Im ersten Winter meiner Recherche hatte ich mich in St. Petersburg auf die Suche nach einem Bild aus dem 19. Jahrhundert gemacht, einem Ölgemälde von Georg Wilhelm Timm aus dem Jahr 1853, das den Dekabristenaufstand von 1825 darstellt. Es wurde in der Regierungszeit von Zar Nikolaus I. vollendet, um an die loyalen Regimenter zu erinnern, und wurde im Archiv der Eremitage in einem Vorort aufbewahrt, unter den riesigen Überschüssen der staatlichen Sammlungen. Ich ging durch langweilige graue Gänge mit Alarmanlagen und Kameras und trat in Raum B5, wo das Gemälde an der Wand stand, umringt von Bildern wohlgenährter Spießbürger, Windhunde und glänzender Vollblüter.
Auf dem Bild konnte man die wüste Kälte spüren. Der Himmel war von einem brütenden Grau. Zum Senat galoppierende Pferde schleuderten Schnee in die Höhe, Leute drängten sich, um etwas zu sehen, darunter ein Mann in Pelzmütze, aus dessen Mantel eine Geige ragte. Die Gewalt allerdings spielte sich hinter der Bühne ab. Timms Bild zeichnete das Romanow-Regime als majestätisch, elegant und vor allem legitim, und die Leute zogen patriotisch ihre Hüte vor den Beschützern des Zaren.
Auf meinem Weg hinaus führte mich der Kurator in sein Büro, wo Bilder aufgestapelt waren. Auf dem Boden lag ein lebensgroßes Porträt Zar Alexanders II. Es war während der Ausschreitungen der Oktoberrevolution von 1917 mutwillig zerstört und niemals restauriert worden. Ich zählte die Bajonetteinstiche in der Leinwand: einer im rechten Auge, drei in der Stirn und ein aufgeschlitzter Hals. Die Gewalt war viszeral und gut konserviert, jeder Stoß mit einer zugleich absolut undurchschaubaren und zutiefst gegenwärtigen Absicht geführt, eine Erinnerung, dass Russland seiner Vergangenheit ebenso wenig entkommen konnte wie ich dem Starren des Opfers.
Das Ende des russischen Kaiserreichs kam schneller, als jemand in einem Land hätte vorhersagen können, das unter dem Druck wirtschaftlichen, militärischen und politischen Zusammenbruchs ächzte. Der Russisch-Japanische Krieg von 1905 war Russland teuer zu stehen gekommen. Pogrome — organisierte Morde an Juden in Russland und Osteuropa — gerieten im Ansiedlungsrayon außer Kontrolle, einem gigantischen Getto in den westlichen Provinzen Russlands, wo Juden seit Katharina der Großen unter diskriminierenden Gesetzen leben mussten. Russlands »Väterchen«, wie Zar Nikolaus II. bei den Frommen genannt wurde, hatte sich einen neuen Spitznamen verdient, »Nikolaus der Blutige«, eine Reaktion auf seine gewaltsame Unterdrückung friedlicher Proteste im Januar 1905, die Unruhen in einem vorher nicht gekannten Ausmaß hervorrief. Infolgedessen trat erstmals der Sowjet, der Rat, auf den Plan, um die Rechte der Arbeiter zu vertreten. Ein Jahr später sah sich Nikolaus gezwungen, Zugeständnisse zu machen und Russlands erste gewählte Volksvertretung einzuberufen, die Staatsduma, auch wenn sich das eher als Beschwichtigungsmanöver erwies denn als eine wirklich bedeutende Machtverschiebung.
Die Popularität des politisch unbedarften Zaren schwand noch mehr, je mehr sich seine Familie dem sibirischen »Heiligen« und Wunderheiler Grigori Rasputin annäherte, dem verhassten Vertrauten der Romanows, der durch eine unheimliche Fähigkeit, die Beschwerden des Thronerben, des Zarewitsch Alexej, zu mildern, eine Machtstellung erlangt hatte. Alexejs Hämophilie beeinträchtigte ihn so sehr, dass sogar eine Kutschfahrt eine gefährliche Blutung hervorrufen konnte. Rasputin hatte einen solch immens betörenden Effekt auf die Zarin Alexandra, dass die Leute in ganz Russland seinen sinistren Einfluss fürchteten. Doch die Romanows, immer noch in ihrer vergoldeten Blase lebend, hatten mit Rasputin vertrauteren Umgang als mit den neugewählten Ministern, bis er im Dezember 1916 ermordet wurde.1
Zwei Monate später, am 23. Februar 1917, brachen in der Hauptstadt weitere Massenproteste aus, ein von drastischer Nahrungsmittel- und Heizstoffknappheit aufgrund Russlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg angestachelter Volksaufstand. Am 2. März 1917 wurde Nikolaus zum Abdanken gezwungen. Die Zarenfamilie wurde zuerst in ihrem Schloss außerhalb der Hauptstadt festgehalten, bis die Provisorische Regierung und ihr Rivale im Ringen um die Macht, der Petrograder Sowjet, die beide um die ungewisse Zukunft des Landes rivalisierten, die Entscheidung trafen, die Familie aus dem revolutionären Gärungsprozess zu entfernen. Am Morgen des 1. August 1917 begannen Nikolaus, seine Frau, seine vier Töchter, der kränkliche Zarewitsch und 45 Angehörige des Hofstaats ihre Reise nach Sibirien. Sie reisten in einem Erste-Klasse-Waggon derselben Gesellschaft, die die luxuriösen Touristenzüge der Transsibirischen Eisenbahn betrieb, um den Herbst und Winter 1917 im Haus des Gouverneurs in Tobolsk in Hausarrest zu verbringen.
Der Zar saß in Sibirien fest und wurde deshalb nicht Zeuge der Oktoberrevolution, auch nicht der Machtablöse der Provisorischen Regierung durch Lenin und die Bolschewiken. Die Familie beschäftigte sich indessen in ihrem immer enger werdenden häuslichen Umkreis. Die Zarin spielte Klavier. Der Zar hackte im Garten Holz. Wenn sie frische Luft schnappen wollten, saßen die Kinder draußen auf dem Dach ihres Gefängnisses.
Mit zunehmender Macht der Bolschewiken wurden der Familie die wenigen noch verbliebenen Privilegien entzogen. Aus Petrograd geschickte Kisten mit Weinflaschen wurden von Wachen in den Fluss unterhalb Tobolsks geleert. Der Zar und sein Sohn durften ihre Epauletten nicht mehr tragen. Kirchenbesuche wurden verboten. Als der Winter mit dem alljährlichen Frost Tobolsk einzuschließen begann, inszenierten die Kinder Schauspiele, träumten sich erfundene Welten, während die Nachrichten von draußen unter dem sich verdunkelnden Himmel im gewaltsamen Zerfall eines Landes spärlicher und spärlicher wurden.
In Petrograd beschrieb der amerikanische Journalist John Reed die Kernschmelze der bürgerlichen Gesellschaft. Er schrieb über Stromknappheit, Raubüberfälle, Schlangen vor den Bäckereien und Probleme mit dem Dienstpersonal. Kellner, die sich dem Klassenkampf angeschlossen hatten, weigerten sich, Trinkgeld anzunehmen. Die Revolution war keine Zeit, um auswärts essen zu gehen. Und auch keine für Musik. »Ich kenne nichts Schöneres als die Appassionata und könnte sie jeden Tag hören«, schrieb Lenin an den Schriftsteller Maxim Gorki. »Eine wunderbare, nicht mehr menschliche Musik Aber allzu oft kann ich Musik doch nicht hören. Sie wirkt auf die Nerven, man möchte lieber Dummheiten reden und Menschen den Kopf streicheln, die in einer schmutzigen Hölle leben und trotzdem solche Schönheit schaffen können.«
Während sich das politische Chaos von der Hauptstadt aus verbreitete, wurden Instrumente aus Privatbesitz gestohlen, an Ausländer verkauft oder als Feuerholz benutzt. Adelsfamilien sparten, wo sie konnten, scharten sich um ihre paar verbliebenen Besitztümer, darunter Instrumente, die zu groß für den Transport waren. Flügel wurden auf Lastautos gehoben und durch die Stadt gefahren, um live vor den Massen Propagandazwecken zu dienen. »Auf die Straße raus schleppt Klaviere«, eiferte der Dichter Wladimir Majakowski. »Vom Fenster runter soll die Trommel knarrn.«
Die Klavierfabriken aus dem 19. Jahrhundert, die bereits aufgrund eines dramatischen Nachfragerückgangs im Ersten Weltkrieg in Schwierigkeiten geraten waren, standen still. Becker stellte die Produktion ein. Die Firma Diederichs wurde auf eine Belegschaft von zehn reduziert, eine Folge des von den europäischen Staaten während des Bürgerkriegs beschlossenen Handelsembargos, wodurch die Produktion ins Bodenlose fiel. Aus Angst vor den sich verändernden gesellschaftlichen Umständen flohen Musiker aus Russland. Sergei Rachmaninow, der angesehenste Komponist des Landes, ging im Dezember 1917 in die Vereinigten Staaten, Sergei Prokofjew emigrierte im Mai des folgenden Jahres nach Amerika.2 Weil ihnen nichts anderes übrigblieb, traten einige Musiker nun vor einem neuen Publikum auf, vor Arbeitern und Beamten. Viele andere schwiegen. »Wir sind alle entweder aufgezehrt von pausenloser Tätigkeit oder wir ziehen uns in uns selbst zurück, um ein inneres Gleichgewicht zu finden, das es uns ermöglicht, in all der Verwirrung rund um uns fest zu stehen«, schrieb der Musikverleger Mitrofan Beljajew.
Erstaunlich, dass in diesen dunklen Tagen der Revolution nicht alles zerstört wurde; nicht zuletzt aufgrund der sofortigen vorausblickenden Aktionen, die Lenin setzte, um den enormen kulturellen Reichtum des Landes zu retten. Am dritten Tag der Oktoberrevolution hatte Lenin den Kritiker und Dramatiker Anatoli Lunatscharski zum Kommissar für Volksaufklärung ernannt — ein nach Orwell klingender Titel für einen empfindsamen und kunstsinnigen Mann, dessen zahlreiche Aufgaben als Chef des sowjetischen Kunstministeriums auch die Einhegung der kulturellen Schätze des Landes umfassten. Lunatscharski musste den Abfluss der Instrumente aus Russland eindämmen; wie bei den Klavierfabriken musste er sie verstaatlichen und aus Privat- in Staatsbesitz überführen.
Bald schloss sich ein junger Cellist namens Viktor Kubazki als enthusiastischer Helfer Lunatscharski an; er suchte Häuser auf, um die besten Instrumente in Privatbesitz zusammenzutragen. Kubazki bekam seinen eigenen Zug und Soldaten, die ihm helfen sollten, seine Befehle durchzusetzen. Bei einer Sammelaktion konfiszierte er auch ein von Nicolò Amati gebautes Cello, das in einem heruntergekommenen Herrenhaus auf der Krim entdeckt wurde, sowie vier Stradivaris von einem alten Grafen; sie wurden ihm erst ausgehändigt, nachdem der Graf, gekleidet in seine zeremonielle Militäruniform, ein letztes melancholisches Abschiedssolo gespielt hatte. Diese verstaatlichten Schätze bilden nun einen bedeutenden Teil der zwei wichtigsten Musiksammlungen Russlands. Bemerkenswerterweise ist kein einziges Instrument in beiden Sammlungen seitdem verlorengegangen, nicht einmal während der Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht, bei der die Opferzahl unter der Zivilbevölkerung viermal höher war als jene bei den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki zusammengenommen — eine so erbarmungslose Einkesselung, dass nicht einmal die Katzen überlebten.3
Für die in Sibirien schmachtenden Romanows war es schwer abzuschätzen, was mit ihnen geschehen würde, während das Land von ihrem alten Regime hin zu dessen extremem Gegenteil schlingerte. Da der Bürgerkrieg sich verschärfte, hatten die Bolschewiken — nach der Oktoberrevolution die dominante politische Kraft in Petrograd — zunehmend Sorge, dass Fraktionen innerhalb der proroyalistischen Weißen im Zaren, solange die kaiserliche Familie noch am Leben war, eine Galionsfigur besaßen, um die Unterstützung des Volkes zu gewinnen. Am 26. April 1918 wurden Nikolaus, seine Frau und ihre dritte Tochter, die achtzehnjährige Großfürstin Maria, von Tobolsk nach Jekaterinburg im Ural eskortiert und in einem neuerlichen Hausarrest weitaus strikteren Bedingungen unterworfen. Weil der Zarewitsch zu krank war, um mit seinen Eltern zu reisen, folgte er drei Wochen später mit den anderen Geschwistern und ein paar noch verbliebenen loyalen Vasallen. Dieses Mal wurden die Bewacher der Familie vom eine harte Linie vertretenden Jekaterinburger Sowjet gestellt, und diese waren weit weniger wohlwollend als die Gefängniswärter in Tobolsk.
Die Familie wurde im Haus der Ipatjews im Stadtzentrum von Jekaterinburg unter Arrest gestellt. Bevor es von den bolschewistischen Häschern der Romanows in »Haus zur besonderen Verwendung« umbenannt wurde, hatte früher hier Pjotr Davidow gewohnt, Dramatischer Tenor und Absolvent des Petersburger Konservatoriums. Danach erwarb es Nikolai Ipatjew, ein sehr wohlhabender Eisenbahnunternehmer. Der Familie wurden vier Zimmer zugewiesen. Das restliche Haus war von ihren Wächtern besetzt. Vor den Fenstern hatte man schwere Eisengitter befestigt, die Fensterscheiben waren weiß gestrichen, sodass die Gefangenen nichts sehen konnten, nicht einmal einen Vogel im Flug. Eine Stunde oder weniger pro Tag durften die Romanows im kleinen Garten an der Rückseite, der von einem hohen, hastig errichteten Zaun umgeben war, frische Luft schnappen. Das Essen war karg: schwarzes Brot zum Frühstück, während die Zarin bloß Makkaroni aß.
Zumindest gab es einen Flügel, ein in einem am 27. April 1918 kurz vor dem Eintreffen der Zarenfamilie von einem sowjetischen Beamten angefertigten Inventar erwähntes Ebenholz-Instrument. Das Klavier stand im Wohnzimmer, später wurde es dann in den ersten Stock ins Zimmer des Kommandanten gebracht. Laut einem Bericht von Nikolai Sokolow, dem Ermittler der Weißen, der die Ermordung der Romanows und die Beweisstücke untersuchte, nachdem die Mörder aus Jekaterinburg geflohen waren, stand es noch immer da, nachdem der Zar und seine Familie umgebracht worden waren. Er notierte, dass ein Schröder-Klavier aus russischer Produktion in die rechte Ecke des Zimmers geschoben war. Auf dem Klavier standen und lagen etliche Schachteln, ein Parfümfläschchen, Nähgarn und ein liniertes Kontobuch. Unten in einem engen Keller markierten noch Einschusslöcher die Wände — Narben, welche wenig von der Dimension des Ereignisses verrieten, mit dem dreihundert Jahre Romanow-Herrschaft zu ihrem katastrophalen Ende gekommen waren.
Es geschah bald nach Mitternacht am 17. Juli 1918. Zar Nikolaus II., seine Frau Alexandra, ihre fünf Kinder und vier verbliebene Angehörige des Personals, darunter der Hausarzt und eine Zofe, wurden in den Keller getrieben. Ihnen standen drei Henker und sieben Wachen gegenüber. Der Zarewitsch, der krank war, und seine Mutter, die sich beklagte, erhielten Stühle. Die Bolschewiken erschossen zuerst den Zaren, den sie in die Brust trafen, und ließen dann eine Salve los, die den Raum mit Rauch erfüllte. Einer der Mörder übergab sich. Ein anderer wurde von einer abprallenden Kugel am Arm verwundet. Die Henker warteten, bis der Rauch sich verzogen hatte, und erschossen dann den Zarewitsch. Der Junge sackte von seinem Stuhl auf den Boden, schwer verletzt, aber noch atmend. Als die Kugeln, wie es schien, die Körper der anderen Kinder nicht durchschlugen, griffen die Mörder auf Messer und Bajonette zurück, wobei sie in dem Raum voller Blutlachen ausrutschten. Es brauchte ganze zwanzig Minuten, sie alle umzubringen. Die jüngste Tochter, Anastasia, starb als Letzte der Romanows, ihr Schädel wurde von Gewehrkolben zertrümmert.
Die Henker hatten nicht gewusst, dass in den Korsetten der Mädchen seit ihrer Abfahrt aus Petrograd Edelsteine eingenäht gewesen waren. Die Diamanten hatten sie wie kugelsichere Westen geschützt; Fragmente des Schmucks fand man später verstreut in einer Bergwerksgrube im Ural, ein paar Kilometer nordwestlich der Stadt, wo man die Leichen zunächst verscharrt hatte. Edelsteine und Perlen, zerborsten und vom Feuer versehrt, waren in den Boden getrampelt worden, ebenso wie Glassplitter von der Brille der Zarin, das falsche Gebiss des Arztes und Eierschalen von der Brotzeit der Mörder. Der Einzige aus der Entourage der Romanows, der diese Nacht überlebte, war Joy, der Spaniel des Zarewitsch. Der Hund tauchte ein paar Tage nach der Hinrichtung auf. Halbverhungert stand er im Hof des Ipatjew-Hauses. Dem anderen Schoßhund der Familie hatte man mit einem Gewehr den Schädel zertrümmert, genau wie Anastasia, und ihn in dieselbe stillgelegte Grube tief im Wald des Ural geworfen wie die Familie.
Nach der Schlächterei versuchten die Bolschewiken, die Beweise zu vernichten, bevor sie vor den Weißen, die rasch an Boden gewannen, aus Jekaterinburg flohen. Der Bericht Sokolows beschrieb die Szene. Das Ipatjew-Haus war geplündert worden, in den Kaminen lag alles herum, was des Stehlens für unwert befunden worden war. Papiere, Teller, sogar die kostbaren Epauletten des Zaren, die er während seiner Gefangenschaft nicht hatte tragen dürfen, wurden in die Flammen geworfen. Aber weder das Seifenstück noch die Leintücher mit dem kaiserlichen Monogramm wurden zerstört — und ebenso wenig das letzte Klavier, auf dem die Romanows gespielt hatten.
Deshalb kam ich nach Jekaterinburg — um zu erkunden, ob ich dieses Instrument ausfindig machen konnte, hatte es doch zur Zeit der Morde, als das russische Kaiserreich starb und der Sowjetstaat geboren wurde, eine besondere Bedeutung besessen. Diese Stadt an der Schwelle zwischen Europa und Asien fühlte sich zu bedeutend an, um im Zug passiert zu werden, sie war ein zu maßgeblicher geographischer und historischer Angelpunkt. Dann betrat ich die Cafeteria am Bahnhof und war so enerviert von der Begegnung mit einem bärtigen Priester, dass ich gleich wieder abreisen wollte. Jedes Mal, wenn er meinen Blick erhaschte, bekreuzigte er sich. Er roch nach Moder und hatte eine stille Frau mit schwarzem Kopftuch und bodenlangem Gewand im Schlepptau. Sie hatte die fahlste Haut, die ich je an einem lebendigen Menschenwesen sah. Wann immer er etwas zu ihr sagte, verkrampfte sie sich und zog sich wie eine Schnecke in ihr Haus zurück.
Es war, als wäre die Stadt kontaminiert: die räudigen Hunde mit ribbeligem Fell, die Parkplätze, wo nicht einmal das Unkraut Triebe auszubilden schien, der Hotellift, wo sich die Luft zu stickig anfühlte, um sie mit einem Trupp russischer Gewichtheber zu teilen. Ich urteilte vielleicht zu schnell, aber auch meine Dolmetscherin zögerte zu kommen. Sie hatte ihre Kindheit in Jekaterinburg verbracht. Während der Perestroika verkaufte ihre Mutter, eine Laborassistentin, stückweise Zigaretten in einem Kiosk an der Straßenbahnhaltestelle. Es waren dumpfe, freudlose Jahre, in denen sich das Heroin in ihrer Gemeinde festsetzte. Sie beschrieb die glasigen Augen und das Schlurfen auf ihrem Weg zur und von der Schule. Und sie redete davon, wie die Leben fadenscheinig geworden waren durch eine Stadt, die sie für angeboren grausam hielt. Es ergab vollkommen Sinn, dass Jekaterinburg der Ort der Romanow-Morde war, meinte sie; der Geist des Ortes hatte sie immer bedrückt. Es gab allerdings Zeiten, als man hier auf die Morde an der Kaiserfamilie stolz war. Binnen eines Jahrzehnts danach wurde das Ipatjew-Haus in ein Museum der Revolution umgewandelt, wo man die bolschewistische Version vom Sterben der Romanows erzählte.
1977, damals besetzte eine Kultureinrichtung die Hälfte des Gebäudes, führte eine lokale Theatergruppe im Keller des Ipatjew-Hauses ein Stück auf. Es war eine für Verwandte und Freunde gedachte Privatvorstellung von Bernarda Albas Haus des spanischen Dramatikers und Lyrikers Federico García Lorca; darin lebt eine ganze Familie im Schatten einer dominanten Mutter, bis eine der Töchter sich erhängt. In einem 1977 aufgenommenen Gruppenporträt posieren die elf Schauspieler neben einer henkerschlingenähnlichen Vorrichtung.
Obwohl man den Raum, wo das Blut vergossen worden war, nicht benutzte, ruft die Betrachtung der Bilder angesichts dessen, was den Romanows zugestoßen ist, eine heftige Reaktion hervor: Über der Komposition des Fotos schwebt das Bild des Kellers als Hinrichtungsraum — eine Geschichte, über die die Sowjetbehörden zunächst frohlockten, als sie das Ipatjew-Haus in eine Art Schrein verwandelten und es in »Haus des Volksaufstandes« umbenannten. Später, als die Russen die Kaiserfamilie allmählich betrauerten, taten die Sowjets alles nur Erdenkliche, um die Ereignisse aus dem nationalen Gedächtnis zu löschen, sie strichen die Morde sogar aus den Schulbüchern. Doch Königsmord ist nicht leicht zu vergessen. Als das Ipatjew-Haus aus Propagandagründen von antisowjetischen Kreisen im Westen als Ort der Romanow-Morde benannt wurde, ordneten die Behörden 1977 dessen Abriss an.
Auch wenn das Haus verschwunden war, hoffte ich nach wie vor, dass das Klavier der Ipatjews sich noch irgendwo in der Stadt befand, dass seine Tasten noch etwas von den letzten Melodien der Romanows bewahrten, wie sie die Wachen beschrieben hatten, die sich an Kirchenlieder und singende Frauenstimmen erinnerten. Und auch an weltliche Stücke, die waren immer melancholisch. Im Kommandantenzimmer ertönte andere Musik, dort hämmerten die betrunkenen Wachen mit Höllenkrach auf das Instrument ein (laut Nikolaus’ Tagebuch wurde das Klavier aus dem Vorzimmer dorthin geschafft). Die Wächter wählten Musik, die bewusst verletzend war, etwa Du fielst als Opfer im Kampf oder Lasst uns die alte Welt vergessen. Fürst Lwow, der erste Ministerpräsident nach der Abdankung des Zaren, war zur selben Zeit wie die Romanows in Jekaterinburg. Er ist zwar kein zuverlässiger Zeuge, berichtete aber von einem noch unheimlicheren Gerücht: dass am Abend die Wachen die Töchter des Zaren zwangen, Klavier zu spielen. Diese Behauptung wurde später von einer Bäuerin bestätigt, die mit einem der Soldaten zusammenlebte.
Aber was war mit dem Instrument, auf dem sie gespielt hatten? Meine vielversprechendste Spur war ein Klavierstimmer aus der Gegend; er hatte versucht, genügend Geld zu verdienen, um das Klavier zu restaurieren, das sich, wie er glaubte, zur Zeit der Morde im Ipatjew-Haus befunden hatte: ein Bechstein-Flügel, den ich in seinem staubigen Lager in Jekaterinburg an die Hinterwand gerückt sah. Gemeinsam machten wir ein Datum auf dem Tastaturrahmen ausfindig — 8. April 1921 — und die Signatur eines damals in der Stadt sehr bekannten Klavierstimmers. Die Worte »Haus der Revolution« waren mit schwarzer Tinte aufgeschrieben.
Nahe bei der an der Stelle des Ipatjew-Hauses neu errichteten Kirche vom Blut Christi fand ich im Konferenzsaal des benachbarten Museums einen Becker-Flügel, Seriennummer 15177. Im offiziellen Museumsführer hieß es, der Becker-Flügel sei mit den Romanows den ganzen Weg aus St. Petersburg nach Sibirien gekommen; ein Mitglied des österreichischen Kaiserhauses habe ihn dem Zaren geschenkt. Er landete in der sibirischen Stadt Tobolsk, wo die Romanows festgehalten wurden, bevor ihn ein Tierarzt an die Kirche verkaufte. Die Geschichte war spannend, ich konnte sie aber nicht verifizieren. Es gab keinen Nachweis, dass ein Klavier im Zug des Kaisers St. Petersburg verlassen hatte — tatsächlich keinen Hauch von Musik außer einem tragbaren Grammophon und dem Klavier, das Nikolaus II. in einem Tagebucheintrag erwähnte. Es gehörte auf den Dampfer, den die Familie für den letzten Teil ihrer Fahrt nach Tobolsk nahm.
Als ich die Behauptung des Führers einem Stadtarchivar gegenüber wiederholte, höhnte er: »Unsere offizielle Kirche liebt schöne Legenden.« Und als ich sie einem Spezialisten für Antiquitäten in Jekaterinburg erzählte, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und seufzte. Er könne mich nicht zu dem definitiven Klavier führen — Möglichkeiten gebe es immerhin —, aber er könne mir einen von den Vorfahren einer Putzfrau gekauften Teller zeigen; sie hatten während der Gefangenschaft der Romanows im Ipatjew-Haus dort gearbeitet. Der Mann der Putzfrau, ein Sympathisant der Bolschewiken, hatte das Geschirr zertrümmern wollen. Heute würde das nicht mehr vorkommen, meinte er. Die Romanows waren wieder in Mode. Es gab einige praktische Prinzipien in der kaiserlichen Geschichte Russlands, die der gegenwärtigen politischen Kultur zupasskamen. »Revolution. Bürgerkrieg. Der Große Vaterländische Krieg. Bevölkerungsverschiebungen. Überraschend, dass wir nach all dieser Geschichte noch ein einziges Atom retten können«, meinte er, »aber Ideen haben überlebt.«
»Ich kann Ihnen viele, viele Klaviere aus dem Ipatjew-Haus auftreiben«, sagte einer der Museumsdirektoren. »Das Einzige, was aus dem Haus gerettet wurde, als man es abriss, war der Kamin und ein Treppengeländer.«
Und Ziegel, meinte einer seiner Kollegen. Jemand, der beim Abriss der Villa zugegen war, nahm sich einen Ziegel, schnitt ihn in kleine Stücke und verkaufte sie als Reliquien.
Der Direktor mahnte mich, skeptisch zu sein. »In Pompeji nehmen Touristen Steine als Andenken mit«, sagte er. »Ich habe irgendwo gelesen, dass die Italiener diese Steine auf Lastwagen hinbringen und verstreuen, um die echten Überbleibsel zu schützen.«
Nicht lange nach dieser Unterhaltung, als ich Jekaterinburg schon aufgeben wollte, erhielt ich die Nachricht, dass der Mann, der als Erster die Überreste der Romanows im Wald vor der Stadt entdeckt hatte, sich bereiterklärt hatte, mich zu treffen. Er hieß Alexander Awdonin. Man hatte mir gesagt, er wisse mehr über das Ende der Romanows als jeder andere — eine Expertise, der ich anfänglich in der Hoffnung nachgegangen war, sie könne sich auch auf das vergessene Klavier erstrecken. Er war Geologe und Mineraloge und lebte recht zurückgezogen. Meine Übersetzerin, die sich sehr um das Zusammentreffen bemüht hatte, nahm an, Musik mochte ihm als relativ neutrales Thema geschienen haben.
Alexander Awdonin wohnte in einem hübschen Holzhäuschen neben einem Fluss, unweit der Vorstadt. Man merkte, dass das Haus einem Geologen gehörte. In der Küche, adrett aufgeräumt wie die Kajüte in einem Segelboot, fanden sich eine Sammlung Bergkristalle, Malachitbrocken und eine Schale mit himmelfarbenen, zu Eiform geschliffenen Marmorsteinen. Alexanders Frau Galina wies mir meinen Platz am Küchentisch an. Während sie eine große Kanne Tee kochte, erklärte ich, dass ich nach einem bestimmten Klavier suchte: dem Ipatjew-Flügel.
Galina sagte, sie habe ein Klavier gehabt, ein Instrument sowjetischer Bauart aus der Fabrik Roter Oktober, Seriennummer 48, falls sie sich richtig erinnere, aber das habe sie vor ein paar Jahren weggegeben.
Aber was wisse sie über Instrumente aus der Zeit vor der Revolution?
Die alten Klaviere seien fast alle nicht mehr vorhanden, meinte sie, während sie Schinken in dicke Scheiben schnitt, kleine Gebäckstücke auf einem papierenen Tortendeckchen arrangierte und Alexander ins Zimmer trat. Er trug einen beigen Rollkragenpullover und eine weiße Adidas-Trainingsjacke. Er hatte weißes, schütter werdendes Haar und war offensichtlich erschöpft. Er sei kürzlich krank gewesen, sagte seine Frau. Wir aßen löffelweise Beeren aus den Wäldern, wie die Walderdbeeren, die Alexander in seiner Jugend vor dem Frühstück gesammelt hatte. Er liebte den Ural, sagte er; in dieser Gegend war er 1932 geboren worden. Er stammte aus einer armen fünfköpfigen Familie. Als er ein Kind war, wohnten sie in einer Eisenbahnerbaracke nahe dem Bahnhof in Jekaterinburg, wo die Romanows nach ihrer letzten Reise ausgestiegen waren — eine sanfte und zärtliche Familie, so beschrieben sie die Leute, die Zeugen ihrer Ankunft in der Stadt waren. Alexander interessierte sich für diese Geschichte, aber da von offizieller Seite über die Romanow-Morde geschwiegen wurde, behielt er seine Neugier für sich.
Als ich Alexander fragte, ob er wisse, wo das Ipatjew-Klavier gelandet sein konnte, schweifte die Unterhaltung ab. Er sah aus dem Fenster, während das Licht einen goldenen Schimmer über den Tisch auf die Schüssel mit Marmelade warf. Alle Flüsse im Ural flössen nach Osten, sagte er. Aber nicht derjenige, der neben ihrem Haus fließe. Im März sei der Fluss zugefroren. Erst nach der Schneeschmelze fließe der Fluss heftig und rasch nach Westen. Es gab etwas an diesem Umstand, das ihm gefiel, daran, dass er auf der großen eurasischen Wasserscheide lebte. Er sprach über Magnitogorsk, eine andere Stadt im südlichen Ural. Als er noch jünger war, gingen sie in Europa ins Kino und aßen in Asien zu Abend. Er wandte sich an seine Frau.
»Du erinnerst dich daran?«, fragte er.
Alexander sagte, er habe das Ipatjew-Haus vor dessen Zerstörung aufgesucht. Als Jugendlicher hatte er Leute gekannt und befragt, die kurz nach den Exekutionen in Jekaterinburg gewesen waren. Er hatte mit einem Einheimischen gesprochen, der als Fünfzehnjähriger an der Suche nach Spuren der Zarenfamilie beteiligt gewesen war, die unter der Ägide des Jekaterinburger Distriktsgerichts stattfand, nachdem die Weißen die Stadt eingenommen hatten.
Alexander hatte auch ein Buch gelesen, das dem Netz des Zensors entgangen war, eine bibliographische Rarität namens Die letzten Tage der Romanows, geschrieben 1926 (später wurde es zurückgezogen und vernichtet) vom Vorsitzenden des Jekaterinburger Sowjets während der Revolution. Obwohl der Vorsitzende nicht direkt daran beteiligt gewesen war, war anzunehmen, dass er über die Umstände des Massakers gut unterrichtet gewesen war. Es hieß darin, die Sokolow-Untersuchung habe das Grab der Romanows nicht finden können, weil die sterblichen Überreste, die nicht verbrannt worden waren, an einem Ort verscharrt seien, den die Ermittler nicht ausgehoben hatten. Dann gab es da ein Gedicht von Majakowski, das den wahren Ort, wo die Leichen lagen, andeutete: »neun Werst«, neuneinhalb Kilometer, nach den Minen und Klippen von Iset. Majakowski war anscheinend der Ort von einem Mitglied des örtlichen Exekutivkomitees gezeigt worden, das 1928 als Fremdenführer des Dichters fungiert hatte.
Diese Spuren gaben einen Hinweis darauf, dass Sokolows ursprünglicher Bericht eventuell falsch gewesen war, in dem er zum ersten Mal den Ort beschrieb, an dem, wie man annahm, die Leichen verscharrt worden waren — ein Grubenschacht in Ganina Jama4, fast fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt. Unter anderen Fragmenten hatte Sokolow das smaragdene Kreuz der Zarin gefunden, zwei Hautfetzen und einen abgetrennten Finger, aber keine substanziellen Reste. Sokolow schloss, dass man die Leichen an Ort und Stelle zerstückelt, verbrannt und in Schwefelsäure aufgelöst hatte, um alle Beweisstücke zu vernichten. Er hatte, wie sich herausstellte, seine ursprüngliche Schlussfolgerung auf einer Reihe von Mutmaßungen begründet. Die Leichen waren in der Nacht der Morde zuerst in die Bergwerksgrube in Ganina Jama geworfen worden, wie es Sokolow ungefähr beschrieben hatte, aber das Loch war weniger tief, als die Mörder gedacht hatten. Zwei Tage später schafften sie die Leichen fünf Kilometer nach Westen auf eine sumpfige Wiese, auch als Schweinewiese bekannt, nahe der Eisenbahnkreuzung 184 an der alten Straße nach Koptjaki. Hier versuchten die Mörder eine zweite Kremation und verwendeten Schwefelsäure, um die Beweise zu vernichten. Was noch übrig war, darunter die Schädel, wurde in einem flachen Grab unter den Eisenbahnschwellen verscharrt. Und so lautet die alternative Version der Geschehnisse, eine Version, enthüllt durch eine Reihe an Entdeckungen, die sich in den 1970ern zutrugen.
Es begann mit einem Treffen im Sommer 1976 in Jekaterinburg mit einem landesweit bekannten Drehbuchautor, Geli Rjabow, der auch Presseoffizier im Innenministerium war. Laut Alexander schlug Rjabow vor, nach den Überresten der Romanows zu suchen. Alexander war jemand, auf den man sich verlassen konnte, seine Arbeit als Geologe bedeutete, dass er sehr vertraut mit diesen Wäldern im Ural war. Diskretion allerdings war höchst wichtig. Die Empfindlichkeiten bei der Romanow-Geschichte kochten hoch. Nur ein Jahr nach dem Treffen wurde das Ipatjew-Haus dem Erdboden gleichgemacht. Wenn die Partei es so eilig hatte, Hinweise auf den Ort der Ermordung des Zaren zu zerstören, dann würde es noch mehr Ärger geben, falls man eine andere Begräbnisstätte ausfindig machte.
Am 1. Juni 1979 begann der geheime Suchtrupp in der Schweinewiese zu graben. Sie entfernten die Eisenbahnschwellen und gruben drei Schädel aus. Während Alexander erzählte, musste ich ständig daran denken, wie es sich für ihn angefühlt haben mochte, mit dieser Geschichte in Berührung zu kommen; danach musste es für immer so gewesen sein, als schliefe man in der Anwesenheit ruheloser Geister. Ihr Ehemann sei durch die Entdeckung so mitgenommen gewesen, sagte Galina, dass er ein paar Monate lang verstummte. Zwei Schädel wurden von Rjabow nach Moskau gebracht, um von Experten untersucht zu werden. Einer blieb in Jekaterinburg. Die Untersuchung war hochgeheim, umwabert von allen möglichen Gefühlen, die ich in der Unterhaltung nur schwer einordnen konnte angesichts der Schichten an Bedeutung, die ein zu großes Tabu waren, um von einer Außenseiterin verstanden zu werden. Ein Jahr später, im Juli 1980, wurden dann alle Überreste wieder in ihrem sumpfigen Grab versenkt. Das Geheimnis wurde erneut verschlossen, mit dem Gewicht dessen, was sie gefunden hatten, und das weitere neun Jahre schwer auf ihrem Gewissen lastete. Gelegentlich pflegte Alexander an der Schweinewiese vorbeizugehen, um nachzusehen, ob noch jemand gegraben hatte. Niemand sollte darüber sprechen: Es war immer noch zu riskant. Seine Notizen wagte er nicht zuhause aufzubewahren, und so brachte er sie ins Haus eines verlässlichen Freundes, um sie dort in Sicherheit zu wissen — ein Detail, das er in seinem später verfassten Buch enthüllte, worin jeder Abschnitt seiner Suche dokumentiert war. Es ist ein bedeutendes Dokument angesichts der Kontroverse, die 1989 aufzuflackern begann, als die Entdeckung in der Schweinewiese an eine russische Zeitung durchsickerte. Diese dramatischen neuen Angaben zur Begräbnisstätte hatten Querschläger in allen Schichten der politischen, zivilen und religiösen Gesellschaft des Landes zur Folge.
Die Nachrichten schienen alle zu entzweien: orthodoxe Gläubige, Royalisten, Journalisten und Wissenschaftler, welche dieses unvollendete Kapitel in der gewalttätigen Geschichte Russlands zu verstehen versuchten. Boris Jelzin, in der Nähe von Jekaterinburg geboren und damals Mitglied des Politbüros, der Regierung Russlands, sprach sich für die Rehabilitierung der Romanows aus. Spezialisten für forensische DNS-Untersuchungen, ob Ausländer oder Russen, wurden involviert. Man führte weitere Untersuchungen durch, sie brachten zahlreiche neue Funde und noch mehr Überreste der Familie zutage. 1991 fand dann eine offizielle Exhumierung auf der Fundstelle in der Schweinewiese statt. Die russisch-orthodoxe Kirche allerdings mochte nicht zustimmen, dass die Entdeckungen schlüssig seien. Es gab Auseinandersetzungen über den Heiligsprechungsstatus der Romanows und darüber, wie man an die Toten erinnern und sie verehren sollte. Bücher wurden geschrieben. Dokumentationen wurden gedreht. Jeder hatte eine Meinung — das ist nach wie vor so.5 2001 ließ die Kirche in Ganina Jama ein großes Kloster und eine Pilgerstätte errichten, eine offenkundige Zustimmung zur simpleren Version der Ereignisse, wie sie im Sokolow-Bericht dargestellt war, und bekräftigte damit, dass es Ganina Jama gewesen war, wo die Körper sich im Erdreich aufgelöst hatten.
Galina stand vom Tisch auf und holte Alexanders Buch aus einem Regal. Und sie reichte mir eine handgeschriebene Karte, aus einer Teebeutelschachtel ausgeschnitten, auf der ein einfacher Satz stand: »Ein Wissenschaftler verteidigt seine Erfindung, wenn er sich absolut sicher oder der Richtigkeit seiner Forschung gewiss ist.«
»Der Rest«, sagte sie, »ist pseudowissenschaftlicher Unsinn.«
Ich war in den Ural gekommen, um das letzte Klavier des Zaren zu finden. Stattdessen sah ich mich versucht, einen bizarren Knoten in der Beziehung der Nation zu ihrer Vergangenheit zu verstehen. Ich wollte Alexander zuhören, einem vornehmen, gelehrten Mann, der sagte, er habe seine Untersuchung nicht aus einem Verlangen nach Ruhm, Reichtum oder politischem Einfluss unternommen. Ich merkte, dass ich seine Motivation verstehen wollte.
»Die Wahrheit war eine Last, die ich seit der Kindheit spürte«, sagte Alexander. »Die historische Wahrheit ist nicht definiert worden, und das muss vollendet werden.«
Bei einer weiteren Tasse Tee erzählte ich Alexander, dass ich drei Instrumente mit möglichen Bezügen zum Ipatjew-Haus gefunden hätte. Ich beschrieb den Bechstein, der die Signatur des bekannten Jekaterinburger Klavierstimmers trug und die Worte »Haus der Revolution« auf dem Resonanzboden. Alexander schüttelte den Kopf. Er sagte, das Klavier, das ich gefunden hatte, sei interessant, gehöre aber zu einem anderen Ort, wie er glaube. Er begann wieder darüber zu sprechen, dass der Wald ein Ort der Trauer sei. Und er war erschöpft. Als ich sah, wie Galina seine Hand nahm, wurde mir klar, dass wir alle ihn letztlich brauchen. Einen Angelpunkt. Den festen Punkt, von dem ein Mechanismus abhängt. Die Person oder das Ding, an der oder dem jemand hängt. Wie bei einem Klavier hängt die Bewegung von der Stabilität der festen Bestandteile ab. Wenn eine Taste eines Flügels niedergedrückt wird, setzt sie einen Drehzapfen in Bewegung, der stößt einen mit Filz überzogenen Hammer nach oben, welcher wiederum eine oder mehrere Saiten anschlägt. Nur mit einem stabilen Drehzapfen kann die Musik jemals erklingen.
Vor meiner Abreise aus Jekaterinburg am nächsten Tag besuchte ich Ganina Jama, zusammen mit Nikolai Neuimin, dem Leiter der Romanow-Gedenkabteilung in einem Zweig des regionalen Historischen Museums. Neuimin war bei einer weiteren Ausgrabung auf der Schweinewiese im Jahr 2007 zugegen gewesen, als man etwa siebzig Meter von Alexanders ursprünglichem Fundort entfernt die Überreste zweier der noch fehlenden Kinder fand, des Zarewitschs und seiner Schwester Maria. Am Eingang zum Komplex von Ganina Jama lehnten wir einen offiziellen Führer ab und spazierten stattdessen zwischen den im Wald verstreuten Kapellen herum, deren grüne Dächer und goldene Kreuze durch die Bäume schimmerten. Gerüste waren rund um neue Zubauten aufgestellt, es gab eine Bronzeskulptur der fünf Romanow-Kinder mit Kronen auf dem Kopf. Gruppen von Besuchern kamen und gingen, darunter Familien auf von Priestern geführten Ausflügen. Sie standen neben dem Erdtrichter, wo die Leichen der Zarenfamilie zuerst hineingeworfen worden waren, die schneebedeckte Oberfläche der Senke war von Wasser getüpfelt, das von den Zweigen tropfte. Die Frommen bekreuzigten sich und beteten mit einem Ausdruck religiöser Überzeugung, die mein Begleiter Nikolai nicht teilte. Während er sich von einer der Ausflugsgruppen wegbewegte, begann Nikolai über die Schweinewiese zu sprechen.
Doch jemand hatte zugehört. Nikolai wurde auf die Seite gezogen. Ein Kirchenbeamter warnte ihn, nicht von dem zweiten Grab zu sprechen.
Wir fuhren zur nahegelegenen Ausgrabungsstätte an der Schweinewiese. Am Ende des Weges, der zu den Gräbern angelegt worden war, zog Nikolai einen Packen Fotos aus seiner Tasche, darunter ein Schwarzweißbild der Überreste, wie sie bei ihrer Auffindung gewesen waren. Wir standen neben dem schlichten Metallkreuz über den Bahnschwellen, daran hing ein weiß-rot-rosa Plastikkranz. An der Basis des Kreuzes hatte jemand eine kleine Bronzeplakette befestigt: »Die Kinder. Gute Nacht. Gott segne euch.«
Im Schnee konnte ich die Farbe von Alexander Awdonins Haar erkennen; Galina hatte gesagt, es sei zwei Tage nach der Entdeckung der Schädel schneeweiß geworden. Im erschaudernden Wald hörte ich die Schreie der Mörder und der Opfer. Unter der schwarzen Erde des Ural vernahm ich die tief im russischen Bewusstsein nachhallenden Fragen, wie die letzte noch funktionierende Taste auf dem Klavier der Ipatjews, die auf einen zerbrochenen Zapfen traf und keinen Ton hervorbrachte. Auch mein Gewissen druckste herum. Etwas in mir fand es unglaublich aufregend, dem Ende des russischen Imperiums so nahe gekommen zu sein; jeder Hinweis auf ein vergessenes Klavier bestärkte meine Ambitionen, als würden die historischen Instrumente mit einer staatlichen Geschichte irgendwie ein intensiveres Timbre haben. Zudem aber fühlte ich mich beschämt, als hätte ich mich der Schar der frühen Kiebitze zugesellt, der »Amateur-Sherlocks oder Aufdringlinge«, so die Bezeichnung des britischen Journalisten Wilton in seinem kurz nach den Ereignissen geschriebenen umstrittenen Bericht für die Leute, die gierig nach Informationen über die Morde waren. Wie Galina bei unserer Begegnung gemeint hatte, war meine Suche nach einem Klavier anders als jene Art Forschung, die ein Wissenschaftler unternimmt. Ich war gekommen, um nach einem bestimmten Instrument zu suchen, ich war aber auch an den symbolischen Konnotationen in meiner Suche interessiert. Nun, als ich neben dem Kreuz stand, überkam mich ein überwältigendes Gefühl der Trauer. Auch wenn ich das letzte Instrument des Zaren gefunden hätte: Wie hätte solch ein Klavier je wieder singen können? Es war zu viel Tragik darin. Ich wusste, dass ich dem Unmöglichen nachjagte, wenn ich ein Klavier mit einer unbestrittenen Herkunft suchte in einem Land, in dem man um das Geschirr der Ipatjews kämpft, es kauft und verkauft, wo trotz einer Überfülle an Fakten nicht einmal die wirkliche Lage oder die Echtheit der Überreste der Romanows eine allgemein anerkannte Tatsache sind. Finde einfach ein Klavier mit einem reinen Klang, sagte ich mir, etwas Bescheidenes, Menschliches, Geliebtes.