Als Anton Tschechow sich entschloss, beinahe 6500 Kilometer auf dem Landweg von Moskau in die Strafkolonie auf der Insel Sachalin zu fahren, wusste er, dass er nicht viel zu verlieren hatte. Schon vor seiner Abreise wies er die untrüglichen Anzeichen der Tuberkulose auf, die ihn binnen wenigen Jahren nach seiner Rückkehr hinwegraffen sollte. Er scheint sich auch nicht viel um die Bedrohung durch die Zensur gekümmert zu haben und war aufgebrochen, um einen schonungslosen Bericht über die Schrecknisse des zaristischen Systems der Verbannung zu liefern — »ein Ort unerträglicher Leiden, deren nur der freie und der abhängige Mensch fähig sind«.
Die Insel Sachalin, etwa zweimal so groß wie Belgien, liegt acht Kilometer vor der russischen Pazifikküste und berührt beinahe die Spitze Japans — ein Territorium, um das sich die beiden Länder seit Jahrhunderten streiten. Als Tschechow dorthin reiste, stand die gesamte Insel unter russischer Kontrolle, und das dauerte so lange, bis der Zar infolge des Russisch-Japanischen Kriegs von 1905 die südliche Hälfte an Japan verlor. Erst nach Japans dramatischer Niederlage im Zweiten Weltkrieg konnte Stalin die Rückgabe der Insel verlangen.
Bei meinem Besuch pulsierte die Hauptstadt Juschno-Sachalinsk vor Neon und dem Erdöl verdanktem Reichtum. Die Restaurants waren voll und die Karaoke-Bars laut, die Musik in den Bars hatte viel mit der Beschreibung gemeinsam, die Benjamin Howard, ein britischer Reisender nach Sachalin, um 1900 geliefert hatte: Mit Ausnahme des Klaviers, das der Gouverneur besaß, bekam Howard nur eine »hässliche kleine Kreatur« von Leierkasten zu Gesicht, etwa so groß wie eine Nähmaschine: »Als die knarrende hölzerne Kurbel gedreht wurde, schreckte er Ratten, Katzen und Hündchen auf.« Trotz des Trubels fühlte sich das moderne Hauen und Stechen in Juschno-Sachalinsk an wie das Nervenzentrum eines neuen Universums — in Wahrheit das genaue Gegenteil jenes Sachalin, das Tschechow nach seiner langen Passage Richtung Osten vorgefunden hatte.
Bei der Beschreibung der letzten Etappen seiner Reise auf die Insel klagte Tschechow über eine sich auflösende Identität, einen Verlust des Russischseins, bis sich das Land seiner Geburt so unvertraut anfühlte wie Patagonien. Dieser östliche Rand Sibiriens war ein Ort, der für Tschechow so weit weg war von Moskau, dass er »erst in hundert Jahren zuhause« sein würde. Sein letzter Haltepunkt auf dem russischen Festland, bevor er sich nach Sachalin einschiffte, war die Stadt Nikolajewsk (heute Nikolajewsk am Amur). In den 1850er Jahren hatte ein Journalist der New York Times hier haltgemacht und die Szenerie als ziemlich zivilisiert empfunden: »großartige Diners«, Tranlampen, Kohle aus Pennsylvania, die auf den Rosten glühte, Zeitungen, die nur sechs Monate alt waren, und ein geselliger Klub, wo jeden Donnerstagabend zum Klang eines exzellenten englischen Klaviers getanzt wurde. Tschechow bestätigte dieses kurze Aufflackern einer feineren Gesellschaft: »Anscheinend fand die Stadt auch menschliches Interesse, denn es passierte sogar, dass ein durchreisender Gelehrter es für notwendig und möglich hielt, im hiesigen Klub einen öffentlichen Vortrag zu halten«, schrieb er.
Zur Zeit von Tschechows Aufenthalt hatte Nikolajewsk das Glück verlassen. Die Städter hatten sich angewöhnt, auf chinesische Landstreicher zu schießen und »Bucklige« zu jagen — ein lokaler Ausdruck für entkommene Häftlinge, geprägt wegen ihrer Ranzen. Hier am Rand Sibiriens, so Tschechow, hätten die Einheimischen keine Ahnung von russischer Geschichte, von Puschkin und Gogol. Jede noch bestehende Verbindung mit Moskau, die Tschechow gespürt haben mochte, wurde in einer heißen Woche im Juli 1891 gekappt, als er den Tatarensund zur Insel Sachalin überquerte. Tschechow beschrieb die sauberen, engen Kabinen des Dampfers, die chinesische Mannschaft mit ihren Zöpfen und ein Pianino. Auch eine Baronesse war an Bord und ein von seiner fünfjährigen Tochter begleiteter Gefangener, die sich an seine Fesseln klammerte, während er die Leiter hochkletterte.
Tschechows Ausschiffhafen auf Sachalin war die Strafkolonie Alexandrowsk an der Nordwestküste der Insel; Ende des 19. Jahrhunderts galt sie als die schrecklichste Ausprägung des gesamten zaristischen Deportationssystems. Ich kam am Südende der Insel an, ebenfalls per Schiff, und musste mich also inselaufwärts bewegen, um Tschechows Spuren zu folgen. Ich fuhr mit einem Nachtzug von Juschno-Sachalinsk und schlief neben Ölarbeitern. Es waren die Leute, von denen es in Russland hieß, sie »säßen auf ihren Koffern«; sie kamen, um Geld zu verdienen, und ihre Taschen waren immer fertiggepackt für die Heimreise. Meine Kabinengefährtin war überrascht, als ich in Tymowsk ausstieg, einem staubverwehten Kaff im hinterletzten Winkel, wo ich vom Lokalhistoriker Grigori Smekalow abgeholt wurde. Er fuhr mich nach Alexandrowsk, vorbei an der Gedenkstätte für einen Gulag. Der Sockel erinnerte an das Massengrab von ungefähr achttausend Gefangenen, die auf dem Marsch durch die berüchtigten Sümpfe Sachalins umgekommen waren. Als wir in die Stadt einfuhren, kam mir Alexandrowsk angesichts seines düsteren Rufs sehr klein vor, das hatte ich nicht erwartet. Die Siedlung verlief sich auf ansteigendem Grund an einem langen Strand. Auf dem geriffelten Sand saßen verlassene Schiffe fest, die eisernen Kadaver von den Wellen ausgehöhlt. Auf dem Stadtplatz machte sich ein schütteres Häuflein Einheimischer bereit, den Russlandtag zu feiern. Als seltene Fremde wurde ich beobachtet, wo immer ich hinging.
In einem der Cafés der Stadt, welches das ganze Jahr über geöffnet hatte, erzählte Grigori mir von seiner Arbeit, die sein eigenes tiefes Gefühl für moralische Gerechtigkeit erkennbar werden ließ. Sein Vater hatte ein Arbeitslager in Tschukotka nördlich von Kolyma überstanden. Grigori ging es darum, Reputationen wiederherzustellen — nicht nur jene vergessener Individuen, die unter politischer Unterdrückung gelitten hatten, sondern auch jene von Orten, die von historischen Ereignissen besudelt waren. Er meinte, er wolle, dass Sachalin wegen mehr als Tschechows vernichtendem Bericht bekannt sei. »Es ist wesentlich, die Geschichte Sachalins zu restaurieren, zu zeigen, dass es Helden gab«, sagte er. Er und ich hatten vereinbart, Forschungsergebnisse auszutauschen. Als Dank für Hilfe bei der Suche nach Klavieren in dieser ehemaligen Gefängniskolonie wollte ich mich in das Archiv des Scott-Polarinstituts in England vertiefen. Grigori forschte über Robert Scotts Hundeführer Dmitri Girew, der in Alexandrowsk geboren war und beim Versuch des englischen Entdeckers, 1911 den Südpol zu erreichen, dabei gewesen war.
Girew war der Sohn einer Gefangenen. Er war ein großartiger Hundeführer, ein Talent, das Scotts rechter Hand, Cecil Meares, auffiel, als dieser nach Sibirien kam, um Hunde zu kaufen, die stark genug waren, die britische Expedition über das Eis der Antarktis zu ziehen. Hätte Scott bloß der Zähigkeit eines Sachaliners vertraut, wie man die härtesten Bedingungen überlebt, die dem Menschen bekannt sind! Ein paar Hundert Kilometer vor dem Südpol schickte Scott Girew und die Hunde zurück ins Basislager. Girew überlebte, so wie einige der sibirischen Huskys.1
Niemand wisse etwas über Girews Geschichte auf Sachalin, sagte Grigori, auch nicht über die Rolle, welche die Hunde von der Insel in einer der ikonenhaftesten Polarexpeditionen des 20. Jahrhunderts spielten. Man kenne nur Tschechows Version der Geschichte Sachalins, in der es von eisernen Fußfesseln klirrt. Aus den offenen Fenstern seiner Unterkunft ist der einzige Klang von Musik, den er beschreibt, das unermüdliche Zwitschern von Kanarienvögeln und Musikanten unter den Soldaten, die Flöte, Fagott und Posaune üben. Die Soldaten probten für eine Parade zur Begrüßung des Generalgouverneurs.
»Im Garten des Generals spielte Musik, und es ertönte Gesang«, schrieb Tschechow. »Man schoss sogar mit einer Kanone, und die Kanone zersprang dabei. Und trotzdem, trotz dieser Fröhlichkeit war es auf den Straßen öde. Es gab keine Lieder, keine Ziehharmonika, keinen einzigen Betrunkenen Die Katorga beibt auch bei bengalischer Beleuchtung Katorga, und die Musik erweckt, wenn sie ein Mensch, der niemals mehr in die Heimat zurückkehren wird, von weitem hört, nur Todesangst. «
Tschechows Leser wollten Drama — gelbhäutige Wahnsinnige, Geschichten von korrupten Beamten, Dostojewski und Gogol. Sie wollten die grausigen Geschichten hören vom in der Bäckerei ermordeten Gouverneur, der in den Trog gefallen war und den Teig mit seinem Blut befleckt hatte. Sie wollten, dass ihre Schriftsteller blutrünstige Geschichten von Leuten erzählten, die einander auffraßen und sich von faulenden Holzstücken ernährten. Tschechow lieferte viele grelle Details — die von Blutergüssen scharlachroten Körper, die klappernden Zähne eines Gefangenen, der krampfhaft in seinen Glasbecher biss, wenn ihm seine Medizin verabreicht wurde — und sammelte zugleich Biographien der berühmtesten Gefangenen, von denen er einige in seinen Werken in fiktive Charaktere verwandelte.
Trotz des Appetits der zeitgenössischen Öffentlichkeit auf sensationelle Details mangelte es Tschechows Porträt von Sachalin nicht ganz an »zivilisierter« Gesellschaft. So beschrieb er einen Arzt in einer Gefängniskolonie, der während seines zehnjährigen Aufenthalts eine »beachtliche zoologische Kollektion« zusammengetragen hatte; nach Tschechows Meinung hätten die eleganten Exemplare des Arztes die Basis für ein hervorragendes Museum bilden können. Für gewöhnlich aber waren Tschechows Bemerkungen beißender. Bei einer anderen Siedlung beschrieb er, wie die Frau eines Gouverneurs mit ihren Töchtern im Garten herumschlendert, »majestätisch wie eine Marquise«, die Töchter »wie Engelchen angezogen«. Sie unterhielten sich in leisen Worten und sanftem Tonfall, während sie ihre Wassermelonen betrachteten, die ein Sträfling untertänig bewachte.
Was Alexandrowsk betraf, so beschrieb Tschechow die Stadt als Zentrum der Zivilisation auf Sachalin; dort lebten nicht nur Sträflinge, sondern auch Ingenieure, Buchhalter, freie Siedler und Militärpersonal. Die Damen konnten modische Sommerhüte kaufen, dazu Sterne für Epauletten und Lokum. Es gab Juweliere, Tapezierer und Uhrmacher, und jeder Beamte konnte sich von den Sträflingen so viele als Bedienstete nehmen, wie er wollte.
Laut Grigori wurde ein ehemaliger Mörder, der nach Verbüßung seiner Strafe sein Glück machte, im Baugewerbe so erfolgreich, dass er es sich leisten konnte, das erste Auto der Marke Ford aus Amerika nach Sachalin zu importieren, ein Statussymbol, das binnen kurzer Zeit ein deutlicherer Hinweis auf Erfolg war als ein Klavier im Wohnzimmer. Es gab Kaufleute, die zu den Neureichen auf Sachalin gehörten; diese hätten höchstwahrscheinlich ein Instrument besessen, meinte Grigori, der mir einige der vergessenen Lebensläufe aus Alexandrowsk schilderte. Leider ist nur wenig von dieser Welt geblieben. In einer einzigen Woche der Anarchie, 1905 während des Russisch-Japanischen Kriegs, brannten die Gefangenen die zwei Gefängnisse der Kolonie ebenso nieder wie die Residenz des Gouverneurs. Schwer zu sagen, wie viele Instrumente ein Raub der Flammen wurden, noch schwerer, jene zu finden, die überlebt haben, sagte Grigori. Aber es gab Musik in der Gefängniskolonie, Musik von unerwarteter Art.
Die Szene wird von Wlas Doroschewitsch beschrieben, einem der berühmtesten Journalisten des zaristischen Russland, der 1897 Tschechow auf dem Fuß folgte. »Die Frau des Strafarbeiters E.« war eine »winzig kleine Frau, beinahe ein Kind«, und ihrem Freier freiwillig ins Exil gefolgt, nachdem er wegen des Mordes an einem Freund zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. Als sie in Alexandrowsk getraut wurden, feierte man das zehnminütige Hochzeitsfest mit Tee im Haus des Arztes, wo E.s Frau wohnte. Dann wurde ihr Mann wieder in Ketten gelegt und ins Gefängnis zurückgebracht. Als man herausfand, dass sie am Konservatorium in St. Petersburg studiert hatte, wurde ihr Leben unerträglich. Lokale Beamte in Alexandrowsk zerrten sie aus dem Haus, damit sie bei Abendgesellschaften deren Gesang auf dem Klavier begleite. Die Familie des Arztes, die sich Sorgen wegen ihrer Erschöpfung machte, versuchte sie davon abzuhalten, aber die Frau fürchtete, die Beamten würden sich revanchieren und den Gefängnisaufenthalt ihres Mannes noch härter machen, falls sie nicht ihren Forderungen nachkam und spielte.
»Das Herz der armen Frau war besessen von dieser einzigen Vorstellung. Sie spielte weiter«, schrieb Doroschewitsch.
Die feinen Familien der Verwaltungsbeamten hielten es für sittenwidrig, der »Frau eines Häftlings« die Hand zu reichen, und so kam sie abends, um »liebenswürdigerweise« zu spielen, knickste vor allen und setzte sich langsam ans Klavier, um Anweisungen zu erwarten. »Spiel!« Eine unerbittlich muntere Person quälte sie besonders — der Oberbuchhalter der Kanzlei, damals bereits geisteskrank und bald im Irrenhaus. »Hör darauf, wie du spielst!«, sagte er mit typischer düsterer Aufgeblasenheit. »Du spielst nicht richtig! Nicht so schnell! Spiel langsamer. Jetzt fröhlicher! Der Teufel soll wissen, was du spielst!« Sie weinte und spielte, spielte tief über die Tasten gebeugt, damit niemand ihre Tränen bemerkte.
Frau E.s Schicksal wendete sich, als ein einflussreiches Mitglied der St. Petersburger Gesellschaft nach Alexandrowsk kam. Der Beamte erkannte sie, als sie neben dem Klavier stand, von einer früheren Begegnung her und küsste ihr die Hand. Die Frauen, die sie geschnitten hatten, wurden umgehend beflissen. Ihr Ehemann wurde freigelassen und bekam die Aufsicht über die Meteorologische Station übertragen. In ihrer Wohnung stand ein »prachtvolles Klavier«, das ihre Verwandten aus Russland geschickt hatten; wo es geblieben ist, weiß man nicht. Es stand nahe bei einem girlandengeschmückten Porträt ihres Lehrers Anton Rubinstein: »Musik — das ist alles, was ihrem Leben an den langen, langen Sachaliner Winterabenden Schönheit gibt«, schrieb Doroschewitsch, »wenn draußen ein Schneesturm wirbelt und jault und ihr unglücklicher Mann dasitzt und zeichnet oder Gedichte schreibt. Disziplinierte klassische Musik ist ihr einziges Glück, nach ihrem Kind — und sie spielt sie, wie es vielleicht sonst niemand kann. Nur sehr unselige Menschen können sehr gut spielen. Da ist so viel Leiden, Trauer, Qual und Tränen.«
Ich nahm die Straße von Alexandrowsk ins nahegelegene Duë, wo die Kohlengruben gewesen waren. Ich passierte den hohen Felsvorsprung, wo Tschechow gerne spazieren gegangen war, und sah vom alten Leuchtturm hinüber zum Fleck des russischen Festlandes, nahe genug, um es zu erkennen. Dann fuhr ich vorbei an der Schlucht von Wojewodsk, einer eingesunkenen Kohlengrube neben der Küstenstraße. In der Zarenzeit war die Kohlengrube in einen Gefängnishof umgewandelt worden, der auch als eine Art scheußlicher Unterhaltungsort fungierte, wo Gefangene hingerichtet wurden, ein Schauspiel, dem Sträflinge und verbannte Siedler von allen Seiten aus zusahen. »Der Verurteilte wird in Ketten herbeigeschafft«, schrieb Doroschewitsch. »In Ketten lauscht er seinem Urteil. Dann nehmen sie sie ihm ab, ziehen ihm das Totenhemd an und legen die mit Talg gefettete Schlinge über das Hemd.« Der Galgen stand neben einem Loch, wo einige der »Schubkarrenmänner« arbeiteten. Diese Wiederholungstäter — Weggelaufene und Mörder — waren für den Rest ihrer Strafzeit mit Händen und Füßen an ihre Schubkarren gefesselt. Sogar beim Schlafen waren sie mit Handschellen daran befestigt, ihre Folterinstrumente waren in speziellen Kojen unter ihnen platziert. Im seltenen Fall, dass ein »Schubkarrenmann« von seiner Last befreit wurde, war er körperlich so gebrochen, schrieb Tschechow, dass er keine Tasse mehr halten konnte, ohne Tee zu verschütten.
Wo einst die Exekutionen stattgefunden hatten, stand nun ein bananengelbes Auto in einer angrenzenden Parkbucht, und es roch nach dem Rauch verkohlter Kebabs. Auf dem Strand weiter unten hielt ein Paar Händchen, während es, auf dem Rücken liegend, die Sommersonne genoss. Es war ein strahlender Juninachmittag. Der Himmel war wolkenlos, was aber nichts dazu beitrug, der Küste ihren Grauschleier zu nehmen. Der Strand war durchharkt mit Treibholz in einer Flutlinie voller Strandgut, die sich etwa zweieinhalb Kilometer weit hinzog und den Rand eines Ozeans markierte, der so tot war wie das Wasser in einem Spülbecken.
»Von Alexandrowsk weiter nach Süden gibt es auf dem westlichen Ufer nur einen besiedelten Platz — Duë, einen schrecklichen, hässlichen und in jeder Beziehung elenden Ort, an dem gutwillig nur Heilige oder ganz verdorbene Menschen leben können«, schrieb Tschechow. »Vielleicht das abscheulichste Loch, das auf Erden existiert«, meinte Doroschewitsch. Um die Jahrhundertwende, als ein britischer Anthropologe namens Charles Hawes Duë besuchte, schrieb er, es gebe kein Mädchen über neun, das noch Jungfrau sei. Duë verkörperte die äußerste Verkommenheit des zaristischen Regimes, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter dramatisch steigendem Druck stand. Exilierte Liberale, das verarmte Bauerntum und eine ausgebeutete Arbeiterschaft bildeten den Nachschub für die Basis eines organisierten Radikalismus. Die Unruhen, darunter Streiks und öffentliche Proteste, kulminierten im Januar 1905 in St. Petersburg. Der »Blutsonntag« kostete 130 friedlichen Demonstranten das Leben — eine gewaltsame Reaktion des Zaren, die weitere Unruhe in den Provinzen auslöste.
Selbst das Musikleben Russlands wurde in den wirtschaftlichen und politischen Umbruch verstrickt. 1905 unterzeichnete der Komponist Nikolai Rimski-Korsakow eine von führenden Moskauer Musikern verfasste Resolution, die politische Reformen verlangte. »Wir sind keine freien Künstler«, erklärten sie, »sondern wie alle anderen russischen Bürger die entrechteten Opfer der heutigen abnormen sozialen Bedingungen.« Aufführungen von Rimski-Korsakows Werken wurden zu politischen Kundgebungen. »Nieder mit der Autokratie!«, schrie bei einer seiner Premieren jemand von den hinteren Rängen des Auditoriums. Nach dem »Blutsonntag« zerfiel die Legitimität des unbarmherzigen Zarenregimes. Es war unter diesen Umständen — die Architekten der Revolution von 1917, Leo Trotzki und Wladimir Iljitsch Lenin, waren nun politisch aktiv, jeder hatte etliche Jahre Verbannung in Sibirien hinter sich —, dass der Bolschewismus so rasch an Boden gewinnen konnte.
Der Weg zum Vorposten Duë war nicht vielversprechend. Die Straße, welche das Küstenvorland von einem steilen, baumlosen Abhang trennte, war immer noch genarbt von den Gleisen der Kohlenbahn, die von den Bergwerken in Duë genutzt worden war. Im Geröll glänzten keine Kohlenstücke mehr wie damals während Tschechows Aufenthalt. Jedes Bröckchen Heizmaterial war aufgebraucht worden. Alles, was übrig blieb, war gesäuberte Erde. Libellen mit spröden, durchsichtigen Flügeln schwirrten um blühendes Unkraut. Alle anderen Insekten an Zahl übertrafen hungrige Stechmücken.
In Duë selbst markierten der Kadaver eines alten Kohlenlagers und eine Landebrücke das Ende des Strandes, wo eine Gruppe betrunkener junger Männer herumlungerte. Rund um mich standen die geschundenen Fundamente windschiefer, von den Stürmen erdrückter Gebäude. Den Maschinen hatte man seit langem alles abgeräumt, was irgendwie verwertbar war. Verschwunden waren die »weißen, blitzsauberen Häuschen«, die dem Gefängnisgouverneur, Priestern und Beamten gehört hatten und von früheren Besuchern beschrieben worden waren. Die hölzernen Häuser waren eingesackt, die Gerüste wackelig und verwirrt wie Teenager, die sich mit Alkohol volllaufen ließen. Je weiter entlang ich mich auf der einzigen Straße von Duë wagte, desto trübseliger fühlte es sich an. Den Boden beschnüffelten Hunde, die Schwänze zwischen die Beine geklemmt. Zwei Kinder liefen in schlappenden Schuhen über die Straße. Auf Betongebäuden waren sogar die Graffitischichten vom Feuer angesengt. An dem Stück Weg, wo die Straße sich endgültig verlief, standen ein paar zweistöckige Wohnblocks. An ihren Wänden waren büschelweise Satellitenschüsseln angebracht, an der Ecke versanken ein paar jüngst weiß angestrichene Autoreifen in der Erde, sie markierten einen Platz zum Hinsetzen. Das war der Geselligkeitsverein von Duë.
Ich stöberte herum nach einem Lebenszeichen — der letzte Halt an meinem letzten Tag in der gefürchtetsten zaristischen Strafkolonie Russlands. Eine Frau sah mich an, schloss dann ihre Tür, ohne ihr Starren zu unterbrechen. Ich beobachtete, wie ein alter Mann seinen Kopf aus einem Fenster im oberen Stock steckte und es dann wieder zumachte, wie nach einer schlecht durchgeführten Regieanweisung. Als ich einen ungeschlachten Fischer mit Fasswampe sah, der hinter einer Garage voller verstreuter Autoteile seine Netze ordnete, fragte ich ihn, ob hier jemand ein Klavier habe. Der Mann grunzte so etwas wie eine Antwort und deutete auf den Wohnblock hinter sich.
An der Ecke versorgte eine Frau mit kurzgeschnittenen blonden Haaren in zwei alte Autoreifen gepflanzte Blumen. Meine Übersetzerin und sie kamen ins Gespräch. Die Frau — dicklich, lächelnd, in Leggings aus Kunstleder und einem Oberteil mit Leopardenmuster — sagte, es gebe jemanden in Duë, der mir helfen könne. Und so folgten wir ihr vorbei an einer schlapp herabhängenden russischen Flagge in einen der Wohnblocks. Die Eingangstür zum Treppenhaus wurde durch einen Kinderschlitten offen gehalten. Die Frau stöckelte die unbeleuchteten Stufen hinauf, vorbei an Türen, die aussahen, als wären sie eine ganze Weile nicht geöffnet worden, die Luft war schwer von Zigarettenrauch. Sie führte uns in die Wohnung ihrer Mutter. Es gab drei Räume: ein Badezimmer, ein Wohnzimmer und eine winzige Küche mit einem Eisenherd, drei Zinnschüsseln und zwei Zinnbechern, einem Kessel und einer elektrischen Kochplatte. Auf der Anrichte lag Brot, an der Wand hing ein Netz mit sechs Zwiebeln. Das Wohnzimmer war spärlich eingerichtet: zwei Betten, die tagsüber als Sofa dienten, ein Kabinettschrank, eine Kommode mit Schubladen und zwei Stühle. In der Ecke lief ein Fernseher. An der Wand hingen ein Teppich, ein orthodoxes Kreuz und eine Taschenlampe. Der Tisch, an dem kaum zwei Personen Platz fanden, war vor ein mit einem Netzstore drapiertes Fenster gerückt. Auf dem Tisch lagen und standen ein Fernsehprogramm, ein Aschenbecher, diverse Medikamente und ein einfaches Glas mit Zweigen violetten Flieders. In der Mitte dieses bescheidenen Blumenarrangements steckte der kräftige Stängel einer frischen Narzisse.
Die Dame hieß Lidija, eine vogelzarte Frau, ihre Jogginghose hing locker von schmalen Hüften. Zunächst flackerten ihre Rosinenaugen zwischen Aufmerksamkeit und Ängstlichkeit hin und her. Nervös bewegte sie sich durch das Zimmer, verloren wie ein Geist, als wolle sie sich an etwas erinnern und habe es dann wieder vergessen. Sie stellte eine Ikone auf dem Kabinettschrank anders hin. Sie drehte den Fernseher ab — das Geräusch einer russischen Gameshow wich dem Summen einer schläfrigen Fliege — und setzte sich dann auf den Rand des Sofas. Sie bewegte sich rastlos, wiegte sich vor und zurück. Ihr Rücken war gebogen, der ganze Körper über ihren Brustkorb gekrümmt, wie um sie vor zu viel Atmen zu bewahren. Nachdem wir den Grund meines Besuchs erklärt hatten, rückte sie etwas näher. Nach und nach begann sie zu sprechen — fließend, intelligent, ohne auf meine Fragen zu achten. Sie fuhr sich mit der mageren Hand durch die Haare, als könne sie dadurch ihre Erinnerungen ordnen, bis sich Stück für Stück etwas in ihr zu entfalten begann.
Lidija erzählte, dass sie mit einem ihrer unverheirateten Söhne hier in dieser Wohnung lebe, dass ihre Wurzeln aber in der Ukraine lägen. Ihr Großvater war ein reicher ukrainischer Bauer gewesen, ein Kulak. Er hatte nach Sibirien auswandern wollen, doch seine Frau wollte nicht, und so stieß er sie von einem Glockenturm. Lidija wusste nicht, in welcher Stadt. Sie hielt inne und begann sich noch nervöser hin und her zu wiegen. Sie wischte jeden Versuch, sie zu beruhigen, beiseite, begann dann von neuem und redete noch schneller als bisher.
Ihr Großvater verschwand — sie wusste nicht, ob er das Gefängnis, Sibirien oder auch nur die Reise hierher überlebt hatte —, aber er hinterließ einen 1908 geborenen Sohn, den eine Frau aufnahm, die selbst keine Kinder hatte.
»Das war mein Vater«, sagte Lidija. »In den Dreißigern verließ er die Ukraine und kam als freier Siedler auf Arbeitssuche nach Duë. Als Holzfäller.«
Ihr Vater spielte alle möglichen Instrumente, erzählte sie. Er war Autodidakt auf der Mandoline, dirigierte eine Blaskapelle, ein Streichinstrumente-Orchester sowie einen Männer- und einen Frauenchor. Eine jüngere Version von Lidija kam zum Vorschein, ihr freudiges Erzählen stockte in feuchten tiefen Atemzügen. An ein Klavier erinnerte sie sich nicht; stattdessen sprach sie über die Instrumente, die ihr Vater angefertigt hatte, als er in Westrussland lebte. Nachts holte er sich Haare aus Pferdeschwänzen und spannte sie dann auf Holzrahmen. In Sachalin wurde er Direktor des Klubs in Duë, der sich früher in einem hölzernen Gebäude am Strand befand, nahe der Eisenbahn, welche die Kohle abtransportierte. Bald organisierte er alle Amateuraufführungen. Wie wunderbar die waren, meinte Lidija. Sie erinnerte sich an eine, bei der die Musikerinnen und Musiker verschiedene Kostüme trugen, für die verschiedenen Republiken der UdSSR. Lebhaft beschrieb sie die hinter der Bühne aufgereihten bunten Kostüme, als würden sie immer noch dort hängen.
Wenn daheim das Radio lief und Musik kam, sagte der Vater den Kindern, sie sollten still sein. Dann spielte er mit der Mandoline die Musik nach, die sie eben gehört hatten, wiederholte sie nach dem Gehör. Oft reparierte und stimmte er die Instrumente, die der lokalen Militärstation gehörten. Jeder im Dorf kannte und respektierte ihren Vater, meinte sie.
Damals, vor der Schließung der Kohlengrube, lebten fünftausend Menschen in Duë. Nun waren 38 Familien geblieben. Den alten Klub gab es nicht mehr, auch das Haus nicht, in dem Lidija aufgewachsen war, ein von den Japanern vor dem Krieg erbautes Holzhaus. Im Flur hatten Tapeten mit Blumen und schönen Mädchen in Kimonos geklebt.
»Wir haben das Papier heruntergerissen, die Bilder ausgeschnitten und aufgehoben«, sagte sie. »Uns gefielen die japanischen Bilder so gut und die Glastüren, die ich nicht öffnen konnte, weil sie zu schwer waren.«
Es war eine glückliche Kindheit. Lidijas Mutter arbeitete im Kohlenschuppen. Das Meer versorgte die Familie mit Fisch. Ihr Vater fing mit dem Netz Heringe, die sie in von ihrer Mutter genähten Baumwollsäcken transportierten. Den Überschuss verkauften sie, ebenso wie die Krabben, die sie bei Ebbe sammelten. Wenn es heftig stürmte, warf das Meer Haie ans Ufer. Sie nahmen sich die Leber, erzählte sie; sie erinnerte sich, wie gut es ihnen ging, wenn sie das Fischöl tranken. Sie ging zum Kabinettschrank und zog einen Plastikbeutel mit Fotos hervor. Unter ihnen befand sich eine zerknitterte Schwarzweißaufnahme ihres Vaters von 1953. Er posierte mit fünf anderen Angestellten des Klubs. Sein Lächeln war breit, zeichnete Falten in seine Wangen. Er schielte auch leicht wegen eines Glasauges.
»Mein Vater hatte viel Sinn für Humor«, sagte sie. »Das hat er uns mitgegeben. Wir singen gerne. Wir feiern gerne.«
Lidija war 53, als ihr Vater starb. Er wurde im Friedhof oberhalb des Dorfes begraben. Dann hörte sie zu reden auf und wiegte sich wieder hin und her, die Hände am Kopf, das Gesicht leicht gerötet. Meine Übersetzerin stellte keine Fragen mehr. Ich ließ die Stille verstreichen, um die Geschichte aus einem dunklen Zimmer mit Erinnerungen hinauszugeleiten, einem Zimmer, in das nur Ex-Sowjets gehen können.
Etliche Japaner, die auf Sachalin lebten, entschlossen sich, nach 1945 zu bleiben.2 Lidija erzählte von einem Mann, der ihnen beigebracht hatte, Krustentiere aus einer Unterwassergrotte zu holen, eine in Russland unbekannte Delikatesse, und einen essbaren grünen Farn aus dem Wald. Der Japaner sprach schlechtes Russisch und wohnte in Duë. Er war freundlich, sanft, höflich. Lidijas Vater gab ihm von seinem Fisch ab.
Lidija wiegte sich immer noch hin und her. Sie schien gestresst, vielleicht von der Erinnerung an jene, die sie geliebt und verloren hatte, und die nun im Zimmer wieder an die Oberfläche kam. Ich fragte mich, ob der Japaner ein Geheimnis war, ein blinder Passagier im Dorf. Aber so war es nicht. Sie war einfach deswegen traurig, weil ihre glücklichere Zeit vorüber war, weil ihr Kummer noch tiefer reichte, Kummer vielleicht, weil es Russlandtag war — ein in Nostalgie getränkter Feiertag und eine Erinnerung an den Fall der Sowjetunion, an dem das ganze Land seiner Nation den Tribut entrichtet. Sie sagte, der Japaner liege auf dem alten Friedhof von Duë in einem namenlosen Grab. In der Nähe ihres Vaters und ihres geliebten Ehemanns. Dann sackte ihr Körper in sich zusammen, wie bei einem untröstlichen Kind, der Abstand zwischen ihrer Erfahrung und meiner so riesig wie die Zeile aus Solschenizyn: »Ein Mensch, dem warm ist, kann keinen Menschen verstehen, der friert.«
Lidija erklärte sich bereit, mir den Weg zum alten Friedhof von Duë zu zeigen. Wir fuhren vorbei am ausgebrannten Haus, das zu verlassen ihr Mann sich geweigert hatte. Er war vier Jahre zuvor an einem Herzinfarkt gestorben, als die meisten der in Duë Verbliebenen die Gemeinde ganz verlassen oder sich in die neueren Wohnblocks zurückgezogen hatten. Dann bogen wir in einen steinigen Weg ein, der sich durch die Taiga hinter dem Meer wand. Das war der Ort, wo in Tschechows Zeiten Frauen ihre Körper verkauft hatten, wo entlaufene Sträflinge Tölpeln auflauerten. Nun kamen nur mehr wenige hier vorbei. Das Unterholz war zu dicht, der Weg voller Spurrillen und tückisch.
Am Friedhof führte mich Lidija zu den Gräbern ihres Vaters und ihres Ehemannes, erkennbar durch die frischen Narzissen, die mir schon bei ihr zuhause aufgefallen waren. Beide Gräber waren sauber, anders als die verlassenen Grabsteine zu beiden Seiten oder die Gruben und Aufschüttungen, die Doroschewitsch beschrieben hatte — Gräber der Unbekannten, markiert durch unbeschriftete Holzstäbe.
Lidija wies auf einen stattlichen Baum, der wie ein Farn aus dem Boden barst. Irgendwo unter seiner Krone lagen die Gebeine des Japaners, der ihr Freund gewesen war, verwurzelt in dem Boden, der seine Heimat geworden war, wo er unter den Nachkommen der Verbannten und kommunistischen Gläubigen in einem gottverlassenen Ort am Rand eines schlickverkrusteten Meeres gelebt hatte. Ich war nach Sachalin gekommen und hatte Frau E.s Becker finden wollen, oder zumindest etwas, das von Tschechows Zeit erzählte, als quer durch das Kaiserreich die russische Klavierkultur blühte. Stattdessen hatte ich Liebe und Menschlichkeit gefunden — im letzten Haus am Ende der letzten Straße an einer Sackgasse Russlands, wo an einem Punkt der Geschichte das Töten in seiner finstersten Ausprägung geherrscht hatte. Ich verließ Sachalin mit schlimmen Beschwerden von scheußlichen Mückenstichen. Und sagte Grigori Smekalow Lebewohl, der mir bei meiner Rückfahrt zum Bahnhof erzählte, man habe Leute gesehen, die mir durch die Stadt gefolgt seien. Doch trotz all des Unheimlichen um Sachalin fühlte ich eine tiefe Zuneigung zum Bild einer Fiedel, gefertigt mit gestohlenem Rosshaar, und zu Lidijas kostbarer Narzisse, die dastand in einem Strahl sibirischen Lichts.