Es war kurz vor ein Uhr Mittag, als der Flieger, in den sie in Dubai umgestiegen waren – und damit auch jenen dicken Mann verloren hatten –, in Hamburg aufsetzte. Übrigens eine Boeing 777, wobei allein der klingende Name Boeing Cheng das Gefühl gab, dass diese Maschine dann doch ein wenig mit jenem daumengroßen Plastikmodell zu tun hatte, mit dem er in den Nächten seiner Kindheit über einen erleuchteten Globus gereist war. Dabei eigentlich immer das bitterblaue Logo von Pan Am vor Augen, das für sich ja ebenfalls einen Globus darstellt (und dass es Pan Am nicht mehr geben sollte, war für das Kind in Cheng eine Lüge – das war so, wie wenn man behauptet hätte, Hamster seien ausgestorben).
Kurz bevor sie die Passkontrolle erreichten, die hinüber zur Gepäckausgabe führte, traten zwei Männer an Frau Wolf und Cheng heran und baten sie mitzukommen. Also, eine richtiggehende Bitte war es nicht. Und es handelte sich auch gar nicht um die erwarteten BND -Beamten, die Details zu dem geplanten Anschlag in Erfahrung bringen wollten. Vielmehr wurden Frau Wolf und Cheng in einen kleinen Raum geführt und dort von einem Kriminalbeamten der Hamburger Polizei damit konfrontiert, dass sie im Zuge eines Einbruchs in Australien von den dortigen Behörden auf eine Fahndungsliste gesetzt worden seien.
»Das ist jetzt ein Witz«, meinte Frau Wolf und strich sich mit dem Finger eine bläuliche Strähne zurecht, die in ihrem silbergrauen Haar einsaß.
»Kein Witz«, erklärte der Polizist, der sie befragte. Sie und Cheng seien von Überwachungskameras in einem Haus in Kangaroo Valley dabei aufgenommen worden, als sie sich unbefugten Zutritt verschafft und sämtliche Räume durchstöbert hätten.
»Und was bitte schön haben wir geraubt?«, fragte Frau Wolf, das Wort geraubt wie eine Obszönität aussprechend.
»Das steht nicht zur Debatte. Sie sind dort eingestiegen. Das ist der Punkt.«
»Wir sind durch eine offene Veranda in das Haus getreten. Und ganz sicher nicht, um etwas mitgehen zu lassen«, sagte Frau Wolf und erklärte, dass es sich bei ihr und Herrn Cheng um österreichische Privatermittler handle, die im Auftrag einer Kundin aus Wien das Verschwinden ihres Ehemanns in eben jenem Kangaroo Valley untersucht hätten. Und dabei auf dieses Haus, Suzy’s Table , gestoßen seien.
»Selbst wenn das stimmt«, meinte der Polizist, »berechtigt Sie das nicht, in ein verschlossenes Gebäude einzudringen.«
»Noch einmal, es war nicht verschlossen, aber darum geht es auch gar nicht. Sondern um etwas anderes, von dem ich meine, dass es Ihren Dienstgrad übersteigt.«
»Ach ja, das wollen Sie also wissen, Frau …«
»Frau Wolf.«
Der Polizist verlangte die Pässe sowie eine Legitimation, die die Behauptung, es würde sich bei ihnen um Detektive handeln, bestätigen konnte.
»Wenn Sie meinen, wir haben dafür Zeit«, sagte Frau Wolf und holte ihren Pass sowie ihre VID -Karte aus der Tasche, die sie als Mitglied international tätiger Detektive auswies. Cheng tat es ihr gleich.
Der Polizist sah sich die Pässe und Ausweise an und meinte, die australischen Behörden würden eine Rückführung nach Sydney wünschen, um sie beide über die Umstände ihres Einbruchs in jenes bestimmte Haus zu befragen.
»Unsinn«, sagte Frau Wolf, »da zieht jemand Fäden, um uns rasch wieder aus Hamburg rauszubekommen.«
»Wieso das denn?«, wunderte sich der Polizist und erklärte, dass immerhin der Mieter dieses Ferienhauses in Australien spurlos verschwunden sei.
»Richtig. Und zwar bereits vor drei Wochen«, sagte Frau Wolf, »und jetzt kommen die Damen und Herren in Sydney also plötzlich drauf. – Ich bitte Sie, das war doch der Grund für unser sogenanntes Eindringen.«
»Angeblich«, sagte der Polizist, »geht es auch um einen sehr wertvollen Tischtennistisch, obwohl ich zugeben muss, dass ich nicht so recht weiß, was an einem Tischtennistisch … eine Antiquität, oder?«
»Sehen wir aus, als würden wir mit Tischtennistischen handeln?«, fragte Frau Wolf, während sich der Hamburger Polizist dachte, dass Frau Wolf vor allem nicht wie eine Detektivin aussah.
In diesem Moment klopfte es.
Ein Mann trat herein. Er war klein und bullig, und sein Gesicht besaß unverkennbar jene Wulstigkeit, die seinen Augen die Möglichkeit gab, gleich Wetterhäuschenfiguren heraus- und hineinzutreten – wenn sie nicht gerade auf gleicher Höhe standen und dem Gesicht etwas Ungewisses verliehen. Allerdings wirkte Seldowitsch jetzt lange nicht mehr so blass und bleich wie zuvor auf dem Bildschirm, eher aufgeheizt, als hätte er zum Mittagessen ein Gläschen Rotwein konsumiert. Oder sich aufgeregt. An der Wärme in Hamburg konnte es nicht liegen.
Er ging auf den verhörenden Beamten zu, sagte ihm, wer er sei, zeigte ihm seinen Ausweis und erklärte, dass Frau Wolf und Herr Cheng in einer wichtigen Angelegenheit der inneren Sicherheit in Hamburg seien und mit dem BND zusammenarbeiten würden. Und dass er, Seldowitsch, angewiesen sei, die beiden an einen geheimen Ort zu bringen.
»Und was sollen wir den Leuten in Sydney sagen, die uns um Amtshilfe gebeten haben?«, wollte der Kriminalbeamte wissen.
Offensichtlich hatte Seldowitsch, während er geklopft hatte, durch die Türe bereits etwas mitgehört, denn er sagte: »Ich bitte Sie, ein Tischtennistisch! Auch wenn es sich um eine Antiquität handelt. Und wenn ich es recht verstehe, steht der Tisch ja noch immer, wo er stehen soll. Nein, wirklich, ich glaube, da hat sich jemand in Sydney kräftig vertan. Das kann man denen ruhig sagen.«
Und dann erklärte er: »Also bitte schön, Frau Wolf, Herr Cheng, gehen wir.«
Und sie gingen.
Als sie draußen waren, sagte Frau Wolf etwas in ihrem ostslowakischen Dialekt.
Seldowitsch erwiderte, allerdings auf Deutsch: »Hören Sie, ich war äußerst schnell. Das sind drei Stunden von Berlin nach Hamburg.«
»Ich habe auch nicht behauptet, dass Sie uns persönlich abholen müssen«, sagte Frau Wolf, nun ebenfalls auf Deutsch, freilich mit ihrer wienerischen Färbung, die durchaus ähnlich dem warmen, frischen Blauton in ihrem Haar war.
»Das war unbedingt nötig«, erwiderte Seldowitsch. »Ihr sogenannter Hinweis wird nämlich nicht ernst genommen. Nicht von meinen Vorgesetzten in Berlin. Nicht von den Behörden in Hamburg. Die lachen, wenn ich von einem Wombat und einer Buchse in einem Tischtennistisch spreche. – Was ich hier tue, ist sowieso Wahnsinn und kann mich meinen Job kosten. Ich verstehe mich selbst nicht.«
»Sie wissen, dass ich mir das nicht ausgedacht habe«, sagte Frau Wolf.
»Natürlich weiß ich das. Darum bin ich hier.«
»Was aber bedeutet, dass man den Fälscher und seine Leute nicht abgefangen hat.«
»Natürlich nicht«, sagte Seldowitsch, »ohnehin gibt es offiziell niemanden, den wir als Fälscher bezeichnen. Und vor allem existiert keinerlei Hinweis auf ein Attentat, das in Hamburg geschehen soll. Davon müssten die Amerikaner wissen. Und die sagen, sie haben nichts gehört.«
»Ach ja. Weil die ja immer richtigliegen.«
»In der Regel schon. Aber wer weiß, vielleicht wollen sie diesmal nichts wissen. Ich kann es nicht sagen.«
»Bedeutet das«, fragte jetzt Cheng, »dass nicht einmal das Konzert abgesagt wird?«
»Warum sollte es«, meinte Seldowitsch, »weil ein Mann, den niemand kennt, einen verrückten kleinen Film gedreht hat.« In diesem Moment trat sein linkes Schlechtwetterauge ein Stück ins Freie.
Was im Übrigen bestens zu dem tatsächlichen Wetter passte, das die drei empfing, als sie das Flughafengebäude verließen.
Dezembernieseln bei sechs Grad. Dazu ein kräftiger Wind, das übliche Hamburger Gebläse. Darüber ein Himmel, den Frau Wolf als Zwergengrau bezeichnet hätte. – Wieso Zwergengrau? Nun, auch sie hatte Kindheitserinnerungen. Und hatte sich als Kind die langen Bärte älterer Zwerge stets in einem ungemein finsteren Grau gedacht. Gar nicht weiß, sondern eher in der grauen Art eines Felsens oder Gewitters oder einer über den Beton pickenden Taube.
Zwergenwetter also. Im großen Hamburg.
»Ich bringe Sie in das Atelier eines Freundes«, sagte Seldowitsch.
»So viel Zeit?«
»Na, wollen wir uns denn auf der Straße besprechen?«
Vor dem Flughafengebäude wartete ein Taxi. Der Fahrer blieb im Wagen, startete wortlos, nachdem die Gepäckstücke untergebracht und die drei eingestiegen waren. Offenkundig wusste er, wohin es ging. Ein kleiner, dunkler Mann, den man für Seldowitschs Faktotum halten konnte. Wahrscheinlich nicht wirklich Taxifahrer.
Während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Es herrschte eine Ruhe, als seien es die Worte selbst, die gerade nicht wussten, wie sie hießen. Eine pflegeheimartige Atmosphäre in diesem Taxi, das nun von Fuhlsbüttel hinunter in die Altstadt von Altona fuhr. Dort, direkt am Walter-Möller-Park, befand sich in einer Reihe von Backsteinbauten jenes kleine Wohnatelier, das angeblich einem Freund von Seldowitsch gehörte. Ein Freund, der nicht da war. Seine Kunst freilich schon. Auch wenn man im ersten Moment meinen konnte, sich in der Wohnung eines Sammlers von Kakteen zu befinden. Bei näherer Betrachtung war jedoch erkennbar, dass all diese Kakteen aus Wolle gestrickt waren und – wie Seldowitsch rasch erklärte – aus einer Ausstellung stammten, in der Carl Spitzwegs berühmtes Gemälde Der Kaktusfreund thematisiert wurde, einer Ausstellung, die den Titel Oh Carl! getragen hatte.
Aber klar, man war nicht hier, um sich über die Mimikry moderner Kunst zu wundern.
»Ich habe überprüfen lassen«, sagte Seldowitsch, während man auf einer fleckigen Sitzgruppe Platz genommen hatte, »inwieweit heute früh zwei deutsche Paare in Hamburg gelandet sind.«
Sie, Frau Wolf, hätte sich jedoch dahingehend geirrt, dass die vier über Singapur anreisen würden. Vielmehr waren sie in Hongkong umgestiegen, dann aber tatsächlich mit einer Swiss-Maschine nach Zürich geflogen, hatten dort direkt einen Privatjet genommen, mit dem sie bereits kurz vor acht Uhr in Hamburg gelandet waren. Mit allen Privilegien, die der Flug in einem Privatjet mit sich bringt, auch einem vereinfachten Check-in.
»Allerdings nicht unter den Namen Jensen und Büchner, sondern mit englischen Pässen und als die Ehepaare Russell und Moore.«
»Meine Güte, Wittgenstein!«, rief Cheng aus.
»Was meinen Sie?«, wunderte sich Seldowitsch.
Für Cheng besaß die Beschäftigung mit der Philosophie des 20. Jahrhunderts – vor allem jener, die irgendwie mit Wien oder dem Wienerischen verbunden war, weshalb ja auch folgerichtig vom Wiener Kreis die Rede war – etwas von einem Spielzeug, diente mehr dem Vergnügen als der Erkenntnis. Kein Wunder, dass er einige Ahnung von Ludwig Wittgenstein besaß. Allerdings mehr, was dessen Biografie betraf als dessen Werk, wie Cheng eigentlich meistens – und er drückte das selbst so aus – eher am Tratsch interessiert war.[8]
Jedenfalls hatte Cheng sofort die Namen erkannt: Russell und Moore. Bertrand Russell und Edward Moore, die beiden englischen Philosophen, bei denen der 1929 nach Cambridge zurückgekehrte Wittgenstein promoviert hatte.
»Und das hat was zu bedeuten?«, fragte Seldowitsch.
»Nun, dass wir es ganz sicher mit dem Fälscher zu tun haben«, meinte Cheng. »Es scheint ihm Freude zu bereiten, die Bildung seiner Verfolger zu testen. Außerdem hat das ja auch etwas von einer Fälschung, die Namen zweier englischer Philosophen zu nutzen.«
»Und wo sind die vier untergekommen?«, fragte Frau Wolf, ein Hotel vermutend.
Aber es gab kein Hotel, das zwei Ehepaare unter diesen Namen aufgenommen hätte, auch nicht unter Jensen und Büchner, wie Seldowitsch einräumen musste.
»Ich weiß nicht, wo sie sind, das ist die traurige Wahrheit«, sagte er. »Aber ich habe zumindest verstärkte Sicherheitsmaßnahmen für das Konzert durchsetzen können. Und für Sie beide zwei Karten, obwohl das Konzert eigentlich ausverkauft ist.«
»Und was meinen Sie?«, fragte Cheng. »Dass wir dorthin gehen sollen, um bestätigt zu bekommen, dass wir im Recht sind und dass an einem Datenspeicher, der im Fell eines Wombats versteckt wurde, leider rein gar nichts Lustiges ist?«
Was solle er tun, meinte Seldowitsch, sie beide seien jedenfalls die Einzigen, die den Fälscher leicht identifizieren könnten.
»Was wir beim BND haben«, sagte er, »ist eine alte, verschwommene Fotografie und jenes Handyfoto, das einen Mann in einer Fensterspiegelung zeigt. Sie beide aber …«
»Ja, wir konnten ihn gut sehen«, sagte Cheng, »als er versucht hat, uns umzubringen. – Und was wird geschehen, sollten wir ihn und die anderen im Publikum erkennen?«
»Ich werde auch im Konzert sein und mit Ihnen beiden verbunden bleiben.«
Er legte der Detektivin und dem Detektiv winzige, hautfarbene Kopfhörer hin, von denen Cheng meinte, sie würden aussehen wie abgeschnittene Fingerkuppen. Dabei fragte er, wie man die wohl wieder aus den Ohren herausbekomme.
»Da steckt eine kleine transparente Antenne dran«, erklärte Seldowitsch, »mit der können Sie das Ding hinein- und hinausschieben.«
Ach, dachte sich Cheng, könnte ich »das Ding in meinem Kopf« auch einfach hinein- und hinausschieben.
Neben die Kopfhörer platzierte Seldowitsch nun auch noch je eine Bluetooth-Induktionsschleife mit einem 3-W-Verstärker und Mikro samt Verbindungskabel. Auch die zur Gänze in der Farbe menschlicher Haut. – Wie kränklich die Farbe von Haut doch wirken konnte.
»Für mich nicht, danke!«, sagte Cheng.
Seldowitsch seufzte. Und erklärte, es sei schon nötig, mittels dieser Geräte und der eigenen Smartphones einen Kontakt zu erhalten.
Frau Wolf nahm die Teile des drahtlosen Headsets und meinte, dass die Induktionsschleife eigentlich ganz gut zu ihrem Collier aus vielfarbigem Muranoglas passe, das sie heute Abend im Konzert tragen werde. »Da sieht jeder nur das Glas und keiner die Schleife.«
»Wir sind aber schon mehr als drei Leute, oder?«, wollte Cheng wissen.
»Der Mann unten im Taxi gehört ebenfalls zu uns«, sagte Seldowitsch.
»Dann ist ja alles gut«, höhnte Cheng, »dann haben wir ja, falls wir auf dem Weg zum Konzert eine Bank ausrauben wollen, einen Fluchtfahrer.«
»Sie unterschätzen den Mann«, sagte Seldowitsch. »Er wird auch in der Elbphilharmonie sein. Ich habe ihn dort als Bühnenarbeiter eingeschleust.«
»Jetzt wäre es noch gut«, fand Cheng, »jemanden im Orchester unterzubringen.«
Seldowitsch verzichtete darauf, erneut vorzuschlagen, Cheng könne doch Maestro Yi doubeln. Nur für alle Fälle. Er sagte einfach: »Mehr kann ich nicht tun. Und kann nur hoffen, dass nichts geschieht und Sie beide sich glücklicherweise geirrt haben. Und also jene recht haben, die meinen, ein USB -Stick in einem Wombat sei ein dummer Scherz. Dann braucht meine Eigenmächtigkeit auch nicht bekannt zu werden.«
Woraufhin Frau Wolf fragte, in wie vielen Jahren er, Seldowitsch, denn eigentlich in Pension gehe.
»Wenn heute Abend alles gut geht, in sieben«, antwortete er, und diesmal war es sein Schönwetterauge, das deutlich zu sehen war. Freilich nur kurz, so, wie man sagte, ein Sonnenstrahl sei für einen kleinen Moment durchgebrochen.
»Sie sitzen in der obersten Etage«, erklärte Seldowitsch, »der sechzehnten, praktisch im Rücken der Bühne und direkt beim Ausgang. Von dort können Sie beinahe den ganzen Saal überblicken.«
Er legte die zwei Konzertkarten auf den Tisch und sagte: »Ich selbst habe einen Platz in der ersten Reihe, genau hinter dem Dirigenten. Näher geht es gar nicht. Wenn ich schnell genug bin …«
»Schneller als eine Kugel?«, fragte Cheng.
»Na, wenn Sie so gut sind, Herr Cheng, und sich doch noch mit dem Headset anfreunden und mich rechtzeitig über einen Schützen informieren würden.«
»Sie wollen mir ein schlechtes Gewissen einreden, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Seldowitsch.
Jetzt war es Cheng, der seufzte und in der Folge nicht nur nach den Konzertkarten griff, sondern auch nach den Teilen des Headsets. Er gab Seldowitsch die Nummer seines Smartphones, die er allerdings nicht auswendig wusste – Zahlen waren für Cheng wie aufgewehter Staubzucker, der vor seinem geistigen Auge herumwirbelte. Nein, die Nummer hatte er in seinem Büchlein über 33 Sätze, die absolut keinen Sinn ergeben, aber von bedeutenden Leuten stammen zusammen mit anderen wichtigen Daten auf der letzten Seite notiert. Mit der Hand und mit Freude. Sollte Cheng doch noch berühmt werden … Marbach, Christie’s, Sotheby’s.
Seldowitsch tippte die Nummer in sein Handy, tat einen Kontrollanruf, erhob sich schließlich und erklärte, er müsse los, es seien noch einige Vorbereitungen zu treffen. Dabei sah er auf die Uhr und meinte: »Wir haben noch sieben Stunden.«
»Das ist gut«, meinte Frau Wolf, »ich muss dringend zum Friseur. Können Sie mir einen in Hamburg empfehlen?«
»Fragst du mich das ernsthaft?«, wechselte Seldowitsch, der Berliner, mit einem Mal zum Du, als würde die beiden doch etwas mehr verbinden als eine zu begleichende Schuld, die ja genau genommen bereits beglichen war.
»Na, ich dachte«, sagte Frau Wolf, »du wüsstest hier in der Nähe einen Friseur, bei dem ich noch rasch einen Termin bekomme. Du bist immerhin der BND , oder? Konzertkarten und Friseurtermine.«
»Tut mir leid, keine Ahnung«, sagte Seldowitsch und verließ die Atelierwohnung, wobei er mit seinen Fingern einen der kleinen, wollenen Kakteen streifte und die Hand mit einem kurzen Ausdruck des Schmerzes zurückzog.
Als er draußen war, meinte Frau Wolf zu Cheng: »Sie sind doch so lieb und kümmern sich um einen Friseur für mich.«
Cheng nickte. Er war nun mal der Sekretär und auch dies eine seiner Aufgaben. Da mochte die Welt untergehen, Frau Wolf wollte ganz sicher mit perfekter Frisur diesen Untergang erleben. Das war ihr Stil, und das war ihr Recht.