2011 begann der britische Autor Horatio Clare eine Suche in den europäischen Feuchtgebieten, um einen kleinen, möglicherweise schon ausgestorbenen Zugvogel zu finden, den Dünnschnabel-Brachvogel. Zwar bekam Clare dessen dünnen, abwärtsgebogenen Schnabel nie zu Gesicht, aber falls es noch welche von diesen Geschöpfen geben sollte, dann würden sie irgendwo in Sibirien existieren. Orison for a Curlew (Gebet für einen Brachvogel) ist Clares elegantes Gebet um eine minimale Chance: dass dieser am Rande des Aussterbens taumelnde zarte kleine Vogel außerhalb der Sicht des Menschen in der Taiga noch existieren möge. Clare argumentiert mit unerschütterlicher Überzeugung, dass »zu viel Gewissheit etwas Armseliges ist«. Ich hielt mich an denselben Gedanken, als ich ein Schiff mit Vogelbeobachtern bestieg, mit denen ich nichts gemeinsam hatte als das Verlangen, eine Rarität zu finden.
Ende Mai verließ unser als Forschungsschiff konzipiertes Gefährt Petropawlowsk Richtung Osten zu den Kommandeurinseln. Sie bestehen aus zwei Hauptinseln, Bering und Medny, und einem Schwarm kleinerer Inselchen. Die Taue des Lotsenbootes knarrten, als wir aus dem schlanken Hals der Awatscha-Bucht glitten, um die Nordspitze des Kurilengrabens zu kreuzen. Im 19. Jahrhundert war diese Meeresrinne die tiefste, die man kannte; gemessen hatte man sie mit einem aus Klavierdraht gefertigten Mechanismus. Wenn ein Hauch Nonsens an dieser Methode war, die Tiefen des Nordpazifik zu ergründen, dann zugleich ein düsterer Schauder: Klavierdraht hatten die Sowjets auch dazu benutzt, im Zweiten Weltkrieg Verräter zu hängen.
Wir überquerten die Linie, wo der asiatische Kontinentalschelf sich am mächtigen Pazifischen Graben reibt, wobei der Subduktionsdruck alle möglichen rastlosen Wellen und unvorhersehbare Eruptionen hervorruft. Auf der Schiffsbrücke flackerten piepsende Skalen, sie war ausgestattet mit Telefonhörern, Bildschirmen und roten, mit kyrillischer Schrift markierten Knöpfen. Im Hintergrund der Brücke war der Obermaat mit Winkelmessern und Linealen zugange, um unsere Fahrt auf einer in Licht getauchten Karte zu markieren. Jemand hatte auf den Falz mit Bleistift »Wal« geschrieben, als wäre er für immer dort — ein ewig im Abgrund lauernder Moby Dick.
Zwei Tage später landeten wir an den Kommandeurinseln. Am westlichen Ende der Aleuten-Kette positioniert, hängen sie wie eine Halskette zwischen Russland und Alaska. Wir ankerten zuerst vor Medny. Auf eine düstere Art verlockend, ist dies ungefähr der entfernteste Ort, den man in Russland ansteuern kann — die stille, letzte Ellipse am Ende der stürmischen Geschichte dieses riesigen Landes. Es ist die äußerste Grenze Sibiriens, ein winziges kontinentales Fragment, wo Meer und Land in einem Zustand ständiger Spannung und Unruhe miteinander kämpfen. Medny ist dort, wo Eurasien endgültig ausläuft, ein hoher, festungsartiger Höhenzug etwa 320 Kilometer von Amerika entfernt. Tiefwasserkanäle hier und in den Kurilen bieten Korridore für Atom-U-Boote, die in den tieferen Breitengraden des Nordpazifik patrouillieren.
Da es nur spärliche Hinweise auf irgendeine bedeutendere menschliche Besiedlung gab, setzte ich meine Hoffnung auf die nachgewiesene Erfolgsrate des Schiffsführers, die letzten Gelegenheiten an den Grenzen Russlands aufzuspüren, seien es nun die seltenen Arten, hinter denen die Vogelbeobachter her waren, oder in meinem Fall Klaviere. Rodney Russ, der Neuseeländer, der unser russisches Schiff gechartert hatte, war ein Typ wie Nansen: attraktiv, breitschultrig, mit kurzgeschnittenem Haar und Wetterfältchen um die Augen. Die eine Hälfte des Jahres verbrachte er im Südpolarmeer, die andere in Sibirien. Seine orangen Wathosen legte er selten ab, und seine kleine Kajüte war voll von den besten englischsprachigen Büchern über Sibirien, die ich außerhalb der British Library gefunden hatte. In den zwanzig Jahren, in denen er am pazifischen und arktischen Rand Russlands unterwegs gewesen war, hatte Russ bedeutende wissenschaftliche Forschungen unternommen. Er hatte wichtige Sichtungen von Atlantischen Nordkapern, einer Art Glattwale, gemacht (vor fünfzehn Jahren nahm man an, dass nur ein paar Dutzend dieser Geschöpfe existierten). Und er und seine Kollegen hatten auch einen neuen Brutplatz des höchst gefährdeten Löffelstrandläufers ausgemacht. Dies ist ein außergewöhnlicher Vogel mit einem langen, schmalen Schnabel, dessen Spitze wie ein schwarzes Pik-Ass aussieht. Neuere Forschungen lassen vermuten, dass weltweit nur noch weniger als 250 Brutpaare übrig sind, und so war Russ’ Entdeckung von Eiern des Löffelstrandläufers in einem Feld voller Moltebeeren in der Tundra so, als hätte man Leben auf dem Mond entdeckt.
Alle auf dem Schiff wussten von der Entdeckung des Sandläufers: ein Vogelbeobachter aus Nordengland, der früher Polizistenhelme gesammelt hatte, ein Tierarzt, noch einer von den »großen Listenführern« (»Nummer 39 der Welt«, flüsterte seine Nemesis), ein ehemaliger Lehrer, der einen Karrierewechsel vollzogen hatte, um mehr Zeit für die Vogelbeobachtung zu haben. Sie unterhielten sich in einer Privatsprache. Sie redeten von »Gripping off« (Prahlen über eine Sichtung, die einem anderen Vogelbeobachter entgangen war), »Stringing« (so tun, als hätte man einen seltenen Vogel gesichtet), »Dipping« (eine Reise unternehmen, um einen seltenen Vogel zu sehen, den man dann aber nicht zu Gesicht bekommt) und »Twitching« (ein Twitcher jagt für seine »Liste« einem seltenen Vogel nach, einzelne Irrgäste — Vögel, die außerhalb ihres Habitats auftauchen — eingeschlossen, und unterscheidet sich so von einem Vogelbeobachter, der im natürlichen Lebensraum eines Vogels eine Sichtung macht). Jeden Abend verglichen die Gruppenmitglieder in der Bar ihre Aufzeichnungen. Kleinliche Eifersüchteleien, unter einer dünnen Schicht der Zivilisation kaum verborgen, brachen auf in Anschuldigungen, die Etikette nicht befolgt zu haben. Es dauerte nicht lange, und zwei Reisende wechselten kein Wort mehr wegen irgendeines Vorfalls von Sabotage oder »Flushing« (wenn ein Vogelbeobachter die Beute eines anderen aufscheucht). Jeder der beiden erzählte eine unterschiedliche Version desselben Vorfalls.
Anfangs wich ich direkten Fragen aus, was ich hier täte; ich wollte nicht zu freundlich sein, damit ich Zeit zum Schreiben hatte. Wie es sich herausstellte, hatte ich nichts von den Aufmerksamkeiten meiner Mitreisenden zu befürchten. Als ich schließlich die wahren Motive preisgab, warum ich diese Reise unternahm, wurde mir klar, dass meine Klaviersuche so weit außerhalb des Vogelbeobachtungsspektrums lag, dass außer Mary, meiner achtzigjährigen Kabinengenossin, ohnehin beim Essen niemand neben mir sitzen wollte.
Mary und ich verstanden uns prächtig. Waren wir auf See, ruhten wir uns beide in der Kabine aus. Sie vertrieb sich die Zeit damit, ihre Listen zu ordnen, sich mit den neuen Spezies, die sie zu finden hoffte, vertraut zu machen; ihre Bilder waren in ihrem mit zahlreichen Anmerkungen versehenen Buch über die Vögel im russischen Fernen Osten genau beschrieben. Ich tat dasselbe, meine Liste enthielt alle Instrumente, die ich während meiner Reisen bereits abgehakt hatte, und die Geschichte jeder Marke war in meinem Führer zu den großen Klavierbauern Russlands abgehandelt.1
Inzwischen hatte ich eine Shortlist von etwa fünfzehn Möglichkeiten. Darunter waren die Klaviere, denen ich genauer nachforschen musste, so wie der Bechstein aus Kjachta. Dann waren da die »ausgestorbenen« Klaviere, die wirklich und wahrhaftig verlorenen, wie der Flügel aus Magadan, den ich nur so zur Sicherheit auf der Liste ließ, weil ich ihn auf dem Foto so faszinierend fand. Es gab ein paar Instrumente, beschwert durch zu viel Geschichte — darunter das Becker aus Jekaterinburg, auf dessen Resonanzboden »Haus der Geschichte« stand, und schließlich Veras Mühlbach-Flügel. Dies waren die unantastbaren Schätze, die zu Russlands Nationalgeschichte gehörten; ich war froh, sie gefunden zu haben, wenn auch nur, um Aufmerksamkeit auf ihren potenziellen Wert zu lenken. Ich hatte eine Liste Klaviere, die man niemals ihren Besitzern wegnehmen konnte, so Olgas Bechstein, ursprünglich erworben um einen Sack Kartoffeln. Als Gegenleistung für die Zeit, die sie mir geschenkt hatten, schuldete ich diesen Leuten etwas von meinem Bericht, darunter Informationen, die ich später aus ausländischen Klavierfabriken bekommen wollte.2 Dann gab es die Longlist: gewöhnliche Klaviere, meist mit nicht vertrauenswürdiger Provenienz, die meisten durch meine gelegentlichen Aufrufe in sibirischen Medien gefunden. Nicht alle waren erfolgreich; einer dieser Versuche hatte zu einer Reihe telefonischer Belästigungen durch einen Mann geführt, der behauptete, aus einem Gefängnis in Krasnojarsk anzurufen. Ganz oben auf meiner Liste standen zwei Instrumente, auf die ich immer wieder zurückkam: das Grotrian-Steinweg aus Igor Lomatschenkos Zimmer 1037 im Keller des Nowosibirsker Opern- und Ballett-Theaters und der faszinierende Stürzwage-Flügel aus Chabarowsk, den ich mir noch genauer ansehen musste.
Während ich meine Funde so in Augenschein nahm, sah ich all die Überraschungen, die meine Suche zutage gefördert hatte — und wie jedes Klavier die unermessliche Größe Russlands auf ein menschliches Maß reduziert hatte. Hingerissen von den Sibiriern, die auf Klavieren spielen, sie aufbewahren, reparieren, zerbrechen, lieben und mit ihnen leben, war es schwer für mich, ihre halb vollendeten Geschichten einfach von der Liste zu streichen. Ich wollte unbedingt die wahre Geschichte des Nowosibirsker Steinway herausfinden, auf dem der Leningrader Philharmoniker im Exil möglicherweise gespielt hatte. Während wir südwärts fuhren, steigerte ich mich in Spintisierereien über die Instrumente hinein, zu denen es keine verlässlichen Spuren über ihre Herkunft gab. Ich jammerte Mary vor, dass ihre Liste immer länger wurde, meine sich jedoch unvollständig anfühlte. Ich wollte mehr solche Leute finden, die mir kleine Vorstöße in ihre Wohnungen erlaubt hatten: Russen wie den Tigerschützer in seinem Wald, der mir das Büschel goldenen Haares gezeigt hatte; den Aeroflot-Navigator, der aus sibirischer Lärche seinen Konzertsaal baute, oder den Jazzpianisten, den ich im Altai getroffen hatte, dessen üppige amerikanische Rhythmen den Schnee auf dem Dach seiner Datscha zum Zittern brachten, bis er schichtweise abrutschte und den Hund draußen erschreckte. Ich versuchte Mary zu erklären, wie die sibirischen Schneebuckel, wie Grabhügel, alles und nichts verdecken, wie bescheidene Dorfhäuschen Geschichten bergen, die keiner je erfahren wird. Das war jener Teil von mir, den ich an Sibirien verloren hatte — die verwirrende Erkenntnis, dass man immer noch weiter gehen musste.
Der Philosoph, Schriftsteller und Ökologe Henry David Thoreau kritisierte in seinem privaten Tagebuch solch esoterisches Abenteuern: »In einem anderen Frühling kann ich Postbote in Peru sein oder Pflanzer in Südafrika oder ein Verbannter in Sibirien … Doch was soll’s? … Unsere Glieder haben in der Tat Platz genug, doch unsere Seelen rosten in einer Ecke ein. Mögen wir ununterbrochen im Innern wandern …« Ich wusste, dass ich stillsitzen sollte, neben dem Bullauge lesen und zusehen, wie die Himmel vorüberzogen. Ich musste mir den Genuss erlauben, in die literarischen Abenteuer anderer Schriftsteller in Sibirien verwickelt zu werden, mich an all die Orte führen zu lassen, wo ich nicht hinkonnte — die Inseln in der Laptewsee, Tschukotka, das Putorana-Plateau. Ich wollte jenen Augenblick in der Geschichte erhaschen, an dem ich am liebsten eine Reisende in Russland gewesen wäre: in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Tschechow unterwegs war und die Klaviere der Nation ihre klangvollste Stimme besaßen. Die Geschichten aus dieser Zeit sind angesichts der Brutalität des Verbannungssystems natürlich verstörend, aber auch voller Erstaunlichem. Unter ihnen ist ein Buch, das ich heiß liebe: On Sledge and Horseback to Outcast Siberian Lepers von Kate Marsden, einer unverheirateten Krankenschwester, die im selben Jahr wie Tschechow aus England in eine Leprakolonie in der Nähe von Jakutsk kam. Auf ihrer handgezeichneten Reise-Landkarte ist der Weg, den sie von St. Petersburg nach Jakutsk nahm, als »abgeschlossen« markiert; die andere Route, eine Linie oben an Sibirien entlang bis zur schmalen Landenge von Kamtschatka, ist mit einem sehnsüchtigen »angedacht« markiert.
Marsden behauptete, sie werde ein sibirisches Kraut finden, mit dem man die Lepra heilen könne. Es dauerte allerdings nicht lange, und das Zauberkraut taucht in ihrem Bericht so gut wie gar nicht mehr auf. Aufschlussreiche Randbemerkungen in ihren Memoiren lassen erkennen, dass sie eine viktorianische Abenteurerin war, die den Fesseln ihrer Zeit und ihres Geschlechts zu entkommen suchte. Sie muss sich die Herabsetzung der Männer gefallen lassen — »gewiss war es ganz natürlich für die Herren, zu meinen, dass ich wie die meisten meines Geschlechts das Ziel meiner Reise erreichen wolle, bevor ich noch losgefahren sei«. Und der aufblühenden feministischen Bewegung in Großbritannien tut sie auch nichts Gutes, wenn sie hin und wieder Bemerkungen einfließen lässt, die »reisende Damen« interessieren mochten, etwa Lobeshymnen über ihre Jaeger-Strümpfe: »Sogar meine eigene Aufmerksamkeit, muss ich bekennen, war einen Augenblick von den Aussätzigen abgelenkt durch die Überlegung, was ich anziehen sollte.« Trotzdem, ihre sibirische Reise war eine der härtesten, von denen je berichtet wurde. Sie betritt eine Gefängniszelle mit zwanzig Mördern und äußert sich über die Höflichkeit des Sträflings, der sie an der Hand nimmt, um sie durch die Dunkelheit des Gefängnisses zu geleiten. Sie attackiert einen einheimischen Papierindustriellen, dessen Fabrik einen Fluss verschmutzt. Sie beschreibt ein ausgestoßenes aussätziges Kind, das allein starb, Lehm im Magen, da es sich nichts zu essen beschaffen konnte. In Marsdens Geschichte fand ich vieles, das ich bewunderte, vor allem ihren Mut, ebenso wie bei all den Frauen, die auf meiner sibirischen Reise ein wichtiges Element gewesen waren. Aber ich musste auch auf die warnende Stimme hören, die laut und deutlich zu vernehmen war: Je mehr die englische Krankenschwester von Sibirien gefesselt gewesen war, desto mehr hatte sie das Objekt aus den Augen verloren, nach dem sie suchte.
Meine Kabinengenossin Mary gab sich erst gar nicht mit Selbstzweifeln ab. Was für ein Abenteuer, sagte sie jedes Mal, wenn ich ihr meinen Arm bot, um sie in einer schaukelnden pazifischen Dünung die Treppe hinauf und hinunter zu geleiten. Sie erklärte mir, dass Vogelbeobachter nie ihre Listen fertigstellten; es sei eine lebenslange Arbeit, denn keine Liste kann je definitiv sein. In der Welt der Ornithologie gibt es das Phänomen der »extralimitalen« Spezies, ein Ausdruck für Vögel am äußersten Rand ihrer Reichweite. Es mag eine gewisse Anzahl an weit fliegenden Vögeln hier oben im Nordpazifik geben, sagte sie. Und dann gibt es die »Flüchtlinge« — Exoten, die ihren Käfigen entkommen sind und eine einzelgängerische Population dort begonnen haben, wo sie nicht hingehört, und das an Orten, wo sie üblicherweise nicht hinwandern würden. Das solle mir Hoffnung geben, meinte sie: das musikalische Äquivalent eines in den Klappen nistenden blauen Kanarienvogels.
Ich fand Mary wunderbar. Sie lachte im Schlaf. Sie sprach über Blüten-Nomaden — Vögel, die Nektar nachjagen — und über den Ruf des Rotnacken-Honigfressers; zuhause in Canberra kam einer jeden Tag in ihren Garten, um zu singen. Er nimmt seine Frau mit, sagte sie, aber sie ist nicht ganz so toll wie er. Mary war auch boshaft. Beim Frühstück erzählte sie dem ehrgeizigsten Vogelbeobachter, dass er einen »Lebenslänglichen« (eine neue Spezies, die er seiner Liste hinzufügen hätte können) verpasst habe, der sei direkt an der Schiffsbrücke vorbeigeflogen, während er gerade am Heck gewesen sei. Als wir wieder in der Kabine waren, gestand sie, dass sie ihn zum Narren gehalten hatte.
Mary zeigte mir die Zugvögel, die wandernden Riesen, die hierherkamen, um sich am Auftrieb über dem Meeresgraben, wo das Ochotskische Meer sich mit den wärmeren Gewässern des Pazifik vermischt, Nahrung zu holen. Dies seien die evolutionären Champions, sagte sie, die um die halbe Welt flögen, um hierherzukommen, als Reaktion auf einen verborgenen Drang, der mit der Sonne und den Sternen und dem Magnetfeld der Erde zu tun hatte. Vor allem wollte ich unbedingt die Pfuhlschnepfe sehen, den Konzertflügel unter den Watvögeln. Die Pfuhlschnepfe, groß und langbeinig, gilt heute als derjenige Vogel, der die längste ununterbrochene Migration jeder Vogelart auf der Erde unternimmt. Es ist ein Watvogel mit einem breiten, bohnengroßen Gehirn, der das Wetter 48 Stunden, bevor der Wind wechselt, vorausahnen kann. Er kann beinahe zwölftausend Kilometer den Westrand des Pazifik hinauf in neun Tagen zurücklegen. Er ist zwischen der Nordspitze Neuseelands und Nordostsibirien unterwegs, und dieser monumentale Überflug ist beinahe doppelt so lang wie die Reise zu Land und zur See, die im 18. Jahrhundert der Entdecker Vitus Bering unternahm, dessen Frau Anna einen der frühesten Nachweise auf ein Clavichord in Sibirien hinterließ.
Im Juli 1741 landete Bering auf der Insel Kajak im Golf von Alaska, nur um dann auf dem Heimweg an der Küste der Kommandeurinseln auf Grund zu laufen. Ein paar Wochen nach dem Schiffbruch starb Bering; sein Tod wurde von George Steller verzeichnet, dem Expeditionsarzt und Naturforscher, der neun Monate als Schiffbrüchiger auf den Kommandeurinseln überlebte und sich von den einheimischen Seekühen, Manati genannt, ernährte. Steller beschrieb diese Kreaturen: Sie waren über sieben Meter lang, maßen um den Bauch sechs Meter im Durchmesser, ihr Fleisch schmeckte wie Rind. Sie produzierten Milch wie Kühe und ein butterartiges Fett; ein einziger Manati konnte vierzig hungrige Seeleute zwei Wochen lang ernähren. Die sogenannte Stellersche Seekuh war eine der »Entdeckungen« auf Berings Fahrt3; die andere war der amerikanische Kontinent selbst, was den Zaren die Basis gab, später Ansprüche auf ihre amerikanischen Besitzungen zu erheben, von Kalifornien bis Alaska. Das Territorium wurde dann zur Gänze an die Vereinigten Staaten verkauft, doch aus Gründen, die nicht ganz klar sind, setzte Zar Alexander II. die Kommandeurinseln nicht auf die Verkaufsliste. Dieses Versehen erwies sich als lukrativ. Die Kommandeurinseln besaßen prächtige Kolonien von Seebären, Seeottern und Küsten voller Blauer Polarfüchse. Als Berings überlebende Besatzung mit ihrer Ausbeute an Pelzen nach St. Petersburg zurückkehrte, dauerte es nicht lange, bis weitsichtige Pelzjäger das Potenzial der Inseln erkannten.
Als wir an der Insel Medny anlegten, war der winterliche Mantel aus Meereis abgeschmolzen, und so konnten wir am Rand eines überschwemmten Einsturzkraters ankern, wo einst ein Vulkan Lava ausgestoßen hatte. Um das Schiff ragten hohe, von Wasserfällen durchzogene und von milchigem Nebel gekrönte Klippen empor. Einen Moment lang hätte dies Hawaii sein können — das samtige Grün, der launische Wechsel von Sonne und Schatten, das Meer ein klumpiger Eintopf auf einer Seite der Bucht und ein schmieriger Spiegel auf der anderen. Dutzende Eissturmvögel flogen über die wogende Dünung, wobei sie den Aufwind durch das Meer zum Fliegen nutzten. Die Vögel glitten in breiten Schwüngen dahin, stemmten sich gegen den Wind. Trottellummen schossen die Hänge herunter und stellten sich dann in Reihen auf. Gelbschupflunde mit fassartigen Bäuchen sind im Meer ruhig, beim Nisten aber grummeln sie wie alte Männer.
Mit Gummischlauchbooten landeten wir an einem Strand voller kupfergrün getönter Steine. Zwischen dem Treibholz lagen Rückenwirbel von Seehunden. Der Kadaver eines Polarfuchses lag eingerollt am Rand des Grases, wie ein Hund, der auf die Rückkehr seines Herrn wartet. Ich fragte mich, ob die russischen Grenzwachen, die einst in den paar baufälligen Gebäuden hausten, irgendwann einmal vielleicht ein Klavier zur Unterhaltung verlangt haben mochten. Zerstreuungen, welcher Art auch immer, mussten eine Überlebensnotwendigkeit gewesen sein, um zumindest das Geräusch der im pazifischen Sturm klappernden Fenster zu übertönen.
Die Vogelkundler machten sich auf den Weg dorthin, wo Brutkolonien die Klippen mit Streifen überzogen. Ich ging in die andere Richtung. Ein paar tapfere Blumen waren zu sehen — blassgelbe Primeln und Anemonen. Von der Flutlinie her wehte der Geruch nach Tang, wann immer der Wind abebbte. Vom Wetter oxidierte Maschinenteile lagen in drei Gebäuden ohne Dach.
Von 1826 bis 1970 war dies ein Dorf mit ein paar Dutzend Häusern, einer kleinen Kirche und einem hölzernen Kutter gewesen; unter den Einwohnern befanden sich indigene Aleuten, die von den Aleuten hierhergeholt worden waren, um Pelze zu sammeln. In der Sowjetzeit wurden die Nachkommen dieser Indigenen auf die benachbarte Beringinsel umgesiedelt, wo sich heute die einzige Siedlung der Kommandeurinseln befindet, etwa sechshundert Menschen. Sogar der Grenzposten auf der Insel Medny wurde im Gefolge des harten Winters von 2002 aufgelassen. In diesem Jahr wagten sich zwölf Soldaten hinaus, um Treibholz zu suchen, der einzige Brennstoff an einem Ort ohne Bäume. Sie gingen tagelang, zerrten ihre Ausbeute mit Seilen auf ein Floß und ließen sich und das Holz zum Lager driften. Doch ein Sturm trieb das Floß aufs Meer hinaus, eine der letzten Tragödien in der einsamen Vergangenheit der Insel.
Einst konnte man auf diesem gottverlassenen Flecken Erde ein gutes Auskommen finden. Ende des 19. Jahrhunderts pachtete eine amerikanische Handelsgesellschaft die Inseln von der russischen Regierung, um dort Seeotter zu fangen. Der Pelzhandel auf Medny war bedeutend genug, dass sich der Import von Grabsteinen für die Angestellten aus San Francisco lohnte. Ich stieß auf Marmorblöcke und windschiefe Kreuze, die sich mühsam im Marschboden aufrecht hielten. Aufgescharrte Erde enthüllte mannsgroße Buckel im Boden, abgesehen von einem steinernen Denkmal dort, wo zwei aleutische Schwestern miteinander beerdigt worden waren, unweit von der Stelle, wo die Wange der Insel ins Meer abrutschte. Durch Löcher in den Felsen unter mir schoss die Gischt empor. Es war etwas Großartiges an dieser Landkante, etwas Magnetisierendes an der aufwühlenden Kraft des Ozeans.
Dann kam aus dem Nirgendwo einer der Vogelbeobachter hinter mir herauf. Er trug einen kleinen Lautsprecher, aus dem aufgenommener Vogelgesang tönte.
»So lockt man sie an«, sagte er.
Er wartete eine Weile auf die Reaktion eines lebendigen Vogels.
»Wenn man darin gut ist, kann man mit dem Gehör Vögel sammeln.«
In meiner Kajüte fragte dann ich bei Mary nach, ob man einen Vogel auf der Liste abhaken konnte, wenn man ihn bloß singen gehört hatte.
»Au nee«, sagte sie in ihrem gedehnten australischen Tonfall; »ich hak keinen Vogel ab, wenn ich ihn nicht gesehen hab. Ich mag ja schönes Gezwitscher, aber man muss nen Vogel sehen, damit es was bedeutet.«
Wir fuhren weiter auf die Beringinsel, wohin Waleri Krawtschenko 1969 gekommen war; sein Auftritt war auf einer Anschlagtafel vor der Statue des Entdeckers am Kai von Nikolskoje angekündigt worden. Damals in den 1960ern waren die Zeiten gut gewesen. Es gab eine florierende Nerzfarm, die Löhne waren hoch, die sowjetische Unterstützungsmaschinerie wohltätig. Waleris Konzert fand im Kulturhaus statt, damals war die Bevölkerungszahl doppelt so hoch wie jetzt. Er brachte der winzigen Kommune Chopin, genauso wie es sein Freund David Lerner dreißig Jahre zuvor getan hatte, als er mit seinem Ibach in Petropawlowsk angekommen war.
Seit der Perestroika allerdings war nichts mehr so, wie es gewesen war. Am Landeplatz lagen kaputte Boote herum. Im Unterdorf von Nikolskoje war der Fußballplatz gesäumt von beinlosen Sitzen. Am Fensterbrett eines halb verlassenen Hauses hatten sogar die Seidenblumen ihre Blätter abgeworfen. So fragil waren einige der Gebäude, dass es nur eines milden Sturms bedurft hätte, um die letzten Reste wegzufegen. Das war schon einmal geschehen, als die Ausläufer eines Tsunamis unverhofft die Insel trafen. Hier, an dieser vom Sturm aufgeschürften Küste der Beringinsel, hatte Waleri sein Klavier im hölzernen Klubhaus zurückgelassen.
Ich besuchte die Redaktion der Zeitung in Nikolskoje. Die Herausgeberin wusste nichts von Waleris Klavier, meinte aber, in der nächsten Ausgabe werde sie eine Notiz einrücken. Ich eilte den Hügel hinauf zum neuen Stadtteil und seinem modernen Kulturhaus; es blieb wenig Zeit, da das Schiff seinen Vogelbeobachtungs-Zeitplan einhalten musste, statt auf mich zu warten, ob ich ein Instrument fand. Die Direktorin des Kulturhauses meinte, es lebe nur eine Musiklehrerin auf der Insel, die Frau des Priesters. Es existierten hier keine alten Klaviere, meinte sie. Dann trieb ich eine Frau auf, die sich an Waleris Instrument erinnerte. Es hatte ein durch einen Kurzschluss verursachtes Feuer gegeben — vielleicht im November, irgendwann in den achtziger Jahren. Sie sagte, das Klavier sei verschwunden, doch das Vermächtnis existiere weiter. Sie hatte immer klassische Klaviermusik auf allen Platten gehört, die sie nur in die Hände bekommen konnte — hier draußen, auf diesem winzigen Leuchtfunken Land, der Russland von Amerika trennte.
Wir verließen die Kommandeurinseln, um südwärts am Kap der Halbinsel Kamtschatka vorbeizufahren, hin und wieder vorüber an Schiffswracks, deren Hülle die Tsunamis beiseitegeschleudert hatten. Die Kadaver der Schiffe nahe am Ufer waren in gespenstische Nebel gehüllt. Wir nahmen unseren Weg Richtung Kurilen. Die Nördlichen Kurilen sind eine wüste Gegend. Heftige Sturmböen reißen dem Meer die Oberfläche auf und erzeugen Gischt wie Rauchfahnen, die Brandung wirbelt um Basaltklippen. Die Südlichen Kurilen sind milder. Sie sind mit Zedernwäldern bedeckt, mit heißen Quellen und wispernden Bambuswäldchen.
Ich hatte zehn Tage vor mir, um mich in der relativen Wärme des Juni durch diese Kette zu schlängeln, von oben bis ganz nach unten. Im Winter wäre meine Reise nicht so einfach gewesen, sagte ein ehemaliger Kapitän, den ich auf Sachalin getroffen hatte; er hatte fünfzig Jahre lang einen Fischkutter im Ochotskischen Meer und im Nordpazifik gesteuert. Das Schiff war sechs Monate auf See, manchmal noch länger. Um die Tage auszufüllen, überredete der Kapitän seine Crew, ein Klavier zu kaufen — alle beteiligten sich mit einem Teil ihrer Bonuszahlung —, das dann mit ihnen in die Beringsee reiste und die Kurilen hinauf und hinunter, sogar bis in die russische Arktis. Er sprach über die Freude, die das Instrument ihnen schenkte, und dass er sich das Klavierspielen selbst beigebracht habe. Einmal hatte er neun Monate auf See verbracht, ohne nur einmal Land zu berühren. Im Winter, sagte er, konnten die Stürme so brutal sein, dass das Wasser an der Schiffsseite anfror, bis es gefährliche Schlagseite bekam.
Sogar jetzt, wo es Sommer war, wurden unsere Pläne von launischem Wetter diktiert. Wegen starken Nordwinds konnten wir nicht an der Atlassow-Insel anlegen, dem höchsten Vulkan des Archipels. Und an Matua durften wir nicht zu nahe heran, da die Seeleute die Benachrichtigung über eine neue Sperrzone erhalten hatten. Alle zwei Stunden fragte unser Kapitän bei den russischen Behörden nach. Dies war immer eine sensible Grenzzone gewesen, die Besitzverhältnisse der Inseln oszillierten in verschiedenen Souveränitätsansprüchen zwischen Russland — die Kurilen tauchten 1700 zuerst auf von Semjon Remesow, dem Landkartenzeichner aus Tobolsk, angefertigten Landkarten auf — und Japan. Im Pazifikkrieg wurde aus Matua ein Labyrinth aus Schützengräben. Von der Insel Iturup war die japanische Flotte ausgelaufen, um ihren Angriff auf Pearl Harbor zu starten. Sogar heute noch brodelt der Konflikt auf den südlichen Inseln weiter: Russland und Japan haben seit der Beendigung der Feindseligkeiten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer keinen Friedensvertrag unterzeichnet, seit Stalin die Kurilen von Japan zurückeroberte und frische russische Kader hinschickte, um das Land zu bevölkern.
Während ich mich auf dem Schiff durch die Sibirien-Bibliothek des Neuseeländers arbeitete, war meine Übersetzerin auf Sachalin, wo ich sie ein paar Wochen später traf. Per Telefon und lokalen Medien zog sie Erkundigungen ein, und zudem versuchte sie etwas über das Instrument eines ehemaligen Soldaten herauszufinden, der auf der Kurilen-Insel Kunaschir gearbeitet hatte. Schließlich kam ein Foto davon, auf dem das Klavier in seinem jetzigen Zustand zu sehen war. Nur noch der gusseiserne Rahmen des Klaviers war übrig, ein moribundes Stück Altmetall, das im jungen Bambus des Sommers ertrank. Es war ein Rösler aus tschechischer Produktion, die Seriennummer datierte das Klavier auf die Zeit vor der Oktoberrevolution. Der Soldat sagte, es habe einem sowjetischen Musiker gehört, der in den 1950ern auf die Inseln gekommen war. Ich kontaktierte einen lokalen Museumsarchivar, aber niemand erinnerte sich an den Pianisten, weder woher er gekommen war noch an seinen Namen. Seine Geschichte war in Vergessenheit geraten an einem Ort, den sowjetische Historiker »das Ende der Welt« zu nennen pflegten, finis mundi.
Wir fuhren Richtung Süden. Die kegelstumpfförmigen Gipfel der Inseln tauchten auf und verschwanden wieder. Manchmal waren ihre felsigen Spitzen mit Schnee bebändert, manchmal von Lava zerschrammt. Dann senkte sich der Nebel wieder, und ich konnte kaum ein paar Meter weit sehen. Es roch nach Seetang und stinkenden Gasen aus verborgenen vulkanischen Schloten. Auf den Kurilen sind Tsunamis nichts Besonderes, wenn der Pazifik Atem holt und alles verschluckt, was in den Weg seiner Killerwogen gerät. Ständig bilden sich neue Inseln. Andere kippen, sacken zusammen und verändern ihre Lage, während Tausende Meter darunter der Meeresgrund ächzt. Captain Henry James Snow, ein Pelzjäger um 1900, beschrieb das Gefühl, draußen auf See und unter Deck zu sein, als sein Schiff zu zittern begann. Dann kamen eine Reihe dumpfer Geräusche, bumm, bumm, die zwei Stunden lang andauerten, obwohl die Meeresoberfläche kaum aufgewühlt wurde.
Ich stand allein auf dem Schiffsvorderdeck, als wir ganz stillzustehen schienen. Es fühlte sich an wie eine Fermate, die lange Pause in einem Musikstück, wenn eine Note oder Pause länger ausgehalten wird, als es ihrem normalen Wert entspricht. Das Meer war glatt, es herrschte mysteriöse Stille. Alles wurde traurig und matt, als stecke das Schiff in einer Art Loch fest. Aus dem Schweigen schwang sich eine Möwe herbei, die Flügel ausgebreitet, die korallenroten Füße leuchtend im melancholischen Schimmer. Der Vogel erwischte mich beinahe mit seinem Flügel, bevor er zurückglitt in die Düsternis des Pazifischen Beckens, und der Flügelschlag driftete weg in einen Teil der Welt, der so abgelegen war, dass es Zeiten gab, in denen die Kurilen es nicht einmal auf die Landkarten schafften.
Im 18. Jahrhundert hatte der französische Entdecker Jean-François de La Pérouse gemeint, der einzige Zweck der Kurilen sei es, Schiffbrüchigen als Zufluchtsort zu dienen. Franklin D. Roosevelt erachtete sie als so unbedeutend, dass er bei einer Sitzung während der Konferenz von Jalta 1945 ihre Übergabe von den Japanern an die Sowjets schneller unterzeichnete, als Churchill brauchte, um seine Zigarre zu rauchen. Irgendwann in der Geschichte waren diese entlegenen Inseln von einem Gefängnisgouverneur verwaltet worden, und der Arm des Zaren war noch lang genug, um die indigenen Ainus zu übermannen, die schließlich verdrängt oder kulturell absorbiert wurden, entweder durch Russen von der Halbinsel Kamtschatka oder durch vom Süden her vordringende Japaner. Jäger kamen wegen der Felle und reduzierten die Seeotter-Population der Kurilen bis fast zur Auslöschung. Zehntausende Pelzrobben, man zog ihnen das Fell ab wie nasse Socken, wurden auf den Brutplätzen der Kurilen abgeschlachtet.
In der siebten Nacht ankerten wir vor der Insel Jankitscha, etwa in der Mitte des sogenannten »Nebel-Archipels« gelegen. Die Ankerkette rasselte hinunter ins Meer. Auf der anderen Seite des Festlandes stand eine Ansammlung einsamer Steindauben. Eine Schule Killerwale schien uns abschrecken zu wollen, sie kreisten dicht an unseren Schlauchbooten, als wir in einen eingesunkenen Vulkantrichter vorzudringen versuchten. In dunstigem Licht begannen Vögel herbeizufliegen. Es waren Hunderttausende — zuerst Schopfalke, dann Bartalke —, die auf dem Wasser schaukelten, bis die Oberfläche ganz schwarz war. Sie wirbelten hoch in dichten ballettartigen Pirouetten, wie Bienenschwärme, um ihre Wohngänge zu finden, weg von den giftigen Dämpfen der Mofetten. Es war ein hypnotisierendes Schauspiel des Lebens, eine ohrenbetäubende Kakophonie innerhalb der Wände des Vulkankegels, die Schwärme so dicht, dass sie das letzte Sonnenlicht verdeckten. Dies war Natur ohne Menschen, die auf einer immer noch in Ausformung begriffenen Insel gedieh.
Am nächsten Tag setzten wir unsere Fahrt fort zu einer Insel, die das Gegenteil war von Jankitschas verborgenem Eden. Simuschir war eine ehemalige sowjetische U-Boot-Basis, versteckt in einem halb eingesunkenen Vulkankegel; die enge Öffnung war durch eine dichte Nebelbank zugestöpselt. Als wir drinnen waren, war der Himmel klar und das türkisfarbene Wasser ruhig wie ein Mühlenteich. Abfall vom Militär verschmutzte den Strand.4
In das Land hinein reichte eine lange Reihe zweistöckiger Wohnblocks, denen die Fenster fehlten, das Glas war herausgebrochen, sie glichen Schädeln mit leeren Augenhöhlen. Aus einem Treibstoffdepot war Öl ausgelaufen. Fahrzeuge und Fässer, die der Sturm erfasst hatte, waren in Bodensenken geweht worden und ertranken im Gestrüpp. Metallene Eingeweide hingen aus den verrosteten Kühlerhauben von Militärjeeps.
Ich ging, um nach Hinweisen auf die Leute zu suchen, die hier gelebt haben mochten. Aber in all dem Gerümpel gab es keine menschlichen Gesichter. Nichts. Keinen Zeitungsausschnitt, kein in einer Schublade vergessenes Foto. Ich stolperte in das, was ehemals das Krankenhaus gewesen sein mochte, mit Glasampullen voller Pulver und kaputten Betten. Ich umrundete einen Zahnarztstuhl, zwischen Filmrollen und Lederstiefeln. Das Wandfresko einer roten Sichel blätterte ab. Ein anderes verblasstes Bild mit blasenwerfender Farbe zeigte den Einsturzkrater von Simuschir mit einer Raketenabschussrampe an einer Seite. In einem Saal, in dem wahrscheinlich die Order für den Tag erteilt worden war, stand ein Rednerpult oberhalb eines Raums voller umgestürzter Stühle, als wären die Zuhörer eben aufgestanden und gegangen und hätten die Stühle einfach weggestoßen.
Ich konnte die silbrige Musik von Singvögeln hören. Durch die Ritzen begannen Bäume emporzuwachsen, ihre rostbraunen Wurzeln und Äste langten nach Lichtspalten. Aus Flecken von zerbröckelndem Asphalt brachen Heckenrosen hervor. In einem Winkel nisteten ein paar Tannenhäher, die Küken geborgen in einem Bett aus Weidenkätzchen und Elektrodraht.
Wieder auf dem Schiff, erzählte mir Mary von einem Sibirischen Rubinkehlchen, das sie ein paar Meter von der Stelle auf dem Deck, wo sie gestanden war, gefunden hatte. Müde von seiner Reise, benutzte dieses winzige rotbrüstige Kehlchen unser Schiff als Floß. Es amüsierte sie, dass der kleine Vagabund sich eine Freifahrt erschlichen hatte. Sie fand es wunderbar, dass es uns gefunden hatte, wo es doch so viele Kilometer abseits seines Kurses geflogen war. So wie Mary wollte ich alt werden. Mary unternahm die Fahrt mit fünf groben Nähten quer über ein Knie, das sie sich zwei Tage vor unserer Abreise aufgeschlagen hatte. Meine Klaviersuche hielt sie nicht für Wahnsinn. Und es war egal, dass sie nicht zu den Nestern der Papageientaucher hinaufklettern konnte. Vielleicht hatte sie auch im Anmeldungsformular ein wenig geschwindelt, was ihre körperlichen Fähigkeiten anging, um einen Platz bei der Kreuzfahrt zu ergattern; aber vor allem weigerte sich Mary, in eine abgeschottete und reduzierte Welt hineinzuschrumpfen. Während ich sie im Schlaf glucksen hörte, wusste ich, dass sie besser als alle anderen verstand, warum wir beide hier waren, dass sogar an einer so schwierigen Gegend wie Sibirien etwas Magisches im Nebel verborgen sein mochte. Meine Klaviersuche und Marys vagabundierendes Kehlchen hatten mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte: Keine von uns war wegen der Gewissheit hier, aber wegen der unwahrscheinlichen Möglichkeit, dass sich ein kleines Wunder ereignen könnte.