1986 nahm der legendäre sowjetische Pianist Swjatoslaw Richter ein Stück Karton mit der Landkarte der UdSSR und zeichnete mit einem dunkelblauen Markierstift eine Route durch Sibirien, wobei er die Namen aller Orte hinschrieb, die er besuchen wollte. Er legte den Plan in seinen Koffer und machte sich auf den Weg, um sein Ziel zu erreichen — eine Reise von Moskau zum Pazifik und zurück, teils auf der Straße, teils mit der Bahn, wobei er oft anhielt, um Klavierkonzerte zu geben. Auf dieser epischen Tour wurde er von seiner Freundin begleitet, der Philologin und Schriftstellerin Walentina Tschemberdschi, die später ihre Erinnerungen an diese Reise veröffentlichte.
Richter wusste von den ausgedehnten Auslandstourneen, die Franz Liszt unternommen hatte — der Vergleich ist erhellend. Beide Männer nahmen endlose holprige Straßen voller Schlaglöcher auf sich, um dorthin zu kommen, wo sie spielen wollten. Beide spielten sie auf jedem Instrument, das man ihnen anbot, Liszt auf einem klappernden Tompkinson-Pianino in einem irischen Hotelsaal, Richter auf allen möglichen sowjetischen Pendants in den über Sibirien verstreuten Kleinstädten. Anders als im populären Mythos dargestellt, brachte er nicht seinen Lieblings-Yamaha mit (»schwer, sich einen Flügel in einer Jurte oder in der Taiga vorzustellen!«, bemerkte Tschemberdschi). »Im tiefsten Russland hatte ich nicht immer besonders gute Instrumente, keine Rede davon, aber ich achtete nicht darauf«, sagte Richter. »Es hat ohnedies Zeiten gegeben, wo ich auch auf furchtbaren Klavieren gespielt habe, und das sogar sehr gut.«
Richter, der das Fliegen hasste, besuchte Chabarowsk, Tschita (wo er die Klaviere der Dekabristen suchte, aber nicht fand), Ulan-Ude, Irkutsk, Krasnojarsk und Barnaul, dazu noch zahlreiche Ortschaften dazwischen. In Abakan am Jenissei beschrieb ein Artikel in einer Lokalzeitung den Richter-Taumel: Zum ersten Mal konnten ihn Sibirier live erleben. Auftrittsorte waren unter anderem lokale Musikschulen und Konzertsäle; Richters Programme — sogar solche, die man bloß auf Papierbögen gekritzelt und erst kurz vor dem Ereignis bekanntgemacht hatte — waren stets sofort ausverkauft, manchmal in weniger als einer halben Stunde. »Durch Mundpropaganda war der Saal voll. Im Westen ist das nicht so«, sagte er mit eloquenter Untertreibung. Bei Richter war Einfachheit Zweck der Übung. Er spielte gerne im Dunkeln, damit sich das Publikum auf die Musik, nicht auf den Vortragenden konzentrierte. »Das Einzige, was zählt, ist, dass die Leute nicht aus Snobismus kommen, sondern um der Musik zuzuhören«, sagte er. Liest man Tschemberdschis Bericht, dann scheint es, als habe Richters sibirische Zuhörerschaft verstanden: Ihre lebhaften Beschreibungen enthüllen das echte Verständnis der Sibirier für eine lebendige musikalische Kunst, genau so, wie es mir Denis Matsujew am Anfang meiner Suche beschrieben hatte.
Trotzdem muss es damals eine sonderbare Zeit gewesen sein, um in der UdSSR herumzureisen. Ein paar Monate, bevor Richter aufbrach, hatte eine Explosion in Tschernobyl den größten Atomkraftwerksunfall der Geschichte verursacht — ein Ereignis, das man mit Fug und Recht einem seit langem bestehenden Mangel an staatlichen Investitionen zuschreiben konnte. Die am Rande des Bankrotts stehende, zentralistisch geplante Wirtschaft war vom Preis des exportierten Erdöls abhängig, der damals auf einem Rekordtief stand. Zu dieser Zeit reiste der neue starke Mann der Sowjetunion, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Michail Gorbatschow, in die sibirische Ölstadt Nischnewartowsk am Fluss Ob, wo er etwas von der sozioökonomischen Flaute des Landes zu spüren bekam. »In den letzten Jahren des zaristischen Russland betrug die durchschnittliche Zahl an Menschen im Gefängnis 108.000. 1986 sind es zehnmal mehr. Und das nennen wir Sozialismus?«, bemerkte Gorbatschow bei einer Parteisitzung im September desselben Jahres.
Gorbatschow schlug mit seiner Politik der Glasnost, der Offenheit, eine Reihe von Änderungen vor, um eine kritischere Presse und mehr Beratungen in der Regierung zu fördern. Dieses Auflösen der alten Ordnung setzte sich durch die Jahre der Perestroika fort, als Gorbatschow das Wirtschaftssystem der Sowjetunion umzustrukturieren begann. Einerseits gab es viel zu bejubeln. Man konnte jetzt bisher Verbotenes kosten, vom Geschmack amerikanischer Burger — die endlosen Schlangen vor dem McDonald’s, das im Januar 1990 in Moskau eröffnete, symbolisierten alles, was verlockend am westlichen Leben war — bis zur Explosion der Musik in der Jugendkultur. In Leningrad dröhnte Musik aus illegalen Klubs und elektronischen Synthesizern. Punk, Glamrock und Heavy Metal fütterten Zuhörer, die hungrig waren auf die subversiven, oft politischen Texte der Musiker, welche mittels selbstproduzierter Platten verbreitet wurden.1 Andererseits verschwanden all die alten Sicherheiten des sozialistischen Systems, als Gorbatschow am 25. Dezember 1991 bekanntgab, dass die Sowjetunion ein für alle Mal aufgelöst sei, und eine neue Ära freier Wahlen, freier Presse und Religionsfreiheit einläutete. Die Wirtschaft geriet in den freien Fall. Für Russen, die sich ohnehin schon abmühten, ein Auskommen zu finden, zerfiel alles, von verlässlichen Gehältern bis zu subventionierten Urlauben. Dass jetzt der Kapitalismus daherkam und den Russen ein vollkommen neues (und bis dahin verabscheutes) Wirtschaftsmodell anpries, war so, als hätte man eine Wendung um 180 Grad gemacht und all die Opfer infrage gestellt, die jede Familie auf die eine oder andere Art erduldet hatte: die marxistische Revolution, den Großen Vaterländischen Krieg, Stalins Terror. Es war zu viel, zu rasch, das Abrutschen in nationale Armut und Panik eine Würdelosigkeit zu viel. 1992 standen die Leute wieder auf der Straße um Lebensmittel an, die Preise stiegen, es gab dramatische Engpässe. Die Erinnerung an diese Erfahrung war ein Grund, warum nicht nur der Putinismus, sondern auch die russische Orthodoxie blühte, als ich durch Sibirien reiste. 25 Jahre nach der Perestroika gab Putin seinem Land einen überhitzten Nationalstolz zurück und die Kirche ein machtvolles Glaubenssystem, um das Vakuum zu füllen, das die Veränderungen hinterlassen hatten. Obwohl Putin ein neues Regime mit Kontrollmethoden geschaffen hatte, die mich jedes Mal erschauern ließen, wenn ich zuhause eine Zeitung aufschlug, war es doch immer noch attraktiv für die meisten Russen, die sich an die ausbleibenden Löhne, den rapiden Aufstieg des Gangstertums und eine korrupte neue Oligarchie erinnerten.
Eine der Regionen, die sich nach der Auflösung der Sowjetunion am dramatischsten leerten, war Kamtschatka, eine so abgelegene Gegend, dass sie immer in erheblichem Ausmaß von Moskau subventioniert wurde. Kamtschatka liegt in derselben Zeitzone wie Auckland, neun Stunden vor Moskau. An seinem östlichen Rand liegen die Kommandeurinseln, unweit von den Aleuten, die zu den USA gehören. An ihrer Südspitze läuft die Kamtschatka-Halbinsel in die Kurilen aus. Arktisch im Norden, subtropisch im Süden, bildet diese faszinierende Inselgruppe einen Bogen um die östliche Küste des Ochotskischen Meeres, bis sie beinahe die Spitze Japans berührt.
Nach Kamtschatka zu kommen war immer mühsam. Berichte aus dem 18. und 19. Jahrhundert sind durchsetzt von Klagen. Für die meisten Reisenden war ihre Stimmung, wenn nicht ihr Körper schon mitgenommen von der Reise über Land aus dem europäischen Russland zum Pazifik über die Route Jakutsk—Ochotsk. Sie jammerten über »Rippsamt«-Straßen, Holzstämme, die über eingesunkene Pfähle gelegt waren. Sie fürchteten die Sümpfe und den Milzbrand, der ganze Reihen der Packpferde hinwegraffte, während sie sich durch Sümpfe, Wälder und Bergschluchten ihren Weg bahnten. Zu diesen Bedrohungen kamen noch Bären und entflohene Sträflinge. Hatte er dann das Ochotskische Meer erreicht, musste der Reisende nach Kamtschatka ein Schiff auftreiben.
»Hier gab es nicht das, was wir Straßen nennen«, schrieb Ljudmila Rikord, Frau von Pjotr Rikord, dem neu ernannten Gouverneur von Kamtschatka, im Jahr 1817. »Die Pferde wandern vorwärts, wie es ihnen gefällt, und suchen sich Wege in alle möglichen Richtungen.« Aber trotz der Mühsal der Reise sollte Ljudmila nicht ans Ende der Welt verbannt werden ohne den musikalischen Luxus, der zu einer Frau ihrer gehobenen Stellung gehörte. Ihr in der Kaiserstadt gebautes Instrument wurde als Geschenk des russischen Admirals Wassili Golownin auf die Halbinsel geschafft; er war ein tatkräftiger Mann, der 1811 gekommen war, um die Kurilen zu vermessen, nur um dann von den Japanern gefangen genommen zu werden. Zwei Jahre lang schmachtete er in Gefangenschaft, bis ihn sein Freund, Ljudmilas Ehemann, frei bekam. Das Klavier war ein Dankeschön für diesen Akt der Großzügigkeit; es reiste auf einem russischen Kriegsschiff von St. Petersburg durch die Ost- und Nordsee, nach Süden um das Kap Horn in Südamerika und dann über den Pazifik; die Passage nach Kamtschatka endete 1818. Als sie sich dem Haupthafen der Halbinsel näherte, konnte Golownins Schaluppe die Küste nicht erreichen. Drei Tage lang war die Ansiedlung vom Nebel eingeschlossen. Treibeis riss die Schaluppe vom Anker los, aber Golownin versuchte es weiter. »Ich betrachte es als besonderen Glücksfall, dass ich dieser allergnädigsten Dame einige Freude zu bereiten imstande war, weil ich ein Pianoforte nach Kamtschatka schaffen konnte«; »in gutem Zustand«, wie Golownin stolz anmerkte. Er fügte hinzu: »Das Vergnügen, an einem solch entlegenen Ort das Piano zu spielen, ist für jemanden, der die Musik liebt, immens!«
Golownins Klavierzustellung zur See hatte acht Monate und acht Tage gebraucht. Auch heute noch wäre eine Überlandfahrt beinahe unmöglich. Es gibt nach wie vor keine Verbindungsstraße zwischen der Landenge der Kamtschatka-Halbinsel und dem übrigen Russland. Der Sredinny-Höhenrücken, ein Rückgrat aus Eiskappen und Lavaplateaus, verläuft in einer Reihe von Vulkankegeln durch die Mitte Kamtschatkas. Von diesen Gipfeln fließen kurze, reißende Bäche, die alluviale Ebenen überfluten. Hier herrschen die Wildtiere, sie gedeihen in einer feindseligen Landschaft, wo Geysire in die Luft bersten. Tümpel mit schokoladefarbenem Schlamm brodeln und dampfen; der Himmel ist oft von Regenbogen geschmückt, doppelte, sogar dreifache Halbmondsicheln aus zersplittertem Licht. Es liegt Gefahr in den nachts rot glühenden Strudeln geschmolzener Lava, in den versteinerten Wäldern, die dastehen wie Stoppelfelder, die verkohlten Birken so dünn wie Zündhölzer. Boris Pasternaks Bemerkung, Kamtschatka sei der Ort an der Rückseite des Klassenzimmers, wo die schlimmsten Kinder hinverbannt werden, klingt bei den Russen immer noch nach. Unter Westlern hingegen hat der Name eine andere Assoziation: Im Brettspiel Risiko ist Kamtschatka das ideale Territorium, um von dort aus einen Angriff auf Nordamerika zu starten, was gar nicht weit von der Wahrheit entfernt ist. Im Kalten Krieg fungierte die gesamte Region als für Ausländer nicht zugängliches, stark militarisiertes Gebiet. Aber als die sowjetische Lebenserhaltungsmaschinerie im Zuge der Perestroika zu stottern begann, schrumpfte auch das Militär. Einer von zehn Bewohnern Kamtschatkas ging fort in ein, wie sie dachten, leichteres, erschwinglicheres Leben auf dem »Festland«.
Am Tag meiner Ankunft war der Himmel blutunterlaufen vom Regen. Es war Essenszeit, und die Kantine in der Hauptstadt Petropawlowsk-Kamtschatski roch nach Fett. Die Serviererin klatschte ein Stück panierten Fisch auf einen Teller und winkte mich weiter, vorbei an zuckerbestreuten Desserts in einer verglasten Vitrine und an kalten Suppen, die so appetitlich wirkten wie Reste von einer Party in den 1970ern. Die Kassiererin, die kein Lächeln zustande brachte, hatte würstchendicke Finger. Ich setzte mich, enttäuscht, dass mein erster Blick auf Kamtschatkas in einen Ring aus Vulkanen eingeschmiegte Hauptstadt durch das Wetter verdorben war.
Der Fisch, stellte sich heraus, schmeckte besser, als er aussah. Mit einer enthusiastischen Geste tat ich das gegenüber einem Fremden am Nachbartisch kund. Es war etwas Adrettes an ihm — sorgfältig gekämmtes graues Haar, eine Lederjacke mit kantigen Schulterpolstern und eine Goldnadel, die seine rote Krawatte fixierte. Er zog ein Foto aus seiner Tasche, es zeigte ihn und seinen Freund Michail Kalaschnikow, den in Sibirien geborenen Waffenkonstrukteur, der das AK-47 erfunden hatte. Ich fragte meine neue Bekanntschaft, ob er ebenfalls beim Militär sei. Die russische Armee ist in Kamtschatka immer noch ein wichtiger Arbeitgeber, das wusste ich von ein paar Kontakten, die mir Klaviere genannt hatten, welche von einer Familie beim Militär zur anderen weitergegeben wurden, wenn die woandershin versetzt wurden.
Noch ein Gast lauschte unserer Unterhaltung, eine Frau in weißen Stiefeletten mit plumpen Absätzen, einer hochgeschlossenen weißen Seidenbluse und einem passenden weißen Gürtel, der ihre Taille einschnürte. Mit dem fein säuberlich frisierten Haar unter der rehbraunen Mohairmütze sah sie aus wie eine von einem Impressionisten gemalte Frau in einem französischen Café.
»Sie sprechen mit Alexander Tschuikow, unserem berühmtesten Dichter in Kamtschatka«, verkündete sie.
Ich fragte, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiene.
»Ich putze. Vier Stockwerke, fünf Toiletten, drei Zimmer, jeden Tag«, sagte sie, die Kaffeetasse zwischen Zeigefinger und Daumen haltend.
Ich erwähnte ein Treffen mit Waleri Krawtschenko, einem Lehrer und Pianisten, der seit 1968 in Kamtschatka lebte. Krawtschenko war auch Journalist und Fotograf, er hatte mir von der Lieferung von Golownins Klavier an Rikords Frau erzählt. Ich war mit ihm in Kontakt, seit er mir damals am Beginn meiner Suche das Bild eines Klaviers am Fuß des Vulkans Gorely gemailt hatte. Waleri wusste noch viele Geschichten über Klaviere in Kamtschatka zu erzählen, hatte er mitgeteilt, und er konnte mir auch etwas Besonderes zeigen — einen aus dem 19. Jahrhundert stammenden Ibach-Flügel, der in den dreißiger Jahren hierher geschafft worden war. Ich fragte meine neuen Kaffeehausbekanntschaften, ob jemand von ihnen den Mann kannte, von dem ich sprach.
Die Frau setzte mit übertriebener Herablassung ihre Tasse ab. Tschuikow rollte die Augen.
Natürlich kannten sie Waleri Krawtschenko.
»Kamtschatka ist ein sehr kultivierter Ort«, sagte die Frau.
Sie sprach über Inspirationen, einen Klub, den sie seit Jahren besuchte und wo gerne gesungen wurde. Tschuikow rezitierte eines seiner Gedichte: »Ich bin dieser Erde nützlich, dieser sehr märchenhaften Erde.« Mein lokaler Führer, ein großer, athletischer Siebzigjähriger, der von einem der 1812 zurückgebliebenen Soldaten Napoleons abzustammen behauptete, mischte sich in die Unterhaltung. Waleri Krawtschenko sei ein enger Freund, sagte er. Sie seien miteinander in die Berge gefahren, Klaviere im Schlepptau, als sei dies das Normalste der Welt.
Der Dichter gab mir ein High-Five, nicht so fest wahrscheinlich, wie er gehofft hatte, aber trotzdem eindrucksvoll.
Die Bedienung mit den Wurstfingern lächelte.
Petropawlowsk-Kamtschatski, kurz Petropawlowsk, ist anders als alle anderen russischen Städte. Nachts hat es mit den Lichtpünktchen, die sich um die Anhöhen, Einbuchtungen und Küstenlinien ballen, etwas von San Francisco. Die hufeisenförmige Awatscha-Bucht liegt davor, ein schwerer Deckel aus Wasser, auf dem Schiffe kommen und gehen. Tagsüber kehrt die Stadt zurück zum absoluten, unmissverständlichen Sowjetdasein. Wohnblocks kriechen die Hänge hinauf. Die Winde schmirgeln die Statue Lenins ab, sein wehender Mantel scheint von einer pazifischen Brise erfasst. In Kamtschatka, so heißt es, vergehen Frühling, Sommer und Herbst so schnell, als wären sie eine einzige Jahreszeit. Die Einheimischen kennen die Regeln. Im Sommer, wenn die Leute in den Wäldern bei ihren Häusern Beeren sammeln, nehmen sie manchmal eine falsche Abzweigung; falls sie nicht binnen drei Tagen gefunden werden, gelten sie meist als tot.
In Kamtschatka kann man eine Menge Zeit einfach mit dem Warten darauf verlieren, dass es aufklart. Bei einem meiner Aufenthalte konnte ich während einer vierstündigen Fahrt nicht weiter sehen als bis zu den Bremslichtern vor uns. Ein anderes Mal beobachtete ich aus dem Haus, in dem ich wohnte, tagelang, wie der Regen in langen, heftigen Strömen fiel. Auf dem Grundstück gegenüber pflegte eine Frau ihren Garten, als wäre sie von diesem kleinen Stück schwarzer Kamtschatka-Erde wegen mehr abhängig als bloß der Kartoffeln, die es hergab. Ihre ganze Haltung war zum Boden gerichtet, ihre abfallenden Schultern drängten sie zur Erde. In einer Ecke ihres Grundstücks stand ein blauer Traktor. Im Hintergrund war ein Gewächshaus. Jeden Morgen zupfte sie ihren violetten Dahlien die verwelkten Blüten mit einer Zartheit ab, die wirkte, als gehöre sie nicht zu ihr. Ihre Traurigkeit war in jedem langsamen Schritt, in ihren schwermütigen Gängen hin und zurück über ihr kleines Fleckchen Erde spürbar. Als ich diese Frau meiner Gastgeberin gegenüber erwähnte, sagte sie, die Nachbarin habe in der nahen Kolchose gearbeitet, die nun verfallen daliege. Sie glaubte, die alte Frau habe einen ihrer Söhne verloren, er hatte als russischer Soldat Mitte der 1990er Jahre in Tschetschenien gedient, als die schlecht bezahlte Post-Perestroika-Armee für ein von Reformen erschöpftes Land kämpfte.
Ich wollte hingehen und mit der alten Frau sprechen, aber immer wenn ich an ihr Gartentor kam, vertrieb mich ein scharfer Hund. Der Hund verscheuchte auch ein Pony, das wie ein Gemeinschaftshaustier durch die Straßen spazierte. Sein Besitzer war ein kleiner Junge, der das Tier jeden Tag nachhause führte; das Kind trippelte auf Zehenspitzen über Pfützen, um seine Schuhe nicht schmutzig zu machen. Bei den Garagen, wo die anderen Kinder abhingen — Schiffscontainer, die kreuz und quer an einer Seite der ungepflasterten Straße herumstanden —, blieb er erst gar nicht stehen. Einer der Nachbarn hatte aus der seinen eine Bar gemacht; in einer anderen lungerte eine Gruppe Teenies auf ausrangierten Sofas mit herausquellenden Sprungfedern herum. Die Kids nervten mich anfangs — die rothaarigen Zwillinge, die schaurige Gasmaske, die einer von ihnen immer aufhatte. Nach einer Weile wurden wir vertrauter.
Diese Gasmasken waren grundlegende Bedarfswaren aus dem Kalten Krieg, ursprünglich für einen eventuellen Angriff aus Amerika hergestellt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die russisch-amerikanischen Beziehungen von einer ganz anderen Propaganda angetrieben; damals galt Russland als Amerikas bester Freund. Die zwei Führungspersönlichkeiten wurden in der Presse wohlwollend miteinander verglichen: Zar Alexander II., weil er in Russland die Leibeigenschaft abgeschafft, und Abraham Lincoln, weil er die Sklaverei verboten hatte. Amerika lag im »Russland-Fieber«. Der amerikanische Unternehmer Perry Collins bezeichnete Sibirien als alles andere denn einen »leeren Fleck auf der Landkarte der Welt«. Dieser geschäftstüchtige New Yorker, der schon dem Goldrausch nach Kalifornien gefolgt war, sah durch eine neue transsibirische Telegrafenverbindung — ein Kabel, das die Küste von British Columbia entlang und durch die schmale Beringstraße zwischen Alaska und Russland führen sollte, den Nordrand von Kamtschatka streifen und dann südwärts und weiter nach Moskau — eine lukrative Zukunft für Amerika. Dieser Plan, die beiden Seiten des Pazifik zu verbinden — eine kühne Zusammenarbeit in einem Rennen gegen das zwischen Amerika und Großbritannien verlegte Kabel —, brachte amerikanische Abenteurer, aber auch Klaviere tief in die Wildnis von Kamtschatka.
George Kennan, der ein Vierteljahrhundert später mit seiner Anklage gegen das zaristische Verbannungssystem, die ein riesiger Bucherfolg wurde, einen Eimer kaltes Wasser auf das »Russland-Fieber« goss, gehörte zu Collins’ erster Erkundungsexpedition, die 1865 in Petropawlowsk-Kamtschatski landete. Er schreibt über den Hafenkapitän, der ein in Russland gebautes Klavier besaß; Noten von deutschen, russischen und amerikanischen Komponisten legten Zeugnis ab vom kultivierten Musikgeschmack des Kapitäns. 1866 beschrieb der Säbelrassler Thomas Wallace Knox, der sich einen Namen als Kriegsberichterstatter im Amerikanischen Bürgerkrieg gemacht hatte, die Schlichtheit eines Kamtschatka-Hauses mit seinem Ofen, Tisch, einfachen Stühlen und »hin und wieder, aber selten, einem Klavier«. In Gitschiga, einer wahrhaft abgeschiedenen Siedlung in der westlichen Armbeuge der Kamtschatka-Halbinsel, stieß ein amerikanischer Goldsucher ungefähr dreißig Jahre nach den amerikanischen Telegrafenarbeitern auf ein Klavier; er setzte sich hin und ließ den Marsch Washington Post erklingen: »Offenkundig hatten viele dieser rauen, aber freundlichen Menschen nie in ihrem Leben etwas Ähnliches gehört, und da der Russe bis ins Mark musikalisch ist, war es mir ein Vergnügen, mein Scherflein zur abendlichen Unterhaltung beizutragen.«
Von allen Berichten beschäftigte mich am meisten der von dem Klavier im Badehaus, das 1900 auf einem Jagdausflug gesichtet worden war, als Fürst Demidoff, der russische Jäger, der sich schon durch den Altai geschossen hatte, nach Kamtschatka gereist war, um Ovis nivicola (eine Art Schneeschaf) einzusacken. Es sollte sich als eine unerwartet beschwerliche Reise erweisen. In Kamtschatka wurden »klassische Konzerte vom Heulen der Schlittenhunde abgelöst«. Sogar den Pferden lief das Blut herunter von den Mückenstichen. Es gab allerdings einen Schimmer von dem, was er »Zivilisation« nannte. Bei vulkanischen Schlammbädern im Schatten des Vulkans bei Wiljutschinsk traf die Jagdgesellschaft auf eine Villa mit Wasserhähnen, aus denen heißes Wasser von den Thermalquellen floss, einem Wohnzimmer mit einem Sofa und einem fleckigen alten Klavier.
Als ich in Petropawlowsk den Pianisten Waleri Krawtschenko traf und ihm von diesen Sichtungen im 19. Jahrhundert erzählte, war ich auf seine Hilfe aus. Er war ein kleiner zarter Mann mit Brille, einem leichten Stottern und einer warmen Stimme. Ein bisschen sah er wie Liszt aus, das weiße Haar kinnlang und mit Stirnfransen geschnitten, die er mit einer schüchternen Handbewegung aus dem Gesicht strich.
Er führte mich zu dem Ibach-Flügel, von dem er mir erzählt hatte: ein schlecht lackiertes Instrument mit einer durch Wasserschäden knittrigen Oberfläche, die Saiten und Hämmer aber waren noch original. Er stand in einem Dachbodenraum über einem kleinen Schriftstellerklub mit Blick auf ein paar verschlafene Hafengebäude. Der aus den 1850ern stammende Ibach-Flügel sei der interessanteste Überlebende in Kamtschatka, sagte Waleri. 1936 war er mit David Lerner aus Moskau nach Petropawlowsk gekommen; Lerner war Mitglied der Moskauer Philharmoniker und mit der Aufgabe betraut, den Bürgern von Kamtschatka Musik zu bringen.
»Lerner meinte, das sei ungefähr so, als wolle man ein Klavier auf den Mond schaffen«, meinte Waleri.
Die Fahrt dauerte etwa drei Monate; erst mit der Bahn nach Wladiwostok, dann per Schiff. Das Konzert auf dem Ibach-Flügel wurde im Radio übertragen und war auf der gesamten Halbinsel zu hören. 1937 wurde Lerner dann verhaftet und wegen »konterrevolutionärer Aktivitäten« angeklagt. Zwei Jahre später ließ man ihn frei. Mit 86 Jahren wurde Lerner schließlich zum »Volkskünstler Russlands« ernannt. Er und Waleri wurden enge Freunde.
»Musik, Natur — für deren Wirkung gibt es keine Grenzen«, sagte er.
Er öffnete den Deckel des Ibach und spielte ein wenig Chopin; der warme, tiefe Klang des Klaviers tönte noch melancholischer unter dem violetten Himmel draußen.
Ich blieb bei meinem Versuch, das Klavier aus dem Badehaus zu finden, das Demidoffs Jagdgesellschaft erspäht hatte. Am nächsten Tag wagte ich mich auf einem Schneemobil an den Fuß des Vulkans Mutnowski, wo Demidoff herumgestreift war und nach seinem Schaf gesucht hatte. Ich hatte mir Notizen auf einer Landkarte gemacht und versucht, die Vulkanteiche ausfindig zu machen, wo die Jäger gerastet hatten, obwohl es schwierig war, ihren Standort genau zu bestimmen angesichts der Zahl an Quellen und Seitenflüssen des Flusses Paratunka, den Demidoffs Bericht so halb und halb beschrieben hatte. Alles, was ich antraf, waren ein plätscherndes Bächlein und zwei auf Plastik-Campingmatten sonnenbadende Russen. Sie waren im Schwimmdress, er in engen blauen Badehosen, sie in einem schwarzen Bikini, während auf der anderen Talseite ein Bär am Rand des Schneefeldes dahintrottete.
Nachdem ich wieder in die Stadt zurückgekehrt war, unterhielten Waleri und ich uns noch länger, während er in die Küche ging und mit Tee und Weißbrot, beladen mit saftigen Kaviarkügelchen, zurückkam. Er war nicht in Kamtschatka geboren, erzählte er, sondern an der Küste des Kaspischen Meeres, während des Großen Vaterländischen Krieges. Sein Vater war an der Front, und seine Mutter floh aus der Gegend, wo Mordkommandos der SS kommunistische Partisanen erschossen, hängten und verbrannten. Waleri lernte bei der Frau eines Soldaten Klavier spielen, die in den Kasernen, wo Waleris Familie nach dem Krieg wohnte, eine Musikschule eingerichtet hatte.
Erst in den sechziger Jahren wurde Waleri von seiner Jugend in Westrussland in den Fernen Osten des Landes verschlagen. Der sowjetische Journalist Wassili Peskow — derselbe Mann, der über die Familie der Altgläubigen geschrieben hatte, die isoliert in Sibirien lebte — lieferte so verlockende Beschreibungen von Kamtschatka, dass Waleri, als eine Stelle als Klavierlehrer am Konservatorium von Petropawlowsk ausgeschrieben wurde, die Gelegenheit mit Freuden ergriff. Wie bei seinem Freund David Lerner, der den Ibach-Flügel nach Kamtschatka gebracht hatte, war es seine Aufgabe, Klavierkultur an die fernsten Grenzen der UdSSR zu bringen; Chopin also zurück in das im Zitat erwähnte Klassenzimmer zu schaffen.
Wir sahen uns einen kurzen Film über die Klavierexpeditionen in die Wildnis an, die Waleri in den letzten zehn Sommern mitorganisiert hatte. Im Film kam ein Klavier vor, das auf einer Trage die Hänge des Vulkans Gorely hinaufgeschafft wurde. Waleri drängte mich, nach Kamtschatka zurückzukehren, um mit seinem Freund Wladimir Schewzow eine Expedition zu unternehmen, einem großartigen Bergsteiger, der das Heli-Skiing in der Region eingeführt hatte, nachdem durch die Reformen Gorbatschows die Hänge für Ausländer zugänglich geworden waren. Es war Schewzows Idee gewesen, ein Klavier zum Gorely zu bringen. Der Vulkan besitze ein natürliches Amphitheater, sagte Waleri. Schewzow stellte sich Leute vor, die an den Hängen saßen und klassischer Musik lauschten. Im ersten Jahr transportierte man das Instrument in einem Geländelastwagen zu dieser Senke, später dann durch einheimische Freiwillige auf selbstgebauten Tragen.
»Das ist so eine private Sache«, sagte Waleri; »aber wenn zufällig Fremde zu einer Aufführung kommen, macht das außerordentliche Freude.«
Er redete mir zu, mit meiner Suche weiterzumachen, und meinte, diese Geschichten seien so gut wie verloren, wenn ich ihre verschwindenden Teile nicht zu fassen bekäme.
»Ich glaube nicht, dass manche Ideen unmöglich sind«, sagte er.
Er erzählte mir von einem nagelneuen Primorsky-Klavier, auf dem er 1969 als Erster auf den Kommandeurinseln gespielt hatte, im hölzernen Klubhaus des Hauptorts. Aber es war nicht die Musik gewesen, die ihn so weit hierhergelockt hatte, sagte er; es waren die Meeresvögel.
Waleri langte nach einem Buch, einem gebundenen grauen Band, Der Rand der Welt, den er in einen Beutel gewickelt verwahrte. Er blätterte zu einer Seite mit einer Schwarzweißfotografie, die Silhouette einer Möwe, die auf der Schulter eines Kindes saß. Es war eine vom sowjetischen Journalisten Wassili Peskow erzählte wahre Geschichte mit dem Titel Der Junge und der Vogel.
Der Junge findet am Strand einen verletzten Vogel und pflegt ihn wieder gesund. Jedes Mal, wenn er an die Küste zurückkehrt, fliegt der Vogel aus seiner Kolonie und setzt sich dem Jungen auf die Schulter. Der Vogel und der Junge werden Freunde. Waleri Krawtschenko gefiel die Geschichte so gut, dass er dem Jungen schrieb und nur dessen Namen auf den Umschlag setzte. Die Adresszeile lautete: Kommandeurinseln — keine Hausnummer, nichts.
»Wir haben einige Jahre lang Briefe gewechselt«, sagte Waleri. »Ich habe ihm Fotofilme geschickt, die er auf den Inseln nicht kaufen konnte. Als ich dann auf die Inseln kam, um aufzutreten, haben wir uns endlich getroffen.«
Wir aßen noch etwas Kaviar. Waleri rauchte auf seinem Balkon, der voller Tomatenpflänzchen stand, eine halbe Zigarette nach der anderen. Wir sahen uns ein Foto an, wie Waleri in den Sechzigern vor Fernsehkameras Klavier gespielt hatte, ein anderes von ihm im Trenchcoat, Auge in Auge mit einem auf den Hintertatzen stehenden Bären.
Wir blätterten Bilder durch, die seinen Vater mit Pilotenbrille im Jahr 1939 zeigten, und ein anderes, auf dem er Gitarre spielte, den Fuß auf einer Parkbank abgestützt. Er erzählte mir, dass sein echter Vater im Krieg gestorben sei, ein anderer Mann habe ihn aufgezogen. Das hatte er erst Jahre später erfahren, als ihm in einem Schrank seiner Mutter ein paar Papiere unterkamen, welche die Wahrheit über den Tausch seiner Väter enthüllten, den mitzubekommen er zu jung gewesen war.
»Immer wenn ich Chopins Nocturne Nr. 13 spiele, widme ich sie dem Vater, den ich nicht kennengelernt habe«, sagte Waleri. »Es ist unmöglich, die Vergangenheit loszuwerden. Ein sehr wichtiges Gefühl für künstlerisch gesinnte Menschen.«
Wieder im Hotel, suchte ich den auf dem Boden verstreuten Inhalt meiner Tasche zusammen, ein Kuddelmuddel von Büchern über die Geschichte des Klaviers, Demidoffs Jagdnotizen und dem ganzen bürokratischen Papierkram, den die russischen Behörden Ausländern gewohnheitsmäßig zumuten. Auf meinem Mantel waren Wassertröpfchen eingetrocknet und hatten Salzflecken hinterlassen. An meinen Wanderschuhen hingen Fetzen von Seegras. Ich war gespannt auf diesen nächsten Abschnitt meiner Reise — die Kommandeurinseln, eine immer noch eng in bürokratische Vorschriften eingezwängte sensible Grenzregion, dann südwärts auf die Kurilen, wofür nur schwer ein Visum zu ergattern ist. Ich würde an einer Touristenfahrt zur Vogelbeobachtung teilnehmen, auf einem von nur wenigen Schiffen, die alljährlich diese Fahrt unternehmen. Die Erfolgsaussichten waren gering, aber abgesehen davon, dass ich alle Meeresvögel sehen würde, die auf ihren Zügen diese Inseln besuchen, konnte ich auch nach Klavieren suchen, waren doch die Inseln ein Zwischenstopp auf der alten Seeroute von Sibirien nach Amerika gewesen. Inzwischen hatte ich auch zwei gute Indizien: Waleri Krawtschenkos Pianino aus der Sowjetzeit, auf dem er fünfzig Jahre zuvor im Holzhaus des Klubs im Dorf Nikolskoje auf der Beringinsel gespielt hatte, und ein Instrument, von dem mir ein Ex-Soldat erzählt hatte, der auf den Kurilen stationiert gewesen war. Er erinnerte sich an ein Klavier aus der Vorrevolutionszeit auf Kunaschir im südlichen Teil der Inselkette. Zum letzten Mal hatte er es in einem alten Schiff gesehen, das am Landvorsprung lag. Damals in den Achtzigern hatte er sogar darauf gespielt. Er wolle wetten, dass es noch dort sei. Einmal auf den Kurilen, immer auf den Kurilen, so hieß es, als gäbe es keinen anderen Ort, wo man hinkönne.