In Harbin war das Leben eine fließende, sprudelnde Improvisation, wie ein brillantes, unvorhersehbares Jazz-Set, das sich seinen Weg zur nächsten Note vortastet. Das Glitzern einer Paillette, das Flattern eines Rocks, der Anblick eines hübschen Knöchels in den Tanzklubs genügte, um einem das Leben lebenswert zu machen, zumindest für den Augenblick. In Harbin hatten Russen nicht Stalin hinter sich sitzen, wenn er in seiner Loge im Bolschoi-Theater Schostakowitsch hörte. »Chaos statt Musik«, so war der Artikel in der Prawda betitelt, zwei Tage nachdem Stalin 1936 Schostakowitschs beliebte Oper Lady Macbeth von Mzensk gehört und mittendrin das Opernhaus verlassen hatte.
Die UdSSR der 1930er Jahre erlebte zwar einen unvergleichlich besseren Lebensstandard, hatte aber auch ein Trauma von bisher nicht dagewesenem Ausmaß zur Folge. Mit seiner Massenkollektivierung schuf Stalin riesige Staatsfarmen und kettete dadurch Bauern in der sogenannten zweiten Leibeigenschaft Russlands an den Boden. Neben der Agrarrevolution riss die Industrialisierung das Land in das 20. Jahrhundert, aber unter astronomisch hohen menschlichen Kosten durch Hungersnöte und Umweltzerstörung. In der Ukraine verhungerten allein Anfang der dreißiger Jahre geschätzte 3,9 Millionen Menschen.
In den musikalischen Künsten kam es im Gefolge des »großen Rückzugs«, wie der Historiker Nicholas Timasheff Stalins Politik der dreißiger Jahre beschrieb, zu allen möglichen Missverhältnissen. Während die Sowjetkultur sich mehr und mehr abschottete, splitterte sich die Musik in ein Spektrum von Innovationen auf, manchmal beliebig, manchmal von echtem Wert. Die Ästhetik des Sozialistischen Realismus löste die relative künstlerische Freiheit der zwanziger Jahre ab: Rückkehr zu einer romantischen Musiksprache, manchmal aggressiver Nationalismus und ein starker Widerstand gegen die Avantgarde. Es entwickelte sich ein neues Genre des Massengesangs, und der Eingriff des Staates — manchmal verdeckt, ein anderes Mal ganz offen — half, aus der Musik ein mächtiges ideologisches Instrument zu machen. Eine strikte Zensur ließ Künstler aller Genres in Angst erbeben, wo in Stalins Hierarchie der Ideen ihre Werke abgeheftet werden würden, und alles, was den Komponisten blieb, um sich zu schützen, war die inhärente Mehrdeutigkeit der Musik: Man kann heraushören, was man möchte. Das ist einer der Gründe, warum Musiker vergleichsweise weniger durch Stalins Geheimpolizei, den NKWD, gefährdet waren als andere. Musiker waren auch wegen des Propagandapotenzials der Sowjetvirtuosen im In- und Ausland geschützt. Trotzdem, in den härtesten Jahren der Unterdrückung kam es zu einer Eskalation der Angriffe auf jene Musik, die nicht im Einklang mit sowjetischen Werten stand. (So hatte Schostakowitsch zum Beispiel immer einen mit dem Notwendigsten gepackten Koffer bereit, da er jederzeit verhaftet werden konnte.) In den 1930ern waren Drohungen omnipräsent: Das Getuschel eines Nachbarn, eine Andeutung von westlichem Einfluss, ein Häuflein trotziger Noten konnten ins Arbeitslager führen.
In diesem einzigen Jahrzehnt verdoppelte, dann verdreifachte sich die Zahl der Gefangenen im Gulag. Historiker sind sich uneinig darüber, welche Bedeutung die Ermordung des Spitzenfunktionärs Sergei Kirow im Jahr 1934 hat; sie war jedenfalls der Auslöser, den Stalin nötig hatte, damit seine Angst vor einer Konterrevolution sich zur Paranoia auswuchs.1 1936 war sein scharfes Vorgehen zum Großen Terror eskaliert — eine zwei Jahre dauernde Attacke, während der es zu Anklagen wegen Verrat und Terrorismus gegen einige der mächtigsten Personen im Politbüro kam. Niemand war sicher. Diese Kultur des Misstrauens betraf jede Art Bürger — Arbeiter, Bauer, Pianist oder hochrangiger Funktionär —, und etliche neue, 1937 erlassene Bestimmungen spannten das Netz für Festnahmen nur noch weiter.
In dieser Epoche intensiver Umwälzungen begannen die Menschen sich auf der Suche nach Sicherheit und günstigen Gelegenheiten auf Wanderschaft durch die UdSSR zu begeben. In der Folge davon erlebte Sibirien den dramatischsten Umschwung seiner Geschichte, und die Bevölkerung schwoll allein in den dreißiger Jahren um dreihundert Prozent an. Unter den Zuwanderern waren Zwangsarbeiter, die nach Sibirien geschickt worden waren, um im Gulag zu rackern, Opfer der Hungersnot auf der Suche nach einem besseren Leben, Zehntausende Polen und Angehörige anderer unterdrückter ethnischer Gruppen, die gezielt deportiert wurden, sowie Russen, angelockt vom plötzlichen wirtschaftlichen Wachstum der Industriestädte Sibiriens. Dieser Zufluss war daran mitbeteiligt, die vorher geschlossenen ethnischen Gruppen in Sibirien aufzubrechen. Die »Völkerfreundschaft« der UdSSR unterstützte zwar den Multikulturalismus, sie wurde aber strikt von Moskau kontrolliert. Stalin gestaltete auch die autonomen Republiken und Verwaltungseinheiten derart um, dass die indigenen Völker Russlands, von denen viele der Ideologie des Regimes gegenüber resistent waren, noch weiter gespalten wurden; ihre neuen sowjetischen Identitäten und der Vorrang der russischen Sprache standen im Vordergrund.
Für Völker wie die Nenzen, die traditionell in kleinen Gruppen mit ihren Rentierherden durch die Arktis zogen, wurden extra staatliche Internate gegründet, um ihnen beizubringen, wie man Russisch las und eine gute kommunistische Arbeitskraft wurde. Die Nenzen leben immer noch auf der Jamal-Halbinsel, die wie ein krummer Finger dort vorragt, wo der Ural am Polarkreis ausläuft. Selbst heute noch ist ein Teil der Nenzen über tausend Kilometer im Jahr auf einer jährlichen Rundwanderung unterwegs, auf der Suche nach Flechten, die von ihren Herden abgegrast werden. Unter den Sowjets wurden die jungen Leute nicht nur von ihren Traditionen, sondern auch von ihren Familien abgeschnitten.
Auch die Musikerziehung bei den Nenzen änderte sich, nun, da sie fern von den Wiegenliedern ihrer Mütter aufwuchsen. Zudem tauchten Propagandabrigaden in der Tundra auf, mit allen möglichen neuen Ideen über die sowjetische Lebensweise. Die Brigaden brachten Musikinstrumente in Kulturheime, die gegründet wurden, um die grundlegenden sozialen Dienste bereitzustellen und zugleich ein sesshaftes Leben rund um Rentier-Kolchosen zu propagieren. Wenn es keine festen Treffpunkte gab, reisten die Sowjets eben mit ihren Ideen. Auf der Jamal-Halbinsel quoll die Musik aus den Roten Tschums, den Spitzjurten, den wie Tipis geformten traditionellen Zelten aus Rentierfell, die mit Filmprojektoren und kurbelbetriebenen Grammophonen durch die Tundra unterwegs waren. Diese mobilen Schulen brachten Versorgungsleistungen, darunter tierärztliche und medizinische Hilfe. Zudem fungierten sie als sowjetisches Experiment in Akkulturation.
Die sich nicht am Wandel beteiligen wollten, gingen mit ihrem einheimischen Schamanismus in den Untergrund. Sie wanderten zu entlegeneren Weiden. Da sie sich in dieser Zeit der »galoppierenden Sowjetisierung« — darunter eine Industrialisierung in nie gekanntem Ausmaß — nicht den kollektiven Regeln anpassen wollten, begannen die Nenzen die sowjetischen Handelsstützpunkte zu sabotieren und lehnten sich, so gut es ging, in gemeinsamen Revolten auf; die schlimmsten Jahre der Repression, 1937/38, betrachteten manche Gruppen der Nenzen als Krieg.
Die Abkehr vom Nomadentum führte zu Ziellosigkeit, die schnell in alkoholbedingtes Chaos kippte. Andere wurden vollkommen verführt durch das, was sie sahen und hörten, wie eine Nenzen-Frau, die ich traf; sie beschrieb, wie seltsam diese Besuche durch die Roten Tschums waren, zumindest am Anfang, als sie als Kind auf einem Schirm in einem Zelt einen Panzer auf sich zurasen sah. Sie und die anderen Kinder, erschreckt von dem, was sie nur für Zauber halten konnten, wollten unbedingt hinter den Schirm blicken, um zu sehen, wer oder was diese bedrohlichen Geräusche hervorrief. Die Musik verblüffte sie, bis sie sich nicht nur allmählich an die Neuankömmlinge gewöhnten, sondern sich nach mehr sehnten. Im Klub der Siedlung pflegte dasselbe Nenzen-Kind eine Münze in der Hand zu wärmen und sie an das frostbereifte Fenster zu drücken, als Guckloch im Eis, damit es den Filmen für Erwachsene zusehen konnte. Wie dieses winzige, kopekengroße Loch im Fenster über die Jahre größer wurde — und Russen sehr verschiedener Kulturgeschichten miteinander in Verbindung brachte —, das schien mir eine starke Parabel dafür, was mit Sibirien über Jahrhunderte komplizierter Assimilation geschehen war. Ich war fasziniert davon, und während ich nicht erwartete, in der Tundra einen große Zahl an Klavieren zu finden, wollte ich doch wissen, ob es noch irgendwelche Nachweise gab — selbst bloß einen exzentrischen Sonderfall, um die Phantasie zu fesseln.
Salechard ist die wichtigste Siedlung auf der Jamal-Halbinsel am Rand des Polarkreises. Sie liegt nahe der Mündung des Ob, der längsten Trichtermündung der Welt. Die Halbinsel reicht nach Norden weit hinaus über den Punkt, wo keine Fichten mehr wachsen, wo der zerfranste Rand Nordwestsibiriens in das Arktische Meer ragt. Hier oben ist der Himmel »von einem tiefen Blau, wie ein Wasser-Himmel«; so die Beschreibung durch den Entdecker und Wissenschaftler Fridtjof Nansen, als er 1913 nach Jamal kam. Nansen, berühmt wegen seines 1895 unternommenen Versuchs, den Nordpol zu erreichen, kam über das Meer von Norwegen nach Sibirien, um das Potenzial einer nördlichen Handelsverbindung mit dem sibirischen Binnenland via Arktis zu erforschen. Ich kam mit dem Zug aus Moskau, eine Reise, die auf der letzten Etappe am Rand des Polar-Ural entlangführte.
Als ich Salechard verließ, um noch weiter nach Norden in die Tundra zu fahren, herrschte heftiges Schneegestöber, der Schneesturm trieb in rauchigen Verwehungen dahin, während wir auf einem Amphibienfahrzeug den Ob überquerten. Im Zweiten Weltkrieg waren deutsche U-Boote in diese Gewässer geglitten, während der tollkühnen Operation Wunderland, die zum Ziel hatte, die sibirischen arktischen Seewege zu kontrollieren. Trotz seiner strategischen Bedeutung damals wie heute ist Salechard nach wie vor isoliert. Es gibt immer noch keine Brücke über den Ob zwischen dem Bahnhof in Labytnangi am nördlichen Ausläufer des Ural und Salechard auf der gegenüberliegenden Flussseite. Im Sommer erreicht man Salechard über eine Fähre. Während der Schneeschmelze im Frühsommer, wenn der Fluss von Eisschollen verstopft ist, benutzen die Einheimischen den Hubschrauber.
Je weiter nördlich wir kamen, desto mehr schien die Sonne die Erdoberfläche anzustupsen. Wo der Schnee von gefrorenen Tümpeln weggeweht war, hatte das Eis die Farbe von Zinn. Wir passierten liegengelassene Eisenskelette — von Baggern, Lastautos und Bohrmaschinen, die in den Erdmulden der riesigen natürlichen Gasvorkommen stecken geblieben waren. Als der Tag sich der Dämmerung zuneigte, wirkte das Land immer einsamer. Dies war nicht das »Zukunftsland«, wie Nansen Sibirien nannte; es fühlte sich eher an wie der Beginn der Zeit.
Nansen hatte seine Russlandreise sehr gefallen — das Rot der Sonnenuntergänge, die wogende Fläche des Meeres, die hin und her schießenden Raubmöwen, die über einen bleiernen Ozean glitten. Er beschrieb, wie er dem Wimmern und Summen des Funkgeräts gelauscht hatte, wie das Wasser um Mitternacht gegen das Schiff platschte, was oft als das Geräusch der Brandung an einem illusionären Ufer missverstanden worden war. Zur Unterhaltung hatte er ein Grammophon. Die Nenzen erzählten Nansen, in Salechard hätten sie bessere Musik gehört.
Das stimmte wahrscheinlich, denn inzwischen hatten Klaviere bereits diesen Winkel Sibiriens erreicht; besonders ein Instrument machte Ende des 19. Jahrhunderts eine ungewöhnliche Reise rund um die Jamal-Halbinsel. 1893 spielte eine viktorianische Jungfer namens Helen Peel Klavier für die Matrosen auf der Blencathra, einem britischen Schiff, das 1600 Tonnen Schienen für die neue Transsibirische Eisenbahn transportierte. Das Klavier war mitgekommen, um einen Mr. Popham auf der Geige und einen Mr. James auf der Flöte zu begleiten. Miss Peel, deren ehrgeiziges Ziel, am Nordpol Erdbeeren zu essen, niemals realisiert wurde, kehrte auf dem Landweg durch Sibirien heim, aber das Schiff — und das Klavier — blieben.
Nansen berichtet, wie das zähe kleine Schiff noch etliche Vorstöße in den Jenissei unternommen hatte, bevor es 1912 spurlos verschwand, nachdem es nahe der Jamal-Halbinsel im Eis stecken geblieben war. Vom Schiff oder der Besatzung war ein Jahr lang nichts zu hören. Nansen dachte, es gebe eine winzige Chance, dass es, statt zu sinken, noch im Packeis eingeschlossen sei und irgendwo nördlich des Eismeers dahintreibe. Er hatte keine Ahnung, dass vierzehn Überlebende tatsächlich das Schiff verlassen und eine aus einem seiner früheren Bücher, In Nacht und Eis, abgezeichnete Karte benutzt hatten, um ihren Weg quer über das gefrorene Wasser nachhause zu finden. Nur zwei Männer überlebten diese Reise.
Wo war das Klavier von dem verlorenen Schiff jetzt? Ich stellte mir vor, wie das Instrument in einem Eismeer trieb, wie seine Tasten zwischen einer Schar Seehunde angeschwemmt wurden, die Noten umrankt von den Klick- und Trillerlauten eines Belugawals. Ich fragte mich, ob das Klavier von der Blencathra eines Tages neben dem Ofen in einer Fischerhütte wiederauftauchen würde, oder als ein tonloses Möbelstück, seiner Saiten beraubt, um Schlingen für Polarhasen daraus zu fertigen. Je weiter hinein in die Weiße ich fuhr, desto seltsamer schien es, dass irgendwelche Menschen hier draußen leben wollten. Dann tauchte gegen Ende des Tages am anderen Ende einer glatten weißen Ebene eine Siedlung neben einer Kirche auf.
Die Kirche, die auf einem gedrungenen Hügel stand, war von kleinen, im Cartoon-Blau kalifornischer Swimmingpools gestrichenen Kapellen umgeben. Den Lagerplatz umgürteten eine Gruppe goldener Kruzifixe und ein Saum aus Bäumen. Hier hatte Anna Nerkagi vom Volk der Nenzen, Autorin und Kämpferin für die Rechte der Ureinwohner, eine freie Schule gegründet. Sie kam heraus, um mich zu begrüßen — eine winzige, vogelähnliche Frau, die mir nur bis zur Schulter ging. Hinter ihren weiten Röcken versammelten sich die Kinder, sie trugen aus Rentierfell gefertigte Umhänge mit tütenförmigen Kapuzen und Flicken in Weiß und Braun wie bei einem von Picassos Harlekins. Annas Bruder trug eine Art Tunika und einen dicken Ledergürtel mit einem Messer in einer Scheide und einem Beutel Schnupftabak. Andere Männer in der Gemeinde trugen Pimy, lange, schenkelhohe Fellstiefel, umschnürt mit bunten Bändern und Troddeln. Einige der jüngeren Männer hatten Militärhosen und Trainingsanzüge an.
In den 1990er Jahren hatte Anna Proteste gegen die Invasion des Territoriums der Nenzen durch die Industrie angeführt. Als man Straßen durch Jamal baute, hatten sie Gasfelder und Bohrtürme im Gefolge, die die alten Wanderungsrouten der Nenzen störten. Nun aber hatte sie den Wandel akzeptiert. Aber Anpassungsfähigkeit liegt in der Geschichte der Nenzen; ohne sie hätten sie niemals überlebt. Annas inspirierende Unternehmungen — den jungen Nenzen die herkömmlichen Methoden für ein Überleben in der Tundra beizubringen — sind ihr bester Versuch, ihrem Volk zu helfen, zumindest an einigen der alten Sitten festzuhalten. Sie hilft der Gemeinschaft, durch bescheidenen Tourismus Geld zu verdienen. Und sie ist zudem eine fromme Christin und hat verschiedene Geldquellen angezapft, um die Kirche erbauen zu können.
Wir ließen uns im Tschum nieder, es gab heißen Tee. Anna bot mir in dünne Scheiben geschnittenen gefrorenen Fisch an und Rentierfleisch, so zäh wie Schuhleder. In unserer Unterhaltung herrschte immer wieder bedeutsames Schweigen, während wir uns an die Anwesenheit der jeweils anderen gewöhnten, als warte jede auf jemanden, um das Schweigen zu brechen. Als wir das Essen im Zelt herumreichten — die Frauen saßen auf der einen Seite, die Männer auf der anderen —, fragte ich Anna nach Musik.
»Die einzige Musik, die Sie in der Tundra hören werden«, blaffte Anna, »ist das Pfeifen des Kessels auf dem Feuer.«
Ich war wohl zu abrupt mit meiner Fragerei gewesen und würde eine andere, sanftere Zugangsweise finden müssen. Ich wusste, dass Anna tapfer und von ihren Leuten respektiert war. Ich wusste auch, dass die Nenzen ein klein wenig musikalische Geschichte hatten. Ich hatte gelesen, dass ihre mündlichen Überlieferungen eng an elementare Geräusche gebunden waren — das Knistern von Feuer und Holz, das Sausen des Windes, ein Metallpickel, der ein Loch in einen zugefrorenen See hackt. Ich hatte Aufnahmen von Nenzen gehört, die Vogelgesang imitieren konnten. Als Kinder sangen sie, um bei der Jagd zu helfen. Die Kinder lagen im Schnee, die Füße in der Höhe, um den Vögeln vorzumachen, ihre Beine seien Gänsehälse. Das lockte neugierige Vögel an, die die Männer dann mit Netzen fingen oder abschossen. Musiker in Salechard hatten mir erzählt, wie Gesänge in den Wiegenliedern der Nenzen weiterlebten, in den schamanistischen Ritualen und ekstatischen Riten. In Jamal hatte die Musik eine Rolle im Überleben zu spielen, wie die Anwesenheit eines Freundes. Musik bot eine Möglichkeit, die extreme Monotonie an einem leeren Ort zu ertragen. So wie die Musik es Maria Wolkonski gestattete, während ihres Exils noch die Verbindung zu ihrer urbanen europäischen Kultur zu bewahren, so half der Gesang den Nenzen, sich an dem Teil ihrer Identität festzuhalten, den die Russen nicht zerstören konnten, als sie ihre Überlieferungen angriffen und ihre Schamanen verfolgten.
War das alles verschwunden? Würde ich etwas von ihrer raren Liedtradition hören, die Musikwissenschaftler so sehr fasziniert — eine Tradition, die »keine einzige Spur westlichen Einflusses« aufweist? Wo waren die Zaubertrommeln? Die mit Geweihenden geschlagenen gespannten Rentierhäute? Vielleicht musste ich akzeptieren, dass ich ein Jahrhundert zu spät dran war, dass das Glaubenssystem der Nenzen bereits durch zaristische Missionare und dann durch die heftigen Angriffe des Staates auf die Religion in den 1930ern zerstört worden war. Als ich noch einmal versuchte, Anna nach Musik zu fragen, war sie deutlich: Ihre Gemeinschaft lebte nach den russisch-orthodoxen Prinzipien. Ihrer Meinung nach waren Musik und Tanz Unterhaltungen für faule Städter. Klaviere hier draußen war eine Wunschvorstellung zu viel.
Später, als wir einander langsam besser kennenlernten, führte mich Anna zu einem mit Feuersteinen bedeckten Hügel. Rund um uns erstreckte sich die Tundra, hier aber befinde sich, wie sie meinte, der geheime Eingang zum Tschum, der den Siirten — den Trollen oder zauberischen Leuten — gehörte, welche nach dem Glauben der Nenzen ihre Vorläufer sind. Die Nenzen sagen, sie hätten sie vom Land vertrieben, bis die Siirten sich zurückzogen und unterirdisch zu leben begannen. Gelegentlich kommen sie nachts an die Oberfläche, in einem Nebel oder einem Meerdunst, sonst aber entziehen sie sich. Während ich mich fragte, wie die Siirten, ein wichtiger Bestandteil der Nenzen-Kultur, mit ihrem christlichen Glauben zu vereinbaren seien, erklärte es Anna so: Diese geheiligten Felsen seien Gottes unvollendete Altäre und Kirchen.
Je mehr Anna sich öffnete, desto mehr begann ich zu verstehen, wie die Orthodoxie der Gemeinschaft mit dem Restglauben der Nenzen zu verschwimmen begann, wie der Landschaft eine spirituelle Überlieferung eingeträufelt war, die nicht einmal Stalin auslöschen konnte. Als ich einige Zeit mit Annas Bruder beim Fischen und dann beim Zusammentreiben der Rentiere verbrachte, war das, als könne er die Landschaft auf eine andere Art lesen als andere, die ich in Sibirien kennengelernt hatte. Er führte mich zu einem Felsabbruch am Anfang eines weiteren Tals.
»Ich war am Ende der Welt«, sagte er und beschrieb Fahrten nach Norden zur Kara-See, »aber in Moskau war ich nie.«
Ein Nenzen-Junge hatte mir gesagt, die Siirten seien riesig, hätten ein weißes Fell und grimmige Zähne. Annas Bruder aber meinte, nein, die Siirten seien klein.
Ich fragte ihn, ob er mir die Widersprüche zwischen Schamanismus und der Präsenz der Kirche erklären könne, zwischen der Musik, die der Nenzen-Kultur gehört, und der russischen Kultur, die sich darübergelegt hat. Ich wollte wissen, wann die Siirten zum letzten Mal gesehen worden waren.
»Da fragen Sie am besten Anna«, meinte er. »Meine Hauptbeschäftigung sind Fischen und Rentiere.«
Wie absurd es war, unter diesen Leuten ein Klavier anzutreffen, wurde mir klarer, je mehr ich von der Lebensweise der Nenzen erfuhr. Es war nicht nur Annas Version der russischen Orthodoxie, die Instrumentalmusik und Tanzen verbot; dass sie fehlten, war ein echter Bestandteil der ursprünglichen Kultur der Nenzen. Angesichts der kargen Verhältnisse, unter denen sie in einem so brutalen Klima lebten, war es vollkommen logisch, dass es keine Instrumente gab. Die Nenzen ernten nicht mehr, als sie essen, und besitzen nicht mehr als das, was sie verwenden.
In meiner letzten Nacht im Camp lauschte ich den Kirchenglocken — die einzige Musik, die ich in drei Tagen gehört hatte. Als ich außerhalb des Baumrings ging, war alles in Weiß gehüllt. Schwer zu sagen, ob die buckeligen Hügelchen Hunde waren oder Schlitten oder Steinhaufen oder Gräber der Siirten. Die Tundra trug eine Haut aus Eis, sie verhüllte das Leben unter der Oberfläche. Ich sah der Sonne beim Sinken zu. Bald färbte der Himmel sich schwarz, bis auf das Glitzern und Pulsieren ferner Sterne. Die Kirchenglocken hörten zu läuten auf. Das Getrappel verklang. Ein Schimmer von grünem Licht erschien, und über der Ebene begann die Aurora borealis zu zucken.
Die Sterne wechselte ich gegen Straßenlaternen aus, als ich nach Salechard zurückkehrte, um den Komponisten Semjon Nyaruy, einen Angehörigen der Nenzen, aufzusuchen. Wie Anna war er ein Aushängeschild der Nenzen-Kultur, ein Mann, dessen ausdrucksstarke, synkopierte Gesänge die Nenzen von jedem Gefühl der Scham über ihre heimatliche Sprache oder ihr kulturelles Erbe befreiten. In den 1960ern führte ihn seine Begabung an das St. Petersburger Konservatorium. Seine Lieder wurden im ganzen Land über die Radiostationen übertragen. Und er besaß auch ein Klavier, das hatte man mir zumindest gesagt.
Semjon war, als wir uns trafen, schon sehr alt und lebte mit seiner Frau in den Außenbezirken der Stadt in einem Holzhaus mit Blick auf die Tundra. Als ich an die Tür klopfte, sah er gerade fern. Er saß auf dem Hocker neben seinem alten Klavier, einem mit der russischen Flagge bedeckten Tjumen-Pianino, Seriennummer 31116. Semjon war zu schwach, um aufzustehen, seine Fragilität war unter einem violetten Seidengewand (einer Maliza, wie es in der Nenzen-Kultur heißt) mit Polarfuchsmanschetten kaum verborgen. Er hatte einen Bart wie Lenin, der zu seinem spitzen Gesicht passte, und einen kahlen Fleck auf dem Kopf, wie die Tonsur eines Mönchs. Seine Augenbrauen waren stark gewölbt, seine arthritisch aussehenden Hände zitterten heftig. Seine Frau brachte Tee und Süßigkeiten, während Semjon mit einem schwarzen Hündchen auf seinem Schoß spielte.
Er liebte Hunde. Als Junge in der Tundra habe er acht gehabt, erzählte er. Er sprach über das Instrument, auf dem er im Internat gespielt hatte, wo er seine Nenzen-Sprache nicht gebrauchen durfte. Er hatte Mühe mit Mathematik und Russisch, aber als man merkte, dass er das absolute Gehör besaß, erhielt er einen Platz in einem Musikgymnasium in Tjumen. Er erzählte von seiner Mutter, die gestorben war, als er zwölf war. Sein Vater, ein Parteimitglied, hatte die Roten Tschums auf einem Schlitten durch Jamal transportiert, hatte sie für von der Regierung entsandte Ärzte, Lehrer und Filmvorführer aufgebaut.
»Ich habe im Roten Tschum Beethoven gehört«, sagte Semjon. »Beim Beethoven-Hören ging ich auf in dieser Musik.«
Semjon beschrieb den Projektor, die Bücher, die Porträts von Lenin und Stalin, die sein Vater in Jamal herumfuhr. Sein Vater war ein wunderbarer Sänger. Ein Klavier gab es nie, meinte Semjon; es hätte zwanzig Rentiere gebraucht, um ein Klavier durch die Tundra zu ziehen.
Semjons Frau, die jedes Lied, das er jemals komponiert hatte, auswendig konnte, war Linguistin, Spezialistin für die Nenzen-Sprache.
»Wie unsere Musik reichen auch unsere Worte tief in uns hinein«, sagte sie. »Unsere Sprache ist wie das Zellgedächtnis. Wir haben viele Worte für Schnee und Wind, aber keine für Physik.«
Semjon hörte auf, unserer Unterhaltung zu folgen, als die Außentür auf und wieder zu ging. Ich fragte ihn, ob Musik zur Tundra gehöre. Er blickte auf.
»Sie sollten die Sonne fragen, wie der Sauerstoff entstand«, sagte er.
Eine Minute oder so verging. Semjon wirkte erschöpft. Dann aber kam sein Sohn ins Zimmer, und ein Lächeln brach auf in seinem Gesicht.
Ich fragte Semjon, ob sein erstes Instrument das hinter ihm gewesen sei und ob er eines seiner Lieder spielen würde.
»Meine Finger hören nicht auf mich. Und mein Kopf ebenso wenig«, sagte er.
Nachdem sein Sohn ihn sachte gedrängt hatte, erklärte sich Semjon bereit, etwas zu singen. Sie trugen eine seiner Kompositionen vor — Mutter, Vater und Kind in melodischem Einklang, ihre Körper verbunden in einem engen Triptychon, wobei Semjon auf dem Klavierhocker saß. Manchmal schien er einen Takt nachzuhinken. Manchmal vergaß er die Worte. Manchmal lenkte ihn das Hündchen ab. Dann reichte ihm seine Frau ein Rentier aus Porzellan, das er mit beiden zitternden Händen ergriff. Seine Brust hob sich kühn. Hey, hey, hey, rief er, halb singend, halb rufend, und seine Hände hielten das Zierstück hoch wie ein Priester eine Ikone. Er bot seinen Nenzen-Gesang dar — halb Klage, halb fröhliche Feier, nichts Vertrautes oder Europäisches in der Melodie —, als wolle er allen mitteilen, dass die Tundra die Seele des Planeten sei.
Semjon ließ sich allerdings nicht überreden, auf dem Klavier zu spielen, ein Instrument, das ihm zum ersten Mal im Internat untergekommen war. Er meinte, das Tjumen sei verstimmt. Stattdessen sprach er über ein deutsches Instrument aus Berlin, das er vor vierzig Jahren gekauft hatte. Er liebte es, wie jede Note lange in der Luft verklang. Seine Frau sagte, sie glaube, das deutsche Klavier sei aus dem Theater in Salechard gekommen, demjenigen für die Eisenbahnbauarbeiter der Linie 501. In den Neunzigern hatte sie es als Unterrichtsinstrument einer lokalen Musikschule weitergegeben.
Es war ein sonderbarer Moment: Auf der Suche nach einem Klavier, das die Kraft der Lieder eines indigenen Volkes in sich trug, war ich tatsächlich auf eine ganz andere Geschichte gestoßen. Die Polarkreiseisenbahn, genannt Nummer 501, war einer der berüchtigtsten »weißen Elefanten« des Stalin-Regimes; 1947 hatte der Diktator den Bau einer neuen Bahnlinie von Salechard im Westen nach Igarka einige Tausend Kilometer weiter östlich am Polarkreis angeordnet. Es war ein brutales Vorhaben — Teil des von Stalin so genannten Großen Plans zur Umformung der Natur —, und es führte durch tückisches arktisches Gebiet.
Um die Arbeitskräfte bereitzustellen, zu denen 1950 etwa zehntausend bezahlte Arbeiter gehörten, wurden Zehntausende Häftlinge aus den Gulags geholt. Im Juli dieses Jahres betrug die Gesamtzahl der Gefangenen beim Eisenbahnbau geschätzte 75.000 — meist »Politische«, darunter Ingenieure, Lehrer, Wissenschaftler, Komponisten, berühmte Musiker und japanische Kriegsgefangene. Für Extraarbeit wurde Zeit vom Strafausmaß abgezogen, und so fühlten sich die Bautrupps ermutigt, die Gleise mit dünnen Bäumen statt Steinen abzustützen, um den Arbeitsfortschritt zu beschleunigen. Binnen zwei Jahren arbeiteten dort Trupps von bis zu 1500 Häftlingen aus nicht mehr als ein paar Kilometer voneinander entfernten Lagern. Neben Hungerrationen und klirrendem Frost gab es auch noch Fälle, wo Gefangene mit unfassbarem Sadismus gequält wurden. Ein Geologe, den man fälschlich beschuldigte, einer Gruppe Flüchtlinge Informationen über die Gegend geliefert zu haben, wurde mit Draht umwickelt an eine Birke gebunden, zuerst von Ameisen und dann von bösartigen Mücken attackiert, bis er schließlich das Bewusstsein verlor.
Am Höhepunkt der Arbeiten im Frühjahr 1953 wurden jeden Monat bei Temperaturen an die minus fünfzig Grad zwölf Kilometer Schienen gelegt. Wenn die Arbeiter dicht aneinandergedrängt schliefen, um sich zu wärmen, froren oft ihre Haare an der Haut des Nachbarn fest. Vorhutarbeiter bereiteten Betten im Schnee, Zweige dienten als Matratzen. Gefrorenes Brot wurde mit Sägen geschnitten wie ein Stück Holz. Als Stalin starb, waren so viele Tausende Arbeiter beim Bau von Linie 501 umgekommen, dass man die Strecke in »Tote Trasse« umbenannte. Sein Plan wurde aufgegeben, es fehlten nur noch ein paar Hundert Kilometer.
»Wissen Sie, wovon ich jetzt träume?«, sagte Ljudmila Lipatowa, eine Historikerin aus Salechard, die 1988 begann, diese Ereignisse zu recherchieren. »Von einer Brücke über den Ob, so könnte man die Bahnlinie, die sich Stalin wünschte, vervollständigen. Es war ein Verbrechen, solch einen Bau nach dem Großen Vaterländischen Krieg anzufangen, als unsere Lage so war, wie sie eben damals war. Aber aufhören, wenn das Ende so nahe war? Das war ein noch ärgeres Verbrechen.«
Ljudmila hatte Überlebende befragt, die beim Eisenbahnbau gearbeitet hatten, und Zeugnisse für extreme menschliche Widerstandsfähigkeit gefunden. Ein griechischer Dichter studierte höhere Mathematik und schrieb die Ziffern in den Schnee. Aus etwa zweihundert Gefangenen wurde eine reisende Künstlertruppe zusammengestellt, darunter Bühnenbildner, Sänger, Balletttänzer. Es gab auch ein vierzigköpfiges Symphonieorchester. Dazu gehörten von den Nazis in Stalingrad gefangen genommene russische Musiker, Kriegsgefangene, die auf Befehl von Propagandaminister Joseph Goebbels in Lagern in Deutschland aufspielen mussten. Nach ihrer Befreiung ließ Stalin diese Soldaten der Roten Armee als Verräter verhaften und zur Eisenbahnlinie 501 schicken.
Mit einer billigen Karte um dreißig Kopeken konnte es sich jeder leisten, eine reisende Operette zu hören. Der Bauleiter der Eisenbahn hielt das Theater für notwendig, um die Stimmung in der dunklen Polarnacht zu heben — nicht nur die seiner Arbeiterschaft, sondern auch die der freien arbeitenden Menschen im Hohen Norden. Er suchte um die Entsendung einiger der besten Musiker aus den anderen Gulags an, darunter ein Dirigent der Oper von Odessa, Pianisten und diverse Sänger, die er namentlich kannte.
Wären da nicht der Stacheldraht, die Wachtürme und der Gefängnisjargon gewesen, die Aufführungen der Truppen wäre so gut gewesen wie solche in der Hauptstadt, bemerkte einer der Künstler, der sich an den Klang von Walzern erinnerte, die im Licht der Gefängnisscheinwerfer über die arktischen Sümpfe wehten. Wenn in dieser Bemerkung eine finstere Ironie liegt, dann ist es schwer, die verzweifelten Tiefen herauszuspüren angesichts der komplizierten Nuancen, der Zensur und Angst vor Vergeltungsmaßnahmen (die Musiker erwähnten auch die besseren Lebensbedingungen, deren sie sich erfreuten, und saubere Laken). Ljudmila beschrieb, wie die Ensembles mit ihren Instrumenten durch die ganze Region reisten, die Ladefläche ihrer Lastautos diente als Konzertbühne. Wenn die sommerliche Schneeschmelze kam, fuhren sie flussaufwärts und spielten in einigen Dutzenden Baulagern an den immer weiter verlegten Schienen. Sie traten auch in Salechard auf, das Repertoire wurde auf zwei wichtigen Bühnen vorgeführt: im Haus der Kultur, einem sowjetischen Gemeindesaal für Kunstunterricht und Unterhaltung, und einer Bühne bei der lokalen Fischfabrik. In einer dieser festen Spielstätten müsse es ein Klavier gegeben haben, meinte Ljudmila. Sie fungierten wie städtische Veranstaltungsorte und brachten Vorführungen für die freien Leute von Salechard.
Ich rief bei den Musikschulen in der Stadt an, aber es gab keine Spur des deutschen Instruments, an das sich Semjons Frau erinnerte. Nachweise der Polarkreiseisenbahn waren beinahe alle verschwunden. Ljudmila fuhr mich zu einer Gruppe zusammensackender Gebäude auf der anderen Seite der Stadt. Sie zeigte mir die alten Baracken der Eisenbahnarbeiter. Gehen Sie hinein, drängte sie, und spüren Sie, was Salechard früher war.
Ich betrat einen langen, nasskalten Gang. Er war fensterlos, die nackte Erde bedeckte ein Holzrost. Vor einer verschlossenen, teilweise zum Abhalten der Kälte mit Filz überzogenen Tür standen zwei mit Wasser gefüllte Ölfässer. Über ihnen schlängelten sich Elektrokabel. Von der Decke blätterte die Farbe ab. Die Wände aus im Fischgrätenmuster verlegtem, verputztem Holz wölbten sich nach innen. Ich klopfte an die Tür am Ende, und ein schwer atmendes Paar ließ mich ein. Zwei winzige Räume, kaum ein Fenster, drei Katzen, ein Hund, ein Fernseher, ein kleiner Tisch, an dem eine Person sitzen konnte, wenn man das Bett zur Seite rückte, und ein Wandteppich. Sie wollten nicht, dass ich fotografierte. Es waren Leute, die ich nicht einordnen konnte — Ukrainer, Zentralasiaten, Nenzen, ich war mir nicht sicher.
»Wenn Sie Menschen verstehen wollen, müssen Sie tiefer bohren und lange unter ihnen leben«, sagte Ljudmila. »Als ich nach Salechard kam, waren die Geschichten so dicht wie ein Wald. Ich begann nachzuforschen und fand mich bei dem Gedanken ertappt: Wer sind wir Russen? Warum kennen wir unsere Wurzeln nicht? Wir kennen die Namen griechischer Götter, aber nicht unsere eigene slawische Geschichte. Aber Leute wie die Nenzen wissen mehr: Ihre Geschichten reichen weiter zurück. Sie wissen, warum die Wälder und die Sonne eine Seele haben.«
»Ich bin orthodox, bin gläubig«, sagte sie, »aber wir alle sind aus dem Heidentum entsprungen. Ich glaube, wir werden alle wieder hineinwachsen. Wir werden zur Natur zurückkehren, um die Tiefe dessen zu verstehen, was geschieht und was sein wird.«
In einem anderen Ortsteil von Salechard führte mich Ljudmila zu einer Stelle, an der es noch ein paar übrig gebliebene Bahnschwellen der Linie 501 zu sehen gab, die zum Vorschein kamen, als sie mit dem Fuß den Schnee wegschob. Dieser Flecken Geschichte, der nichts von dem epischen Gram rund um diese Eisenbahn verriet, fühlte sich an wie eine schonungslose Moral, die sich bereitwillig mit dem schieren Gegenteil von Musik einließ. Ich war mit Erinnerung und Unterdrückung konfrontiert und der Einsicht, dass, auch wenn mein Wunsch noch so stark war, meine Klaviersuche möge alles hervorheben, was an Sibirien großartig war, doch vieles von dem, wonach ich suchte, mit einer erschreckenden Vergangenheit verbunden war. Ich musste die Warnung beherzigen, die mir ein mutiger russischer Journalist zu Beginn meiner Suche gegeben hatte: Sie müssen wissen, warum Sie Dinge ignorieren, die Sie nicht hören wollen, was erinnernswert ist und warum die Leute verstummen und zu vergessen versuchen.