Als ich zum ersten Mal nach Tobolsk kam, herrschte ein Schneesturm. Das Wetter machte alles weicher — meine Stimmung, meine Erwartungen. Diese kleine Stadt in Westsibirien mit ihrer imposanten weißen Zitadelle, den runden Wachtürmen und fensterlosen Mauern war auf einer durchfurchten Anhöhe erbaut. Tobolsks Silhouette mit den zwiebelförmigen golden-türkisfarbenen Kuppeln der russischen Orthodoxie schien den Seiten eines russischen Märchenbuches entsprungen. Neben der Kirche stand ein Priesterseminar, das älteste in Sibirien, von dem aus im 19. Jahrhundert Missionare ins ganze Zarenreich entsandt wurden, selbst ins russische Amerika, damals, als die kolonialen Besitzungen der Zaren sich auf Alaska und Teile des heutigen Kalifornien erstreckten.1 Es war magisch, hier im Herzen dieser alten sibirischen Hauptstadt zu stehen. Ich war nahe dem Ort, wo 1580 eine wichtige Schlacht stattgefunden hatte, wo sich der Kosaken-Abenteurer Jermak Timofejewitsch mit einer Armee von weniger als tausend Mann über den Ural wagte, um den letzten sibirischen Khan zu besiegen — eine Leistung, die der Zar mit einem neuen Kettenhemd belohnte. Zum Unglück für Jermak hatte das Gewicht dieser modischen neuen Rüstung zur Folge, dass er ertrank, als er in einen nahen Fluss stürzte.
Jermaks Geschichte, grandios und lächerlich zugleich, bezeichnete den Beginn der Kolonisation Sibiriens, in deren Verlauf das russische Kaiserreich um mehr als das Hundertfache wuchs. Doch war Tobolsk nicht nur Symbol für die Glorie des kaiserlichen Russland, sondern auch für die züchtigende Tyrannei des Zarenregimes. Vor dem Aufstieg der ostsibirischen Stadt Irkutsk unter Katharina der Großen war Tobolsk die wichtigste Verteilerstelle für die in Sibirien eintreffenden Verbannten. Unter ihnen waren Kriegsgefangene, darunter ein großes schwedisches Kontingent, das bei der Schlacht von Poltawa 1709 gefangen genommen worden war, einem Sieg über das schwedische Reich, der das Machtgleichgewicht in Nordosteuropa für immer veränderte — zu Russlands Vorteil. Die Schweden lieferten nicht nur die benötigte Arbeitskraft, um die Flüsse zu regulieren, die sich unterhalb Tobolsks durch die Landschaft schlängeln; sie brachten auch einen bedeutenden zivilisatorischen Einfluss. 1720 notierte der schottische Reisende John Bell die Auswirkungen der Schweden auf die Kultur in Tobolsk. Er drückte seine Überraschung darüber aus, eine solche Menge an Musikinstrumenten vorzufinden; die Schweden seien es gewesen, die diverse nützliche, vor ihrer Ankunft »beinahe unbekannte« Künste eingeführt hätten. Bell wohnte mehreren Konzerten mit diesen schwedischen Offizieren bei, die auch als Lehrer für die Russen dienten.
Die Schweden wurden in das von Peter dem Großen im späten 17. Jahrhundert eingeführte Strafarbeitssystem, die Katorga, eingegliedert: Verbannte Männer und Frauen — ihre Besitzungen wurden beschlagnahmt, ihre Ehen annulliert — schickte man zur Zwangsarbeit nach Sibirien ins Exil. Manchmal wurde hochrangigen politischen Gefangenen eine Amnestie gewährt, für gewöhnlich, wenn ein neuer Zar den Thron bestieg, sonst aber galten solche gekennzeichnete Verbannte — den schlimmsten Verbrechern wurden die Nasenflügel aufgeschlitzt, sie waren gebrandmarkt und narbenübersät von der Knute, einer Art knotenbestückter Peitsche — vor dem Gesetz als »offiziell tot«. Einmal verbannt, gab es keine Rückkehr, eine äußerst wirksame Methode, nicht nur Menschen zu bestrafen, sondern auch die Neuerwerbungen Russlands zu kolonisieren. Da ein solches Exilsystem verwaltet werden musste, zog Tobolsk seinen entsprechenden Anteil an Bürokratie an — Gouverneure, Lehrer und ihre Frauen, und unvermeidlicherweise auch Klaviere. Ich hatte die Spuren von einigen verfolgt und sie aufgespürt, etwa einen schönen französischen Erard aus dem 19. Jahrhundert mit der Seriennummer 75796, der erst 1988 durch ein geplatztes Heißwasserrohr irreparabel beschädigt worden war. Es gab um die zwanzig vor der Revolution in Russland gebaute Flügel, aber in schlechtem Zustand. Der Bürgerkrieg hatte Tobolsk heftig zugesetzt, meinte ein gesprächiger, energischer ehemaliger Priester namens Alexej Wakulik, der sich anbot, mir bei meiner Suche zu helfen — eine zufällige Begegnung, aus der ein ganzer Tag der Suche wurde, nachdem er seine Pläne umgeworfen hatte, um einer Fremden zu helfen.
Alexej war groß, elegant gekleidet in dunklem Anzug; seine charismatische Ausstrahlung, flüsterte meine Übersetzerin, erinnere sie an die Bilder, die sie von Peter dem Großen im Kopf habe. Er hatte hellblaue Augen und eine noch hellere Stimme, welche die Luft anders in Schwingung zu versetzen schien, wenn er sprach. Beide waren wir ein wenig verliebt in ihn, glaube ich. Unter anderem deshalb, weil Alexej all das war, was ich nicht von der russischen Orthodoxie erwartet hatte, witzig, ohne den langen gravitätischen Bart, den ich mit seiner Religion in Verbindung brachte, und von so überbordender Fröhlichkeit, dass ich bald nicht mehr an die Tragödie des abgesoffenen Erard und die anderen nur halb klingenden Instrumente von Tobolsk dachte. Während seiner Ausbildungszeit im Seminar in Tobolsk war es Alexejs Lieblingsvergnügung gewesen, in seiner langen schwarzen Soutane den Abhang unterhalb der Kathedrale hinab Purzelbäume zu schlagen. Dann kollerte er vom Rand der Böschung auf einen Haufen Holzhäuser zu, die wie ein schmutziger Streifen schmelzenden Schnees vom Abhang hinunterzufließen schienen.
Im Windschatten dieses Felsvorsprungs geleitete mich Alexej in die Unterstadt, wo einmal die bessere Gesellschaft gewohnt hatte, darunter Katharinas Gouverneur Alexander Aljabjew, ein großer Förderer der musikalischen Künste und bedeutendes Symbol für Katharinas wachsenden kulturellen Einfluss. Sein Sohn, ebenfalls Alexander Aljabjew genannt, wurde ein angesehener Pianist und Komponist, ausgebildet in St. Petersburg. Nachdem er seinem Land in den Napoleonischen Kriegen gedient hatte, wurde Aljabjew wegen seiner angeblichen Verwicklung in einen mit Spielschulden zusammenhängenden Mord wieder nach Tobolsk verbannt; sein populärstes Lied, Die Nachtigall, komponierte er bei seinem Gefängnisaufenthalt in Tobolsk auf einem Klavier, das eine Barmherzige Schwester in seine Zelle hatte bringen lassen. So lautet zumindest die Legende — eine von vielen Geschichten, die sich um diesen alten Teil der Stadt ranken. Aljabjews Musik allerdings wird übertroffen von der weit bedeutenderen Geschichte, die sich zwischen den aus dem 19. Jahrhundert stammenden Boulevards von Tobolsk verbirgt. Im ehemaligen Haus des Gouverneurs hielten die Bolschewiken den letzten Zaren und seine Familie 1917 unter Hausarrest, bevor sie nach Jekaterinburg gebracht und dort schließlich ermordet wurden. Der deutsche Musiklehrer der Zarenfamilie war mit ihnen von St. Petersburg nach Tobolsk gekommen. Da sie kein Klavier mitführten, mussten die Gefängniswärter der Romanows also, ebenso wie andere Möbel, ein Instrument von in der Nähe lebenden Kaufleuten besorgen. Es war ein Klavier, auf dem die Zarin oft spielte, wenn sie allein war und auf Nachrichten wartete, was ihnen bevorstand, während der Bürgerkrieg immer heftiger tobte.
Alexej erzählte, dass die Archivare von Tobolsk auf der Suche nach dem Instrument der Zarin seien, einstweilen aber ohne Erfolg. Er geleitete mich die wackeligen Stufen der Villa hinauf, die eben von Arbeitern renoviert wurde; das Haus sollte ein Museum werden. Sie zeigten mir handgeschriebene Notizen vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, die sie zwischen den Dielen gefunden hatten. Dass in Spalten wie diesen noch immer Bruchstücke der Geschichte liegen mochten, wirkte irgendwie beruhigend. Als wir dann Feierabend machen wollten, schlug Alexej vor, einige seiner Freunde aus dem Priesterseminar zu treffen. Er führte mich in die Kantine der Priester, einen kahlen weißen Raum, wo sich bereits neun Männer versammelt hatten, drei davon bärtig, vier in langen schwarzen Soutanen, die anderen in schwarzen Anzügen mit hohem Kragen und Messingknöpfen.
Sie benahmen sich schrecklich ernsthaft. Zwanzig Minuten hätten sie, hieß es, bevor man ihre Abwesenheit bemerke. Einer fummelte wie ein verlegener Teenager an dem schweren Kruzifix um seinen Hals herum. Ein anderer richtete sich gerade auf wie von einer Marionettenschnur gezogen. Ohne Zeremonie, ohne Konzertsaal oder Kirche begannen sie zu singen, dirigiert von einem breitbrüstigen Chorleiter. In den nächsten zehn, fünfzehn Minuten hielten sie kaum inne in ihren klagenden Gesängen, ihre nackten Stimmen ließen mir die Härchen an den Armen emporstehen. Irgendetwas an diesen Leuten fühlte sich von Grund auf richtig an, in ihrer eindringlichen Hingabe an ihre Kunst und ihrem leidenschaftlichen Glauben an eine Gottheit, die größer war als sie selbst. Ich war beruhigt, weil ich in einem mit Angst und Schrecken in Verbindung gebrachten Teil der Welt nun unter Sibiriern war, denen Musik so viel bedeutete wie Luft.
Ich bin keine Musikerin, aber Musik bewegt mich. Katharina die Große hingegen behauptete, ihr Ohr sei, was Musik betreffe, taub wie ein Zaunpfahl. »Für mich ist das nur Geräusch«, schrieb sie sarkastisch in einem Brief an einen Freund; einmal heißt es, sie habe ihre Höflinge angewiesen, ihr zu bedeuten, wann sie Beifall spenden solle. Immerhin genügten ihre Fähigkeiten, um eine Bemerkung über die noch geringere Begabung ihres Mannes zu machen, als sie sich darüber beklagte, wie Peter, Enkel Peters des Großen und Erbe der Romanow-Dynastie, wenn er nicht gerade mit Spielzeugsoldaten spielte, im kaiserlichen Boudoir auf der Geige herumkratzte. Bei den jede Woche stattfindenden fünfstündigen Konzerten bei Hofe pflegte Peter zum Unmut seiner Gemahlin die erste Geige zu spielen. Es gebe kein unglücklicheres Wesen als sie, behauptete sie mit dem kaustischen Witz, den sie in ihren Briefen zeigte, außer Peters Spaniels, die er dauernd züchtigte.
Katharinas Bemerkungen darf man nicht ganz wörtlich nehmen. Die geistreiche Großfürstin und spätere Zarin, eine gebürtige Deutsche, mag das Fehlen einer jeglichen natürlichen Begabung für Musik beteuert haben, doch deren Fortschritte unter ihrer Regierung waren bedeutend, bedenkt man, wie sehr das Land in seiner Entwicklung Westeuropa hinterherhinkte, als sie 1744 nach Russland kam. Auf dem Land trampelten die Bauern zum Gezupfe der Balalaika herum, einer traditionellen dreisaitigen Gitarre. Abseits vom Hof der Romanows hörte man vor allem Volkslieder. Ein französischer Reisender, der sich im Jahr von Katharinas Krönung nach Tobolsk wagte, beschrieb einen beklagenswerten Zustand: Die Musik in den zivilisiertesten sibirischen Städten klinge nach schlechten Geigen, wenig mehr als Stücke ausgehöhlten Holzes. Die russisch-orthodoxe Kirche verließ sich auf liturgische Gesänge, Instrumentalmusik war verboten. 1762, nachdem Katharinas unfähiger Ehemann unter dubiosen Umständen ums Leben gekommen war — vielleicht durch Erwürgen, vielleicht durch Gift, obwohl die offizielle Version von einer »Haemorrhoidal-Kolik« sprach —, begann sie das Reich für immer zu verändern, indem sie das Territorium ebenso konsolidierte wie Russlands Status als imposante kulturelle Großmacht.
Katharina war eine begierige Leserin. Sie kaufte Diderots gesamte Bibliothek, dann jene Voltaires, und bewilligte die erste private Druckerpresse Russlands. Ihr Instinkt als Kunstsammlerin war erstklassig, sie bewunderte englische Gärten und schottische Architekten. Wie die riesige Kunstsammlung, die sie zusammentrug, war auch die Musik ein Mittel, Macht und Prestige aufzubauen, vor allem, Russland näher an Europa heranzuführen. Sie liebte die Oper und ließ in der Eremitage eine Bühne dafür errichten. Daraus entstand eine nationale Tradition, die später die Opernstile und die Ästhetik in anderen europäischen Ländern, darunter Italien, beeinflusste. In ihrer Regierungszeit — die längste in der Geschichte der russischen Zaren — wurde auch die Infrastruktur für die russische Klaviertradition aufgebaut, da Katharina den Ausschlag dafür gab, dass sich europäische Sitten in Russland durchsetzten.
Bis 1812, als Napoleon in Russland einmarschierte und Frankreich in Ungnade fiel, sprach der russische Adel Französisch statt seine Muttersprache. Russen rasierten ihre Bärte ab, um europäischer auszusehen. Russinnen trugen Schuhe mit roten Absätzen, wie es die neueste französische Mode vorsah, schnürten sich in Fischbeinkorsetts und legten Schönheitspflästerchen à la Marie Antoinette auf. Sogar Krankheiten waren modisch französisch, so la grippe, »damals ein neues Wort, das erst wenige benutzten«, wie Tolstoi in Krieg und Frieden bemerkte. Während Katharinas Regierungszeit reiste die russische Aristokratie ins Ausland. Zurück brachte sie eine Vorliebe für Oper, Kammermusik und die neuen Orchesterfassungen aus Paris, Leipzig und Wien, ebenso eine zunehmende Neugier auf das neue Instrument, das man liebevoll »das mit den Hämmerchen« nannte.
Als Katharinas Botschafter ausländische Musiklehrer engagierten und neue Kompositionen in Auftrag gaben, begannen Clavichorde am Hof aufzutauchen. Im Haus von Katharinas Freundin Jekaterina Daschkowa, einer begabten Cembalistin, standen viele dieser neuen Tasteninstrumente, eine Reaktion auf die aufgeklärten Ideen der Kaiserin und eine Aneignung europäischer Errungenschaften. Der deutsche Cembalist Hermann Raupach förderte Privatkonzerte und unterrichtete zudem das Spiel auf Tasteninstrumenten an der Petersburger Kaiserlichen Akademie der Schönen Künste.
Jahr für Jahr entwickelte sich die russische Musikkultur weiter. 1776 überzeugte man Katharina davon, den italienischen Komponisten Giovanni Paisiello als Hofdirigenten zu engagieren — der erste Musiker, wie sie schrieb, der ihr übellauniges Ohr zu bezaubern vermöge. Weniger klar ist, ob es das ansprechende Äußere des Dirigenten war, das sie anziehend fand, oder sein musikalisches Talent. Ein anderer ihrer Liebhaber, Grigori Orlow, ein attraktiver, musikliebender Offizier, machte eine Bemerkung in diesem Sinn, als er beobachtete, wie Katharina einen Pelzmantel um die Schultern des hinreißend aussehenden, dunkelhaarigen Italieners legte, während dieser am Cembalo saß und spielte.
Was immer an Paisiello es auch war, das Katharina so gefiel, es reichte jedenfalls, dass er die nächsten sieben Jahre in Russland blieb und zahlreiche Musikstücke für Tasteninstrumente — Präludien, Capriccios, Rondos, ein paar Sonaten — für adelige Damen schrieb. Katharina engagierte ihn als Klavierlehrer ihres Sohnes, des zukünftigen Zaren Paul I., und seiner Frau, der wissbegierigen, musikalisch begabten Maria Fjodorowna. Nach Paisiello kam Giuseppe Sarti, ein italienischer Komponist und Dirigent und Favorit von Katharinas einflussreichstem Liebhaber, Fürst Grigori Potemkin — ein politisches Genie, dessen Leidenschaft für Musik ebenso intensiv war wie seine Fähigkeiten in der Liebe berühmt. Potemkin war Katharinas wahrer Gefährte in einer Abfolge von Bettgenossen; seine Besessenheit von Musik reichte so tief, dass er seinen Kurier nach Mailand sandte, um Noten für ein bestimmtes Musikstück zu besorgen. Sein Chor musste immer an seiner Seite sein, musste beim Frühstück, Mittag- und Abendessen singen. Auch auf das Schlachtfeld hatte er ihn zu begleiten.
Mit Potemkin an ihrer Seite wurde Katharina zur bedeutenden Mäzenin der musikalischen Künste. Andere vornehme Damen nahmen Stunden in den Bildungsinstituten in St. Petersburg, die Katharina förderte. Ausländische Lehrer bedienten einen aufnahmefreudigen Markt. Im September 1791 setzte sich der musikbegeisterte russische Botschafter in Wien bei Potemkin dafür ein, Mozart, der nicht abgeneigt war, zu engagieren. Zum Unglück für Russland waren am Ende des Jahres Potemkin wie Mozart tot.
Mozart hatte, bevor er ins Grab sank, nur mit Mühe seine Arztrechnungen bezahlen und nicht einmal Brennholz kaufen können. Russland indessen hatte seine Spitzenmusiker so gut bezahlt, dass Potemkins Lieblingskomponist ein ganzes Dorf in der Ukraine erhielt. Zugleich waren in der glamourösen Petersburger Musikszene mit dem wachsenden Einfluss von Katharinas Schwiegertochter Maria Fjodorowna tiefgreifende Umwälzungen im Gange. Marias Förderung der russischen Kultur und ihre Unterstützung für ausführende Künstler und Bildungseinrichtungen machten sie zum hervorragenden Katalysator für den nun entstehenden russischen Klavierbau. Zehn Jahre, bevor Potemkin ein Engagement Mozarts überlegt hatte, war Maria Fjodorowna nach Wien gereist, in das »Klavierland«, wie Mozart es nannte, und hatte dem Klavierduell des Jahrhunderts beigewohnt: Muzio Clementi gegen Wolfgang Amadeus Mozart. Das Ereignis, bei dem viel Prominenz zugegen war, ließ die beiden Musiker in einer Art Boxring des 18. Jahrhunderts gegeneinander antreten.
Mozart war die Begegnung nur eine flüchtige Bemerkung wert: »(Clementis) force sind die terzen Paßagen — übrigens hat er um keinen kreuzer gefühl oder geschmack. mit einem Wort ein blosser Mechanicus«, bemerkte er in einem Brief an seinen Vater. Für Clementi hingegen bot das Ereignis eine neue Chance; er beeilte sich, sich auf vertrauten Fuß mit dem russischen Botschafter zu stellen, um seinen Einfluss in der russischen Gesellschaft auszubauen und sich einen Namen zu machen. Er begann seine englischen Klaviere nach Moskau zu exportieren, wobei er seinen Kollegen den Rat gab, die Gunst der Stunde zu nutzen; die Entwicklung des Klaviers und die Publikation von Noten machten große Fortschritte. Zur selben Zeit begannen Konzertveranstalter in St. Petersburg Säle in Privatbesitz für öffentliche Aufführungen zu vermieten. Clementi allerdings konnte sich nicht enthalten, eine gewisse Verachtung gegenüber seinen russischen Kunden erkennen zu lassen. Er beschwerte sich, sie seien »gerissen«, wenn es ums Bezahlen gehe, »verflucht knauserig« und hätten zwar »ein gutes Ohr für Klang, aber kein Gefühl für Vernunft und Stil«. Was den Kaiser angehe, so vermöge »nichts weniger als eine Trompete sein stumpfes Trommelfell« zu durchdringen. Die Instrumente litten ständig unter dem Klima — »lasst sie eine Zeitlang in einem sehr warmen Zimmer stehen und gebt Acht, dass das Holz sich nicht verzieht oder irgendein anderes Missgeschick geschieht«, riet Clementi seinem Londoner Büro. Trotz solcher Hürden kamen genügend Aufträge herein, von Bankiers, Generälen und der kaiserlichen Familie. Auf den russischen Markt drängten auch, wie der geldgierige Clementi bemerkte, der französische Klavierbauer Sébastien Érard und der Engländer John Broadwood. Um dieser ausländischen Invasion etwas entgegenzusetzen, begann sich in Moskau und St. Petersburg eine einheimische Klavierindustrie zu etablieren, die mittels vom Staat gewährter Steuererleichterungen Handwerker aus Westeuropa (besonders den deutschsprachigen Ländern) anlockte, damit sie innerhalb der russischen Grenzen Unternehmen eröffneten. Diese Emigranten konnten auf lukrative Verkäufe rechnen, ebenso auf Zuschüsse, wenn sie Klaviere nach Sibirien transportieren wollten.
Clementi hatte in diesem Wettkampf einen Startvorteil. Durch seinen Schüler und Handelsvertreter in Russland, den irischen Komponisten und Pianisten John Field, konnte Clementi die Möglichkeiten seines Klaviers den russischen Abnehmern vorführen. Gnadenlos ausgenutzt, fungierte Field — den Clementi einen »faulen Hund« nannte — als eine Art musikalische Marionette Clementis. Als erster Virtuose zeigte Field im März 1804 bei seinem ersten öffentlichen Auftritt in St. Petersburg den Russen die wahre emotionale Tiefe des Klaviers. Sein Auftritt hatte stehende Ovationen zur Folge. Zeitungen und Zeitschriften überhäuften den Iren mit Lobeshymnen. »Field nicht gehört zu haben«, schrieb ein mit ihm befreundeter Schauspieler, »galt als Sünde gegen Kunst und guten Geschmack.« Und St. Petersburg erhielt durch einen Musikkritiker wegen seiner Obsession für das Instrument den Namen »Pianopolis«.
Fields Unterricht — unter seinen Schülern befanden sich Aljabjew, der Die Nachtigall komponierte, sowie Michail Glinka, der beschrieb, wie die Finger des Pianisten »wie Regentropfen, die in schillernde Perlen zersprangen«, auf die Tasten fielen — brachte ihm so viel Geld ein, dass er einmal mit einer Hundert-Rubel-Note seine Zigarre anzündete. Ein anderes Mal hingegen zerfetzten seine Hunde die Einkünfte eines Konzerts, und er besaß den spitzbübischen Charme, darüber zu lachen. Es war ein ahnungsvolles Symbol für das manchmal luxuriöse, oft turbulente Leben, das Field in den nächsten dreißig Jahren in Russland führte, für sein exzentrisches Wesen; so trug er zum Beispiel seine Strümpfe mit der Innenseite nach außen, seine weiße Halsbinde verrutscht und seine Weste schief zugeknöpft. Unmäßig und angebetet, befand sich Field 1815 bereits in einer so stabilen Position, dass er die Einladung, russischer Hofpianist zu werden, ablehnen konnte. Ab 1823 wurde diese Stellung von einer grandiosen Virtuosin eingenommen, die St. Petersburg im Sturm erobert hatte: der gebürtigen Polin Maria Szymanowska.
Als Russland seine Tore für die wachsende Truppe europäischer Interpretinnen und Interpreten öffnete, fungierten diese als brillante Befürworter eines Instruments, das inzwischen Russlands Herz erobert hatte. 1838 übersiedelte der deutsche Pianist Adolf Henselt — der Mann mit den »Samtpfoten«, so beschrieb Liszt seinen Anschlag — nach St. Petersburg. 1839 hatte der Schweizer Virtuose Sigismund Thalberg in Russland seinen rauschenden Auftritt, auch Marie Pleyel, das hübsche, als »weiblicher Liszt« bekannte Wunderkind. Zur gleichen Zeit in St. Petersburg wie Thalberg, trat Pleyel in einem pianistischen Wettkampf gegen ihn an (und gewann). »Alles ist voller Feuer, voller Kraft; das Klavier spricht unter ihren brillanten Fingern. Es hat eine Seele«, schrieb ein Rezensent für das Journal de St-Petersbourg. Als Clara Schumann 1844 im Winterpalast für den Zaren spielte, beschrieb sie es als Szene aus Tausendundeiner Nacht. Die Wahrheit war wahrscheinlich profaner. »Der russische Rubel hatte in deutschen Ohren einen sehr guten Klang«, schrieb Wladimir Stassow, der bedeutendste Musikkritiker Russlands zu jener Zeit.
Ich stieß auf ein Buch einer amerikanischen Musikhistorikerin2, die sich tief in die Archive der russischen Klavierbaukunst gegraben hatte. Ihre Beschreibung, wie sich diese Industrie verbreitet hatte und die Instrumente immer weiter nach Osten vorgedrungen waren, gab mir schon früh die Zuversicht, dass meine Feldarbeit bei der Klaviersuche Ergebnisse bringen konnte. 1810 hatten sechs Unternehmer aus dem Westen Klavierbauunternehmen in Russland eingerichtet, darunter eine Fabrik in St. Petersburg, gegründet von dem in Bayern geborenen Jacob Becker. Allein diese Werkstatt baute bis zum Ende des Jahrhunderts mehr als 11.000 Klaviere. Bestellungen für Instrumente häuften sich, auch aus Sibirien, wohin Klaviere bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts gekommen waren. Östlich des Ural konnten Klavierlehrer das Zwei- bis Dreifache an Gehalt verlangen wie in Westrussland. In diesen neuen Städten des sich ausdehnenden Kaiserreichs spielte das Klavier eine noch bedeutendere gesellschaftliche Rolle als in einem Moskauer Salon. Ein Klavier sei ein »hoch angesehenes Möbelstück«, so ein britischer Musikwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, das einem die europäische Bildung bestätigte.
In den 1870er Jahren eröffnete die Kaiserlich-Russische Musikgesellschaft Zweigstellen in den westsibirischen Städten Omsk, Tomsk und Tobolsk, in denen Publikum wie Musiker weitergebildet wurden. Buchhandlungen, die Noten mit populärer Musik führten, schossen aus dem Boden. Auch Klaviergeschäfte eröffneten, um die Verbreitung der Instrumente Richtung Osten zu erleichtern. Im Verlauf des Jahrhunderts schafften es nur einige im Ausland gebaute Bechsteins und hin und wieder ein Blüthner aus deutscher Produktion durch die russischen Zollschranken. Dadurch hatten Leute wie Becker mit ihren im Inland gebauten Klavieren freie Bahn, den ständig wachsenden Inlandsmarkt zu beherrschen.
Dann aber drehte sich das Rad des Schicksals. Nach der Revolution von 1917 wurde die Fabrik Becker verstaatlicht und in Roter Oktober umbenannt. Eine Zeitlang hielt das sowjetische System der Musikerziehung, das bis tief in die Provinzen hineinreichte, die Nachfrage nach billigen, in der Sowjetunion erzeugten Instrumenten aufrecht. Zehntausende Pianinos wurden in Kleinstädte transportiert, Klavierfabriken eröffneten sogar in Sibirien, so in Tjumen und Wladiwostok. Doch nach der Perestroika ging die alte Kunst des Klavierbaus verloren. Um die Jahrtausendwende war diese Industrie beinahe ausgestorben. 2004 schloss die Fabrik Roter Oktober. Ein Klavierbauer in Kasan sattelte auf Sargtischlerei um, bevor er in Konkurs ging. Im selben Monat, in dem ich den Amur-Tiger sah, kam die Nachricht, dass die letzte Klavierfabrik Russlands zugesperrt hatte.
So groß war die Tragödie, dass sich nun einflussreiche Männer fanden, die den Trend umzukehren versuchten. Als ich mich an diese Geschichte andockte, führte der in Irkutsk geborene klassische Pianist Denis Mazujew — einer der großen Virtuosen des 21. Jahrhunderts — eine Kampagne an, um die verlorene Kunst des russischen Klavierbaus wiederzubeleben. Als wir uns später in Moskau trafen, sprach er über die erstklassige Musikausbildung der Russen und dass er immer noch das erste sowjetische Klavier seiner Familie besitze: ein Tjumen-Pianino, das in einer der größeren Städte an der Transsibirischen Eisenbahn gebaut worden war. Das Netzwerk an Musikschulen hatte in der gesamten Sowjetzeit außerordentliche Karrieren hervorgebracht und dazu noch eine einzigartige Kultur des Musikverständnisses. Das russische Publikum sei völlig anders als das in der Carnegie Hall in New York, erklärte Mazujew. Aber die Sibirier überträfen sie alle: »Sie verstehen alles. Sie sind mein Publikum Nummer eins«, sagte er und beschrieb die vollkommen aufmerksame, »verdächtige Stille«, die er östlich des Ural erlebe. Das würde ich bald genug verstehen, meinte er, wenn ich mehr Zeit in Sibirien verbracht hätte.
Aber würde ich das? Ein Teil von mir befürchtete, dass ich auf Musik nur so reagieren könne wie auf die singenden Priester — mit einem Gefühl, nicht zu wissen, was geschah oder warum das überhaupt wichtig war, außer dass es so war in dem Moment, in dem es erlebt wurde. Anders als viele Russen, die vom sowjetischen Bildungssystem profitiert hatten, besitze ich keine formale musikalische Bildung. Wenn ich Instinkt vor Intellekt und Vertrauen vor Vorurteil setzte, bestand natürlich das Risiko, dass irgendein Gauner mir ein Bein stellte und ich dastand mit einer teuren saitenbestückten Kiste, nicht besser als das dröhnende Pianino, das Giercke zunächst für Odgerel gekauft hatte. Andererseits aber hatten die singenden Priester von Tobolsk mir auch Zuversicht gegeben. Sie hatten mich überzeugt, einen Augenblick innezuhalten und an Menschen zu glauben, die sich alle Zeit der Welt nehmen, um einer unangekündigt aufgetauchten Fremden zu helfen. Und sie hatten meinen eigenen Defiziten den Spiegel vorgehalten. In Sibirien führt die Zeit ein Eigenleben. Sie hat eine Tiefe und eine Dimension, die einen fühlen lässt, dass man nicht durch die Tage hetzen sollte — das Gegenteil davon, wie im Westen die Zeit konstruiert ist. Als also der Priester, mit dem ich mich angefreundet hatte, vorschlug, ich solle noch ein wenig länger bleiben, bevor ich den letzten Zug zurück nahm, wollte ich das mehr als alles andere. Aber das ist das Ärgerliche an Sibirien: Immerzu lockt einen die Landkarte mit dem Hinweis, wie viel Gebiet noch abzugrasen ist.