In einem kleinen Dorf östlich des Baikalsees suchte ich in einer winzigen, hinter einer Bonbonfabrik aus der Sowjetzeit versteckten Kirche den Priester Sergei Palij auf, von dem man mir erzählt hatte, er besitze ein gutes Klavier. Sein struppiger Bart, der sich im Wind gabelte, reichte ihm bis zum Nabel. Seine lange schwarze Soutane hatte eine ernsthafte Gewichtigkeit an sich und war über den Knöcheln etwas zu kurz. Er war ein Altgläubiger, gehörte einer traditionalistischen Gruppe der russisch-orthodoxen Kirche an, die sich Mitte des 17. Jahrhunderts abgespalten hatte, weil sie sich weigerte, die liturgischen Reformen Moskaus zu befolgen. Etwa 20.000 Altgläubige entschlossen sich, lieber Selbstmord zu begehen, als sich anzupassen.
Viele der Altgläubigen, Geistliche wie Pfarrkinder, gingen aus Russland in das polnisch-litauische Großreich an der Westgrenze des Reichs. Zahlreiche gingen nach Sibirien — einige freiwillig, andere gezwungen. Der berühmteste nach Sibirien verbannte Altgläubige war Erzpriester Awwakum, der Einzige der vier wichtigsten Abtrünnigen, dem nicht die Zunge herausgeschnitten wurde.1
Zum Selbstschutz schotteten sich die Altgläubigen immer mehr von Außenstehenden ab, eine Gewohnheit, die bis heute andauert. Eine Familie zog sich 1945 so weit in die Taiga zurück, dass sie im westlichen Sajangebirge in vollkommener Isolation lebte, bis ein sowjetischer Journalist ihre Entdeckung durch eine Gruppe Geologen Ende der 1970er Jahre dokumentierte. An der Familie war der Tod Stalins ebenso vorübergegangen wie die Mondlandung, an die sie ohnehin nicht glaubten. Zellophan hielten sie für zerknittertes Glas, eine Zitrone hatten sie nie gesehen. Sie gingen entweder barfuß oder in Galoschen aus Birkenrinde und Kleidern aus Rupfen. Sie besaßen ein Spinnrad und eine Bibel, sonst aber unterhielten sie einander, indem sie sich ihre Träume erzählten. Die Zeit maßen sie mit Methoden, die aus der Zeit vor Peter dem Großen stammten. Instrumentalmusik gab es keine. Und Tanzen war die Kunst des Teufels.
Diverse Splittergruppen dieser Altgläubigen-Gemeinden existieren nach wie vor in Sibirien, und ihre Traditionen verkörpern einige der stärksten Beispiele der slawischen Zivilisation vor den verwestlichenden Reformen des 18. Jahrhunderts. Ich traf auf Opportunisten, die in knalliger Gewandung für Touristen posierten, und auf andere, die ihren geheimen Ritualen noch so verpflichtet waren, dass sie nicht reden wollten. Ich traf einen Klavierstimmer, der von der Religion seiner Eltern abgefallen war; er versorgte mich großzügig mit Essen, das er sich vom Mund absparen musste, aber das einzige Messer am Tisch teilte er nicht. Sogar heute noch kann man die Altgläubigen an Geschirr und Besteck erkennen, die ausschließlich von ihnen benützt werden dürfen — ein Vermächtnis der Furcht vor Ansteckung außerhalb ihres eigenen geschlossenen Zirkels.
Der Priester vom Baikalsee war das genaue Gegenteil: ein guter Redner und großer Sammler von sibirischen Paraphernalien, darunter ein Becker-Pianino, das einmal einem einheimischen Lehrer gehört hatte. Wie sich herausstellte, lag seine interessantere Geschichte verborgen innerhalb der Kirche; dort schlug Sergei ein dreihundert Jahre altes Buch der Apokalypse auf. Es hatte den Vorvätern der Gemeinde gehört; achtzehn Monate lang waren sie ab 1765 von Vietka, einer Stadt im damaligen polnisch-litauischen Großreich, nach Sibirien gewandert. Die düsteren Bilder des Buches waren eine ironiegeschwängerte Vorahnung gewesen angesichts dessen, was geschehen sollte, als das Großreich allein während Katharinas Regierungszeit drei Teilungen erleben sollte. Das Territorium wurde zwischen Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt. Was Polens Verlust war, bildete allerdings Sibiriens Gewinn: Es kam zur erzwungenen Migration zahlreicher musikalisch gebildeter polnischer Rebellen, darunter einer bedeutenden jüdischen Population.
Durch die dramatischste der drei Teilungen verlor Polen 1795 seine staatliche Souveränität. Sogar der Name des Landes wurde ausgelöscht, als Katharina die Westprovinzen annektierte, grob gesagt Litauen, die Ukraine und Weißrussland. Kulturelle Repression trug zum Zusammenbruch bei; Katharinas Militär beschlagnahmte bedeutende historische Besitztümer, darunter prachtvolle Bibliotheken. Während der Napoleonischen Kriege genoss Polen einen kurzen Augenblick der Halbautonomie, aber die verschwand, als sich die Polen aktiv an der französischen Invasion in Russland beteiligten und Zar Alexander I. entschied, dass sie bestraft werden müssten. Beim Wiener Kongress 1814/15 wurden die europäischen Grenzen wieder einmal neu gezogen, und der Bruder des Zaren — derjenige, der Chopin zur Beruhigung der Nerven brauchte — wurde als De-facto-Vizekönig eingesetzt.
Es war nicht so, dass die Polen generell etwas gegen die Russen gehabt hätten. Einerseits identifizierten sie sich mit einer imaginierten nationalen polnischen Gemeinschaft; andererseits aber hatten sie sich einige Zeitlang auch in der kaiserlich russischen Gesellschaft engagiert, hatten ihr Leben an den sich ständig verschiebenden Grenzen des Reiches verbracht. Über die Jahre hatten viele russifizierte Polen einflussreiche Stellungen in Russland errungen, etwa der Kommandant des Gefängnisses der Dekabristen, der das Aufblühen ihrer sibirischen Akademie zugelassen hatte. Aber nach dem Wiener Kongress richtete sich das dominante nationale Gefühl in Polen stärker gegen das orthodoxe Reich im Osten. Die Pressezensur wurde strikter. Geheimgesellschaften wie etwa die Freimaurer wurden verboten.
Mit ihrer Erfahrung von Reformation und Aufklärung hatten die Polen sich seit langem als Grenzlinie zwischen zwei einander diametral entgegengesetzten Weltbildern betrachtet, zwischen der Verteidigung der Menschenrechte durch eine demokratische Regierung und dem autokratischen Gegenteil. Aber es war ein nichtiger Traum, wenn man dachte, Polen werde das russische Joch abschütteln können. Als die Polen im November 1830 den Aufstand wagten, wurde dieser binnen acht Monaten niedergeschlagen. Die Universität wurde geschlossen, Warschau effektiv in eine Kaserne für russische Soldaten verwandelt. Es war eine Zeit, als ein Pole, wie der Romancier Joseph Conrad bemerkte, »Angehöriger einer nicht so sehr lebenden als überlebenden Nation (war), die in ihrem von Millionen Bajonetten umfriedeten und mit den Siegeln dreier großer Reiche dreifach versiegelten Grab unbeirrbar fortfuhr zu denken, zu atmen, zu sprechen, zu hoffen und zu leiden«.2
Dieser Mythos vom edlen Märtyrertum der Polen, in ganz Europa verbreitet, wurde bestärkt vom, wie zu erwarten gewesen war, rachsüchtigen Umgang Zar Nikolaus’ I. mit den Aufständischen von 1830. Immer noch verletzt durch den von den Dekabristen begangenen Verrat vier Jahre zuvor, befahl Nikolaus, dass einer der führenden Aufständischen, Fürst Roman Sanguszko, zu Fuß in die sibirische Verbannung gehen musste — eine brutale und demütigende Wanderung, wofür der Fürst ein Jahr brauchte. Es gibt tatsächlich zahlreiche Parallelen zwischen der Geschichte der polnischen Aufständischen von 1830 und jener der Dekabristen. In verschiedenen Gefängnissen und Bergwerken in Ostsibirien organisierten polnische Häftlinge Vorträge, bildeten Orchester und legten eine großartige Bibliothek in polnischer Sprache an.
Die polnische Romantik — eine nostalgische Suche nach Freiheit, die natürlich die Verfolgung von Russen innerhalb Polens ignorierte — fand unterdessen starke Unterstützung im politisch fortschrittlichen Paris, wohin etwa fünftausend der höchstrangigen polnischen Rebellen geflohen waren, um der Verhaftung durch die Russen zu entgehen. Dies war auch die Stadt, wohin ein 22-jähriger Pole namens Frédéric Chopin, selbst kein politischer Flüchtling, 1831 aus Warschau — mit einem Zwischenspiel von acht Monaten in Wien — zog.3 Er gesellte sich zu einigen anderen berühmten Persönlichkeiten der polnischen romantischen Bewegung, die sich in Frankreich zusammengefunden hatten, darunter der Dichter Adam Mickiewicz, Freund und Vertrauter mehrerer Dekabristen, der später die Tochter der Klaviervirtuosin Maria Szymanowska heiratete.
Einige der von den Russen gefangen genommenen Polen wurden als Soldaten eingesetzt, um die Garnisonen in Sibirien aufzufüllen. Zehntausende wurden der Zwangsarbeit unterworfen und in Städte wie Tomsk, Omsk, Tobolsk und Irkutsk4 verbannt — eine Tragödie, die Chopin in seiner düsteren Sibirischen oder Revolutions-Polonaise festzuhalten versuchte.5 Sie beginnt sehr ruhig, in einem tiefen, dunklen Register, das eben erfundene Dämpferpedal erlaubt hinreißende Variationen in Stimmung und Struktur. Dann explodiert die Musik — con forzo! agitato! molto crescendo! —, bevor sie zurückfällt in ein Gefühl hoffnungsloser Niederlage; der finstere Schluss der Polonaise evoziert die Kälte und Feuchtigkeit sibirischer Bergwerke. Laut Robert Schumann waren nicht nur diese Polonaise, sondern alle Werke Chopins in dieser polnischen Tanzform Ausdruck eines ritterlichen und unterdrückten Volkes — »unter Blumen eingesenkte Kanonen«.
In Paris konnten die Polen frei protestieren, aber zuhause wurden die Reihen in Ketten Richtung Sibirien wankender polnischer Aufständischer immer länger, wobei beinahe zwei Drittel der in den 1830er Jahren aus politischen Gründen verbannten Polen einer gebildeten Adelsschicht angehörten. Nach dem nächsten Aufstand im Januar 1863 — zunächst eine schlecht ausgerüstete Erhebung mit Scharmützeln und Bauernrevolten, die sich dann zu einem regelrechten Krieg auswuchs — verbannte Russland etwa viertausend Mitglieder der gebildeten Oberschicht in die sibirische Einöde. Während die Russen Warschau plünderten und Chopins Klavier, wie in der berühmten Szene geschildert, auf dem Stadtplatz auf einen Scheiterhaufen warfen, wurde in den wachsenden sibirischen Städten ein helles Licht angezündet.
Als Maria Wolkonskis Tochter Elena nach der Amnestie für die Dekabristen nach St. Petersburg zurückkehrte, machte ihr die Frau des neuen Zaren Komplimente für ihr ausgezeichnetes Französisch. Für ein »à la Rousseau« erzogenes Kind, wie ihre Mutter Elenas frühe Jahre beschrieb, als diese in der sibirischen Taiga herumgetollt war, wirkte Elenas Kultiviertheit als Überraschung am Hof der Romanows. Elena antwortete, sie sei von einem nach Sibirien verbannten polnischen politischen Häftling unterrichtet worden. Elena Wolkonskis sibirische Erziehung war ungewöhnlich, aber nicht einzigartig. Wenn die besten Familien in Kjachta Klavierlehrer für ihre Kinder suchten, griffen sie auf die polnische Diaspora zurück. Und als man in Omsk ein Orchester brauchte, waren es die Polen, die Klarinette, Streichinstrumente und Trompete spielten.
Der amerikanische Journalist Thomas Knox, der 1866 Sibirien bereiste, bemerkte über diese gebildete Präsenz: »Sibirien hat in der Gestalt der politischen Exilanten zahlreiche Persönlichkeiten von hoher Kultur aufgenommen. Männer von liberaler Erziehung, mit regem Intellekt und vornehmen Manieren sind unter den verbannten Polen in hoher Zahl vertreten«, beobachtete er. »Der Einfluss dieser Verbannten auf die Intelligenz, die Gebräuche und Sitten der Sibirier hat einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen.«
Knox mag die elende Realität des Lebens der Verbannten geschönt haben, aber seine Begegnungen mit polnischen Exilanten legten doch Zeugnis von ihrem Einfluss ab. Er schrieb über einen Polen, der die Geographische Gesellschaft Ostsibiriens leitete; in Krakau war er ein bekannter Dichter gewesen. Es gab auch Verbannte, die als erfolgreiche Ärzte praktizierten. Er berichtete zudem von der öffentlichen Hinrichtung eines gutaussehenden dreißigjährigen polnischen Pianisten und politischen Häftlings, Gustaw Szaramowicz.
Als Szaramowicz während des polnischen Aufstands 1863 durch eine verirrte Kugel einen Finger verlor, soll er auf seine verletzte Hand geblickt und gemeint haben: »Chopins Mazurken sind verloren.« Die Strafe festigte Szaramowiczs Entschlossenheit nur noch. Während er im knietiefen Schnee Sibiriens als Zwangsarbeiter schuftete, führte er 1866 eine weitere Revolte an, dieses Mal eine von siebenhundert polnischen Gefangenen, welche die Straße südlich des Baikalsees bauen sollten. Angeblich warf Szaramowicz vor dem Hinrichtungskommando in Irkutsk seinen Hut in die Luft und rief »Vive la Pologne!«, als er den Schießbefehl hörte.
In großen Räumen verläuft Musik sich leicht, ebenso wie Menschen. Die meisten polnischen Künstler und Intellektuellen gingen in Sibirien zugrunde, ohne dass es auch nur ein offizielles Dokument über ihre Ankunft oder ihren Tod gegeben hätte, ob es nun Selbstmord war, der sie dahinraffte, die typhusverseuchten Zwischenstationen unterwegs oder die vergitterten Kähne, auf denen die Verbannten stromaufwärts geschafft wurden. Ihre Geschichten wurden von einem Strafsystem zum Schweigen gebracht, das mehr Menschen das Leben kostete, als sich Sibirien jemals erinnerte. Das Vergessen war auch eine Überlebensstrategie. Es gibt Berichte von Verbannten, die in die Taiga entkamen und dann ihren Namen auf »Iwan Ichhabsvergessen« änderten, wenn die Behörden sie aufgriffen.6
Die deportierten Polen mögen keine Instrumente im Gepäck gehabt haben (obwohl einige Dienstgrade mittels Karren und mit den Besitztümern, die sie mitnehmen wollten, reisen durften), doch muss der Klang von Musik eine starke Verbindung zum ehemaligen Heimatland der Polen hergestellt haben. Der verbannte Adelige Rufin Piotrowski — einer der berühmtesten politischen Gefangenen, denen es gelang, aus Sibirien zu entfliehen, er hatte sich aus Ziegenhaar selbst eine Perücke gefertigt — schrieb 1846, die einzige Musik, die er in dreizehn Jahren gehört habe, sei die polnische Hymne gewesen, die über der Steppe erklang: »Ich vergaß meine Ketten, vergaß mein vergangenes Leben, mein zukünftiges Geschick, vergaß alles.«
Ganz sicher wäre eines da gewesen: der Klang des Klaviers im Kopf eines polnischen Exilanten des 19. Jahrhunderts. In Warschau Mitte des 19. Jahrhunderts »herrschte das Klavier in den Salons wie ein Despot«, berichtete eine polnische Zeitung. »Es gibt beinahe kein Haus, wo nicht das Dröhnen des Klaviers zu hören ist«, behauptete der Warschauer Kurier. »Wir haben Klaviere im Erdgeschoß, im ersten, zweiten und dritten Stock. Junge Damen spielen Klavier, Mütter spielen Klavier, Kinder spielen Klavier. Das Klavier ist ein Familienmöbel geworden, der Prüfstein für das Talent einer Familie.« Diese gesellschaftlichen Gebräuche wanderten im Verlauf des Jahrhunderts nach Sibirien, als polnische Exilanten andere Verbannte oder Einheimische heirateten. Einige Exilanten erhielten Grundstücke zugewiesen, um sie für immer an das Land zu binden.
Die Verbindung zu Polen, die im 19. Jahrhundert so fundamental gewesen war, tauchte auf und verschwand wieder, während ich durch Sibirien reiste: in dem Dorf östlich des Baikal, wo ich den Altgläubigen-Priester mit seiner Apokalypse traf; in Irkutsk, wo viele der Leute, die ich befragte, eine direkte polnische Abstammung für sich reklamierten, und in der westsibirischen Stadt Tomsk, Standort der ersten 1888 gegründeten Universität Sibiriens, wo zwei der acht Gründer unter den Fakultätsmitgliedern Polen waren. In Tomsk wurde 1989 im ehemaligen Stadtgefängnis auch Russlands erstes Museum der Unterdrückung eröffnet. In diesem fensterlosen Gewölbe versammelte der Direktor die Geschichten nicht nur von Zehntausenden von Stalins Geheimpolizei verhafteten Personen, sondern auch jene von Verbannten aus dem 19. Jahrhundert. Er stammte direkt von Polen ab. In den 1860er Jahren war die Hälfte seiner Familie nach Amerika ausgewandert, die andere aus Weißrussland nach Sibirien, auf der Suche nach einem besseren Leben. »Es gibt das Stereotyp, dass Polen, die man in Sibirien antrifft, alle Sträflinge und Verbannte seien«, meinte er. »Doch es gab auch freie Siedler, und unter ihnen viele Polen, die die sibirische Musikkultur beeinflussten.«
Ich kam im Februar an. Der Schnee war so dicht gefallen, dass in älteren Vierteln ein paar Häuser unter der Last Sprünge bekommen hatten. Vor dem Haus der Wissenschaft aus dem 19. Jahrhundert — gegründet als Fundament der sibirischen Aufklärung, eine Institution, die freie Bildung anbot, unabhängig von Glaube oder Herkunft eines Bürgers — stand ein Holzapfelbaum mit rubinroten Früchten, wie Blutstropfen. Als ich durch die Straßen wanderte, stellte ich mir Tomsk in dem Jahr vor, als Chopins Klavier in Warschau auf das Feuer geworfen worden war. »Das Geräusch dieses Falles bleibt haften«, schrieb Chopins Zeitgenosse, der romantische Dichter Cyprian Kamil Norwid. »Seht ihr nur her, wie edles Denken / Zertrampelt wird durch Menschenwut.«
In Tomsk kamen und gingen die Amnestien. Viele Polen kehrten zurück in eine Art Heimat im europäischen Russland. Andere blieben, so der Großvater des sowjetischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch, der nach dem Aufstand im Januar 1863 nach Tomsk verbannt worden war. Jahr für Jahr stiegen Polen in den Rängen der sibirischen Industrie, geologischen Forschung und Verwaltung auf, eine Bevölkerungsschicht in sibirischen Gefängnisstädten, von der ein polnischer Gefangener sagte, sie besitze beinahe all die luxuriöse Ausstattung der westlichen Zivilisation.
Beinahe. Tomsk war immer noch Sibirien, zu weit weg von den europäischen Musikzentren, um sich mit den hochgestochenen Debatten zu befassen, die im Westen im Gang waren, wo sich die Kritiker an Musikrevolutionären wie Wagner und Liszt abarbeiteten. Bei Anbruch der 1860er Jahre machte Russland seine eigene, etwas verzögerte Kulturrevolution durch, als die Musik unter der Ägide der Kaiserlich-Russischen Musikgesellschaft endlich professionalisiert wurde. Diese außerordentlich ambitionierte Organisation, protegiert von ganz oben, vom Hof der Romanows, wurde 1859 durch Anton Rubinstein in St. Petersburg gegründet, um im gesamten Zarenreich Musikgeschmack und Talent zu fördern. Was die Kaiserlich-Russische Musikgesellschaft symbolisierte, war noch mehr als die Summe ihrer Teile in den Provinzen: Sie war ein Schlüsselfaktor in Rubinsteins weit ausgreifendem Plan, russische Musiker von ihrer Rolle als bloße Unterhalter zu emanzipieren. Er versuchte den Musikern jene Art Anerkennung zu verschaffen, die ihnen als freien Künstlern in Westeuropa schon lange zustand, ihnen jenen erhabenen Status zu verleihen, auf dem Liszt in den 1840ern in St. Petersburg bestanden hatte, als Zar Nikolaus I. ihn spielen hörte. Während einer Pause plauderte der Zar, und Liszt weigerte sich, weiterzuspielen, als verdienten Adel und Kunst, auf gleicher Stufe zu stehen.
Rubinsteins Einfluss war bemerkenswert. 1862 konnte er in St. Petersburg das erste Konservatorium des Landes eröffnen; unter den ersten Zugängen befand sich Tschaikowsky. In den 1860er Jahren schuf das sogenannte »Mächtige Häuflein« russischer Komponisten — es bestand aus Nikolai Rimski-Korsakow, César Cui, Modest Mussorgski, Alexander Borodin und Mili Balakirew — eine neue, von tiefer Ernsthaftigkeit geprägte nationale Identität für die russische Musik. Alle waren Autodidakten, zu einer Zeit, da es kein einziges auf Russisch geschriebenes Buch über Musiktheorie gab.
Unterdessen erfreute man sich in Tomsk an der Musik, wann immer es ging; Amateurlehrer versuchten ein Auskommen zu finden, während die Stadt sich vergrößerte, die Kaufmannsschicht wuchs und immer mehr Beamte kamen. Es war die Zeit, als eine russische Version des Bummtschacktschack — ein bezaubernd suggestives Wort, das deutsche Kritiker im 19. Jahrhundert verwendeten, um einen derben Rhythmus anzudeuten, der Volkslieder begleitete — in den sibirischen Holzhäusern häufiger gewesen war als Wagner. Aber Tomsk war auch eine wachsende Provinzstadt, hungrig auf städtische Kultur. 1885 zählte es 31.000 Einwohner, 26 Schulen, 29 Kirchen, drei Synagogen und eine Moschee; die Eröffnung der Universität allerdings wurde von Mal zu Mal verschoben, weil die kaiserliche Regierung auf Verdächtigungen über liberale Tendenzen in der Stadt reagierte.
»Eine von Natur aus geschäftstüchtige und vielversprechende Kolonie«, so beschrieb der amerikanische Journalist George Kennan Tomsk; er verbrachte den September 1885 in der Stadt, zusammen mit einem verbannten Schriftsteller, dessen Frau, eine ausgezeichnete Musikerin, ihren Lebensunterhalt mit Musikstunden verdiente. Kennan berichtete über die politischen Gefangenen. Er dokumentierte auch die erstickende Zensur in der Stadt, erbärmliches menschliches Leid und die Überfüllung der Gefängnisse. Er sagte für Tomsk eine gute Zukunft voraus, wenn nur die Regierung den Griff lockern würde, den sie um die Hälse der Leute gelegt hatte.
Armes Tomsk — es versuchte seine Würde zu finden, nur damit Tschechow, der fünf Jahre danach hier war, dessen Ruf zu einem nationsweiten Scherz machte. »Bemerkenswert ist die Stadt darin, dass in ihr die Gouverneure sterben«, schrieb Tschechow in einem Brief an seinen Verleger. In derselben giftigen Stimmung erstellte er für eine Petersburger Literaturzeitschrift eine Bibliographie; unter den Büchern, die er zitierte, waren Anleitungen zur Igelzucht für Handschuhmacher, ein Sechzig-Kopeken-Taschenbuch über das Thema, wie man das Universum auf einer Nadelspitze aufspießen könne, sowie einen Reiseführer für Sibirien und Umgebung, in dem die besten Restaurants, Schneider, Kutschenbauer und Friseure sowie die Namen und Adressen »gewisser Damen« aufgelistet waren.
In Tomsk unternahm Tschechow mit dem Polizeichef der Stadt eine Zechtour durch die Freudenhäuser. Musik erwähnt er nicht — weder ukrainische Melodien, französische Chansonettes, Amateur-Bummtschaktschak noch Zigeunerromanzen. Und doch veränderte sich der musikalische Fokus in Tomsk, mochte Tschechow es noch so sehr als langweilig hinstellen. Im Jahr vor seiner Ankunft wurde in der Stadt das erste Kapitel der Kaiserlich-Russischen Musikgesellschaft aufgeschlagen; der Flügel war von niemand Geringerem als von Anton Rubinsteins jüngerem Bruder, dem Pianisten und Komponisten Nikolai Rubinstein, ausgesucht worden. Unter den Direktoren der Gesellschaft befand sich Grigori Tomaschinski, ein polnischer Emigrant in Sibirien, zusammen mit seiner Frau Kamila einer der einflussreichsten Musikmäzene der Stadt, der zahlreiche Wohltätigkeitskonzerte veranstaltete. Kamila unterrichtete Klavier, das musikalische Programm beruhte auf den Gründungsprinzipien einer besonderen, ebenfalls von einem Polen geführten Musikschule in Irkutsk, aus der etliche Schülerinnen und Schüler dann an die Konservatorien in Moskau und St. Petersburg wechselten.
Tomsk mochte keine Klaviermanie solchen Ausmaßes erlebt haben, wie Liszt sie in St. Petersburg ausgelöst hatte, aber die Lust auf das Instrument wuchs in Westsibirien mehr und mehr. Um 1880 annoncierten Klavierbauer aus St. Petersburg eifrig in Tomsk. Dazu entwickelte sich auch das Klavierstimmen als konzessionierter Beruf, da einige der wohlhabenderen Familien in Tomsk nicht nur ein, sondern zwei Klaviere zuhause stehen hatten. Die Stimmer kamen sogar aus Warschau, da das Geschäft in Tomsk so gut lief, und 1880 eröffnete dort Sibiriens erstes Klaviergeschäft. Besitzer war Pjotr Makuschin, ein in der Nähe von Perm im Ural geborener russischer Theologiestudent, der sich kurz nach dem polnischen Aufstand von 1863 in Tomsk niedergelassen hatte.
Anders als die Wolkonskis kam Makuschin ohne finanzielle Mittel nach Tomsk. Stattdessen aber mit der tiefen Überzeugung, dass Alphabetisierung der Schlüssel zur Zukunft Sibiriens sei, obwohl ein Bischof aus der Gegend ihn zu warnen versucht hatte. Tomsk sei nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten wie Amerika, sondern ein hinterwäldlerisches sibirisches Kaff. Makuschin blieb hartnäckig. Als begieriger Leser begann er mit einem Marktstand in Tomsk. Dann kaufte er ein Pferd samt Kutsche und stellte einen Kutscher an, um seine Waren an die Dörfler zu bringen. 1873 eröffnete er seine erste Buchhandlung, elf Jahre später dann die erste kostenlose öffentliche Bücherei Sibiriens — vier Monate, bevor es Vergleichbares in Moskau gab. Er gründete ein Waisenhaus, eine Druckerei, ein Museum zur Geschichte Sibiriens, zwei sibirische Zeitungen, das Haus der Wissenschaft und ein Theater. In den Strafkolonien hielt er Vorträge. In den musikalischen Kreisen der Stadt entwickelte sich eine stabile Wirtschaft, da die Nachfrage der Klavierklassen nach Noten stieg, die nicht nur in Makuschins Buchhandlung — bald konnte sie sich mit denen in der Hauptstadt messen — verkauft wurden, sondern auch in einem zweiten Laden in Irkutsk. Was Klaviere anbelangt, so verkaufte Makuschins bahnbrechendes Geschäft in zwanzig Jahren mehr als fünfhundert Instrumente, darunter Beckers und Mühlbachs; neunzig Prozent gingen an Bürger von Tomsk.
Immer mehr Leute besaßen Klaviere, und auch Musiktalente begannen hervorzutreten. Unter den in der Stadt sehr beliebten Pianistinnen jener Zeit war Jadwiga Zaleskaja, eine junge polnische Absolventin des Warschauer Konservatoriums, die dann 1893 von Tomsk in die russische Hauptstadt ging. Sieben Jahre später nannte Le Figaro Zaleskaja eine der Großen von St. Petersburg. Mitte der 1890er Jahre hatte sie Russland verlassen und trat in ganz Europa auf; ihre enorme Beliebtheit versinnbildlichte ein Auftritt in Paris 1900, wo sie angeblich von einem ausverkauften Konzertsaal gleich zweimal frenetisch gefeiert wurde. Später führte ihr Talent sie noch weiter weg, bis Singapur und Indonesien, bevor sie in ihre Heimat Polen zurückkehrte, wo sie 1944 von SS-Leuten ermordet wurde.
Einer der wichtigsten Klavierstimmer der Stadt, Anatoli Salajew, erklärte sich bereit, mich zu treffen. Er war eine Autorität in der Klaviergeschichte von Tomsk und freigebig mit Informationen. Es war Salajew, der mir von der Musikschule erzählte, in der sich noch immer Makuschins Instrument befand, unbenützt im ersten Stock. Das Klavier — ein Diederichs-Flügel von 1898, Seriennummer 6583 — stand ursprünglich im Tomsker Haus der Wissenschaft.
Ich ging ihn suchen. Unter dem Deckel befanden sich acht mit nassem Seidenstoff bedeckte leere Buttertöpfe — ein hausgemachtes Befeuchtungssystem für den Winter. Zwei Saiten fehlten, sagte Elena Fefelowa, die im selben Raum Klavierunterricht gab, als ich unangekündigt auftauchte. Laut Elena, die ab 1959 in Tomsk studiert und dann dort gearbeitet hatte, hatte der Diederichs-Flügel der Schule gehört, so lange sie sich erinnerte. Er funktionierte nicht so, wie er sollte, meinte sie; die Pedale ruckelten beim Spielen. Dann zeigte sie mir, wo man auf dem Gehäuse in Blattgold Makuschins Namen eingeprägt hatte.
Während unserer Unterhaltung erfuhr ich von einer anderen Absolventin der Musikschule in Tomsk, einer Pianistin und Klavierlehrerin namens Olga Leonidowna, die ich treffen müsse. Olga lebte in der Nähe im Dorf Bogaschewo. Sie hatte bei mehreren Anlässen auf Makuschins Diederichs gespielt, als Studentin wie als Lehrerin. Auch Olga besaß ein besonderes Klavier, einen Bechstein von 1896. Makuschins Instrument besaß landesweite Bedeutung, doch das von Olga war Privatbesitz mit einer einzigartigen Geschichte. Während des Großen Vaterländischen Kriegs waren zwei Frauen mit dem Zug aus Leningrad gekommen, das Klavier im Schlepptau, und hatten es einem Einheimischen für einen Sack Kartoffeln verkauft. 1973 legten etwa dreißig Leute in Olgas Gemeinde — Freunde und Nachbarn ihrer Eltern — zusammen, damit die Familie das Instrument kaufen konnte. Also ging ich hin und fand Olgas Bechstein-Stutzflügel in ihrem Holzhaus, einem typisch sibirischen Landhaus mit Blockwänden, der Weg zur Eingangstür in meterhohen Schnee eingegraben. Im Wohnzimmer wirkte das Klavier prächtig, obwohl es mit Kinderspielsachen aus Plastik überhäuft war. Nur elf Saiten im Bechstein seien je ersetzt worden, sagte sie. Zwei waren schadhaft, doch das Klavier spielte sich noch immer gut genug, behauptete Olga, und die Feuchtigkeit wurde geregelt, indem man in der Hütte nasse Leintücher aufhängte.
Bei einem herrlichen Mahl aus Waldpilzen, Obst und gedämpfter Zunge beschrieb Olga ihren ersten Mentor, einen Moskauer Schuhmacher mit absolutem Gehör, der den Bechstein für sie aufgetrieben hatte. Er hatte Olgas Eltern überredet, in ihr schon früh erkennbares Talent zu investieren; unter seiner Anleitung hatten sie gespart und das Instrument gekauft. Wann immer der Schuster zum Stimmen kam, zog er seine Jacke aus, beugte sich über das Instrument, und das war es dann — er war verloren in dessen Musik. Er liebte den Bechstein, sagte Olga. Und auch die Kinder im Dorf, die sich versammelten, um ihm bei der Arbeit zuzusehen.
»Der Bechstein ist edel, gütig und anspruchsvoll. Er besitzt eine Art Magie«, sagte Olga und holte eine Puppe aus ihrem Bett aus Klaviersaiten, während sie redete. »Jeden Morgen gehe ich zum Bild meiner Mutter. Ich spreche mit ihr und küsse das Klavier.«
Olga sagte, dass der Bechstein derzeit ein wenig mitgenommen sei, aber er habe eine stolze Geschichte. Sie spielte ein Gestöber aus Noten, jeder Klang verhallte im Zimmer, als seufze das Instrument und singe dann voller Erleichterung. 45 Jahre lang hatte der Bechstein das sibirische Dorf unterhalten, wo Olgas Vater das Landwirtschaftskollektiv geleitet hatte. Es trug die Opfer von Freunden in sich. Es repräsentierte die Gemeinschaftsethik der sowjetischen Gesellschaft in ihrem besten Licht. Aus diesem Grund war sie froh, dass ich die Geschichte des Instruments schrieb — des besten Klaviers in Sibirien, behauptete sie und küsste es noch einmal —, aber ihr geliebter Bechstein sei nicht zu verkaufen und werde es niemals sein.