Was hatte Cheng erwartet?
Dass sich die oberste Paillette, auf der Roschek stand, aufzugartig abzusenken beginnen würde und der Mann, der Yi schwer verletzt und der Seldowitsch aus purer Lust an der Übertreibung getötet hatte, ins Innere abtauchte? Also hinein in eine der luxuriösen Wohnungen. Mit oder ohne Katze. Und dabei nicht einmal auszuschließen war, dass sich Roschek selbst – der gesagt hatte, er sammle Wohnungen und Häuser – im Besitz dieser superteuren Immobilie befand.
Oder aber es kam nun doch zu einem Finale à la Tom Cruise. Indem mit einem Mal dicht hinter Roschek ein Helikopter aus der Tiefe nach oben stieg und Roschek hinübersprang, um – am besten einhändig, Cheng auf diese Weise verspottend – eine der Landekufen zu erwischen, sich festzuklammern und sogleich von dem Vehikel in die Hamburger Nacht davongetragen zu werden.
Und sonst? Was gab es da noch? Paragleiten? Fallschirme? Batmananzüge? Die Verdoppelung des Weltrekords im Klippensprung?
Und in der Tat, Roschek tat noch zwei kleine Schritte rückwärts, um jetzt einzig mit seinen Fußballen auf der Dachkante zu stehen. Sodann ließ er sich in der Art eines Turmspringers – aufrecht und mit einer eigentümlichen Verzögerung, die üblicherweise der Haltungsnote dient – nach hinten fallen.
Fiel in die Tiefe und verschwand aus Chengs Blickfeld.
Wer oder was würde ihn auffangen?
Cheng überlegte einen Moment, ob Roschek allen Ernstes versuchte, mit einem Kopfsprung rückwärts die hundert Meter hinabzustürzen und ins Elbwasser einzutauchen. Was schwerlich zu überleben war.
Also bewegte sich Cheng zum Rand hin, nun auf allen vieren, nein dreien, die leicht ansteigenden, letzten Pailletten nehmend, und lugte mit dem Kopf über die Kante.
Nicht nur im Licht des Mondes und der hell erleuchteten Westfassade, sondern auch im Licht diverser Scheinwerfer, gewahrte Cheng … nun, er sah, dass Roschek inmitten eines Meers von Farben gelandet war.
Farben?
Ja, dort lag er, der Zoologe und Killer und Philosoph, in vielleicht siebzig Metern Entfernung als kleiner dunkler Punkt leicht schwingend inmitten gewaltiger Kreise und Spiralen, Rechtecke und den Wellenlinien kontrastierender Farben. Und zwar etwas unterhalb jener Ebene, auf der sich ein Außenrundgang des Gebäudes, die sogenannte Plaza befand, die den unteren Speicherbau vom oberen Glaspalast trennte.
Endlich begriff Cheng, dass es sich um ein Sicherheitsnetz handelte, wie man sie aus dem Zirkus von den Trapezkünstlern kannte, dort allerdings unbemalt. Im Gegensatz zu diesem Netz hier, das in einer Höhe von etwas mehr als dreißig Metern über die gesamte Wasserrinne des Sandtorhafens zum gegenüberliegenden, lang gestreckten Backsteinbau führte, dem Haus am Sandtorkai, wo man die nördliche Breitseite dieses gewaltigen Netzes montiert hatte.
Weil Cheng in Kunstfragen kein Depp war, wurde ihm bewusst, dass es sich bei diesen Farben und Formen entweder um die riesenhafte Projektion eines Gemäldes der ukrainisch-französischen Malerin Sonia Delaunay handelte. Oder aber um ein Werk ihres Mannes Robert Delaunay. Das war bei den beiden Pionieren der klassischen Moderne nicht immer leicht auseinanderzuhalten.
Nun, die Wahrheit war die, dass es von beiden stammte. Dass also jener von der Elbphilharmonie wegführende Abschnitt – dort, wo Roschek sicher und heil nach seinem siebzig Meter langen Flug gelandet war – eine abstrakte Komposition von Sonia Delaunay zeigte, die aber gegen die Mitte hin, über dem Wasser des Hafenbeckens, in ein ähnlich geartetes Gemälde ihres Mannes Robert überging.
Jetzt erinnerte sich Cheng auch, dass er auf den beleuchteten Litfaßsäulen der Stadt Plakate gesehen hatte, die für eine große Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle warben. Eine Ausstellung, die dem für ihre Farbenpracht bekannten Künstlerehepaar Delaunay gewidmet war.
Wie Cheng später begreifen würde, war dieses lange, breite Netz, das gleich einem seitlichen Segel vom Gebäude wegstand, vor wenigen Tagen als spektakuläre Werbeaktion für ebendiese Ausstellung aufgespannt worden. Wobei man die Elbphilharmonie nicht nur wegen ihrer ikonischen Bedeutung ausgewählt hatte und weil sie sich besser als jedes andere Gebäude für eine gigantomanische Geste eignete, sondern auch, weil die Kunst der Delaunays auf eine Verbildlichung von Musik abzielte, eine »reine Malerei« gleich einer »reinen Musik«.
Teil dieser Werbeaktion sollte tatsächlich auch eine Trapezvorführung sein, die über diesem in solcher Pracht noch nie gesehenen bunt leuchtenden Netz in gewaltiger Höhe stattfinden würde. Ein Netz, unter dem sich die auch nicht ganz unmusikalischen Strukturen des Wassers abzeichneten.
Genau dort, also in der Mitte, wo gleichsam die Frau in den Mann überging, beziehungsweise, von der anderen Seite betrachtet, der Mann in die Frau, dorthin balancierte Roschek, bewegte sich hinüber an den westlichen Rand, schwang sich über das Netz und ließ sich an einem an dieser Stelle angebrachten Seil hinunter zum Wasser gleiten.
Cheng konnte durch die Delaunay-Farben hindurch erkennen – geradezu, als sei er im LSD -Rausch –, wie dort unten ein blütenweißes kleines Motorboot auf Roschek wartete. Es war nicht genau zu sagen, wer am Steuer des Boots saß, in derartiger Entfernung, noch dazu von den Delaunay-Farben verfälscht. Und dennoch meinte Cheng, es handle sich um jene von den beiden schwesternartigen Frauen, die versucht hatte, ihn mithilfe eines Glases Sekt, vielleicht auch eines Glases Champagner, außer Gefecht zu setzen.
Unmöglich, das genau zu sagen. Aber er dachte es eben.
Und dann sah er, wie das Boot aus dem Delaunay-Bild herausfuhr, und sah ja auch, wie sich Roschek noch einmal umwandte. Immerhin winkte er nicht.
Das Boot verschwand im vom Großstadtlicht gemusterten Halbdunkel der Elbe und war bald nur noch ein kleiner Punkt, der irgendwann erlosch.
Cheng robbte weg vom Abgrund und richtete sich auf. Ein Schwindel überkam ihn und ließ ihn wanken. Aber er fing sich. Er atmete tief ein. Meinte für einen Moment, sich an der Hamburger Höhenluft wie an einer Gruppe von Feuerwehrleuten festzuhalten, die ihn freundlich umringten. Lehnte sich gegen den Wind und machte sich auf den Rückweg.
Klar, es war ein Misserfolg. Roschek war ihm entkommen. Andererseits war es nicht so, dass er selbst, Cheng, bewusstlos und auf höchst verdächtige Weise neben jenem Gewehr lag, mit dem auf Wing Yi und einen BND -Mann geschossen worden war. Er würde in der Lage sein, Roscheks Fluchtweg zu beschreiben, überhaupt dessen perfide Rolle in der ganzen Geschichte, wie hier ein Zoologe und Bestsellerautor in Wahrheit … nun, er war ja tatsächlich Zoologe. So perfekt war seine Tarnung, dass er wirklich in diesem Bereich forschte und Bücher verfasste, daneben aber ein Killer und Fälscher war, dessen Fälschung so weit ging, dass man jemand anderen für den Fälscher hielt. Jenen Mann, der sich kürzlich noch als Alexander Jensen ausgegeben hatte und derzeit nach zwei englischen Philosophen entweder Russell oder Moore hieß, möglicherweise aber bereits zu einem nächsten Namen und Pass und Aufenthaltsort gewechselt hatte. Auch er ein Mörder, aber doch einer, dessen Aufgabe in erster Linie darin bestand, die Figur des Fälschers zu verkörpern: eine Fälschung des Fälschers.
Er, Cheng, würde Auskunft geben können, anstatt sich für seine chinesische Abstammung verantworten zu müssen.
Erschöpft, aber ohne weitere Vorfälle erreichte er, über die Wellen des Daches steigend, die Terrasse der Sky-Lounge. Um nun festzustellen, dass sich diese beträchtlich gefüllt hatte. Allerdings nicht wie erwartet mit einer Menge von Polizisten und den Männern einer Terroreinheit sowie ein paar Leuten von der Presse, die immer schon vor der Polizei an einem Tatort waren. Nein, wie Cheng beim Eintreten feststellte, handelte es sich offensichtlich um Personen aus dem Publikum. Eine Gesellschaft, die für die Zeit nach dem Konzert die Räume der Lounge gemietet hatte und bei Wein und Sekt und lächerlich kleinen Brötchen – Brötchen, die aussahen wie die Grabmale bunter Käfer – zusammenstanden. Natürlich eine erregte Gesellschaft. Cheng hörte aus den Gesprächen heraus, dass die Ausgänge der Philharmonie versperrt worden waren und die Besucher des Konzerts nur mittels Ausweiskontrolle und einer Aufnahme ihrer Personalien das Gebäude verlassen konnten. Auf diese Weise hoffte man, dem Attentäter den Weg zu versperren.
Weshalb diese Gruppe privilegierter Konzertbesucher wie geplant mit einem speziellen Lift zur Sky-Lounge hochgefahren war. Man wollte den ersten Ansturm auf die Ausgänge abwarten und sich bei schönster Aussicht auf den Hamburger Hafen den Spekulationen über Sinn und Zweck eines solchen Anschlags auf James Wing Yi hingeben. Während man über den Mann, der gestorben war, indem er sich über Yi geworfen hatte, sagte, es habe sich wohl um den Kapellmeister gehandelt. Andere hingegen meinten, es sei – so klein und bullig – eher einer der Bratschisten gewesen.
Cheng sah sich nach der jungen Frau hinter der Theke um. Aber dort standen nun zwei junge Männer mit diesem typisch arroganten Gesichtsausdruck von Menschen, die ihrerseits zwar arme Würstchen waren, sich aber als Diener der Eliten doch sehr erhaben fühlten. Man kannte das aus jedem besseren Restaurant, wenn die Kellner und Kellnerinnen diese gewisse Mimik und Pose von Dressurreitern und -reiterinnen besaßen, nur dass sie genau genommen selbst die Pferde waren, auf denen die Herrschaft saß.
Cheng fragte die beiden Kellner nach jener jungen Frau, die noch kürzlich an dieser Theke gestanden hatte.
Die zwei hatten keine Ahnung, wovon er sprach, doch in diesem Moment erschien die junge Frau aus einem kleinen Durchgang kommend mit einem Tablett in der Hand, darauf die Brötchen, die weiter zu schrumpfen schienen.
Sonderbarerweise meinte Cheng für einen kurzen Moment, hinter der Frau, also genau hinter ihren Beinen, eine Katze zu sehen. Eine kleine Schildpattkatze, so eine mit einer Fellzeichnung wie auf dem Rückenpanzer von Meeresschildkröten. – Eine Katze in der Elbphilharmonie? Das war so unglaubwürdig wie Hunde in diesem Haus. Am ehesten noch Mäuse oder Ratten. Gut, das hätte dann wiederum eine Katze gerechtfertigt, wie sie ja mitunter auch in Bibliotheken gehalten wurden.
Im nächsten Moment war das Katzentier aber verschwunden, und Cheng schüttelte sich, wie man das tut, wenn man den Eindruck eines Geistes abwehrt und sich schlenkernd zur Räson ruft.
»Sie sollten doch die Polizei benachrichtigen«, fuhr Cheng die Servierkraft an.
Sie blickte ihn kurz an und sagte: »Hab ich.« Dann trug sie die Brötchen in die Menge.
Die beiden jungen Männer grinsten wie Amöben aus einem Zeichentrickfilm.
»Geben Sie mir Ihr Handy«, sprach Cheng den einen an, dessen Grinsen noch ein wenig unappetitlicher ausfiel. Und der sich auch gleich zu wehren versuchte.
»Sofort«, sagte Cheng und vollzog eine Geste mit jenem Arm, den er gar nicht mehr besaß. Aber es wirkte. Die Amöbe büßte ihr Grinsen ein, griff in die Hosentasche, zeichnete mit einem Finger eine kleine geometrische Figur auf den Touchscreen und reichte Cheng das Gerät.
In diesem Moment hörte Cheng hinter sich, wie jemand aus einer der versammelten Runden sagte: »Die Frau soll auch tot sein.«
Cheng wandte sich panisch um und fragte: »Eine Frau? Was für eine Frau?«
»Wing Yi scheint ja zu leben«, sagte der Mann, »schwer verletzt, aber er lebt. Nicht so der Mann, und nicht so die Frau.«
»Noch einmal, welche Frau?«
»Irgendjemand aus dem Publikum. Aus den vorderen Reihen. Wahrscheinlich ein Querschläger oder einfach pure Unfähigkeit des Attentäters.«
Es sei schlimm, wenn er so etwas sage, meinte der Mann, aber wenn der Kerl nur den Dirigenten töten wollte, dann war er ein miserabler Schütze.
Cheng neigte den Kopf und trat ein wenig zur Seite. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, dass Roschek mehr als zwei Schüsse abgegeben hätte. Dass er Seldowitsch getötet hatte, war grausam gewesen, hatte aber einer gewissen brutalen Logik entsprochen. Wozu aber eine Frau aus dem Publikum? Was ganz sicher weder auf einen Querschläger noch auf Unfähigkeit zurückzuführen war. Nicht bei einem Mann, der es verstand, auf ein Herz zu zielen und es knapp nicht zu treffen, wenn das die Aufgabe war.
Nein, zwei Schüsse, nicht drei. Nun aber eine tote Frau, wenn es stimmte, was hier gesagt wurde.
Und es stimmte. Cheng erfuhr es, als er wenig später zusammen mit Frau Wolf in einen der ebenfalls inoffiziellen Räume der Elbphilharmonie gebracht wurde, allerdings keine Luxus-Lounge, sondern ein Tonstudio, das aber nicht für die Aufnahme von Musik gedacht war. Welchen Aufnahmen auch immer es diente, jetzt diente es den ermittelnden Beamten als eiligst eingerichtete Zentrale einer ebenso eiligst einberufenen Sondergruppe unter dem Namen Schubert , was wohl dem anfänglichen Missverständnis zu verdanken war, das Attentat habe während der Aufführung von Franz Schuberts Unvollendeter stattgefunden. Was ja dann vor der Pause gewesen wäre, obwohl es in Wirklichkeit nach der Pause geschehen war. Der Irrtum war schnell aufgeklärt worden, der Name aber hatte sich bereits zu stark festgesetzt und führte wiederum in der Öffentlichkeit zu dem oft kolportierten Missverständnis, bei dem getöteten BND -Mann oder aber dem Kollateralopfer, einer fünfundzwanzigjährigen Frau, habe es sich um eine Person namens Schubert gehandelt.
Cheng und Frau Wolf saßen nun also in dem mit einer schalldichten Gewandung ausgestatteten Raum den beiden leitenden Ermittlern gegenüber, einem Mann des LKA und einer Frau aus dem BND , und offenbarten ihrer beider Rolle in dieser Geschichte. Ihre Rolle sowie die mehr als berechtigte, letztlich aber tragische Eigenmächtigkeit Seldowitschs. Nicht anwesend war hingegen jener Mitarbeiter Seldowitschs, der in der Tarnung eines Bühnenarbeiters in den Hinter- und Untergründen dieses verschlungenen Gebäudes gewesen war. Ein Mann, von dem es später hieß, er habe undercover für den BND gearbeitet, von dem es aber noch später einmal heißen sollte, er gehöre zur jener Gruppe – man könnte auch von einer Werkstatt sprechen –, die überall auf der Welt für jemanden tätig sei, der als der Fälscher gelte.
Cheng beschrieb den ermittelnden Beamten, wie er auf Roschek gestoßen war, wie er ihm in die mit einem transparenten Boden ausgestattete Luxus-Lounge gefolgt war und dort dessen »wahres Gesicht« hatte erkennen müssen, das halt lange nicht so hübsch war wie seine wohlgeformten Gesichtszüge.
»Dass er Ihnen die Handschellen abgenommen hat, ist aber schon irritierend«, meinte der LKA -Mann.
»Er dachte, ich sei bewusstlos. Und da hätte es doch besser gepasst, hätten Sie mich ohne Handschellen entdeckt. Man hätte mich zum Chinesen gemacht, der einen Taiwanesen auf dem Gewissen hat.«
»Wing Yi lebt«, erinnerte die Dame vom BND .
»Ja, das war erstaunlicherweise Roscheks Auftrag, Yi nicht zu töten. Ihn nur zu verletzen. Die Sache mit Seldowitsch hingegen … das war nicht sein Auftrag. Das war simple Lust. Simple böse Lust am Töten und an den Spekulationen, die sich daraus ergeben würden.«
Und dann beschrieb Cheng die Jagd über das Dach der Elbphilharmonie – eigentlich waren es ja Dächer, und tatsächlich dachte er schon wieder an einen Hitchcocktitel: Über den Dächern von Nizza – und wie letztlich Roschek ausgerechnet jenes werbewirksam aufgespannte Delaunay-Netz benutzt hatte, um auf eine filmreife Weise zu entkommen.
»Die ganze Dachgeschichte ist filmreif«, meinte die BND -Dame, »allerdings wäre es klüger gewesen, uns Bescheid zu geben, bevor Sie da – verzeihen Sie, dass ich das sage: einarmig – in hundert Metern Höhe über ein Dach hetzen.«
»Roschek hat sich auch schon über meine Einarmigkeit lustig gemacht.«
»Ich habe mich nicht lustig gemacht.«
»Aber Sie wissen doch«, sagte Cheng, »dass ich diese Frau von der Sky-Lounge-Bar angewiesen habe, nach unten zu telefonieren und die Polizei zu informieren, wohin Roschek geflüchtet ist.«
Erstaunlicherweise ließ sich nicht mehr eruieren, wer diese Frau an der Bar gewesen war und wieso sie nicht wirklich die Polizei benachrichtigt hatte und zudem niemand außer Cheng sie beschreiben konnte. Auch keiner der beiden Kellner, von denen Cheng ein Handy verlangt hatte, um dann naturgemäß viel zu spät die Polizei auf den Fluchtweg des Attentäters hinzuweisen.
Die Sache mit der jungen Servierkraft blieb somit rätselhaft, wurde von den Ermittlern aber letztlich als bedeutungslos eingestuft. Ebenso der Umstand, dass jene Pailletten, die sich im Umkreis der Sky-Lounge-Terrasse befanden und mit Sensoren ausgestattet waren, um im Kontrollzentrum des Hauses eine unbefugte Begehung anzuzeigen, ausgeschaltet gewesen waren. Angeblich aus dem Grund, weil für den Folgetag ein Fototermin mit Udo Lindenberg geplant gewesen war, der ja schon einmal auf diesem Dach posiert hatte und es nun ein weiteres Mal tun sollte.
Was bald bekannt wurde, war, um wen es sich bei der toten Frau im Publikum handelte, die in der vierten Reihe Mitte des Parketts gesessen hatte. Eine Frau namens Paula Koch. Zwischen ihr und der Zielperson waren also drei gut gefüllte Reihen gewesen und immerhin zwei Reihen zwischen ihr und Seldowitsch. Sie war gewiss ein Zufallsopfer, mehrere Meter entfernt von Wing Yi, allerdings gemäß dem Winkel des in den Saal ragenden Laufs des Präzisionsgewehrs doch im logischen Schussbereich. Faktum war, dass der Schuss auf sie ebenfalls aus dieser Waffe abgegeben worden war und nur unklar blieb, ob er vor dem Schuss auf Seldowitsch oder danach erfolgt war. Wobei die Vermutung in die Richtung ging, der Schuss habe Seldowitsch gegolten, habe diesen deutlich verfehlt, die junge Frau getroffen, weshalb also das Abfeuern eines dritten Projektils notwendig geworden war, um die Provokation eines toten deutschen Nachrichtendienstlers zu gewährleisten.
Dass Paula Koch Österreicherin war … nun, das konnte als weiterer Zufall durchgehen. Die Fünfundzwanzigjährige war als Touristin nach Hamburg gekommen, zusammen mit zwei Freundinnen, die allerdings nicht im Konzert gewesen waren, sondern bei einer Tangomilonga. Nach Auskunft ihrer Freundinnen war Paula aber weniger an der klassischen Musik und nicht einmal an jenem charismatischen Dirigenten interessiert gewesen, sondern hatte einfach einmal in diesem für seine Akustik und Architektur berühmten Konzertsaal sein wollen. Jedenfalls sehr viel mehr als in einem Raum mit kleinen, bauchigen, verschwitzten Tangotänzern (und das ist ja eine simple Wahrheit, dass diese Milongas von Männern besucht werden, die klein und rund und feucht sind, allerdings bestens führen können und die eine oder andere Dame gut aussehen lassen).
Paula Koch hatte aber auch ohne Tangotänzer gut ausgesehen und war lieber in die Elbphilharmonie gegangen. Und jetzt war sie tot. Und fügte sich somit ein in jene Reihe bald namenloser Menschen, die bei irgendwelchen Attentaten gewissermaßen im Weg gestanden hatten, entweder im Weg, der auf ein prominentes Opfer zuführte, oder im Weg jener Attentäter, die ziellos irgendwen töteten, um Angst bei allen auszulösen.
Cheng allerdings bestand darauf, dass Roschek nur zwei Kugeln abgegeben hatte, zuerst Yi und dann Seldowitsch getroffen hatte, jedoch niemanden Dritten.
»Da irren Sie sich leider«, sagte der BND -Mann.
Ja, da irrte er sich wohl. Aber der Irrtum blieb tief und fest in seinem Bewusstsein stecken. So rasch auch der Name der Toten in Vergessenheit geriet. Während der Name Seldowitsch gar nicht erst an die Öffentlichkeit drang, sondern immer nur von einem Mann die Rede war, dessen Rolle als dubios beschrieben wurde und der, wenn überhaupt, den Namen Schubert getragen hatte.
James Wing Yi hingegen, der Überlebende, erntete allgemeine Begeisterung, wurde nun auch zum politischen Helden und zum Symbol dafür, dass der freie Westen nicht umzubringen war. Nicht von irgendwelchen möglicherweise von China bezahlten Dilettanten, wenngleich andererseits dem aus chinesischer Fabrikation stammenden Präzisionsgewehr eine perfide, aber auch faszinierende und revolutionäre Technik bescheinigt wurde. Eine deutliche Steigerung bislang bekannter Möglichkeiten von Präzision. Umso erstaunlicher und unglaublicher, welche Unfähigkeit der Schütze an den Tag gelegt hatte. Jedenfalls führte die Entdeckung dieses bislang nur als Prototyp existierenden Waffenmodells neben allen Klagen und Drohungen gegen China vor allem zu einem: weltweiten Vorbestellungen bei den Chinesen.
Natürlich war Roschek entkommen, da man viel zu spät damit begonnen hatte, die Elbe in beide Richtungen nach einem schneeweißen Motorboot abzusuchen. Während wiederum die Personenkontrollen an den Flughäfen, den Bahnhöfen und Ausfahrtsstraßen mehr ein Ornament der Verzweiflung gewesen waren als eine ernst gemeinte Maßnahme. Roschek verschwand, und auch seine vier Mitarbeiter tauchten nicht wieder auf. Gerüchte machten die Runde, Spekulationen. Ein hoher Beamter des BND musste seinen Hut nehmen, wurde aber Spitzenfunktionär einer gerade im Osten von Deutschland sehr erfolgreichen Partei rechtsradikaler Komik. Taiwan und die USA hielten eine gemeinsame Militärübung ab, die von den Chinesen mit einer ebensolchen beantwortet wurde, was für einen Moment zu einer Situation führte, wie wenn ein Seiltänzer die Balance zu verlieren scheint. Nur, dass sich unter ihm keinerlei starkfarbiges Delaunay-Netz befand, sondern allein die horrible Tiefe des Pazifischen Ozeans. Doch der Akrobat fing sich gerade noch, was zu einem Ah! und Oh! und Mon dieu! des weltweiten Publikums führte und zu viel Krach in einem Ozean, der eigentlich als der Stille bezeichnet wird. Und natürlich zur Einberufung diverser Botschafter, zu Protestnoten und Sanktionsdrohungen und einer erneuten Renaissance der Aufrüstung – und zu James Wing Yi auf der Titelseite des Spiegel und des Time Magazine , jedoch nicht zu jenem Krieg, den sich einige so sehnlichst gewünscht hatten.
Markus Cheng und Frau Wolf mussten noch einige Befragungen über sich ergehen lassen, einmal auch in Anwesenheit eines australischen Kriminalbeamten, der den vermeintlichen Einbruch in Suzy’s Table und die unklaren Besitzverhältnisse dieses Haus betreffend zu untersuchen hatte. Vor allem aber interessierte ihn Frau Wolfs Aussage bezüglich eines Leichnams, der sich angeblich in einem untergegangenen Flugzeugwrack nahe der Küste von Kiama befand. Ein Leichnam, den man in der Tat wenig später aus einem untergegangenen Flugzeug barg. Ein Flugzeug nicht aus den 1960er-Jahren mit einer entführten Millionärstochter an Bord, sondern eines, das 2019 aus einem Hangar des Flughafens von Albury gestohlen wurde. Und richtig, bei dem Toten handelte es sich um jenen Edward Todd, der in Suzy’s Table gelebt hatte und dessen wahre Identität niemals zur Aufklärung kam.[10]
Frau Wolf und Cheng waren gezwungen, noch einige Tage in Hamburg zu verbleiben, doch nach dem Ende der Befragungen kehrten sie nach Wien zurück, suchten die Roschek-Villa nahe jener kubistischen Kirche auf und unterrichteten Astrid Roschek über die wahre Identität ihres Ehemannes, der als der Fälscher so lange schon Attentate verübte, die dann jemand ganz anderem zugeordnet wurden.
Astrid Roscheks Reaktion war alles andere als gleichgültig, natürlich nicht, und doch ertrug sie die Nachricht mit einer Art harter Fassung. Als hätte sie bereits erwartet, dass ihr Mann nicht einfach nur der begnadete Zoologe und zwecks Stadttierforschung auf der ganzen Welt herumreisende Wissenschaftler war. Klar, sie hatte sich etwas weniger Dramatisches als einen in der Weltpolitik agierenden Killer vorgestellt. Im Grund war sie einfach traurig darüber, dass ihr Mann nicht zurückkehren würde, gleich, was er angeblich so angestellt hatte. Denn eine gewisse Angeblichkeit wollte sie nicht ausschließen. Dass nämlich Cheng sich in der Person des Attentäters geirrt hatte.
Dr. Kollmann hingegen schien fassungslos. Mit etwas Derartigem hatte er nicht rechnen können und nicht rechnen wollen, als er da Roschek zwei Detektive hinterhergeschickt hatte.
»Sie werden in Zukunft darauf verzichten müssen«, sagte Cheng, »Herrn Roschek beim Tennis herauszufordern.«
»Davon hat er Ihnen erzählt?«
»Ja, er meinte wohl, Sie sollten damit aufhören. Und dass genau das der Grund sei, mich und Frau Wolf auf ihn angesetzt zu haben. Ihre Niederlagen beim Tennis.«
»So ein Unsinn«, sagte der Anwalt und lachte in der Art von Leuten, die gerade daran verzweifeln, ein Regal zusammenzubauen, und dabei entdecken, dass eine Schraube nicht mitgeliefert wurde.
Letztlich hatten Frau Wolf und Cheng ihren Auftrag erfüllt. Klar, den aktuellen Aufenthaltsort konnten sie auch jetzt nicht nennen, das war nicht zu ändern. In Hamburg würde Roschek wohl kaum mehr sein. Und merkwürdig blieb auch, dass er nie versucht hatte, seiner Frau sein Verschwinden zu erklären, ihr irgendeine beruhigende Begründung mitzuteilen. Oder war es tatsächlich so gewesen, dass er entschieden hatte, diesen Teil seiner Tarnung aufzugeben? Sich neu zu erfinden? Was er nun ganz sicher tun würde und tun müsste.
Als Frau Wolf und Cheng das Haus verließen, war es nicht Dr. Kollmann, der die beiden zur Türe brachte – er saß auf dem Sofa wie jemand mit zwei gebrochenen Beinen –, sondern Frau Roschek.
Cheng befand sich bereits auf den Stufen der vorgelagerten halbrunden Terrasse, als Frau Roschek ihn fragte: »Sagen Sie, hatten Sie nicht letztes Mal einen Hund bei sich? So einen kleinen, alten mit kurzen Beinen.«
Cheng wunderte sich über eine derartige Frage in einer solchen Situation, meinte aber: »Sie irren sich. Mein Hund ist lange tot.«
»Ach so, darum«, sagte Frau Roschek. Man hätte meinen können, sie begreife nun endlich sämtliche Facetten dieses Falls.
Auf der Straße vor der Villa wartete ein Taxi. Sowenig Cheng Taxis leiden konnte, war ihm das freilich um einiges lieber, als hätte sich jetzt Frau Wolf ans Steuer gesetzt.
Als die beiden dann im Fond des Wagens saßen, meinte seine Chefin: »Dass wir diese Sache überlebt haben, ist schon ein kleines Wunder.« Machte dann aber eine Bemerkung über den fabelhaften Friseur in Hamburg, der fast so gut und einfühlsam gewesen sei wie ihr Wiener Stammfriseur, und dass es sich schon allein darum ausgezahlt habe, nach Hamburg zu reisen.
Cheng sagte nichts. Er vernahm bloß ein Kichern durch seinen Schädel hallen: das Gelächter des Dings in seinem Kopf.