen.”
Fiona trommelte mit den Fingern auf der Lehne ihres Sessels herum. Wenn sie doch nur etwas tun könnte. Dann fielen ihr die Leute wieder ein, die sich im Keller der Oper versteckt hielten.
„Vielleicht sollten wir noch einmal diesen Paul Charron, seine Verlobte und den Tänzer suchen”, sagte sie zu Giselle. „Ich meine, nun wird doch an einem Gegenmittel gearbeitet. Vermutlich dauert es noch eine Weile, aber die drei könnten ja inzwischen in ein Krankenhaus gehen. Es ist doch der blanke Wahnsinn, sich noch länger da unten im Keller zu verstecken.”
„Das sehe ich auch so. Aber dieser Paul hat wohl Angst wegen der Polizei. Wegen des Verstorbenen, den sie … du weißt schon.”
Schaudernd erinnerte sich Fiona an das, was sie über den unglückseligen Maschinisten erfahren hatten, der sich offenbar bei einem Sturz auf der großen Treppe im Foyer der Oper das Genick gebrochen hatte. Falls dieser Paul ihren Freunden wirklich die Wahrheit gesagt hatte.
„Ich wollte mich morgen eigentlich in der Stadtbibliothek umschauen, ob ich dort etwas zu seltenen Krankheiten aus Nordafrika finde”, fuhr Giselle fort. „Aber frag doch einmal Victor und Alec. Ich kann mir gut vorstellen, dass die beiden sich dir anschließen würden.”
„Das würde mich freuen. Ich hoffe nur, wir werden nicht allzu lang nach ihnen suchen müssen und dass wir sie überzeugen können, ihr Versteck zu verlassen.”
„Immerhin besteht nun die Aussicht auf ein Heilmittel”, sagte Giselle. „Ich meine, falls es Dr. MacAlistair und den anderen gelingt, eines zu entwickeln.”
Wenig später kam Madame Laurent mit einem Tablett zu ihnen. Mademoiselle Roux bot sich an, ihr mit dem Geschirr zu helfen. Kurz darauf hatte Fiona eine dampfende Tasse vor sich. Sie war dankbar dafür, denn Tee konnte man schließlich in jeder Lebenslage trinken. Gerade in unangenehmen Situationen hatte das Getränk oft eine tröstende Wirkung. Zumindest ging es ihr damit so.
Sie dachte an das kleine Teegeschäft in Covent Garden, das sie von ihrer Großmutter nach deren Tod übernommen hatte. Für die Dauer ihres Aufenthaltes in Paris hatte sie den Laden geschlossen. Offenbar würde es noch eine Weile länger dauern, bis sie nach London zurückkehren und ihn wieder öffnen konnte. Dadurch würde ihr einiges an Einnahmen entgehen. Aber zum Glück hatte sie einiges angespart und auch noch Geld von der Belohnung, die sie und die anderen im vergangenen Jahr nach dem Westminster-Massaker von der britischen Krone erhalten hatten.
Einige Zeit später kamen die anderen magisch Begabten zusammen mit dem englischen Arzt zu ihnen ins Wohnzimmer.
„Eines kann ich schon jetzt sagen”, begann Dr. MacAlistair. „Solche Mikroorganismen habe ich bisher noch nie gesehen, auch wenn sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Bakterien haben. Es ist ein kniffliger Fall und gewiss wird es eine Weile dauern, bis wir ein Heilmittel entwickelt haben. Wenn es uns überhaupt gelingt. Aber da ich schon einmal hier bin und mein nächster Vortrag morgen an der Universität erst nachmittags stattfinden soll, bin ich gern bereit, eine Nachtschicht einzulegen. Wenn Sie nichts dagegen haben, Madame Laurent?”
„Nein, keineswegs”, sagte sie ohne Zögern.
„Ich schließe mich Ihnen an, Dr. MacAlistair. Das könnte eine lange Nacht werden”, sagte Monsieur Ayadi nachdenklich.
„Können wir Sie irgendwie unterstützen?”, erkundigte sich Fiona.
Monsieur Ayadi schüttelte den Kopf. „Ohne medizinische oder chemische Kenntnisse wird das schwierig. Wir müssen uns erst einmal selbst einige Grundlagen zu diesem speziellen Krankheitserreger erarbeiten. Vielleicht können Sie uns später unterstützen, aber heute wohl eher nicht mehr.”
„Ich verstehe”, sagte Fiona. Gemeinsam mit ihren Freunden und Verbündeten hatten sie vor nicht allzu langer Zeit eine Hexe aus der Anderswelt und deren Schergen besiegt. Sie hatten auch einen Dämon und einen Nachtmahr bezwungen. Aber diese mysteriöse Krankheit war etwas ganz anderes. Ob sie deren Rätsel würden lösen können?

1 Wie es dazu kam, kann man in „Berlingtons Geisterjäger 1 – Anderswelt” nachlesen.