Das Wort Metronom kommt vom griechischen metron, Maß, und nomos, Regel oder Gesetz. Es ist ein Instrument der Zwangsläufigkeit, das Maß eines Musikers für die Zeit. Während der Belagerung von Leningrad, die von September 1941 bis Januar 1944 dauerte, beinahe neunhundert Tage, brachten die sowjetischen Behörden in den Straßen der Stadt Hunderte Lautsprecher an. Musik war eine Methode, die Moral der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Sie sendeten auch das Tick-Tack eines Metronoms, zuerst als Signal für einen Luftangriff, der Takt wurde mit dem Annähern des Feindes schneller, dann, um die Stille in den Programmpausen zu füllen. Für die Leningrader nahm der Rhythmus des Metronoms, so lautete ein gut dokumentierter Spruch, die Bedeutung eines Herzschlags an.
Bei vielen, welche die Belagerung Leningrads durchlebten, gewöhnte sich das Gehör, als die Ausgangsverbote in Kraft traten, an eine andere Klanglandschaft, an das Brüllen und Kreischen der feindlichen Bombenangriffe und die Stille, die mit Tod und Auszehrung kommt. Die sowjetische Dichterin Vera Inber meinte, die Leningrader seien so feinhörig geworden, dass sie die Geräusche eines Luftangriffs auseinanderhalten konnten wie die Orchesterstimmen in einem Tschaikowsky-Konzert. Eine andere Tagebuchverfasserin, eine fünfzehnjährige Studentin am Leningrader Konservatorium, beschrieb, wie sie über die Innereien eines O-Busses hinweg in ihre schadhafte Wohnung stieg, wo ihr Flügel in einem kalten Zimmer stand: »Musik macht mich furchtlos; Granatsplitter regnen auf das Dach, aber ich spiele. Der Verputz beginnt herabzufallen, doch ich gebe mich der Melodie hin.«
Für den Komponisten Dmitri Schostakowitsch mag die Erfahrung der Belagerung kurz gewesen sein — die Blockade begann am 8. September 1941, Schostakowitsch verließ die Stadt im Oktober —, aber sie half ihm, seine Reputation nach der desaströsen Kritik an der Lady Macbeth von Mzensk — »Chaos statt Musik« — vollkommen wiederherzustellen. Schostakowitschs berühmte, aufwühlende und patriotische Siebte oder Leningrader Symphonie war Musik, die auf der ganzen Welt die Menschen tief berührte: »Ihr Lied erzählt uns von einem großen singenden Volk jenseits von Niederlage oder Eroberung, das über die noch kommenden Jahre seinen Beitrag zu dem liefern wird, was menschliche Freiheit bedeutet«, schrieb der amerikanische Dichter Carl Sandburg. Als Beitrag zur psychologischen Kriegsführung war sie brillant — eine Visitenkarte für die UdSSR über die Dringlichkeit ihres Kampfes gegen den Vormarsch der Faschisten. Sie benutzte Musik als politische Kriegswaffe, genauso wie die Nazis im deutschen Rundfunk ihre Siege durch eine Passage aus Liszts Les Préludes anzukündigen pflegten.
»Meine Waffe war Musik«, schrieb Schostakowitsch. »Ich saß an meinem Klavier und arbeitete, rasch und intensiv. Ich wollte ein Stück über unser Leben schaffen, über diese Tage, über das sowjetische Volk, das um des Sieges willen alles zu tun bereit war.« Das Moskauer Bolschoi-Orchester, das vor dem Vormarsch der Nazis evakuiert worden war, spielte die Uraufführung der Symphonie am 5. März 1942 in Samara. Dann wurde die Partitur nach Moskau geflogen, wo drei Wochen später eine weitere Aufführung folgte. Irgendwann gegen Ende des Frühjahrs wurde sie dann auf Mikrofilm in einer heroischen Evakuierungsroute via Teheran, Kairo und Casablanca aus dem Land und dann nach London und New York gebracht. Als die Symphonie am 19. Juli 1942 in den USA erstaufgeführt wurde, wurde Schostakowitsch zur internationalen Sensation, und der stürmische Empfang des Komponisten brachte ihn auf die Titelseite von Time.
Aus dem belagerten Leningrad selbst, das wussten die sowjetischen Behörden, würde diese Musik am grandiosesten klingen. Doch es gab nur noch ein Ensemble, das dieses ungeheuer anspruchsvolle Werk aufführen konnte. Das beste Orchester der Stadt, die Leningrader Philharmoniker, war bereits nach Nowosibirsk evakuiert worden und hatte eine ausgehungerte Alternative von geringerem Rang zurückgelassen. Das Leningrader Rundfunkorchester umfasste vor dem Krieg hundert Personen. Am Ende des Winters 1942, als man die Order erteilte, es neu aufzustellen, bot die Liste der Mitglieder eine trostlose Lektüre: Zahlreiche Namen von Musikern waren durchgestrichen (man wusste von ihrem Tod), andere rot markiert, also dem Tod nahe. Bei der ersten Probe erschienen weniger als zwanzig, und so beriefen Militärkommandanten Soldaten von der Front ab, um die Zahl voll zu machen. Ende Juni wurde Schostakowitschs Partitur per Flugzeug in das belagerte Leningrad gebracht, und das improvisierte Orchester, das mehrere Lagen Kleidungsstücke übereinander trug, was ein Mitglied als »angezogen wie Kohlköpfe« beschrieb, begann zu proben, so gut es eben ging.
Der Trommler starb auf dem Weg zur Arbeit, Blasmusiker fielen aus Nahrungsmangel in Ohnmacht; manchmal wurden Musiker mitten aus den Proben geholt, um Feuer zu löschen. Als endlich ein Datum für die Premiere in Leningrad festgelegt war, nahm die sowjetische Artillerie deutsche Geschützstellungen in Reichweite der Philharmonie, wo die Aufführung stattfinden sollte, unter Beschuss, um sicherzustellen, dass die Nazi-Bomber die Musik nicht stören würden. In der Stadt waren bereits 1700 Lautsprecher angebracht; vor der Aufführung wurden noch mehr montiert, um die Musik über die deutschen Stellungen hinweg auszustrahlen.
Im schwindenden Nachmittagslicht des 9. August 1942 verfiel die hungrige Bevölkerung der Stadt in Schweigen; es war einer der dramatischsten Augenblicke in einem unvorstellbaren Krieg. »Wir waren überwältigt von der Zahl an Menschen, dass so viele nach Nahrung, aber auch nach Musik hungerten«, sagte der Posaunist. »Einige waren im Anzug gekommen, andere von der Front. Die meisten waren mager und unterernährt.« Als es vorüber war, lauschten nicht nur die Leningrader, sondern auch deutsche Soldaten an der Frontlinie dem halbstündigen stehenden Applaus, den ein auf den Knien liegendes Volk spendete.
Während Leningrad litt, ging es Nowosibirsk — der De-facto-Hauptstadt Sibiriens, ungefähr nach einem Drittel der Strecke zwischen Moskau und Wladiwostok gelegen — wesentlich besser: Es wurde nicht bombardiert und konnte daher während des Krieges als eine Art sicherer Unterschlupf in Sibirien dienen. Das einstige »Chicago der Sowjetunion« besitzt immer noch das — unter Stalin in den 1930ern erbaute — größte Opernhaus Russlands. Das sogenannte »sibirische Kolosseum« beherrscht einen leeren, mit sowjetischen Statuen behübschten Platz. Die Kuppel, beinahe zweimal so groß wie die Kuppel von St. Paul’s in London, ragt aus der Silhouette der Stadt. Das Gebäude mag nicht schön sein — die hohen Säulen an der Fassade und die verkümmerten Betongiebel scheinen keinem Gesetz klassischer Harmonie zu unterliegen —, aber seine Intention ist nicht abzuleugnen. Seine Architekten hatten ein so gigantisches panoramaartiges Theater konzipiert, dass man oberhalb des Orchestergrabens eine ganze Reihe Panzer aufstellen, und die Dimension war derart, dass sowjetische Traktoren von der Straße direkt auf die Bühne fahren konnten. Die ursprüngliche Ausstattung war ebenso extravagant: Kristallluster, rote Samtvorhänge, imitierte römische Statuen und viktorianische Nippsachen. Laut Gerüchten unter den Einheimischen befand sich im Keller auch einer von Stalins Bunkern.
Um dieses Mammutprojekt vollenden zu können, lieferten die Kriegsfabriken in Nowosibirsk, von denen viele aus dem europäischen Russland evakuiert worden waren, spezialisierte Kenntnisse, auch Luftfahrtexperten, welche die Mechanik für den neunzig Tonnen schweren eisernen Vorhang zusammensetzten, der aus dem Boden hochfuhr und sich schloss, als würde ein Krokodil seine Kiefer zusammenschnappen lassen. Die Oper von Nowosibirsk wurde eines der bis dahin kühnsten, trotzigsten Exempel sowjetischer Ambitionen. Während die Oper gebaut wurde, kamen mehr als 24 Millionen Russen, Soldaten wie Zivilisten, im Großen Vaterländischen Krieg ums Leben. Genügend Tote, um jede Eintrittskarte für den Zuschauersaal beinahe 20.000 Mal zu verkaufen, was einem 55 Jahre lang vollbesetzten Haus entsprach.
Das Opern- und Ballett-Theater von Nowosibirsk, offiziell am 12. Mai 1944 eröffnet, barg noch eine weitere Schicht historischer Bedeutung: Dorthin wurden während des Vormarschs der deutschen Wehrmacht aus Sicherheitsgründen auch die großen Kulturschätze der UdSSR, Instrumente eingeschlossen, evakuiert. Das Opernhaus wurde als das wichtigste Lager für einige der größten Kunstwerke in russischem Besitz, darunter Ikonen, Gemälde und Musikinstrumente, genutzt, die von der Moskauer Tretjakow-Galerie, dem Leningrader Schloss Pawlowsk und der Eremitage hierhergeschickt wurden.
Es wurde in aller Eile gepackt: an die dreitausend Objekte aus der Tretjakow-Galerie, darunter die Saiteninstrumente, die nach der Oktoberrevolution so enthusiastisch gesammelt worden waren. Die größten Bilder auf Leinwand wurden zusammengerollt, darunter Wassili Surikows berühmtes, aus dem 19. Jahrhundert stammendes Gemälde der Altgläubigen und Märtyrerin Bojarina Morosowa, die in den Ketten einer Verbannten nach Sibirien geschleppt wird. Die Sammlung wurde in Eisenbahnwaggons mit Ziel Sibirien verladen, dann folgten weitere zweitauend Werke und fünfzig Museumsangestellte mit ihren Familien.
Da die Einkesselung durch die Wehrmacht so rasant vor sich ging, war die Evakuierung der Kunstwerke aus dem belagerten Leningrad noch dringlicher. Während sich die Schlinge zuzog, wurde der Palast von Pawlowsk — ein Zentrum der Musikkultur in Russland seit dem 18. Jahrhundert — zur Zielscheibe für die deutschen Geschütze. Die Museumsbediensteten vergruben, was sie konnten, auf dem Grundstück. Die Leningrader umhüllten die porzellanene Toilettengarnitur, die Marie Antoinette den Romanows geschenkt hatte, mit frisch geschnittenem Gras. Zerbrechliches wurde in die Gewänder der Kaiserfamilie eingeschlagen. Ein Mitglied des Schlosspersonals machte Skizzen davon, wie das Interieur ausgesehen hatte, bevor man es verließ, auch von den Vorhängen am Himmelbett des Zaren. Unschätzbare Kunstwerke, die zu schwer für den Transport waren, wurden stehengelassen, darunter Maria Fjodorownas Clementi-Konzertpianino aus dem späten 18. Jahrhundert.1
Es war Andrej Schdanow, Gebiets- und Stadtsekretär der Parteiorganisation Leningrads und Stalins vorgesehener Erbe, von seinen Rivalen aufgrund seiner musikalischen Fähigkeiten und seines Ehrgeizes in Sachen Kultur spöttelnd »Der Pianist« genannt, der den Befehl erließ, die historischen Schätze der Stadt wegzuschaffen. Als der erste Museumszug am 1. Juli 1941 aus Leningrad abfuhr, war er zum Bersten voll. Ein paar Wochen später fuhr ein weiterer Zug aus gepanzerten Waggons mit mehr als siebenhundert Objekten aus der Eremitage aus Leningrad ab, dazu 42 Kisten aus Pawlowsk, darunter »Kiste 63« mit dem kostbaren Piano anglais von Zumpe aus dem Jahr 1774, das Katharina der Großen gehört hatte.2
Bis November wurde das Zumpe-Klavier in Gorki außerhalb von Moskau aufbewahrt, es stand unter Bewachung in einer Kirche. Als die deutschen Flugzeuge wieder näher kamen, wurde es zuerst nach Tomsk und dann nach Nowosibirsk evakuiert; der Zielbahnhof jedes Zuges wurde den Museumswärtern erst mitgeteilt, wenn der Konvoi sich dem jeweiligen Bahnhof näherte. Auf der langen, zwei Monate dauernden Eisenbahnfahrt durch Sibirien hatte man es mit widerspenstigen Bahnarbeitern, brutalen Wetterbedingungen und einem durch einen Ofen ausgelösten Brand zu tun. Um den Bombenangriffen zu entgehen, versteckte man eine Ladung zwei Wochen lang auf einem Abstellgleis in einem Wald. Ein weiterer Angriff, direkt gegen den Zug mit dem Zumpe-Flügel gerichtet, ließ die Museumsmitarbeiter in Deckung rennen. Trotz all dieser Gefährdungen wurde Katharinas kostbares Tafelklavier schließlich im Dezember 1941 in Nowosibirsk ausgeladen; es herrschte grimmiger Winter mit Temperaturen um die minus 55 Grad.
Im Opernhaus von Nowosibirsk blieb das Zumpe-Klavier dann bis Kriegsende, man betreute es im selben halbfertigen Gebäude, in dem sich die Museumsangestellten über zwei Jahre lang einrichteten. Die Angestellten der Tretjakow-Galerie waren in einem Schlafsaal in den Schminkräumen untergebracht. Die Arbeiter aus Pawlowsk belegten den Keller, wo sie auf einem der Teppiche schliefen, die aus einem der letzten Domizile der Romanows geholt worden waren.
Die Evakuierungspläne waren beinahe perfekt durchgeführt worden, darunter auch der sichere Transport von Jewgeni Mrawinski, dem Chefdirigenten der Leningrader Philharmonie, nach Nowosibirsk. Wie die Kunstwerke machten auch Mrawinski und sein Orchester eine Reise mit vielen Umwegen, um den feindlichen Bombenangriffen zu entkommen; am 4. September 1941 erreichten sie mit ihren Instrumenten Nowosibirsk. Mrawinski reiste mit seiner Mutter, seiner Frau und einigen Hauskatzen.
In den nächsten drei Jahren spielten Mrawinskis Leningrader Philharmoniker in ihrem sibirischen Exil mehr als fünfhundert Konzerte, und der Radiosender der Stadt übertrug ihre Musik in ganz Russland. Manchmal traten sie im noch nicht fertiggebauten Opernhaus von Nowosibirsk auf. Die Philharmoniker fuhren auch in verschiedene sibirische Städte, wo der Standard der Konzerte, so Mrawinski, den Aufführungen in Leningrad ebenbürtig war. Darunter das größte Ereignis von allen: die Aufführung von Schostakowitschs Leningrader Symphonie am 9. Juli 1942. Der Komponist war nach Sibirien gekommen, um ihr beizuwohnen; er ging direkt vom Bahnhof zu Mrawinski. Ergriffen von patriotischem Furor, stellten die Museumsangestellten eine Ausstellung zusammen mit dem Titel Vor den Deutschen gerettete Kostbarkeiten, eine Auswahl der hervorragenden, in Sibirien verwahrten Kulturschätze Russlands.
»Keines der Orchester, die meine Werke aufgeführt haben, hat eine so vollkommene Verwirklichung von dessen Gedanken zustande gebracht«, schrieb Schostakowitsch über die Leningrader Philharmoniker im Exil. Ein Artikel in der Zeitung Sowjetisches Sibirien beschrieb den angsterfüllten Schrecken in der Musik und wie tief drinnen eine Art tierisches Heulen zu hören sei. Schostakowitsch war ziemlich angetan von dem Resultat: »Weit entfernt, mitten in Sibirien, fühlte man plötzlich so viel von dem Leningrader Milieu, mit dem man so vertraut war und das man so sehr vermisst. Während der Proben und Konzerte durchlebte ich wieder diesen schöpferischen Prozess — diese edle Musikkultur, die so charakteristisch ist für die Stadt Lenins.«
Diese edle Musikkultur. Der Konzertflügel, den die Leningrader Philharmoniker in den Jahren der Belagerung verwendeten, das wäre ein besonderer Fund gewesen — ein Klavier, das Musik als Ausdruck von Mut und Trotz verkörperte. Wenn das echte Instrument noch existierte — dasjenige, das in einem zwei Sekunden dauernden Aufblitzen eines Klavierdeckels in einer körnigen Filmaufnahme zu sehen und als Begleitung des berühmten Glasunow-Quartetts der Philharmoniker beschrieben worden war —, dann schien eine der wahrscheinlichen Möglichkeiten die, dass es ein Steinway-Konzertflügel aus dem 19. Jahrhundert war, Seriennummer 45731, der ungenutzt in einem Orgelraum des Konservatoriums in Nowosibirsk stand. Instrumente wie dieses sind nicht alltäglich in Sibirien, sagte meine Quelle, Wladimir Birjukow, Präsident der Gesellschaft der Klavierstimmer Sibiriens und Chefklavierstimmer bei den Philharmonikern von Nowosibirsk. Er glaubte, der Steinway sei mit oder für Mrawinskis Leningrader Philharmoniker zum ersten Mal nach Sibirien gekommen. Seine Schlussfolgerung war einfach: Das Klavier war zu auffällig, als einen anderen Zweck gehabt zu haben, den wichtigsten Aufführungsorten und Künstlern der damaligen Zeit zur Verfügung zu stehen.
Ich versuchte diese Geschichte nachzuvollziehen und kontaktierte die Leningrader Philharmoniker sowie die Archivare von Steinway in New York. Anhand der Seriennummer hieß es von Steinway, das Klavier sei ein ikonisches Modell C mit Beinen im deutschen Stil, fertiggestellt am 16. Mai 1881 und ohne die endgültige Lackierung nach Hamburg verschifft, darauf am 24. Februar 1882 zum Vater von Sergei Rachmaninows Verleger, A. B. Gutheil, in Moskau. Und dann verlief sich die Spur: Anscheinend wusste niemand, wie oder wann es in Sibirien gelandet war. Es gab nur einen Mann, der etwas mehr Licht in die Angelegenheit bringen konnte: ein Klavierstimmer mit Namen Igor Lomatschenko. Man hatte mir gesagt, er sei sehr beschlagen und habe im Keller des Opern- und Ballett-Theaters von Nowosibirsk einen ganzen Raum voller Instrumente.
Ich kam am Tag Epiphanias in der Stadt an, einem Feiertag im Januar, den die Russen dadurch begehen, dass sie in ins Eis gehackte Löcher in zugefrorenen Seen und Flüssen steigen. Unten am Ob herrschte festliche Stimmung. Stämmige sibirische Männer, denen die Bäuche wie Teig über den Hosenbund quollen, hatten sich in einer Reihe aufgestellt, um ins Wasser zu steigen und von einem Priester den Segen zu empfangen. Einige Frauen trugen Bikinis, andere hochgeschlossene lange Nachthemden. Mit Hängebrüsten und verschränkten Armen, um sich zu wärmen, wirkten sie wie Insektenpuppen, die fragilen Körper verletzlich in papierdünnen Umhüllungen. Junge Männer in engen Badehosen waren da, die die Witzeleien beim Ausziehen und einen freien Tag von der Arbeit genossen, und freundliche Babuschkas, die sich freuten, eine Ausländerin in den festlichen Reihen zu sehen. Zwischen ihnen stand eine ganz kaputte junge Frau mit hohlen Wangen und Augen, die ins Leere starrten. Als sie so dastand und das Wasser an ihr hinunterlief, die winzigen roten Rosen in ihrem Baumwollhemd an ihrer Haut klebten, sah sie aus wie eine, die sich nicht mehr erinnert, ob sie jemals gelacht hat.
Im Zentrum von Nowosibirsk wurde das Opernhaus von einer rosafarbenen Morgendämmerung angestrahlt. An der Bühnentür kamen und gingen Musiker zu und von den Proben. Ich ging vorbei an der Durchspielprobe einer Verdi-Oper und bog dann ein in einen anderen Seitengang, an dessen Wänden Kulissen angelehnt waren. Da standen eine mehrschichtige Hochzeitstorte, groß genug, um einen kleinen Trupp Ballerinen zu verstecken, ein Trojanisches Pferd und zwei riesige Elefanten auf Rädern. An Stricken hingen rote Sowjetsterne und orientalische Laternen. Ein Mädchen in einem schwarzen Tutu vollführte Streckübungen an einer knarrenden Bank.
Igor war im Keller der Oper und übte vor einem wackeligen Notenständer auf dem Cello. Er war nicht mehr jung, beinahe kahlköpfig, mit fröhlichem Gesicht und leicht abstehenden Ohren. Er hatte ein breites Lächeln, große Hände, breite Schultern und eine untersetzte Figur. Er war Mitglied des Opernorchesters und der für alle Klaviere zuständige Chefklavierstimmer. Seit 1978 arbeitete er in Zimmer 1037, einem backofenheißen Raum im selben Kellergeschoß, wo mitten im Krieg der Teppich des Zaren ausgerollt und als provisorisches Bett benutzt worden war. Zimmer 1037, mehr das Innere einer Seele als eine Werkstatt, war angeschwollen von unerwarteten Besitztümern, die zusammengerafft, übereinandergeschichtet und angehäuft in Ecken lagen, von Haken hingen und in jeden verfügbaren Krug oder ausrangierten Farbtopf gestopft waren.
Das Durcheinander war zugleich alltäglich und grandios — ein magischer Ort, wo ein seltenes musikalisches Artefakt lauern mochte oder ein erstaunlicher Klang, verborgen durch die Gliedmaßen anderer, weniger bemerkenswerter Instrumente. Hinter einem Pianino ragte eine rosa Schnauze hervor — der riesige Papiermachékopf eines Spanferkels auf einem Tablett, er sah aus, als hätte er sich aus der Bühnenausstattung einer Nussknacker-Aufführung hierher verirrt. Von der Decke hing ein Frack, gebügelt, bis die Fasern silbrig schimmerten. Auch einige Tarnanzüge waren hier, von der Art, wie russische Jäger sie in der Taiga tragen, und ein Tisch, überhäuft mit Schuhcreme, einer Sammlung mechanischer Uhren und stoppeligen Malerpinseln, so oft ausgewaschen, dass sie beinahe kahl waren. Die Wände waren geschmückt mit Bildern von Bären, Lenin und Louis Armstrong. Etliche Cellos, bei manchen fehlte die Vorderseite, lehnten an Klavieren. Ein Sandsack in voller Größe hing über einem gerade in Reparatur befindlichen Konzertflügel, und die Präzision und Improvisation von Igors Kunst lag verborgen unter Zangen, Lacken und aufgerollten kupfernen Basssaiten, stählernen Stimmwirbeln, Angeln und hölzernen Rippen. Es war, als wären alle Nischenfertigkeiten, die die frühe Klavierindustrie geschaffen hatte, hier gelandet, in einem Keller in Nowosibirsk: die Gehäusebauer, die mit den Resonanzbodenbauern zusammenarbeiteten, die Vorstimmer, Tastenmacher, Polierer und jene, die die Mechanik fertigstellten.
»Es ist nicht viel«, sagte Igor, »aber es ist mein Leben.«
Igor sagte, es sei schwer herauszufinden, welches Instrument seine Zuwendung am meisten verdiene: das in einem Winkel brütende Becker, das Schröder mit den blechernen Kopfnoten oder die namenlosen Pianinos, zu eng aneinandergerückt, als dass man auf ihnen auch nur eine Note hätte spielen können. Er sprach darüber, dass jedes Klavier seine ganz eigene Stimme habe: satt, lieblich, schneidend, gläsern, warm, dünn oder kühl. Im Allgemeinen wird die Stimme mit dem Alter und dem Gebrauch stumpfer und flacher. Die Hämmer werden härter, die Saiten geben nach. Leise Töne schrumpfen und verschwinden dann. Er zeigte mir den modernen Steinway-Flügel, auf dem Denis Mazujew spielte, wann immer er in der Stadt war, der seinen eigenen feuchtigkeitskontrollierten Aufbewahrungsraum hatte. Wieder in der Werkstatt, zeigte mir Igor ein robustes Klavier in der Ecke, es galt als eines der besten jemals gebauten Pianinos — dasjenige, bei dem mir das Papiermachéschwein aufgefallen war.
»Ein Grotrian-Steinweg aus den 1930er Jahren«, sagte Igor. »Ein deutsches Klavier mit zartem Klang. Aber es hat auch eine Menge miterlebt. Das höre ich daran, wie es sich spielt.«
Nowosibirsk sei eine Stadt voller interessanter Instrumente, meinte Igor. Er stimmte mir zu, der Steinway-Flügel, den ich im Konservatorium gesehen hatte — derjenige, von dem Wladimir Birjukow vermutete, dass er den Leningrader Philharmonikern gehört hatte oder von ihnen gespielt worden war —, sei tatsächlich großartig. Er konnte die Bewegungen des Klaviers in Nowosibirsk seit den 1970ern nachverfolgen, als es von der Oper in das Operettentheater verlegt worden war. Aber weiter zurück konnte er dessen Geschichte nicht rekonstruieren. Dann sprach er über diverse Klaviere, die sein Sohn gerade für eine lokale Sammlung restaurierte.
»Sie müssen meine Kinder kennenlernen. Wir haben nicht einen Klavierstimmer in der Familie, sondern drei«, sagte Igor, seine Holzapfelbäckchen rosa angelaufen vor Stolz.
Wir vereinbarten, uns in zwei Tagen wieder am selben Ort zu treffen, um uns weiter zu unterhalten. Als der Tag dann gekommen war, war Zimmer 1037 allerdings überhaupt nicht mehr dasselbe. Alles war aufgeräumt worden: die Klaviere zurechtgerückt, die Werkzeuge sortiert, sogar der Schweinekopf hing gerade. Der Sack hing nicht mehr über dem Flügel. Die Ringe von den Kaffeetassen waren weggewischt, die Noten zu Stößen geschlichtet. Zusätzliche Stühle waren aufgestellt und jeder einem Mitglied der Familie Lomatschenko zugewiesen worden. Der einzige Tag im Jahr, an dem sie sich sonst auf diese Weise versammelten, war Stalins Geburtstag — derselbe wie seiner, meinte Wassili Lomatschenko und lächelte breit.
Wassili war Igors Vater. Trotz seiner 83 Jahre hatte er ein beinahe faltenloses Gesicht, lachte fröhlich und tänzelte manchmal auf der Stelle. Er trug ein frisch gebügeltes hellblaues Hemd, dessen oberster Knopf offen stand, einen wollenen Pullunder und blankpolierte Schuhe. Igors jüngster Sohn Jewgeni war schüchtern und schmal; er restaurierte lieber die hölzernen Bestandteile eines Klaviers, als zu stimmen. Jewgenis Bruder Kostja war Anfang vierzig. Er war ungewöhnlich groß, hatte jungenhafte blonde Haare — wie ein Eisbär, meinte meine Übersetzerin. Kostja, der mit seinem siebenjährigen Sohn Fedja gekommen war, der eine ebensolche Fliege trug wie er, war beides, Klavierstimmer und Restaurateur. Er sprach über einige der Instrumente, die er kannte oder an denen er in Nowosibirsk gearbeitet hatte: ein Gaveau aus französischer Produktion, den man aus einem deutschen U-Boot geholt hatte, und ein Konzertflügel, den Deutschen während der Schlacht um Moskau 1941 abgenommen. Kostja wollte die Crème de la crème der Klavierstimmerausbildung besuchen: die C. F. Theodore Steinway Academy in Hamburg. Er träumte davon, eine russische Klavierfabrik zu gründen, um einige der besten Instrumente der Welt zu bauen. Er war empfindsam, warmherzig und außerordentlich enthusiastisch — ein sanfter Riese mit einer hellen, kindlichen Seele. Als wir uns kennenlernten, weinte er. Ich fragte ihn, warum, und er meinte, weil eine Fremde von irgendwoher gekommen sei und ihm gesagt habe, sie interessiere sich für seine Arbeit. Als ich meine Übersetzerin bat, mir zu helfen, seine Reaktion zu deuten, sagte sie später: »Für Kostja ist jedes Klavier etwas Besonderes. Er kennt es, und selbst wenn er beschreibt, wie es klingt oder klingen könnte, berührt ihn diese Schönheit tief. Es ist, als wäre er empfindsam für andere Schwingungen als diejenigen, die Sie und ich hören können.«
Doch es war Kostjas Großvater Wassili, der den Raum in Bann hielt, als er zu erzählen begann, wie seine Ahnen ursprünglich nach Sibirien gekommen waren. Wassilis Vater hatte jener Welle freier Auswanderer angehört, die um die Wende zum 20. Jahrhundert die Ukraine verlassen hatten. Sie kamen mit der Pferdekutsche nach Sibirien und ließen sich im Dorf Dowolnoje etwa 120 Kilometer von Nowosibirsk entfernt nieder. Wassili sprach es langsam und abgehackt aus, Do-wol-no-je, es bedeutete so viel wie »Dorf des Vergnügens«. Wassilis Vater, den er als still und zurückhaltend beschrieb, kämpfte im Bürgerkrieg auf der Seite der Weißen. Zumindest glauben sie, dass es so war, aber Wassilis Vater sprach nie darüber. Er galt im Stalin-Regime als Kulak, als Großbauer, eine willkürliche Zuschreibung, die weniger auf formellen Kriterien als auf den Launen von Nachbarn, Lokalbeamten und Sowjet-Aktivisten beruhte. Er wurde für zehn Jahre zur Zwangsarbeit in ein Bergwerk geschickt. Als er endlich heimkehrte, musste er nach Moskau, um gegen die Nazis zu kämpfen.
1953 leistete auch Wassili seinen Militärdienst ab. Er stieg in einen mit etwa vierhundert Sibiriern besetzten Zug und machte sich auf nach Sachalin. Zwei Jahre später ließ er sich im Kusbass nieder, der Kohlenabbauregion in Sibirien, wo er sich die ersten zwölf Monate mit einem Zelt behelfen musste. Er fuhr Lastwagen im Sajangebirge nahe der mongolischen Grenze, auf gefährlichen Straßen, die die steilen Gebirgszüge in der Gegend auf und ab durchkurvten. Unter seinem Sitz im Lastwagen hatte er einen Sack mit Salz stehen, damit die Fenster nicht beschlugen; das Salz nahm die Feuchtigkeit seines Atems auf. Obwohl Wassili die Einsamkeit der Straße gefiel, musste er immer daran denken, wie sehr er sich wünschte, dass spätere Generationen von Lomatschenkos ein anderes Leben haben würden.
Wassili heiratete und bekam einen Sohn. 1961 verkaufte er das Holzhaus, das er in seinem ersten Winter im Kusbass gebaut hatte, und zog mit seiner Familie nach Akademgorodok. Akademgorodok war die neue Stadt der Wissenschaft in Sibirien, die in einem Wald außerhalb von Nowosibirsk entstand, ein elitäres, in den 1950ern gegründetes sowjetisches Utopia, das ein fortschrittliches Gewächshaus werden sollte, um einige der besten Köpfe des Landes anzuziehen. Wie die Universität in Tomsk war es eine stolze, ehrgeizige Institution, die Sibirien enormes Prestige verlieh, sie tut es noch immer. Wassili fand Arbeit bei den Baufirmen, seine Frau in der Kantine des Hauses der Wissenschaftler, dem wichtigsten Klub in Akademgorodok.
Das Geld war knapp, aber trotzdem verwendete Wassili ein Viertel des Geldes vom Hausverkauf für den Ankauf eines Klaviers aus einem Gebrauchtwarenladen. Obwohl er selbst keine musikalische Ausbildung erhalten hatte, erwarb er das Instrument 1962, als sein Sohn fünf Jahre alt war, denn er glaubte, ein Leben mit Kultur würde das Los der Familie ändern. Ungefähr um diese Zeit erreichte die Musikerziehung in der Sowjetunion allmählich ihren Höhepunkt. Anfang der sechziger Jahre waren über 400.000 Kinder im Volksschulalter in Musikschulen und in 24 Konservatorien auf Mittelschulniveau eingeschrieben. Allen standen diese Möglichkeiten offen, unabhängig vom Status, da die Musikerziehung sogar in den kleinsten Städten systematisiert war. Es war eine umfassende kulturelle Transformation, unterstützt durch all die preiswerten Instrumente, die nun in größerer Anzahl als je zuvor in der russischen Geschichte gebaut und verbreitet wurden. Igor spielte Klavier, konzentrierte sich aber auf das Cello. Er war talentiert, meinte Wassili, aber als er älter wurde, kamen die üblichen Ablenkungen — Fußball, Mädchen. Als Igor aufhörte, erhob sein Vater keine Einwände. Wassili war ein Mann der früheren Sowjetzeit, er wusste, wie hart es im Leben zugehen konnte. Er fand einen Job für seinen Sohn in einer Betonfabrik, wo Igor arbeitete, bis seine Hände bluteten — eine Erfahrung, die, das wusste Wassili, ihn wieder zur Musik zurückführen würde.
Sechs Monate später begann Igor Klavierstimmen zu lernen, und 1978 erhielt er eine Anstellung am Opern- und Ballett-Theater von Nowosibirsk.
Ich fragte, wo das Instrument jetzt sei, dasjenige, das Wassili mit dem Geld aus dem Verkauf seines Hauses besorgt hatte.
»Da drüben«, sagte Igor und zeigte auf das Klavier, das als Unterlage für das Papiermachéschwein diente. »Ich habe es Ihnen gestern gezeigt. Ein Grotrian-Steinweg aus den 1930ern.«
Kostja mischte sich ein. »Ich muss Ihnen seine Besonderheiten zeigen«, sagte er. »Schwere, kraftvolle Hämmer. Eine einfache, stabile Bauweise. Originale Elfenbeintasten, die noch hundert Jahre halten können. Es ist nicht das großartigste, aber der volle Klang, den es erzeugt, ist etwas Besonderes.«
Als der Klavierdeckel aufgeklappt wurde, roch das Instrument, als habe es eine Weile nicht Luft geschöpft. Igor nahm den Deckel ab, um die Seriennummer zu zeigen: 632163. Der hintere Rahmen des Klaviers, das klassische Modell 120, war sternförmig, ein bisschen wie in der britischen Flagge — eine Signatur für die Firma Grotrian-Steinweg, die diese Klaviere so gut baute, wie ein Pianino nur sein konnte. Die starken Rippen erlaubten es dem Resonanzboden, frei zu schwingen, ihre Festigkeit gewährleistete die tonale Stabilität die Oktaven hinauf und hinunter.
»Es ist langlebig«, sagte Igor, »ein robustes Klavier mit einer hellen Stimme.«
Das Grotrian-Steinweg hatte Elfenbeintasten. Ich schlug ein paar an: eine dumpfe Note, eine klappernde Mechanik, dann in den höheren Tonlagen ein singender Ton und ein leichter, nachgiebiger Anschlag. Es könnte ein paar Stimmwirbel gebrauchen, sagte Kostja, die könne man nur aus Deutschland beziehen, aber die Hämmer seien gut und stark. Sie benötigten vielleicht ein bisschen Abziehen und Intonieren.
Während die Lomatschenkos sich über die Überlegenheit deutscher Ingenieurskunst unterhielten, konnte ich den Rat des englischen Klavierbauers Brian Kemble hören, der mich durch die technischen Aspekte meiner Suche geleitete:
»Es ist einfacher, als Sie glauben«, sagte Brian. »Wenn Sie ein Klavier finden, das allen gefällt, dann fehlt etwas; es ist zu arttypisch. Sie sollten ein Instrument finden, in das jemand leidenschaftlich verliebt ist.«
Der Klavierbauer, der das Instrument hergestellt hatte, besaß einen eindrucksvollen Stammbaum. Der 1803 in Deutschland geborene Friedrich Grotrian lernte sein Handwerk in Moskau, als er zur Blütezeit des Klavierbooms im Russland des 19. Jahrhunderts dort lebte. Friedrich war in Russland, als alle großen Virtuosen dorthin kamen, darunter Liszt. Nachdem Grotrian 1854 nach Deutschland zurückgekehrt war, arbeitete er für Theodor Steinweg, dessen Vater Heinrich Steinweg 1850 in die Vereinigten Staaten ausgewandert war und dort drei Jahre später Steinway & Sons gegründet hatte. 1865 zahlte Grotrian seinen ehemaligen Arbeitgeber aus und leitete die Klavierfabrik Grotrian-Steinweg in Braunschweig. Das Unternehmen befindet sich noch im Besitz der Nachkommen Friedrich Grotrians in fünfter und sechster Generation.3
Archivunterlagen zu finden würde schwierig sein. Die Klavierfabrik Grotrian-Steinweg in Braunschweig war im Zweiten Weltkrieg durch die Alliierten bombardiert worden, wobei die Unterlagen für siebentausend Grotrian-Steinweg-Klaviere zerstört worden waren, darunter offenbar auch die Nachweise darüber, wem das Klavier ursprünglich gehört hatte. Viel später während meiner Recherche sah ich dann einen Namen, der in das Instrument selbst eingeschrieben war: Die tiefste Taste trug eine Markierung mit dem Stimmdatum 20. Oktober 1944 und dem Namen des Klavierstimmers, Carl W. Aug(xx)t4 aus Allenstein im ehemaligen Ostpreußen. Dieses mit Tintenstift aufgetragene Datum war nur neunzig Tage, bevor die Rote Armee in die Stadt einmarschiert war, notiert worden. Sieben Monate danach verschwand der Name Allenstein von den Landkarten. Was noch übrig war, fiel am Ende des Zweiten Weltkriegs an Polen und wurde in Olsztyn umbenannt.
Der sowjetische Vorstoß nach Ostpreußen in den Jahren 1944 und 1945 mag kurz gewesen sein, aber er forderte einen hohen Preis von der deutschen Bevölkerung durch Morde, Vergewaltigungen und eine massenhafte panische Flucht. Alexander Solschenizyn, damals als Artilleriehauptmann in Ostpreußen stationiert, beschrieb in seinem erzählenden Gedicht Ostpreußische Nächte die Plünderungen in Neidenburg etwa fünfzig Kilometer von Allenstein.
Europas Sieger, emsig,
uns’re Russen, schwirren rum,
stopfen rasch sich in die Wagen
Kerzen, Weine, Teppichsauger,
Pfeifen, Röcke, Malerei,
Käse, ganze Ringe Wurst,
Schreibmaschinen fremder Schriften …
Während Solschenizyn darüber nachgrübelte, wie richtig oder falsch es gewesen sei, in einem zerstörten Postamt dreihundert Bleistifte der Marke Faber-Castell eingesteckt zu haben, waren andere sowjetische Offiziere — denen es gestattet war, jeden Monat zehn Kilogramm gestohlene Güter nachhause zu schicken — kühner. Was sie nicht schicken konnten, stopften sie in ihre Panzer; Möbel, sogar Vieh wurde mitgenommen. Die Besiegten benahmen sich auf ihrem Weg in und aus Feindesland genauso: Hitlers Entschlossenheit während des Krieges, das kulturelle Gedächtnis einer Nation auszulöschen, war eine der gnadenlosesten der Geschichte. Statt ihre Kostbarkeiten in die Hände der Sowjets fallen zu lassen, wurden unschätzbare Sammlungen auch verbrannt oder von Zivilisten geplündert, bevor die Rote Armee anrückte. Aber irgendwie hatte dieses kleine Grotrian-Steinweg überlebt, auch wenn das Wie, Warum oder Wo vollkommen unklar war. Es war ein Mysterium, die Wurzeln des Klaviers blieben einer Zeit des Chaos verhaftet.
»Beim Zuhören kann man nicht sagen, ob es sehr trocken, sehr gläsern oder sehr metallisch klingt«, sagte Kostja, während er über das Gehäuse des Klaviers strich; er kannte nur die Geschichte seiner Familie mit diesem Instrument, das in den sechziger Jahren aus einem Altwarenladen gekommen war. »Es ist ausgewogen, voll, besitzt einen abgerundeten Klang. Und sehen Sie den Rahmen? Das ist Gusseisen. Es hat eine Integrität, die eine ordentliche Restaurierung verdient. Wir brauchen ein paar neue Stimmwirbel, müssen frisch aufziehen und stimmen. Wenn ich die neuen Bestandteile aus Deutschland bekomme, wird es zwei bis drei Monate brauchen, um es herzurichten.«
Ich fragte Kostja, was er für das richtige Finale für das Grotrian-Steinweg halte; selbst wusste ich es nicht.
»Das Wort Finale bedeutet Ende. Ein Instrument muss gespielt werden. Es wird sich gut anfühlen, wenn auf diesem Instrument wieder gespielt wird«, sagte Kostja, während er sachte den Deckel zuklappte.