Cheng folgte Frau Wolf auf ihr Zimmer, wo deren apfelbestückter kleiner Computer auf dem Schreibtisch lag, als warte hier eine versilberte Flunder auf ihre Fütterung.
Die Detektivin öffnete das Gerät, zog den USB -Stick aus ihrer Tasche und betrachtete ihn im Licht einer Tischlampe, um festzustellen, dass er in keiner Weise mit irgendeinem Logo oder Firmennamen ausgestattet war. So dünn, wie er war, war er mehr ein »unbeschriebenes Blatt«, wenn auch kaum in seinem Inneren.
Sie löste die Verschlusskappe und konnte sehen, dass es sich günstigerweise um einen Typ-C-Anschluss handelte, der in die Buchse ihrer »Flunder« passte. So verband sie das kleine Gerät, das eben noch tief im Fell eines Beutelsäugers verborgen gewesen war, mit ihrem Mac. Mit der Plötzlichkeit eines Wimpernschlags tauchte das silbergrau-rechteckige Symbol des Speichermediums auf dem Bildschirm auf.
Frau Wolf versah es mit einem Doppelklick. Woraufhin mit nicht ganz so raschem Wimpernschlag sich ein Fenster öffnete und um ein Kennwort bat, damit das Medium E. B._Beichte freigegeben werden konnte.
»Gut, das braucht uns jetzt aber nicht zu überraschen, dass der Stick verschlüsselt ist«, sagte Frau Wolf. »Und sicher nicht, weil hier sensible Daten über ein Beuteltier gespeichert wurden. Wenn das schon mal Beichte heißt.«
»Vielleicht finden wir ja hier einen Hinweis«, sagte Cheng und legte die aus Roscheks Buch herausgerissene Seite auf die Schreibtischfläche. – Aber das wäre nun zu einfach gewesen, hätte sich darauf so etwas wie eine eindeutige Zeichenfolge finden lassen. Wenn man einmal von der Datierung und der Widmung absah.
Frau Wolf meinte, dass man es immerhin mit einer Hardwareverschlüsselung zu tun habe, was also bedeute, dass man von jedem Computer aus auf das Flash-Laufwerk zugreifen könne, auch von dem ihren. Im Unterschied zu einer digitalen Signatur, die mit jener auf einer ganz bestimmten Rechenmaschine übereinstimmen müsse. Als würde man ein Gekritzel von Picasso präzise über ein völlig gleichgeartetes Gekritzel von Picasso legen.
»Ach was«, sagte Cheng, der Computern gegenüber eine gewisse Gehässigkeit auslebte, »und hier können wir also den Picasso über einen Magritte legen? Den Kubisten über den Surrealisten.«
»Gewissermaßen ja. Wenn wir das Passwort haben, die Verbindung zwischen den Stilen. Wobei … das ist schon ein ziemlich hochwertiges Gerät.«
»Also, ich weiß nicht«, sagte Cheng, »in Filmen sieht man immer, wie sich die Leute in einer solchen Situation vor den Computer hocken und dann – zack, zack! – zwei Passwörter eingeben, und so beim dritten Mal klappt es bereits.«
»Ja, im Film ist das Leben noch eine Freude«, sagte Frau Wolf und meinte, dass dieses Speichergerät sicherlich mit einem AES -Logarithmus versehen sei, welcher praktisch nicht zu knacken wäre. Auch würde man nicht ewig irgendwelche Passwörter eingeben können, in der Art, wie man sagt, wenn man einen Affen nahe an unendlich in eine Schreibmaschine tippen ließe, würde irgendwann ein Stück von Shakespeare dabei herauskommen. Nein, sie würden zehn Versuche haben und dann finito.
»Danach geht auch der Codierungsschlüssel flöten«, erklärte Frau Wolf. »Und so, wie es aussieht, hat das Ding sicher zusätzlich eine physische Sicherheitsbarriere. Ich wüsste leider gar nicht, welches Passwort …«
»Und wenn wir es mal mit Toby versuchen? Oder mit Andrew? «, fragte Cheng.
»Sie haben keine Ahnung, Cheng. Bei solchen Modellen wird stets ein komplexes Passwort verlangt.«
»Und Toby ist also nicht komplex?«
»Nicht, solange wir nicht ein paar Ziffern und Sonderzeichen seinem Namen untermischen.«
»Ihn also verzieren«, meinte Cheng.
»Wenn Sie so wollen. Jedenfalls werden wir uns das gut überlegen müssen, bevor wir beginnen, zehnmal ein falsches Passwort einzusetzen. Wir könnten natürlich versuchen, die Buchstaben und Daten auf dem Papier irgendwie zusammenzusetzen … aber nein, kein einziges Sonderzeichen hier.«
»Ich vermute mal«, sagte Cheng, »dass Oliver Roschek uns dabei weiterhelfen könnte.«
»Ja, dann hoffen wir doch, dass uns der Stick zu Roschek führt. Oder umgekehrt. Jetzt, wo wir das Ding immerhin aus seinem Wombat gezogen haben. Vielleicht führt ihn das zu uns .«
»Das ist schon alles sehr kompliziert«, meinte Cheng.
»Unsere Fälle sind immer kompliziert«, sagte Frau Wolf, »oder können Sie sich an etwas anderes erinnern?«
Er hätte jetzt erwidern müssen, sich eigentlich nur an sehr wenig zu erinnern, sagte aber nichts, sondern nickte. In dieses Nicken hinein meldete sich der Schmerz in seinem Kopf. Als seien es spezielle Bewegungen, die diesen unheimlichen Druck auslösten, ausgerechnet so geringfügige wie ein Nicken. Und gar nicht so sehr Anstrengungen wie die, vor einer Wombathöhle herumzuknien.
Er musste seine Augen schließen und die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzustöhnen.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Frau Wolf.
»Die Müdigkeit«, antwortete Cheng durch die geschlossene Zahnreihe.
»Es ist ja auch spät«, meinte Frau Wolf, »und morgen wartet immerhin ein Tauchgang mit Lottomillionären auf uns.«
Cheng ersparte sich zu sagen, dass er ganz sicher nicht tauchen werde, sondern verabschiedete sich mit einer flüchtigen Geste und wechselte hinüber in sein Zimmer am Ende des Gangs.
Er nahm jetzt ein Schmerzmittel ein, das er gerne mit einem Glas Whisky hinuntergespült hätte und nicht mit dem lauwarmen Wasser aus der Leitung oder dem eiskalten aus dem kleinen Kühlschrank. Es wurde dann aber doch das lauwarme.
Gleich darauf fiel er noch angezogen aufs Bett. Nur für einen kurzen Moment, dachte er sich. Er wollte ein wenig nachdenken, über irgendetwas Angenehmes. Von draußen drang das Geräusch der Grillen herein, als würde die Luft tausendfach zersägt werden. Gleich nach dem angenehmen Gedanken wollte er sich ausziehen, denn er schlief am liebsten nackt. Doch der Schlaf war schneller. Sogar die Kappe hatte er noch auf.
Wie er da lag, seine eine Hand auf dem Bauch, sah er aus – so ungerne er das hätte hören mögen – wie ein aufgebahrter Cricketspieler der japanischen Nationalmannschaft. Die übrigens tatsächlich in Dunkelblau spielt.[4]
Als Cheng erwachte – wie üblich, ohne sofort die Augen zu öffnen, und auf diese Weise einen Moment das Licht durch die geschlossenen Augen wahrnehmend, gedämpft vom Vorhang seiner Haut –, hörte er das Geräusch prasselnden Regens. Halb noch im Jenseits des Schlafs, dachte er sich: Großartig, ich muss nicht zum Tauchen! So, wie er sich früher, wenn er als Kind mit einem Fiebergefühl erwacht war, gedacht hatte: Großartig, ich muss nicht in die Schule! Die Schule war ihm der schrecklichste Ort auf der Welt gewesen, selbst noch bei Lehrern, die nicht gänzlich die Sadistenschiene fuhren. An die Tafel gerufen zu werden, war ihm als ein Akt vollkommener Erniedrigung erschienen, egal, wie gut oder schlecht er dort vorne an der Tafel gewesen war. Allein, wenn er an die Kreide zwischen seinen schweißnassen Fingern dachte, wie klebrig und krank sie sich angefühlt hatte, gleich etwas Schleimig-Sterbendem. Oder wenn selbiges Kreidestück vom heftigen Aufschreiben dummer Zahlen und dummer Wörter abbrach und er dann bloß mit dem bröckeligen Fragment auf der dunkelgrünen Tafel weiterschmierte. Auswendig Gelerntes, immer nur auswendig Gelerntes, dessen Sinn und Zweck ihm völlig verborgen blieb, nicht allein Formeln und Vokabeln, auch die Jahreszahlen der Kriege und der Epidemien und die Lebensdaten fremder Menschen. Das Auswendiglernen war das Einzige, was er sich in seiner Schulzeit wirklich angeeignet hatte. Erst mit dem Ende der Schule begann er, sich freudvoll und tiefgehend in die Bildung zu stürzen, indem er ein Studium der Landschaftspflege und Landschaftsarchitektur in Angriff nahm. Für ihn war die Universität wahrhaftig eine Befreiung gewesen, obgleich es dort ja auch Prüfungen und den einen oder anderen Sadisten gab. Aber es war anders gewesen, weil er das Gefühl hatte, die Thematik zu beherrschen und nicht von ihr beherrscht zu werden. Man kann sagen, die Landschaft war ihm freundlich gesinnt.
Das war lange vorbei. Da lag ein ganzes Detektivleben dazwischen, wie auch immer man vom Landschaftsarchitekten zum Privatermittler wurde (wobei er sich nicht einmal bewusst war, dass seine derzeitige Tarnung als Architekturkritiker sogar ein klein wenig mit diesem seinen frühen, prädetektivischen Leben zusammenpasste). Jedenfalls erweckte das prasselnde Geräusch des frühmorgendlichen Regens in Cheng genau dieses Gefühl, heute glücklicherweise nicht in die Schule zu müssen.
Klar, es war Regen und kein Fieber und Schule ein fernes Gespenst, aber vielleicht würde das Wetter die Fahrt hinüber zur Küste und hinaus aufs Meer zunichtemachen. Dabei mochte Cheng den Anblick des Meers. Was ihn störte, war die Vorstellung, auf einem kleinen Boot auf den Wellen reiten zu müssen und unter sich diese unheimliche Tiefe zu wissen. Das kam ihm noch schlimmer vor als die Tiefe, die man erlebte, wenn man aus einem Flugzeug sah. Zumindest wenn es Tag war und man immerhin den Abgrund erkennen konnte. Der finstere Abgrund hingegen war der schlimmste.
Cheng ließ heute seine Augen länger geschlossen als üblich und lauschte fortgesetzt dem Geräusch des Regens, in das sich von fern Kindergeschrei und ein Klavierspiel mischten. Das Klavier kam sicher nicht aus dem Radio oder dem Computer, sondern es war Livespiel, Debussy, mit einigen Fehlern da und dort. Aber die Fehler störten nicht, schienen geradezu wie ein Zeichen, dass die Welt noch stand und nicht untergegangen war.
Es klopfte an der Türe. Von draußen war die Stimme Frau Wolfs zu hören. Sie sagte, es sei Zeit fürs Frühstück, wenn man sich zur vereinbarten Zeit mit den Deutschen treffen wolle.
Cheng öffnete endlich seine Augen, richtete sich ein wenig auf und erklärte, es würde regnen.
»Ach ja, und? Das hört bald auf. Wir sehen uns auf der Terrasse, ich bestelle Ihnen schon mal Ihren Espresso.«
Richtig, er war ein Espresso-Mann und ein Filterkaffee-Hasser. Und richtig auch, dass es zu regnen aufhörte, als Cheng die Frühstücksterrasse betrat. Es tröpfelte noch ein wenig, aber die Sonne stach bereits herunter und ließ den Boden dampfen. Cheng griff sich an die Schläfe und setzte sich.
»Kopfschmerzen?«
»Ich brauche nur rasch einen Schluck«, sagte Cheng und nahm die kleine Tasse konzentrierten Kaffees, der auch wirklich half.
Mit der Tasse in der Hand lehnte er sich etwas zurück und fragte: »Was hoffen wir herauszufinden, wenn wir mit diesen Leuten einen Bootsausflug machen?«
»Das wissen Sie doch selbst, dass wir das tun müssen. Die vier verbergen etwas, und wir werden herausfinden, was es ist.«
»Haben Sie schon Nachricht von Ihrem BND -Freund?«
»Nein, noch nicht. Der schläft wohl gerade. In Berlin ist es jetzt kurz nach Mitternacht. Aber er wird sich melden.«
Und dann verriet sie Cheng, wo sie den USB -Stick hingetan hatte. Für alle Fälle.
Er nickte. Nickend spürte er das Ding in seinem Kopf. Es war fast so, als nicke das Ding zurück.
Trotzdem, Cheng würde nicht vergessen, wo Frau Wolf das kleine Speichergerät verwahrt hatte. Zumindest nicht sofort.
Und dann brachen sie auf, fuhren hinüber zu Suzy’s Table , wo die beiden Ehepaare gerade dabei waren, ihre Taucherausrüstungen in die Geländewagen zu verladen. Man begrüßte sich und trank drüben im Haus noch einen Kaffee – wobei Cheng kurz auf die Toilette ging und dabei an der Bibliothek vorbeikam, wo er mit einem raschen Blick erkannte, dass Roscheks Buch noch immer dort stand, wohin er es am Vorabend zurückgestellt hatte.
Danach fuhr man mit allen drei Wagen los, die beiden Monster vorneweg, dahinter der müde Kleinwagen, hinüber nach Gerringong und von dort ein Stück nach Norden hoch zum Hafen von Kiama.
»Die könnten echt etwas schneller fahren«, meinte Frau Wolf, »dafür, dass sie Deutsche sind.«
»Manche Leute«, meinte Cheng, nicht unfroh, dass Frau Wolf mal aufs Überholen verzichten musste, »wollen halt in keine Polizeikontrolle geraten.«
Vom Regen, den Cheng frühmorgens als so beglückend empfunden hatte, war nichts mehr zu sehen oder auch nur zu ahnen, als man Kiama erreichte, der Himmel wolkenlos blau. Alles trocken und wie gebügelt. Der kleine Hafen des Orts war an einer schmalen Landzunge untergebracht, mit ordentlich aufgereihten Nadelbäumen und ein paar frisch abgezogenen Tennisplätzen. Sehr sauber alles, auch die wenigen hübsch verankerten Boote. Darunter jene Segelyacht, die den vier Lottogewinnern gehörte. Wobei aus den Gesprächen hervorging, dass sie nicht nur dieses eine Boot besaßen, sondern mehrere über die Welt verteilt hatten, um nicht ständig irgendwo eines mieten zu müssen. Die Not der Millionäre.
Es handelte sich um eine moderne 14-Meter-Yacht mit drei Kabinen und einer Innenausstattung, die Cheng enttäuschte, weil sie so gar nicht nach Wasser und Meer und den Gefahren der Seefahrt aussah, sondern dank der vielen ins Deck eingelassenen Luken ungemein hell war und eher an einen Wintergarten denken ließ.
Stimmt, immerhin war Cheng ja Architekturkritiker, Leute, die so gerne von Form und Funktion sprachen. Aber es half nichts, man stach trotzdem in See. Mit einem Boot, das den Namen The Brave Fairy trug. Ein Boot außen ganz in Weiß. Wie aus einem Gletscher gebrochen.
Cheng trug wieder eine Art Cricketkleidung, aber diesmal nicht in Dunkelblau, sondern ganz in Schwarz, dazu eine Sonnenbrille, denn der Lichteinfall war beträchtlich. Hier im abgesenkten, holzgetäfelten und offenen Cockpitbereich mit den beiden Steuersäulen und der großzügigen Sitzgruppe. Am Steuer stand Carolin, die das Boot aufs offene Meer dirigierte, ein Meer in moderater Unruhe. Segel wurden keine gesetzt. Man war nicht zum Segeln, sondern zum Tauchen gekommen.
Der Plan für diesen Tag bestand in der Suche nach einem in den Sechzigerjahren nahe der Küste abgestürzten Kleinflugzeug, mehr eine Legende. Immerhin keine Legende von einem Schatz in einer verschollenen Cessna, aber doch die Legende, an Bord habe sich die entführte Nichte eines Industriellen befunden. Jedenfalls war diese Nichte nie wieder aufgetaucht, nicht einmal tot aus der tiefen See.
Büchners und Jensens waren somit nicht auf der Suche nach irgendeinem Vermögen – nach achtzig Jahre alten, vom Salzwasser zerfressenen Geldscheinen –, sondern es schien sie allein die Möglichkeit zu reizen, einer Legende zu Realität zu verhelfen. Man könnte auch sagen, sie waren auf der Suche nach einem achtzig Jahre alten Leichnam. Was sie mit viel Freude und Spannung erfüllte.
Stellte sich nur die Frage, wieso zwei von ihnen Harpunen dabeihatten. Um Haie zu erschrecken? Das Abendessen zu schießen?
Unter ihnen nun also auch Frau Wolf, die behauptet hatte, ein wenig tauchen zu können, und die ihren eigenen Taucheranzug mitgebracht hatte. Diesen aber nicht etwa bereits in Wien in weiser Voraussicht eingepackt hatte, sondern …
Auch Cheng wusste nicht, wie es ihr gelungen war – offensichtlich noch vor dem Frühstück –, sich das Neoprenkurzarmshirt und die passenden Shorts zu beschaffen, darüber sie nun einen schwarzen, mit weinroten Streifen versehenen Neoprenoverall trug. Sie sah aus, als könnte sie damit auch zu den Bayreuther Festspielen gehen. Im Unterschied zu den vier anderen, die in ihrer panzerartigen Ausstattung wirkten, als zögen sie in einen modernen Krieg.
Nachdem der Anker der mutigen Fee den Meeresgrund erreicht hatte und sich alle außer Cheng ihre Tauchflaschen umgeschnallt und die Atemregler und Finimeter und Tauchcomputer und das ganze nautische Equipment kontrolliert hatten, ließ man sich in der typischen Art des Rückwärtsfallens ins Wasser hinunter.
Cheng fand, es sehe aus wie ein Unglück. Als stürze eine Gruppe Karnevalisten von einer Brüstung.
Einer der Taucher setzte nun eine Boje, ein längliches Ding, das kerzengerade aus dem Wasser ragte und gleich der horizontalen Leuchtreklame eines Hotels etwa Zur Post die Aufschrift DIVER BELOW anzeigte.
Und weg waren sie.
Cheng blieb zurück an Bord, wartete einen Moment und begab sich dann in das Innere des Boots. Er sah sich um und versuchte in der für ihn üblichen Art, bereit zu sein. Seinen Schoß zu öffnen, damit ein wichtiges Detail hineinfallen konnte.
Natürlich, es war auch hier alles aufgeräumt und hergerichtet und klinisch sauber wie in Suzy’s Table , nur dass man nicht eine Redakteurin von ELLE Decoration , sondern eine von Yachting Monthly zu erwarten schien.
Cheng öffnete die eine oder andere Lade, einige Schränke und entdeckte einen kleinen Tresor, der aber so auffällig platziert war, dass er wohl eher der Ablenkung diente. Nein, nichts hier sprang ihn an, nichts in der Art eines Buchs, aus dem man eine Seite hätte heraustrennen können. Kein Passwort. Nicht einmal etwas Persönliches der vier Eigner.
Er kehrte zurück zum offenen Heck, setzte sich wieder auf die Sitzbank und schloss kurz die Augen. Der Schmerz hatte sich erneut gemeldet. In einer Weise, die für Cheng nun auch etwas wie Tauchen an sich hatte. Er tauchte in den Schmerz hinein, aber nicht wie ein Sporttaucher mit Pressluftflaschen am Rücken, sondern im Stil eines Apnoetauchers, der allein mit der Fülle einiger Atemzüge entlang der von einer Boje hinabführenden Leine in die Dunkelheit sinkt.
Es war wirklich so. Cheng hielt seinen Atem an und tauchte in die Bläue seines Schmerzes, bald ins Schwarz, von dem er sodann vollständig umgeben war. Der Schmerz wurde so mächtig, dass Cheng vergaß, dass ihm eigentlich gerade die Luft ausging, mal abgesehen davon, dass er ja nicht unter Wasser war und augenblicklich wieder zu atmen hätte beginnen können. Aber mit seinem Schmerz vereint, vergaß er es für einen Moment. Und ähnlich wie beim Apnoetauchen verringerte sich mit der Tiefe auch der eigene Auftrieb, sodass es immer weniger Kraft brauchte, um weiter nach unten zu sinken und auf den Boden dieses Schmerzes zu gelangen. Wo es so schwarz war und der Druck so beträchtlich, dass Cheng sich zu einem winzig kleinen Punkt zusammengequetscht fühlte.
»Hey!«
Mit der Geschwindigkeit eines Aufzugs kehrte Cheng aus seinem Schmerz an die Oberfläche zurück, zurück an die Luft, begann, wieder zu atmen – ein kleines Schnappen bloß, kein großes Luftholen –, öffnete die Augen und blickte zu Tilda, die soeben an Bord gekommen war und der das Meerwasser wie salziger Sprudel vom gummierten Körper tropfte. Und die mit ihrer Romy-Schneider-Stimme soeben Hey! gerufen hatte.
»Schon zurück?«, staunte Cheng.
»Ja, ich hatte Lust, wieder hochzukommen«, sagte sie, und fügte an: »Und Lust, mit Ihnen eine Flasche Champagner zu öffnen und über Wien zu sprechen.«
Cheng sah theatralisch auf seine Uhr, die noch ganz traditionell an seinem Handgelenk hing, und meinte: »Es ist früh für Champagner. Sie halten mich offensichtlich für einen Trinker.«
»Ich halte uns beide für Trinker«, sagte die Frau mit dem Triathlonkörper und befreite sich von ihrer Ausrüstung und dem Taucheranzug, unter dem sie einen dunklen Sportbikini trug, mit so einem kleinen weißen Markenzeichen, das aussah, als sei die Trägerin abgehakt worden. Allerdings war sie wohl eher der Typ, der selbst etwas abhakte.
Jedenfalls griff sie nach einem Handtuch, mit dem sie ihren Körper und ihr Haar mehr trocken wehte als trocken rieb, begab sich kurz unter Deck und kehrte mit zwei gefüllten Sektgläsern zurück. Eines davon reichte sie Cheng. Sie setzte sich neben ihn auf die Sitzbank, stieß ihr Glas gegen das seine und sagte: »Ganbei!«
O Gott, wie er das hasste! Dieses chinesische Wort, das so gerne verwendet wurde, wenn es hieß, man solle etwas »auf ex« trinken. Einerseits, weil es Chinesisch war und Cheng auffallend oft damit konfrontiert wurde – und zwar von Leuten, die gewiss keine Chinesen waren –, und andererseits, weil er es verabscheute, etwas, gleich was, in einem Satz auszutrinken. Noch dazu in einem kurzen Satz. In einem Satz zum Beispiel von der Länge eines der 33 Sätze, die absolut keinen Sinn ergeben, aber von bedeutenden Leuten stammen , und zwar diesen: »Kein Haar kann eine Suppe kochen.« Gesagt vom Trainer einer irischen Hurling-Mannschaft nach einer fatalen Niederlage.
Kein Haar kann eine Suppe kochen dauerte es, dann hatten Tilda und Cheng in etwa zur gleichen Zeit ihr Glas Champagner ausgetrunken.
»Komm, lass uns hinunter in die Kabine gehen«, wechselte Tilda ohne Umstände zum Du. Und ergänzte: »Denn so viel Zeit haben wir nicht.«
Damit war Chengs mögliches Argument, das gehe ihm jetzt alles zu schnell, von vornherein ausgeräumt. Und letztlich hatte er das ja kommen gesehen, das und noch etwas anderes.
Tilda hatte ihn von Anfang an in einer Weise angeschaut, als betrachte sie etwas, das ihr gehöre. Das ihr zumindest in der nahen Zukunft gehören würde.
Sie nahm Cheng an der Hand, mit der er rasch noch sein leeres Glas abgestellt hatte, und zog ihn mit sich hinunter in den Wintergarten und dort in die hintere sogenannte Eignerkabine, die ausgefüllt war von einem in den Bug hineinragenden luxuriösen Doppelbett.
Es war einer der vielen Vorteile von Chengs Einarmigkeit, dass nie eine Frau verlangte, er möge sie ausziehen, sondern sie es auf eine elegante oder weniger elegante Weise selbst tat. Für Tilda galt Ersteres, wie sie da praktisch mit einer einzigen Bewegung aus Ober- und Unterteil des Bikinis herausgeschlüpft war.
Und da stand sie vor ihm. Betörend und unheimlich. Wie mit Airbrush gemalt.
Cheng fragte sich, was wohl Adalbert Stifter, hätte er heute gelebt und gedichtet, zu einem solchen in Zwanzigjährigkeit verhafteten vierzigjährigen Körper gesagt hätte. Hätte er das Natürliche oder das Unnatürliche betont? Die Schönheit oder das Elend aller Bemühungen?
Während Cheng noch an Stifter dachte, wurde er mit einem leichten Stoß, den Rücken voran, von Tilda aufs Bett befördert.
Er hätte sich gerne selbst ausgezogen, aber das war ebenfalls eine oft geübte Praxis, dass es die Frauen waren, die das taten. Weniger, weil sie es einem Einarmigen nicht zutrauten, in vernünftiger Zeit damit fertigzuwerden, aber mein Gott, es war einfach eine freundliche Geste ihm gegenüber.
Er wurde also ausgezogen. Und als er dann nackt war …
Er schloss die Augen. Diesmal war es jedoch nicht der Schmerz, der ihn erfüllte. Auch nicht die Lust, die diese Frau, die sich jetzt auf ihn setzte, bei ihm auslöste, sondern …
Es schien, als hätte er das Bewusstsein verloren.
Ja, das Glas Champagner!
Er hatte sich gleich gedacht: Trink das nicht!
*
Frau Wolf bemerkte, dass man nur noch zu viert war, eine der beiden Frauen war wieder hochgetaucht. Jensen jedoch signalisierte ihr, dass man den Tauchgang fortsetzen würde, es sei alles in Ordnung. Also ging es weiter. Weiter und tiefer.
Das Wasser war etwas trüb, naturtrüb, könnte man sagen, zudem befand man sich bereits in einer Tiefe, wo das Blau zu kippen drohte und es hilfreich war, die Tauchleuchten einzusetzen. Die vier glitten durch einen Schwarm Makrelen wie durch ein bewegliches Mosaik. Ein Hai trieb vorbei. – Es ist ziemlich enttäuschend, wie zivilisiert sich echte Haie benehmen und Menschen eher ignorieren.
Frau Wolf fühlte sich unwohl. Nicht, weil sie körperliche Probleme hatte oder die Tierwelt sie ängstigte, aber dieser Tauchgang erinnerte sie doch sehr an ihre zwanzigjährige Ehe, die dann mit einer Anklage wegen versuchten Mordes geendet hatte. – Was war überhaupt mit ihrem Ex-Mann? Tauchte er noch? Einen verrückten kleinen Moment lang stellte sie sich vor, wie das wäre, würde er jetzt um die Ecke geschwommen kommen. Sie würde ihn sofort erkennen, trotz Neopren und Taucherbrille, allein an seinen unsympathischen Bewegungen. Er war stets wie jemand getaucht, der dem Meer Gewalt antun möchte, auch wenn er gerne das Gegenteil behauptet und vom Einklang mit der Natur gesprochen hatte. Aber meine Güte, wer spricht nicht vom Einklang mit der Natur? Selbst bierbäuchige E-Bike-Fahrer, die die Profile ihrer dicken Reifen in die Erde der Wälder drücken.
Sie passte nicht auf. Es war der Fisch, der ihr auswich. Ein Fisch von dem gleichen wunderbaren Ultramarinblau wie einst jener Vogel, mit dem sie zusammengestoßen war. Ein Riesenlippfisch, ein ultramarinblaues Männchen, wie ja auch der in die Slowakei verirrte Grandala-Vogel ein Männchen gewesen war. Und im Falle beider Tierarten die Weibchen sich mit einem Braun begnügten. Frau Wolf dachte: Warum sind es immer die Männer, die blau sind?
Dafür hätte es natürlich naturwissenschaftliche Antworten gegeben, aber sie wollte die Frage lieber ein wenig im Raum stehen lassen. Ein Raum, der im gegebenen Fall ja auch ziemlich blau war. Dunkelblau.
Und in diesem dunklen Blau …
Auf dem sandigen Grund des Bodens war sie mit einem Mal zu sehen, die kleine rote Cessna. Zumindest bestand da eine Erinnerung an die signalrote Lackierung, die dieses Vehikel vor achtzig Jahren besessen haben mochte. Zugleich aber wirkte das Flugzeug gar nicht so alt, war kaum von Korallen bewachsen und schien auch als Ganzes erhalten. Vermittelte wenig von der Anschauung, die Natur hätte sich etwas zurückgeholt. Die Natur hatte wohl wenig Interesse an dem Ding gehabt, das selbst nach so langer Zeit noch fremd und unpassend auf diesem Meeresboden aufsaß. Gleich etwas jüngst Weggeworfenem. Müll im Meer. Eine halbrote Cessna 172.
Aber es war offenkundig das Flugzeug, nach dem man suchte.
Alle vier Taucher näherten sich dem Objekt, umrundeten es.
Frau Wolf glitt über die große Frontscheibe und richtete ihre Lampe in das Innere dieses für einen Piloten und drei Passagiere konzipierten Raums. Doch alle vier Plätze schienen leer, wobei der hintere Teil in einem ziemlichen Dunkel lag und schwer etwas auszumachen war.
Während Frau Wolf nun ein Stück seitwärts glitt, spürte sie hinter sich eine Bewegung. Sie meinte schon, der ultramarinblaue Riesenlippfisch, ein Eastern Blue Groper, sei zurückgekehrt, aber dann bemerkte sie einen Griff, der menschlichen Ursprungs war, besser gesagt, unmenschlichen. Sie war von zweien der Taucher gepackt worden, der dritte öffnete soeben die Cockpittüre, die erstaunlich leicht aufging. Praktisch wie geschmiert, womit auch immer unter Wasser etwas geschmiert wurde.
Natürlich wehrte sich Frau Wolf, griff hinter sich und riss einem der Angreifer die Maske vom Gesicht, weshalb dieser auch von ihr abließ. Doch im gleichen Moment spürte sie die scharfe Spitze einer Harpune, wie sie durch ihren Neoprenanzug drang. Nicht mit hoher Geschwindigkeit, nicht abgeschossen, sondern bloß so weit gegen ihren Körper, ihre Haut drückend, dass sie die Warnung verstand.
Es war wohl Carolin, die ihr auf diese Weise zusetzte, und es war Erik, dem sie die Maske heruntergerissen hatte. Er hatte sie rasch wieder aufgesetzt und das Wasser herausgeblasen, während Alexander die Cockpittüre offen hielt. Diese »liebe Familie« ging nun daran, Frau Wolf ins Innere der Cessna zu befördern. Die Harpune im Rücken musste sie es zulassen, wie man sie da hineindrängte. Dann hinter ihr die Türe schloss und ausgerechnet jene Harpune aus einer Aluminiumlegierung, die gerade noch dazu gedient hatte, sie in Schach zu halten, durch zwei seitlich an Rumpf und Cockpittüre angebrachte Riegel führte, sodass der Schaft der Harpune den Ausgang blockierte.
Frau Wolf blickte durch die Scheibe. Sie erkannte hinter Maske und Mundstück das Grinsen des Mannes, der Alexander Jensen war. Und sie dachte sich: Wie dumm kann man sein?
Das war natürlich auf sich selbst bezogen. Denn sosehr sie spekuliert hatte, dass mit diesen vier Leuten etwas nicht in Ordnung war, hatte sie nicht die Dimension geahnt, mit der sich dies offenbaren würde. Sie hatte die vier für Betrüger gehalten, die ihre Millionen jenseits des Ausfüllens von Lottozahlen mit einer ganz anderen Art von Glücksspiel gewonnen hatten und die möglicherweise in einer geschäftlichen Beziehung zu Oliver Roschek standen, falls dieser mehr als ein harmloser Zoologe war. Aber sie hätte eben nicht gedacht, dass …
Sie sah, wie Jensen den beiden anderen zu verstehen gab, dass die Arbeit bestens erledigt sei. Und wie die drei sich nun entfernten und einer nach dem anderen in der dunklen Bläue verschwand.
Wie dumm kann man sein?, fragte sich Frau Wolf. Sie war jetzt unendlich wütend auf sich. Blickte sich um. Sah auch in den hinteren Teil der Maschine. Aber da war nichts. Vollkommene Leere, kein Leichnam nirgends, keine Ausrüstung, nur die vier Sitze und das vom Meerwasser zerschundene Armaturenbrett. Vor allem keine Gerätschaft, die sie hätte benutzen können, um die gänzlich intakten Scheiben dieses Wracks einzuschlagen. Ein Wrack – und das hatte sie sich ja gleich gedacht –, das gewiss nicht seit achtzig Jahren hier auf dem Meeresboden lag. Allerdings lange genug, um sich vollständig mit Wasser gefüllt zu haben, so unbeschädigt der Rumpf auch sein mochte.
Sie öffnete ihr Tauchjackett, schlüpfte heraus und begann – während sie weiterhin durch den Atemregler mit ihrem Gerät verbunden blieb –, die Flasche von den Gurten der Weste zu lösen, um sie mit dem Flaschenboden voran gegen eine der seitlichen Scheiben zu schlagen.
Aber der Vorteil des Wassers, seine bremsende, weltallartige Wirkung, wurde hier zum Nachteil. Frau Wolf bekam einfach nicht genügend Schwung und Kraft in ihre Bewegung. Es fehlte das Momentum. Und Wille und Wut und Angst reichten nicht aus. Die Scheibe hielt. Auch die Frontscheibe, alle Scheiben hielten. Scheiben, die ja immerhin diesen Absturz heil überstanden hatten, wollte man nicht annehmen, das Flugzeug sei von einem Schiffskran aus sanft in dieses Wasser und in diese Tiefe gesenkt worden.
Frau Wolf versuchte es wieder und wieder, aber es nützte nichts. Und als sei’s ein höhnischer Ruf aus der Unterwelt, in die sie demnächst geraten sollte, meldete sich der Tauchcomputer in der vertrauten Gestalt einer Armbanduhr mit einem schrillen Ton, einer Vibration und dem hysterischen Aufleuchten seines Displays. Und gab solcherart seiner Trägerin zu verstehen, dass es an der Zeit sei, mit dem Prozess des Hochtauchens zu beginnen. Der Computer war drahtlos mit jener Flasche verbunden, die gerade so wirkungslos gegen die Scheiben geschlagen wurde, und wusste also um die darin noch vorhandene Menge von Nitrox. Und wie sehr jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, aus diesem Flugzeug herauszukommen und zur ersten Dekompressionsstufe aufzusteigen.
Richtig, ihr fiel ein, dass sie immerhin das obligate Tauchermesser bei sich trug und vielleicht mit diesem … Als sie nun aber nach unten griff, dorthin, wo die Scheide am Bein befestigt war, musste sie feststellen, dass das Messer fehlte. Es war ihr offensichtlich während des Gerangels abgenommen worden. Sie schlug mit der Faust gegen die Innenwand. Ja, das wäre schön gewesen, hätte sich zauberhafterweise ein Teil der Hülle gelöst. Geschah aber nicht.
Frau Wolf erlebte einen Moment größter Verzweiflung. Und wohl auch Verwirrung, denn anstatt sich doch noch eine realistische Lösung zu überlegen, kam ihr wieder ihr Ex-Mann in den Sinn und damit die Vorstellung von zuvor, wie absurd es wäre, würde er an diesem Ort um die Ecke getaucht kommen.
Und wenn tatsächlich, was dann? Was würde er tun? So blöd grinsen wie gerade eben der gottverfluchte Alexander Jensen? Oder würde er es sich nicht nehmen lassen, den Retter und Helden zu spielen und großzügig die Frau zu befreien, deren Pistolenkugel ihn knapp verfehlt hatte? Vor allem aber, wäre sie überhaupt bereit, sich von diesem Mann retten zu lassen? Klar, sie wollte leben, knapp über sechzig Jahre war einfach kein Alter, und schon gar nicht wollte sie auf diese Weise sterben. Nein, wenn schon, dann zum Beispiel, während sie auf dem Friseurstuhl ihres Lieblingsfriseurs saß, der ihr gerade einen neuen Farbton verpasste, und ihr in diesem Moment das Herz versagte.
Befand sie sich bereits im Delirium? Denn sie meinte zu erkennen, wie da aus dem dunklen Blau ein Taucher näher kam. Und dachte sich noch: Okay, das träume ich jetzt. Und eingedenk ihres Ex-Mannes: Oder ich bin schon in der Hölle.
*
Tilda Büchner war von Cheng, der mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag und sich nicht mehr rührte, heruntergestiegen und sagte laut: »Schade eigentlich! Ein kurzer Fick hätte mir schon noch gefallen. Das bisschen Hypnotika im Sekt. Na ja, ein Weichling!«
Sie lachte verächtlich und zog sich rasch an.
Cheng, noch immer die Augen geschlossen, dachte sich: Sekt? Hat es nicht geheißen, Champagner? So sind die Deutschen, auch die reichen Deutschen.
Dabei hätte er nicht einmal beurteilen können, ob das jetzt nicht doch Champagner gewesen war und Tilda bloß das abschwächende Synonym verwendete, weil das besser zum Umstand passte, Chengs Glas mit einem Betäubungsmittel versetzt zu haben. Denn daraus getrunken hatte er ja nicht.
Es war wohl eine Vorahnung gewesen, wie Tilda ihm das Glas gereicht und sich neben ihn gesetzt und dann auch noch das chinesische Wort für »auf ex« ausgesprochen hatte. Er konnte das Wort nicht leiden und mochte eigentlich auch keinen Champagner oder Sekt oder sonst Sprudeliges und Schäumendes. Und ja, er vermutete eine Falle. Und hatte darum mit der raschen Bewegung des zum Mund geführten Glases den Inhalt links hinter sich geschüttet, dort, wo das gleichfalls schäumende Meer war.
Ein komisches Gefühl halt.
Und um dieses komische Gefühl zu überprüfen, hatte er in dem Moment, da er und die Frau sich nackt aufs Bett gelegt hatten, einen Zustand plötzlicher Betäubung vorgespielt. Wäre sie verblüfft gewesen, er hätte sich später schon irgendwie herausgeredet. Eine Fehlreaktion des Kreislaufs, sein ach so niedriger Blutdruck, das kam bei ihm halt hin und wieder vor, leider.
Doch Tilda war nicht verblüfft gewesen. Sondern hatte es bloß bedauerlich gefunden, dass die Wirkung des Mittels so rasch eingesetzt hatte. Offensichtlich wurde sie bei dem, was sie tat, von einer gewissen perversen Lust getrieben. Mit einem Mann zu schlafen, bevor ihn die Ohnmacht ereilte und bevor sie ihn …
Cheng war sich jetzt sicher, dass der Sinn dieser Übung nicht darin bestehen sollte, dass er sie überlebte. Und das kannte er ja, das war ihm nicht neu, auch wenn er sich im Detail nicht an die vielen Male in seiner Karriere als Detektiv erinnern konnte, da man ihn gerne aus dem Weg geräumt hätte. Doch es war ihm vertraut. Wieder einmal um sein Leben kämpfen zu müssen.
Und das musste ebenso für Frau Wolf gelten, die sich mit den drei anderen in etwa dreißig Metern Tiefe befand und wohl kaum wieder aus dieser Tiefe hochkommen sollte.
Es war so, wie er befürchtet hatte. Auch die Deutschen hatten recherchiert und festgestellt, dass ein Herr Cheng und eine Frau Wolf nie und nimmer für den Pritzker-Preis arbeiteten.
Darum aber Mord? Das war doch kaum noch als Verhältnismäßigkeit der Mittel anzusehen, angesichts dieses kleinen Architekturbetrugs.
Er spürte jetzt, wie Tilda ihn aufrichtete und mit der bedeutenden Kraft, die sie besaß, schulterte und nach draußen trug. Wo sie ihn absetzte und damit begann, ihm einen Tauchshorty überzuziehen, einen Kurzarmanzug.
»Verdammt, hilf mit!«, sagte sie, eingedenk der Möglichkeit, dass auch ein stark Betäubter zu gewissen Bewegungen in der Lage war.
Er hätte gerne geantwortet, dass wenn er schon einen Taucheranzug tragen müsse, dann einen mit langen Ärmeln und langen Beinen, ließ es aber bleiben und machte keinerlei Anstalten, mitzuhelfen, in das hässliche Ding hineinzuschlüpfen.
Aber letztlich war es okay, es anzuhaben. Dies entsprach durchaus Chengs Plan, sowenig ihm sein Plan gefiel.
Klar, Tildas Idee war, Cheng in seinem narkotisierten Zustand über Bord zu werfen und auf diese Weise einen Tauchunfall vorzutäuschen. Wie dies sicherlich auch bei Frau Wolf der Fall sein sollte.
Das kam schon vor, dass tauchende Österreicher sich überschätzten.
Tilda legte Cheng ein Tauchjackett samt Flasche um, verschloss alle Schnallen, zog die Gurte straff und ließ sämtliche Luft aus der Jacke, um ein rasches Absinken zu gewährleisten. Dann setzte sie Cheng Maske und Schnorchel auf, ließ aber das Mundstück des Atemreglers lose herunterhängen. Und schickte sich nun in der Tat an, den solchermaßen Ausgerüsteten über die Reling zu bugsieren.
Es wäre also wirklich an der Zeit gewesen aufzuwachen. Wobei Cheng klar war, dass diese Frau ihm körperlich überlegen war, und nicht nur, weil sie im Gegensatz zu ihm über gleich zwei muskulöse Arme verfügte. Freilich besaß Chengs rechter Arm ebenfalls einiges an Kraft und Geschick (und auch wenn er niemals darüber ein Wort verloren hätte, ja sich geniert hätte, dies zu tun, war er dennoch in der Lage, mit diesem einen Arm mehrere Liegestütze zu absolvieren).
Aber wieso eigentlich sich wehren? Denn es entsprach schließlich durchaus seinem Plan, ins Wasser zu gelangen, so zuwider ihm das auch war und so wenig Ahnung er vom Tauchen hatte. Aber immerhin hatte ihn Tilda ja soeben bestens ausgerüstet.
Nein, er verblieb in der laschen Haltung des Betäubten und ließ es geschehen, wie die Frau ihn nun von der Mutigen Fee ins Meer beförderte.
Und so klatschte er seitwärts ins Wasser, wobei er noch im Fallen seine Hand reflexartig anhob und sich die Maske gegen das Gesicht drückte. Tauchte ein, wurde für einen Moment wieder hochgetrieben und geriet mit dem Kopf über die Wasseroberfläche. Er sah hinauf zum Boot. Doch Tilda machte sich nicht einmal die Mühe, hinter ihm herzublicken. Als hätte sie Müll entsorgt. Denn an ihren schwachen Nerven konnte es kaum liegen, nicht zuschauen zu wollen, wie da ein Mann ertrank.
Cheng spürte, wie es ihn nach unten zog. Stimmt, das Blei in seiner Taucherjacke tat seine Wirkung. Das Meer verschluckte ihn.
Alles, was er jetzt unternahm, unternahm er zum ersten Mal und unternahm es in einer Weise, wie man sagt: Das habe ich zur Gänze aus Film und Fernsehen und von Youtube.
Während er rasch absank, griff er nach dem Schlauch, an dem sich der Atemregler befand, und drückte sich das Ding in den Mund, war dabei aber so klug, nicht gleich einzuatmen und dabei eine Portion Salzwasser hinunterzuschlucken und also doch noch ohnmächtig zu werden. Nein, er atmete erst aus und presste dadurch das Wasser aus den seitlichen Öffnungen, bevor er darangehen konnte, die Luft einzuatmen, die ihm die Flasche an seinem Rücken bot.
Der Geschmack von Kunststoff und das Gasgemisch verursachten ihm augenblicklich eine Übelkeit. Eine Übelkeit, die auch das Ding in seinem Kopf erfasste, als wär’s Solidarität. – Ein Tumor, der sich aus einer plötzlichen Empathie heraus krank fühlte? Na ja.
Doch Übelkeit hin oder her, Cheng sank weiter rapide ab. Und überlegte, wie das eigentlich war mit den Kompressionspausen. Galten die auch fürs Abtauchen? Und wie hätte er ein rasches Absinken überhaupt vermeiden können? Er fühlte sich wie jemand, der noch nie auf Skiern gestanden hatte und nun den Mont Blanc abwärts raste. Dabei aber nicht einmal wusste, wohin genau er raste. Ins Dorf? In die Gletscherspalte?
Doch Cheng fing sich. Die Situation selbst lehrte ihn, was zu tun war. Etwa, indem er nach jenem Teil griff, das recht auffällig von einem Faltenschlauch und einem zweiten dünneren Schlauch herunterhing und über ein Mundstück sowie einen roten und einen blauen Knopf verfügte. Was Cheng einen Moment an die klassische Situation zweier Drähte erinnerte, von denen das Durchtrennen des einen die Ausschaltung der Bombe, das des anderen ihre Explosion bewirkte.
Er drückte den blauen, aber nichts geschah, denn es war wohl der Auslassknopf. Hier gab es jedoch nichts zum Auslassen, also versuchte er es vorsichtig mit dem roten. Und tatsächlich füllte sich seine Jacke ein wenig mit Luft und bremste seinen Fall . Er sank zwar weiter ab, nun aber in jener schwebenden Manier, die das Tauchen zu einer Art von Fliegen machte. Dabei endlich auch eine horizontale Lage einnehmend. Was ihm zusätzlich ermöglichte, sich eine Übersicht zu verschaffen.
Natürlich schwebte er nicht wie ein junger Gott, aber er befand sich in Balance, sah unter sich den Meeresboden, während der Blick nach vorne und zur Seite in eine diffuse Leere führte. Aus der jederzeit jemand oder etwas wie aus einem Loch gleiten konnte, große, böse Fische, vor allem aber mit Harpunen ausgestattete Feinde des Lebens.
Wo nun auch immer jene Leine war, die einer der Taucher mit der aufrecht aus dem Wasser stehenden Boje verbunden hatte, Cheng konnte sie nicht sehen. Er tauchte weiter abwärts, ließ dann noch etwas Luft in seine Tauchweste und glitt über die Fläche des Bodens, bewegte seine Flossen mit leicht angewinkelten Beinen und gleichmäßigen Schlägen, wie er das hundertfach in Filmen gesehen hatte. Wenn er sich nicht selbst als tauchendes, schnorchelndes Kind dieser Art der Fortbewegung bedient hatte. Wer weiß?
So lernte er Tauchen quasi im Handumdrehen. Aber auch im Handumdrehen musste er sich auf seinen Instinkt und sein Glück verlassen, denn er tauchte, ohne zu wissen, wohin eigentlich.
Ob nun böse Fische oder Feinde des Lebens, während Cheng über ein mit Korallen bewachsenes Felsstück glitt, bemerkte er, dass sich von der rechten Seite her so etwas wie ein Schwarm näherte. Es war ein kleiner Schwarm, der sich aus drei Tauchern zusammensetzte. Cheng befand sich günstigerweise so nahe an der Korallenbank, dass die drei ihn wohl nicht bemerkt hatten. Er selbst ging hinter einem größeren Brocken in Deckung und hielt sich an der Struktur fest, war aber dennoch in der Lage, durch einen Schlitz die gut zwanzig Meter entfernte Gruppe zu beobachten. Drei Taucher. Unter ihnen ganz sicher nicht Frau Wolf. Die hätte er erkannt, praktisch auf dem Weg zu den Bayreuther Festspielen.
Die Taucher befanden sich im Aufstieg. Cheng wartete ab, bis sie sich weit genug entfernt hatten, verließ sein Versteck und schwamm in die Richtung, aus der die drei gekommen waren. Wäre die Gruppe nicht vorbeigetaucht, die Strömung, der sich Cheng unbewusst ergeben hatte, hätte ihn wohl zu weit nach links abgetrieben. So aber schwamm er entschlossen eine östliche Linie.
Es dauerte, doch dann sah er es. Sah das Flugzeug, die kleine Cessna, die somit tatsächlich existierte. Nirgends hingegen Frau Wolf. Weshalb er näher an das Vehikel heranschwamm. Und dann bemerkte er sie. Sah, wie Frau Wolf da hinter den Scheiben auf sich aufmerksam machte, ihm in der Tauchersprache etwas signalisierte. Gut, er hätte nicht sagen können, was sie meinte, entdeckte aber selbst die von einer Harpune blockierte Cockpittüre. Sie herauszuziehen, war der einfachste Handgriff in der ganzen Geschichte.
Frau Wolf schlüpfte aus dem Wrack heraus. Ihr Blick, den Cheng durch die Scheiben ihrer beider Masken wie das Gemälde eines Pointillisten wahrnahm, schien zu sagen: »Also echt, lieber Cheng, auf Sie kann man sich verlassen.«
Gleich darauf folgte eine Geste, die klarmachte, wie sehr die Zeit drängte, wie wenig Luft sich noch in ihrer Flasche befand.
Also nach oben! Aber ganz sicher nicht in Richtung der Mutigen Fee , sondern landwärts, zur Küste hin.
Das mit dem roten und dem blauen Knopf hatte Cheng ja bereits kapiert und war folglich in der Lage, seiner Weste Luft und damit Auftrieb zu verleihen und sich an der Seite Frau Wolfs zu halten, die nur zu gut wusste, dass ihr Sekretär noch niemals – zumindest nicht erzählterweise – getaucht war. Sie bestimmte die Aufstiegsgeschwindigkeit, mehr als zehn Meter in der Minute sollten es nicht sein. So was hatte sie im Gefühl, auch ohne von ihrem Tauchcomputer ermahnt zu werden. Ein Tempo, das freilich Zeit kostete, ebenso wie die Dekostops, die einzuhalten waren, was entgegen dem Begriff nicht die Dekoration einer Pause darstellte, sondern der Erhaltung des Lebens diente.
Als man sich auf der letzten Dekompressionsstufe aufhielt, fünf Meter unter der Meeresoberfläche, eine Spanne von drei Minuten abwartend, ging Frau Wolf die Luft aus. Es war einfach nichts mehr in ihrer Flasche. Natürlich hatte es Cheng bemerkt und wollte ihr sein Atemgerät geben, denn auch das kannte er aus Filmen, wenn sich Taucher, nicht selten Liebende, beim Luftholen abwechselten, als sei’s eine Form von postalischem Kuss. Aber das waren eben alte Filme, wo noch viel geküsst und übrigens mehr geraucht als getaucht wurde.
Doch bevor Cheng diesen heldischen »Kuss« anbieten konnte, griff Frau Wolf nach einem Gerät, das seitlich an Chengs Tarierweste hing und das er noch gar nicht realisiert hatte, obwohl es in kräftigem Gelb eine gewisse Bedeutung signalisierte. Es handelte sich um einen zusätzlichen Atemregler, wie jede moderne Tauchausstattung ihn zwecks alternativer Luftversorgung besaß. Was leider nicht viel brachte, weil nun auch in Chengs Flasche alle Luft zur Neige ging. Von den drei Minuten waren es nun fast noch zwei, die ohne Luft zu bewältigen waren, wollte man nicht einen Notaufstieg riskieren.
Frau Wolf gab ein Zeichen, das diese zwei Minuten anzeigte. Und auch, dass man dennoch auf dem Level verbleiben sollte.
Chengs Ding in seinem Kopf meldete sich mit einer Weisheit aus dem Internet, wo es angeblich hieß, Ungeübte schafften es vielleicht eine Minute, die Luft anzuhalten.
Scheiß auf die Ungeübten!, entgegnete Cheng, dachte aber daran, dass er später im Hotel mal »Tauchen mit Hirntumor« googeln wollte. Doch hier und jetzt widerstand er dem Schmerz und Druck in seinem Kopf, indem er sich einen Moment großer Gelassenheit auferlegte. So eine Gelassenheit, wie sie in einem der 33 Sätze, die absolut keinen Sinn ergeben, aber von bedeutenden Leuten stammen vorkam, wo ein Gelehrter aus der Heidelberger Akademie der Wissenschaften gemeint hatte: »Auch Pfirsiche schlafen sonntags länger.«
Cheng schloss die Augen und genehmigte sich einen kleinen atemlosen Schlaf.
Das Nächste, was er bemerkte, war, wie sein Kopf durch die Wasseroberfläche brach und die Luft Australiens in seinen Mund und seine Lunge strömte.
Neben ihm Frau Wolf, die sich die Maske vom Gesicht riss, auch sie wild atmend. Atmend und lachend.
»Verdammt, Cheng«, sagte sie, »jetzt bin ich Ihnen wirklich was schuldig.«
»Schon gut«, keuchte er. Es war ihm ein wenig peinlich. Wie eigentlich immer, wenn jemand meinte, in seiner, Chengs, Schuld zu stehen. Wie in fremder Erde. Und während er diese Schuld keuchend abwehrte, befreite er sich rasch von seinem Jackett. Er hatte nicht vor, noch einmal in die Tiefe zu gehen, schon gar nicht mit leerer Flasche. Der Neoprenanzug sollte reichen.
In einiger Ferne war das Boot der Deutschen zu erkennen, zu einem Punkt geschrumpft, glücklicherweise. Von dort aus waren Frau Wolf und Cheng kaum zu sehen, wie sie hier zwischen den Kuppen der Wellen schwammen, gleich Insekten in einer riesigen Schüssel blau gefärbten Popcorns.
Aber auch die Küste lag in einiger Entfernung, schien jedoch in direkter Linie nicht allzu steil zu sein. Dennoch leuchtete nirgends das verlockende Weiß eines Strands, sondern nur das Weiß der gegen Felsen prallenden Wellen. Man würde zusehen müssen, eine Position zu finden, wo man sicher an Land gehen konnte.
Sie schwammen los, Cheng notgedrungen einarmig. Die Flossen an seinen Füßen waren jetzt ein wahrer Segen. Und sosehr es natürlich eine gänzlich andere Sache war als im Ottakringer Bad, wo er, im warmen Innenbecken stehend, zusammen mit Leuten, die noch älter waren als er, Gymnastik trieb, so war seine Rückentechnik beinahe so effektiv wie die Brusttechnik der Frau Wolf, die sich ebenfalls von Jackett und Flasche befreit hatte.
Die Stelle, die sie nach gut fünfzehn Minuten erreichten, war von niedrigen Felsen bestimmt, gegen die das Meer wütend schlug. Weshalb die beiden sich an den Armen hielten, um, von einer hohen Welle getragen, in ein natürliches Bassin gespült zu werden, eine steinerne Wanne, von der aus es dann nicht mehr so schwer war, aus dem Wasser zu steigen.
Da standen sie also glücklich auf dem leicht erhöhten Küstenstück, befreiten sich von ihren Flossen und realisierten, dass nach beiden Seiten hin doch noch Strände gewesen wären. Aber was soll’s, sie hatten es geschafft.
»Mein Gott«, sagte Frau Wolf und schüttelte sich das Wasser aus ihren Haaren, wobei sie jetzt nichts so sehr herbeigesehnt hätte wie ihren türkischstämmigen Wiener Friseur und seine Art, dem Haar föhnend Gestalt zu verleihen, »wie haben Sie das nur hingekriegt? Ich wusste nicht, dass Sie tauchen können.«
»Es sind immer die Amateure und die Laien und Anfänger, die uns verblüffen«, philosophierte Cheng, erzählte dann aber von der Sache mit Tilda, wobei er den Umstand, beinahe Sex mit dieser Frau gehabt zu haben, ausließ und allein von dem Glas Sekt oder Champagner und seiner vorgetäuschten Ohnmacht berichtete. Und wie dann die absurde Situation entstanden war, bestens ausgerüstet ins Meer zu geraten, um dort aber nicht einfach abzusaufen, sondern von diversen Eingebungen geleitet zu tun, was zu tun war, um sie, Frau Wolf, in diesem Flugzeugwrack zu entdecken.
»Das kommt schon an ein Wunder heran«, meinte Frau Wolf. »Gut, jetzt wissen wir wenigstens, was von unseren Lottogewinnern zu halten ist. Auch wenn ich mir das weniger schlimm dachte.«
»Eine Mörderbande«, sagte Cheng.
»Ja, weshalb wir uns auch beeilen sollten.«
Sie machten sich auf den Weg, stiegen den Fels ein Stück aufwärts und erreichten eine Fläche mit niedrigen Büschen und bald auch einen Pfad, der nach einiger Zeit durch einen Wald führte und an den Bahngleisen einer Ansiedlung endete. Über eine Brücke gelangten sie in den kleinen Ort, der sich gerade in einem groß angelegten Mittagsschlaf zu befinden schien. Und durch den sie in ihren Neoprenanzügen marschierten wie verlorene Surfer.
Kein Mensch auf der Straße, nur geparkte Autos. Dann aber ein Laden zwischen den Wohnhäusern, ein Laden, in dem Teeth Whitening angeboten wurde, Smile Dragon Teeth Whitening , wie der Geschäftsname verriet. Vor dem Laden saßen zwei Frauen in ihren Korbsesseln und erholten sich vom Aufhellen irgendwelcher Drachenzähne.
Frau Wolf ging zu ihnen hin und erklärte, sie bräuchte jemanden, der sie und ihren Begleiter hinüber nach Kiama bringe, wo ihr Auto stehe. Wo sie dann auch Geld hätte, um die betreffende Person für ihre Fahrdienste zu bezahlen.
Eine von den beiden Zahnspezialistinnen zeigte sich bereit, die zwei Fremden die kurze Strecke zu fahren, gerne umsonst, fragte aber doch noch: »You didn’t rob a bank, did you?«
Frau Wolf sah an sich herunter und entgegnete: »In diving suits?«
Nun, das war die australische Ostküste, da unternahmen die Leute einiges in Badeklamotten, wozu man anderswo in Kampfausrüstung auftrat. Aber die Zahnfee lächelte, stand auf und holte ihren Wagen, mit dem sie dann in ruhiger, gelassener Weise Frau Wolf und Cheng zu jenem Parkplatz im benachbarten Kiama chauffierte, auf dem deren kleiner müder Mietwagen zwischenzeitlich alleine stand. Ohne die Monster an seiner Seite. Offensichtlich hatten es die Lottomillionäre eilig gehabt, von Bord ihrer Yacht zu gehen und zu Suzy’s Table zurückzukehren.
Erst jetzt fiel Cheng der nicht ganz unbedeutende Umstand ein, dass es ihnen ja wohl – da sie praktisch nackt waren – an einem Autoschlüssel fehlte.
»Nein, gar nicht«, sagte Frau Wolf und griff unter den Wagen und holte einen kleinen Beutel hervor, der zwischen Reifen und Karosserie geklemmt war. Darin befand sich nicht nur der Autoschlüssel, sondern auch ihr Handy und die kleine Leica. Frau Wolf musste diesen Beutel beim Verlassen des Wagens – für niemanden bemerkbar, auch für Cheng nicht – an dieser Stelle deponiert haben. (Cheng hatte übrigens sein Smartphone gar nicht erst dabeigehabt, sondern im Hotel gelassen. Er gehörte wahrscheinlich zu den zwei, drei Leuten weltweit, die ihr Handy nicht wie ein lebenswichtiges Organ überallhin mitschleppten.)
»Ich dachte mir schon«, sagte Frau Wolf, »dass es vielleicht besser wäre, nicht alle Sachen mitzunehmen. Nennen Sie es Eingebung.«
»Eigentlich meine Spezialität«, meinte Cheng.
»Ich weiß«, sagte Frau Wolf und verdrehte ein wenig ihre Augen, was dem Blau dieser Augen einen violetten Schimmer verlieh, wie eine verborgene Giftigkeit, aber hübsch. Außerdem öffnete sie die Wagentüre.