Wie ich im letzten Kapitel dargelegt habe, rückt die anthropogene globale Erwärmung den Zusammenprall – die Gegenläufigkeit – von drei Geschichten ins Blickfeld, die vom Standpunkt der menschlichen Geschichte aus normalerweise eindeutig in einem so unterschiedlichem Tempo ablaufen, dass man sie aus praktischen Erwägungen als voneinander getrennte Prozesse behandelt: die Geschichte des Erdsystems, die Geschichte des Lebens einschließlich der Evolution des Menschen auf dem Planeten und die neuere Geschichte der industriellen Zivilisation (für viele des Kapitalismus). Ungewollt sind die Menschen mittlerweile in allen drei Geschichten gleichzeitig vertreten, die nach unterschiedlichen Maßstäben und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit operieren.
Dieses Problem menschlicher und unmenschlicher Zeitmaßstäbe zieht sich durch die Alltagssprache, wenn von der Klimakrise die Rede ist. Nehmen wir zum Beispiel die in unserer Alltagsprosa allgegenwärtige Unterscheidung von nicht erneuerbaren Energiequellen und den »Erneuerbaren«. Nach unserem Verständnis gelten fossile Brennstoffe als nicht erneuerbar, aber Bryan Lovell – ein Geologe, der früher Berater von BP und Präsident der Londoner Geological Society war – weist darauf hin, dass fossile Brennstoffe sehr wohl erneuerbar sind, sobald wir einen, wie er es nennt, inhumanen Zeitmaßstab an sie anlegen: »In 200 Millionen Jahren dürfte eine Lebensform, die für irgendeinen Zweck ergiebige Mengen Erdöl benötigt, feststellen, dass 91sich seit unserer heutigen Zeit genügend davon gebildet hat.«1 Eine mögliche Denkweise über die momentane Krise des anthropogenen Klimawandels besteht nämlich darin, sie für ein Problem nicht zueinander passender Zeitvorstellungen zu halten. Die menschlichen Institutionen und Praktiken sind auf das menschliche Zeitgefühl und Geschichtsverständnis ausgerichtet. Aber mittlerweile müssen wir diese Institutionen nutzen, um uns mit Prozessen zu befassen, die sich über sehr viel ausgedehntere Zeiträume entfalten.
Paläoklimatolog:innen erzählen zum Beispiel eine sehr lange Geschichte, wenn sie die Bedeutung der anthropogenen globalen Erwärmung erklären sollen. Zunächst einmal stellt sich die Frage der Beweismittel. Eiskern-Proben von – mehr als 800 000 Jahre – alter Luft sind für den Nachweis, dass die derzeitige Erwärmung anthropogener Natur ist, entscheidend gewesen.2 Außerdem hat die paläoklimatische Vergangenheit Ablagerungen in Fossilien und anderen geologischen Materialien hinterlassen. In seinem einleuchtenden Buch über die Reaktion der Ölindustrie auf die Klimakrise – die nicht in allen Fällen und überall ausblieb, auch wenn Exxon ein Beispiel für das Gegenteil abgab – schreibt Lovell, dass die Mitarbeiter:innen dieses Industriezweigs, die zwingende Beweise für das ernsthafte Problem vorlegten, das Treibhausgasemissionen für die Zukunft der Menschheit darstellen, Geologen gewesen seien, die die im Sedimentgestein verborgenen tiefenklimatischen Geschichten so zu lesen verstanden, dass die Auswirkungen »einer dramatischen Erwärmungsphase, die vor 55 Millionen Jahren stattgefunden hat«, sichtbar wurden. Diese Phase ist häufig zur Veranschaulichung der Auswirkungen angeführt worden, die eine Erwärmung der Erdoberfläche auf die Geschichte des Lebens haben kann. Sie ist unter dem Namen spätes Paläozän/Eozän-Temperaturmaximum (PETM) bekannt.
92Ein Vergleich der [damals] in die Atmosphäre abgegebenen Menge an Kohlenstoff […] mit der Menge, die wir heute selbst freisetzen, legt dringend nahe, dass wir in der Tat vor einer bedeutenden globalen Herausforderung stehen. Wir laufen Gefahr, jene 55 Millionen Jahre alte globale Erwärmungsphase zu wiederholen, die auf der Erde 100 000 Jahre lang für Störungen sorgte. Diese Phase vollzog sich lange bevor der Homo sapiens auch nur ein Lagerfeuer entzünden konnte.3
Wie weit der Bogen der die gegenwärtige Klimakrise erklärenden geologischen Geschichte in die Zukunft reicht, lässt sich schon am Untertitel von David Archers Buch The Long Thaw. How Humans Are Changing the Next 100 000 Years of Earth's Climate leicht erkennen. »In Bezug auf das Klima wird die Menschheit zu einer mit den die glazialen Zyklen steuernden orbitalen Variationen vergleichbaren Kraft«, schreibt Archer.4 »Die Langlebigkeit des fossilen Brennstoffs CO₂«, fährt er fort, »vermittelt eine Ahnung des Anflugs von Torheit, fossile Brennstoffe als Energiequelle zu nutzen. Unsere 100 Millionen Jahre alten fossilen Brennstoffvorkommen könnten in wenigen Jahrhunderten verbraucht sein, was sich Hunderttausende von Jahren auf das Klima auswirken wird. In der Atmosphäre beläuft sich die Lebenszeit des fossilen Brennstoffs CO₂ auf wenige Jahrhunderte zuzüglich der 25 Prozent, die mehr oder weniger ewig währen.«5 Wie Archer erklärt und Curt Stager wiederholt, wird der Kohlenstoffkreislauf der Erde das überschüssige CO₂, das wir in die Atmosphäre abgeben, irgendwann entsorgen, er arbeitet aber nach einem unmenschlich langen Zeitplan.6
Die Klimakrise verursacht mithin Probleme, bei deren Erwägung wir ganz unterschiedlichen, häufig unvereinbaren Zeitmaßstäben folgen. Politische Expert:innen denken in Jahren, Jahrzehnten, allerhöchstens Jahrhunderten, während demokratische Politiker:innen in Wahlperioden denken. Wenn man den anthropogenen Klimawandel und die mögliche Dauer seiner Auswirkungen verstehen will, muss man in sehr langen und sehr kurzen 93Zeiträumen zugleich denken, wozu auch Zeitmaßstäbe gehören, die sich dem menschlichen Angelegenheiten gewöhnlich zugrunde liegenden Zeitmaß entziehen. Dies ist ein weiterer Grund, warum es schwierig ist, ein politisches Gesamtpaket in Sachen Klimawandel zu erarbeiten. Archer trifft den Kern des Problems, wenn er einräumt, dass der Millionen von Jahre umfassende Zeitmaßstab des planetaren Kohlenstoffkreislaufs »für politische Überlegungen zum Klimawandel nach menschlichen Zeitmaßstäben irrelevant« ist. Doch er besteht auf ihrer Relevanz, wenn man den anthropogenen Klimawandel überhaupt verstehen will, weil »die Klimaphase globaler Erwärmung schlussendlich so lange anhalten wird, wie diese langsamen Prozesse wirksam sind«.7
In der vorhandenen Literatur über das Klimaproblem tun sich also beträchtliche Lücken zwischen Erkennen und Handeln, das heißt zwischen dem auf, was wir wissenschaftlich darüber wissen – wie zum Beispiel die unermessliche Größe seines unmenschlichen Maßstabs –, und der Frage, welche Vorstellung wir uns von ihm machen, wenn wir es als ein Problem behandeln, um das wir uns mit den uns zur Verfügung stehenden menschlichen Mitteln und Institutionen kümmern müssen. Letztere sind für das Angehen von Problemen entwickelt worden, vor denen wir nach vertrauten Zeitmaßstäben stehen. Ich bezeichne diese Lücken oder Leerstellen in unserer Denklandschaft als Sollbruchstellen, weil sie Verwerfungslinien auf einer scheinbar durchgängigen Oberfläche ähneln. Wir müssen sie ständig überschreiten oder überbrücken, wenn wir über den Klimawandel nachdenken oder sprechen. Durch sie gelangt ein gewisser Grad an Widersprüchlichkeit in unser Denken, weil wir aufgefordert sind, gleichzeitig verschiedene Maßstäbe zu bedenken.
Ich möchte hier drei dieser Sollbruchstellen erörtern: die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsregimes, denen unser Alltagsleben in modernen Volkswirtschaften gehorcht und die heute um unser Wissen über die radikale Ungewissheit des Klimas ergänzt 94werden müssen; die Geschichte unserer zwangsläufig getrennten menschlichen Leben, die um die Geschichte unseres Lebens als Spezies, als einer den Planeten beherrschenden Spezies ergänzt werden muss; und die Notwendigkeit, in unserem unvermeidlich anthropozentrischen Denken Raum für Einstellungen gegenüber dem Planeten zu schaffen, die den Menschen nicht an die erste Stelle setzen. Wir haben diese Dilemmata noch nicht überwunden, sodass wir uns entschieden auf jeweils eine Seite festlegen könnten. Sie bleiben Sollbruchstellen.
Im Folgenden werde ich diese Sollbruchstellen näher erläutern, um nachzuweisen, dass Kapital- (oder Markt-)Analysen zwar unabhängig davon, wo man in Bezug auf die Kapitalismusfrage steht, für den Bereich politischer Grundsatzfragen und Politik unverzichtbar sind, als Instrumente aber nicht genügend dazu beitragen, dass wir mit der historischen Bedeutung des anthropogenen Klimawandels zurechtkommen. Dies wird auf den Vorschlag hinauslaufen, dass die Klimakrise eine gerade erst entstehende, aber maßgebliche Unterscheidung der Kategorie des Globus von der des Planeten sichtbar macht, die weiter erkundet werden muss, um eine Perspektive zu entwickeln, welche Bedeutung(en) globale Erwärmung und Anthropozän für den Menschen haben. Der weiteren Ausarbeitung dieser Unterscheidung ist Kapitel 3 gewidmet.
Das moderne Leben gehorcht den Regeln des Wahrscheinlichkeitsdenkens. Von der Evaluierung von Leben zu Versicherungszwecken bis zur Funktionsweise von Geld und Aktienmärkten verwalten wir unsere Gesellschaften, indem wir Risiken berechnen und ihnen Wahrscheinlichkeitswerte zuweisen.8 »In der Ökonomie«, schreibt Charles S. Pearson, »wird häufig eine Unter95scheidung vorgenommen zwischen Risiko, wenn die Wahrscheinlichkeit des Ausgangs bekannt ist, und Ungewissheit, wenn die Wahrscheinlichkeit nicht bekannt und möglicherweise nicht erkennbar ist.«9 Dies ist sicherlich einer der Gründe, warum das Fach Ökonomie heute zu einer großen Kunst (oder »Wissenschaft«, als die manche sie lieber sehen) gesellschaftlicher Steuerung geworden ist.10 Deshalb besteht in der Literatur sowohl zur Klimagerechtigkeit als auch zur Klimapolitik – die von Ökonomen oder Rechtsgelehrten dominiert wird, die wie Ökonomen denken – verständlicherweise die Tendenz, ihr Augenmerk weniger auf das zu legen, was Paläoklimatolog:innen oder Geophysiker:innen, die das planetarische Klima historisch untersuchen, über den Klimawandel zu sagen zu haben, sondern eher auf etwas, das man Physik der globalen Erwärmung nennen kann und die häufig eine Reihe von vorhersagbaren, isolierten Wahrscheinlichkeits- und Größenverhältnissen vorlegt: Wenn der Anteil der Treibhausgase in der Atmosphäre um x steigt, dann liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die Durchschnittstemperatur auf der Erdoberfläche um diesen Wert ansteigt, bei y.11
Eine solche Denkweise setzt eine Art von Stabilität oder Vorhersagbarkeit – so probabilistisch sie auch sein mag – auf Seiten der sich erwärmenden Atmosphäre voraus, die Paläoklimatolog:innen, die ihren Blick stärker auf die größere Gefahr von Kipppunkten richten, häufig nicht unterstellen. Dies liegt weder daran, dass politische Expert:innen über die Gefahren des Klimawandels nicht beunruhigt sind, noch daran, dass sie die hochgradig nichtlineare Beziehung zwischen Treibhausgasen und dem Ansteigen der Durchschnittstemperatur auf der Oberfläche des Planeten nicht zur Kenntnis nehmen. Vielmehr sorgen ihre Methoden dafür, dass sie den Klimawandel anscheinend als weitgehend bekannte Variable betrachten oder veranschlagen (und seine Ungewissheiten in Risiken umwandeln, die erkannt und evaluiert wurden), wenn sie praktische Optionen ausarbeiten, die 96Menschen durch gemeinsame Anstrengungen oder sogar im Ringen miteinander offenstehen. Insofern sie politische Vorgaben machen sollen, eignet sich das Weltklimasystem mit anderen Worten nicht besonders gut als Platzhalter für ihre Berechnungen; es nimmt darin eine relativ vorhersagbare Form an, die durch menschliche Erfindungsgabe und politische Mobilisierung bewältigt werden kann.12
Die Rhetorik der Schriften, mit denen die Klimawissenschaftler:innen die Öffentlichkeit überzeugen wollen, ist dagegen oftmals bemerkenswert vitalistisch. Zur Erklärung des drohenden anthropogenen Klimawandels greifen sie häufig auf eine Sprache zurück, die das Klimasystem in das Bild eines lebenden Organismus kleidet. Dabei haben wir es nicht nur mit dem berühmten Fall von James Lovelock zu tun, der das Leben auf diesem Planeten mit einem einzigen lebenden Organismus vergleicht, den er Gaia getauft hat – was sogar der »nüchterne« Archer als angemessene, wenn auch »philosophische Definition« in seine Einführung in den globalen Kohlenstoffkreislauf aufnimmt.13 Archer selbst bezeichnet den »Kohlenstoffkreislauf der Erde« als »lebendig«.14 Das Bild vom Klima als einem launischen Tier geistert auch durch die Sprache von Wallace (»Wally«) Broeckers, der mit Hilfe von Robert Kunzig und unter Hervorhebung der methodischen Bedeutung der Geschichte für die Untersuchung des Klimas seine eigenen Forschungen folgendermaßen beschreibt:
Ab und zu […] entschließt sich die Natur, der Klimabestie einen kräftigen kurzen Tritt zu verpassen. Und wie wilde Tiere das tun, hat das Biest heftig und schlecht vorhersagbar reagiert. Computermodelle […] [sind] sicherlich ein zulässiger Ansatz. Aber die Untersuchung, wie das Biest in der Vergangenheit auf Druck reagiert hat, ist eine andere Möglichkeit, uns darauf vorzubereiten, was geschehen könnte, wenn wir es selbst einmal versuchen. Dieser Gedanke hat Broecker in den letzten 25 Jahren nicht mehr losgelassen, und mit jedem Jahr, das verging, scheint er dringlicher geworden zu sein.15
97Oder man nehme zur Kenntnis, wie Hansen das vitalistische Bild von der »Trägheit« zur Erklärung des Klimawandels heranzieht:
Die Geschwindigkeit des Kaltzeit-Warmzeit-Wechsels wird durch Zeiträume von 20 000, 40 000 und 100 000 Jahren vorgegeben, in denen sich die Erdumlaufbahn ändert – aber das heißt nicht, dass das Klimasystem für sich genommen derart träge ist, im Gegenteil: Nach paläoklimatischen Maßstäben sind menschengemachte Klimabeeinträchtigungen umfassend und ändern sich binnen zehn und nicht binnen Zehntausenden von Jahren.16
Der Vitalismus dieser Prosa geht nicht darauf zurück, dass Klimaforscher:innen nicht so »wissenschaftlich« vorgehen wie Ökonom:innen oder politische Entscheidungsträger:innen. Er entspringt dem Bemühen der Klimaforscher:innen, zwei Aspekte des Erdklimas zu übermitteln und zu unterstreichen: dass seine vielen Ungewissheiten vom vorhandenen menschlichen Wissen niemals vollständig in feste Bahnen gelenkt werden können und dass seine genauen Kipppunkte als solche nicht erkennbar sind. Archer drückt das folgendermaßen aus:
Was den Klimawandel anbelangt, sagt der IPCC für das kommende Jahrhundert einen im Großen und Ganzen gleichmäßigen Temperaturanstieg voraus. […] Die tatsächlichen Klimaveränderungen in der Vergangenheit erfolgten jedoch tendenziell plötzlich. […] Klimamodelle […] sind größtenteils nicht besonders gut in der Lage, die Umschlagspunkte in den Klimaaufzeichnungen der Vergangenheit zu simulieren.17
Eben dieser Sinn für ein launisches »Klimabiest« geht sowohl der ökonomisch inspirierten als auch der politisch dem linken Spektrum verpflichteten Literatur ab. Einer der Hauptautoren der Arbeitsgruppe III für den Bericht des IPCC von 2007, John Broome, der selbst vom Ökonomen zum Philosophen geworden ist, blickt zuversichtlich in eine Zukunft, in der Klimamodelle weiterhin die Wahrscheinlichkeiten »eingrenzen«, die »unterschiedlichen Möglichkeiten zugewiesen werden sollten«. Damit das ökonomische Denken die Welt besser erfassen könne, seien »de98taillierte Daten über Wahrscheinlichkeiten« erforderlich, und, fügt Broome hinzu, »wir erwarten von den Wissenschaftlern, dass sie diese Informationen liefern«.18 Doch dies könnte ein Missverständnis der Natur des Klimas auf diesem Planeten und der Modelle sein, die Menschen von ihm anfertigen. Klimaungewissheiten verhalten sich möglicherweise nicht immer wie messbare Risiken. »Müssen wir wirklich mehr darüber wissen, wie stark die Erde sich erwärmen wird, als wir jetzt schon wissen? Können wir überhaupt mehr wissen?«, lautet die rhetorische Frage von Paul Edwards. »Es ist mittlerweile so gut wie sicher, dass die CO₂-Konzentration irgendwann Mitte dieses Jahrhunderts 550 ppm (den Punkt ihrer Verdopplung) erreichen wird«, und der Planet »wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die CO₂-Verdopplung überschreiten.« Klimaforscher:innen, berichtet er, vermuten, »dass wir wahrscheinlich niemals zu einer genaueren Schätzung gelangen werden, als wir sie jetzt schon haben«.19
Der Gedankengang hinter Edwards Äußerung ist für meine Argumentation relevant. »Wenn Ingenieure Soziologen sind«, schreibt Edward, »dann sind Klimaforscher Historiker.« Wie ein Historiker »geht jede Klimaforschergeneration dieselben Daten, dieselben Ereignisse von neuem durch – sie wühlen sich durch die Archive, um neue Anhaltspunkte aufzuspüren, frühere Deutungen zu korrigieren« und so weiter. Und »genauso wie in der menschlichen Geschichte wird dabei niemals ein einziges, durch nichts zu erschütterndes Narrativ über die Vergangenheit des globalen Klimas herauskommen. Stattdessen bekommen wir Versionen der Atmosphäre, […] die konvergieren, aber niemals identisch sind.«20 Zudem »beruhen alle heutigen Analysen auf dem Klima, das wir in historischer Zeit erlebt haben«. »Wenn sich die Welt erst einmal um 4 °C erwärmt hat«, zitiert er die Wissenschaftler Myles Allen und David Frame, »werden die Bedingungen sich so sehr von allem unterscheiden, was wir heute beobachten können (und noch mehr von der letzten Eiszeit), dass es 99schon an sich schwer zu sagen ist, wann die Erwärmung aufhören wird«. Sie wollen, erklärt Edwards, auf folgenden Punkt hinaus: Wir wissen nicht nur nicht, ob »es irgendeinen ›sicheren‹ Treibhausgaspegel gibt, der das Klima« für Menschen »›stabil halten‹ würde«; aufgrund der anthropogenen globalen Erwärmung werden wir möglicherweise »niemals« imstande sein herauszufinden, ob es solch einen Stabilisierungspunkt nach menschlichen Zeitmaßstäben überhaupt gibt.21
Die erste Sollbruchstelle, von der ich spreche, kreist also um die Frage, an welchem Punkt das Klima kippt; jenseits dieses Punktes würde die globale Erwärmung für Menschen verhängnisvoll sein. Es besteht kein Zweifel, dass diese Möglichkeit existiert. Die Paläoklimatolog:innen wissen, dass der Planet in der geologischen Vergangenheit (wie im Fall des PETM) solch einer Erwärmung ausgesetzt gewesen ist. Aber wir können nicht vorhersagen, wie schnell ein solcher Punkt erreicht wäre. Er bleibt ungewiss und ist den üblichen, einen unverzichtbaren Teil der Risikomanagement-Strategien darstellenden Kosten-Nutzen-Analysen nicht zugänglich. Wie Pearson erklärt, sind Kosten-Nutzen-Analysen »für die Schaffung politischer Katastrophenrichtlinien nicht besonders gut geeignet«, und er räumt ein, dass »das Vorhandensein von Linearitätsabweichungen, Schwellenwerten und potenziellen Kipppunkten, Irreversibilität und eines langen Zeithorizonts zu den Besonderheiten gehört«, welche die Ungewissheit globaler Erwärmung aufweist, und die »Prognosen über Technologie, Wirtschaftsstruktur, Präferenzen und eine Reihe anderer Variablen in 100 Jahren zunehmend fragwürdig« machen.22 »Ungewissheit, Schwellenwerte, Kipppunkte«, schreibt er, »haben zur Folge, dass wir vorsichtig vorgehen«, das heißt »heute Schritte vermeiden sollten, die zu irreversiblen Veränderungen führen«.23 Doch, wie Cass Sunstein erklärt, setzt auch das »Vorsichtsprinzip« eine Kosten-Nutzen-Analyse und so etwas wie eine Wahrscheinlichkeitseinschätzung voraus: »Immerhin sollte man zuge100ben, dass eine geringe Wahrscheinlichkeit (etwa 1 zu 100 000) von ernsthaften Schäden (zum Beispiel 100 000 Tote) überaus ernsthafte Aufmerksamkeit verdient.«24 Doch über die Wahrscheinlichkeit, ob der Kipppunkt in den nächsten Jahrzehnten oder bis 2100 erreicht werden wird, wissen wir schlicht und einfach nichts, denn der Kipppunkt wäre eine Funktion, auf die das Steigen der globalen Temperatur und vielerlei unvorhersagbare, seine Wirkung verstärkende Rückkopplungsschleifen gemeinsam Einfluss nehmen. Unter diesen Umständen betrifft das eine Prinzip, das James Hansen den politischen Expert:innen empfiehlt, die Verwendung von Kohle als Brennstoff. Er schreibt: »Wenn wir das Klimaproblem lösen wollen, müssen wir die Kohlenstoffemissionen allmählich abbauen. Punkt.«25 Dabei handelt es sich nicht gerade um ein »Vorsichtsprinzip«, sondern um etwas, das in der Literatur über Risiken als »Minimax«- oder »Maximinprinzip« bekannt geworden ist: »Entscheide dich für die Strategie mit dem bestmöglichen ungünstigsten Ausgang.«26 Doch für Regierungen und Unternehmen auf der ganzen Welt ist dies anscheinend nicht akzeptabel; wie sollen die meisten Armen auf der Welt ohne Kohle, von der China und Indien weiterhin hochgradig (68-70 Prozent ihrer Energieversorgung) abhängen, die Armut in den nächsten Jahrzehnten überwinden und so für die Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels gerüstet sein? Oder wird die Welt in ihrem Ringen, den Kipppunkt des Klimas zu verhindern, die globale Ökonomie selbst umkippen lassen und unsägliches menschliches Elend verursachen? Damit stellt sich die Frage, ob das Vermeiden »des Schadens« seinerseits mehr Schaden anrichten würde, besonders wenn wir die Wahrscheinlichkeit, dass der Kipppunkt in den kommenden Jahrzehnten erreicht wird, nicht kennen. Wie sowohl Sunstein als auch Pearson erklären, besteht darin das Dilemma, mit dem die Anwendung des Vorsichts- oder des Maximinprinzips an dieser Stelle verbunden ist.27 Es überrascht nicht, dass Stephen Gardi101ners Kapitel über Kosten-Nutzen-Analysen im Zusammenhang mit dem Klimawandel den Titel »Kosten-Nutzen-Paralyse« trägt.28
Im Zentrum dieser Sollbruchstelle steht die Frage des Maßstabs. Auf der sehr viel größeren Leinwand, auf der Paläoklimatolog:innen die Geschichte des Planeten verorten, betrachten sie klimatische Kipppunkte und die damit einhergehende Möglichkeit eines großflächigen Artensterbens – wie es während des PETM eintrat – als sich durchaus wiederholende Phänomene, und zwar unabhängig davon, ob wir ein Modell für sie entwickeln können oder nicht. Unsere Risikomanagement-Strategien erwachsen jedoch aus menschlicheren Kostenkalkulationen und deren Wahrscheinlichkeit anhand von nachvollziehbaren menschlichen Zeitmaßstäben. Die Klimakrise verlangt, dass unser Denken sich in einem fort zwischen diesen unterschiedlichen Maßstäben hin und her bewegt.
Der von Menschen herbeigeführte Klimawandel zieht erhebliche, ganz verschiedenartige Gerechtigkeitsprobleme nach sich: Gerechtigkeit zwischen den Generationen, zwischen kleinen Inselstaaten und die Umwelt (sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft) verschmutzenden Ländern und zwischen entwickelten Industrienationen (die historisch für die meisten Emissionen verantwortlich sind) und sich erst seit kurzem industrialisierenden Ländern. Peter Newell und Matthew Paterson bringen ein Gefühl des Unbehagens in Bezug auf die Verwendung des Wortes »Mensch« in dem Ausdruck »von Menschen herbeigeführter Klimawandel« zum Ausdruck. »Jenseits der ungezwungenen Sprache, die gewöhnlich den Klimawandel als eine der gesamten Menschheit gemeinsame Bedrohung beschreibt«, heißt 102es bei ihnen, »wird deutlich, dass manche Menschen und Länder unverhältnismäßig stark dazu beitragen, während andere die Hauptlast seiner Auswirkungen tragen. Besonders heikel wird das Angehen dieser Frage dadurch«, fahren sie fort, »dass die Menschen, die am meisten darunter leiden werden, derzeit am wenigsten zu dem Problem beitragen, nämlich die Armen in den Entwicklungsländern. Obwohl er häufig als wissenschaftliche Frage behandelt wird, ist der Klimawandel zuallererst ein zutiefst politisches und moralisches Problem.«29 In ihrem Empfehlungstext auf dem Buchumschlag merkt die indische Umweltschützerin Sunita Narain an, dass »der Klimawandel bekanntlich intrinsisch mit dem Modell weltweiten ökonomischen Wachstums verknüpft ist«.30 Die Klimakrise, schreiben John Bellamy Foster, Brett Clark und Richard York in ihrem wichtigen Buch Der ökologische Bruch, ist »im Grunde das Produkt eines gesellschaftlichen Bruchs: der Beherrschung des Menschen durch den Menschen. Die treibende Kraft ist eine Gesellschaft, die auf Klassen, Ungleichheit und endloser Aneignung beruht.«31
Eine ganz ähnliche Position wurde in einem im Jahr 2009 veröffentlichten Bericht der Hauptabteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen mit dem Titel Promoting Development and Saving the Planet vertreten.32 Als er seine Unterschrift unter den Bericht setzte, schrieb der Untergeneralsekretär für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten, Sha Zukang: »Die Klimakrise ist das Ergebnis des sehr uneinheitlichen Musters der ökonomischen Entwicklung in den letzten beiden Jahrhunderten, die den heute reichen Ländern erlaubte, ihr derzeitiges Einkommensniveau unter anderem dadurch zu erreichen, dass sie keine Rücksicht auf die Umweltschäden nehmen mussten, die mittlerweile das Leben und die Existenzgrundlage von anderen bedrohen.«33 Zukang bezeichnete den Klimawandel als »Herausforderung für die Entwicklung« und fuhr mit dem Hinweis fort, dass die Einstellung der nichtwestlichen Länder 103gegenüber dem Westen sich nicht unbedingt durch Vertrauen auszeichne.34 Der Bericht ging näher auf diesen Punkt ein: »Wie Entwicklungsländer in einer Welt mit Kohlenstoffbeschränkungen in Sachen Wachstum aufholen und ökonomische Konvergenz erreichen können und was die entwickelten Länder tun müssen, um ihre Sorgen zu lindern, sind auf nationaler und internationaler Ebene zu maßgeblichen Fragen für politische Entscheidungsträger:innen geworden.«35 Soweit ich weiß, wurde diese Position erstmals im Jahr 1991 formuliert, als zwei bekannte und angesehene indische Umweltaktivisten, der mittlerweile verstorbene Anil Agarwal und Sunita Narain, eine Broschüre mit dem Titel Globale Erwärmung in einer ungleichen Welt. Ein Fall von Öko-Kolonialismus verfassten, die von ihrer Organisation, dem Centre for Science and Environment, in Neu-Delhi veröffentlicht wurde.36 Diese Broschüre trug nachdrücklich zur Entstehung der Vorstellung von gemeinsamer, aber unterschiedlicher Verantwortung bei und verstärkte die Tendenz, von der Bezifferung der Treibhausgasemissionen pro Kopf aus zu argumentieren, die als Bestandteil des Kyoto-Protokolls Bekanntheit erlangte.37
Es gibt gute Gründe, warum es zu Gerechtigkeitsproblemen kommt. Historisch sind lediglich einige wenige Nationen (etwa 12 bzw. 14, wenn man China und Indien mehr oder weniger in den letzten zehn Jahren dazuzählt) und ein Bruchteil der Menschheit (ungefähr ein Fünftel) für den überwiegenden Teil der bisherigen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Das stimmt zwar, aber wir wären nicht in der Lage, in dieser Krise zwischen menschlichen Akteuren und dem Planeten als Akteur zu unterscheiden, wenn uns nicht klar wäre, dass – die Frage einer die Zukunft betreffenden generationenübergreifenden Ethik einmal beiseitegelassen – der anthropogene Klimawandel als solcher – das heißt von seiner inneren Logik her – kein Problem früherer bzw. akkumulierter zwischenmenschlicher Ungerechtigkeit ist.
Der Punkt, auf den ich hinauswill, beruht auf der Stichhaltig104keit einer häufig getroffenen Unterscheidung zwischen einem notwendigen, logischen Verhältnis von zwei Entitäten und einem kontingenten, historischen Verhältnis zwischen ihnen. Innerhalb meines begrifflichen Rahmens schafft diese Unterscheidung Raum für planetarische Prozesse, die unabhängig davon ablaufen, wie menschliche Gesellschaften intern strukturiert sind. Die Oberflächentemperatur des Planeten hängt von der Menge der Treibhausgase ab, die in die Atmosphäre gelangt. Für die Atmosphäre ist es egal, ob diese Gase auf einen gewaltigen Vulkanausbruch oder in sich ungerechte menschliche Gesellschaften zurückgehen. Das soll nicht heißen, dass ich die historische Rolle leugne, die das, was wir als globalen Kapitalismus betrachten, gespielt hat. Historisch gesprochen trifft es natürlich zu, dass die reicheren Nationen für den überwiegenden Teil der Treibhausgasemissionen verantwortlich sind, da sie Entwicklungsmodelle verfolgt haben, die zu weltweiter Ungleichheit führten. Doch stelle man sich kontrafaktisch die Realität einer gerechteren Welt vor, in der sich der Wohlstand gleichmäßiger verteilt, die von derselben Anzahl von Menschen bewohnt wird wie heute und auf der Nutzung preiswerter, sich aus fossilen Brennstoffen speisender Energie basiert. Solch eine Welt wäre zweifellos – zumindest im Hinblick auf Einkommensverteilung und Wohlstand – egalitärer und gerechter, aber die Klimakrise wäre größer! Unsere kollektive CO₂-Bilanz wäre noch schlechter als heute – weil die Armen der Welt wenig konsumieren und nicht viel zum Ausstoß von Treibhausgasen beitragen. Die Klimakrise wäre sehr viel früher und auf sehr viel drastischere Weise über uns hereingebrochen. Ironischerweise haben wir es den Armen – das heißt der Tatsache, dass die Entwicklung uneinheitlich und unfair ist – zu verdanken, dass wir nicht noch größere Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre entweichen lassen, als wir es derzeit tun. Logisch gesprochen hat die Erwärmungskrise also in Wirklichkeit mit der Menge an Treibhausgasen zu tun, die wir in Umlauf 105bringen und in die Atmosphäre gelangen lassen. Diejenigen, die einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und den historischen Ursprüngen/Entstehungsformen von ökonomischer Ungleichheit in der modernen Welt herstellen, werfen berechtigte Fragen nach historischer Ungleichheit auf, doch wenn sie diese als einzige Ursache betrachten, reduzieren sie nicht nur das Problem des Klimawandels auf das des (auf die Geschichte der europäischen Expansion und Imperien in der Moderne heruntergebrochenen) Kapitalismus, wir werden dadurch auch blind für den Ablauf – oder die Handlungsmacht, wenn man so will – der Erdsystemprozesse und ihrer unmenschlichen Zeiträume. Letzten Endes verlieren wir so das Wesen unserer Gegenwart aus den Augen, die durch das Zusammentreffen der relativ kurzfristigen Prozesse der menschlichen Geschichte mit anderen, sehr viel langfristigeren Prozessen definiert ist, die der Geschichte des Erdsystems und der Geschichte des Lebens auf diesem Planeten eigen sind.
Agarwals und Narains Beharren darauf, dass die natürlichen Kohlenstoffsenken – wie etwa die Ozeane – zum globalen Gemeingut gehören und sich deshalb am besten durch die Anwendung des Prinzips des gleichen Zugangs auf Pro-Kopf-Basis unter den Nationen verteilen lassen, falls die Welt »so hochtrabende Ideale wie globale Gerechtigkeit, Gleichheit und Nachhaltigkeit« anstreben sollte, wirft implizit allerdings ein sehr wichtiges Problem auf: das gleichzeitig eingeräumte und uneingestandene Bevölkerungsproblem.38 In Diskussionen über den Klimawandel ist die Bevölkerungszahl oftmals der Elefant im Raum. Die Bevölkerungszahl ist eine komplexe Angelegenheit und muss nicht unbedingt das Schreckgespenst des Malthusianismus auf den Plan rufen, mit dem sie in der Vergangenheit häufig in Verbindung gebracht worden ist, was es schwer macht, sie überhaupt zu erörtern.39 Es gibt kein pauschales »Bevölkerungsproblem«. Die Bevölkerungsfrage ist komplex, weil auch die »Überbevölkerung« 106keine einfache Frage ist. Wenn man allein die Konsumzahlen berücksichtigt, wäre zum Beispiel die Behauptung durchaus plausibel, dass die entwickelten Länder »überbevölkert« sind, wohingegen die Tatsache, dass wilde Tiere ihren Lebensraum an eine sich immer weiter ausbreitende arme, sich rasch urbanisierende Bevölkerung verlieren, ein Problem sein mag, das typisch für einen Ort wie Indien ist. Die gegenwärtig hohe Zahl von Menschen auf diesem Planeten – obwohl sie sich sicherlich teilweise der modernen Medizin, öffentlicher Gesundheitsvorsorge, persönlicher Hygiene, der Seuchenausrottung, dem Einsatz von Kunstdünger und so weiter verdankt – kann nicht in irgendeiner geraden Linie auf die Logik eines räuberischen kapitalistischen Westens zurückgeführt werden, denn weder China noch Indien haben in den Jahrzehnten, als ihre Bevölkerungszahl explodierte, ungezügelten Kapitalismus betrieben. Wenn Indiens Geburtenkontrolle oder ökonomische Entwicklung erfolgreicher gewesen wäre, würden seine Emissionszahlen pro Kopf höher ausfallen (dass die reicheren Klassen in Indien den westlichen Konsumstilen und -standards nacheifern wollen, dürfte jedem Beobachter ins Auge stechen). Und in einer Rede vor dem indischen Parlament hat der für Umwelt und Wälder zuständige indische Minister, Jairam Ramesh, im Jahr 2009 denn auch genau so etwas gesagt: »Die Anzahl der Köpfe ist historischer Zufall. Deshalb konnten wir unsere Bevölkerungszahl nicht kontrollieren.«40
Trotzdem bleibt die Bevölkerungszahl ein ganz wichtiger Faktor im Hinblick darauf, wie die Klimakrise abläuft. Die Regierungen von China und Indien setzen den Bau von Kohlekraftwerken fort und rechtfertigen diesen Schritt unter Berufung auf die Zahl der Menschen, denen dringend ein Ausweg aus der Armut geboten werden müsse; Kohle bleibt weiterhin die preiswerteste Option zur Erfüllung dieses Zwecks. In Bezug auf die gegenwärtige Umweltkrise zitiert die indische Regierung gerne Gandhi: »Die Erde (prithvi) hat genug für jedermanns Bedürf107nisse, aber nicht genug für jedermanns Gier.«41 Doch in den Argumenten zur Verteidigung der fortgesetzten Nutzung von Kohle als dem schlimmsten Missetäter unter den fossilen Brennstoffen lassen sich »Gier« und »Bedürfnisse« nicht mehr voneinander unterscheiden. Indien und China wollen Kohle; Australien und andere Länder wollen sie exportieren. Sie ist immer noch die preiswerteste Sorte fossilen Brennstoffs. Im Jahr 2011 »machte Kohle 30 Prozent der weltweiten Energie aus« und dies sei »der höchste Anteil, den sie seit 1969 [gehabt] ha[b]e«.42 Zu erwarten sei, dass die Kohlenutzung bis 2035 um 50 Prozent zunehme, was südamerikanischen Firmen enorme Exportgelegenheiten bescheren würde. »Amerikanische Kohleunternehmen«, führte ein Bericht in der New York Times aus, »wollen unbedingt Kohle aus den ertragreichsten Minen des Landes im Powder River Basin in Wyoming und Montana exportieren«, da sie sähen, dass Kohle anscheinend auf längere Sicht dank China und Indien eine »glänzende« Zukunft habe, »vor allem weil sie preiswerter ist als ihre Konkurrenten«.43 Dieser riesige Markt für Kohle wäre nicht entstanden, wenn China und Indien ihre Kohlenutzung nicht unter Berufung auf die Bedürfnisse ihrer armen Bevölkerung gerechtfertigt hätten. Wie Amitav Ghosh in seinem Buch Die große Verblendung unterstreicht, hat die Klimakrise aufgrund der Bevölkerungsgröße dieser beiden Nationen eindeutig eine asiatische Zukunft.44 1972 sagte der Physiker P. W. Anderson die berühmten Worte »Mehr ist anders«.45 Durch das rasche Bevölkerungswachstum in bereits bevölkerungsreichen Gesellschaften, wie es in der Welt seit 1900 eingetreten ist, verändert sich die Beziehung der menschlichen Gesellschaften zur Biosphäre. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass das exponentielle Wachstum der menschlichen Population im 20. Jahrhundert durch den Einsatz von Kunstdünger, Pestiziden und Bewässerungspumpen seinerseits viel mit fossilen Brennstoffen zu tun hat.46
Die Bevölkerungszahl ist aber noch in einer weiteren Hinsicht 108ein Problem. Die Gesamtgröße und -verteilung der Menschheit spielt eine Rolle für den Verlauf der Klimakrise, insbesondere im Hinblick auf das Artensterben. Es besteht die weithin geteilte Überzeugung, dass die Menschen schon seit geraumer Zeit zu einer Belastung für andere Arten geworden sind; darauf muss ich nicht lange herumreiten. Den (trotz der traditionellen Verwandtschaft zwischen den Arten) Krieg zwischen Menschen und Tieren wie Nashörnern, Elefanten, Affen und Großkatzen kann man denn auch täglich in vielen indischen Städten und Dörfern beobachten.47 Dass unser Konsum zum Aussterben vieler Meerestierarten geführt hat, wird ebenfalls allgemein anerkannt. Die Versauerung der Ozeane bedroht das Leben vieler Arten.48
Es gibt jedoch noch einen anderen Grund, warum die Geschichte der menschlichen Evolution und die Gesamtzahl der Menschen heute in Bezug auf die Frage des Überlebens der Arten während der Erwärmung des Planeten eine Rolle spielen. Eine Möglichkeit, wie die von der globalen Erwärmung bedrohten Arten versuchen werden zu überleben, ist die Migration in Gegenden, die ihrer Existenz zuträglicher sind. Auf diese Weise haben sie in der Vergangenheit Veränderungen der klimatischen Bedingungen auf dem Planeten überlebt. Doch mittlerweile sind wir so viele und sind wir so weit über diesen Planeten verteilt, dass wir im Weg stehen. Curt Stagers Worte sind deutlich:
Selbst wenn wir einen relativ moderaten Emissionspfad in die Zukunft einschlagen und dadurch hoffen, die Zerstörung der letzten polaren und alpinen Zufluchtsorte zu vermeiden, wird die Erwärmung in der [zu erwartenden] Größenordnung […] trotzdem viele Arten in höhere Breitengrade und größere Höhen abdrängen. In der Vergangenheit konnten diese Arten einfach weiterziehen […], aber dieses Mal sind sie in den Grenzen von Lebensräumen gefangen, die durch unsere Gegenwart zu weiten Teilen festliegen. […] Während die anthropozäne Erwärmung auf einen noch nicht näher bestimmten Höhepunkt zusteuert, sind unsere leidgeprüften biotischen Nachbarn mit einer Situation konfrontiert, in der sie in der langen, dramatischen Geschichte von Kalt- und Warmzeiten vorher noch nie gewesen sind.49
109Sie können sich nicht von der Stelle bewegen, weil wir Menschen ihnen im Weg stehen.
Die Ironie des Ganzen liegt noch tiefer. Die Ausbreitung menschlicher Gruppen über die ganze Welt – als Letztes wurden die weit entlegenen Inseln im Pazifik um das Jahr 3000 v. u. Z. herum besiedelt50 – und das Bevölkerungswachstum im Industriezeitalter machen es mittlerweile schwierig für menschliche Klimaflüchtlinge, sich in sicherere, bewohnbarere Klimazonen zu begeben. Andere Menschen stehen ihnen im Weg. Burton Richter formuliert diesen Punkt folgendermaßen:
In der Vergangenheit sind wir [Menschen] in der Lage gewesen, uns [klimatischen] Veränderungen anzupassen […], doch damals dauerte jeder Umschwung Zehntausende von Jahren im Vergleich zu den wenigen Hundert Jahren, in denen sich die Erde dieses Mal aufheizt. Das geringe Tempo der Veränderung gab seinerzeit der relativ kleinen Bevölkerung Zeit zum Weiterziehen, und eben dies hat sie während der vielen Temperaturumschwünge in der Vergangenheit getan, auch in den Eiszeiten. Mittlerweile ist die Bevölkerung zu umfangreich, um sich massenhaft von der Stelle bewegen zu können, weshalb wir lieber unser Bestes tun sollten, den Schaden zu begrenzen, den wir verursachen.51
Die Bevölkerungsgeschichte ist also gleichzeitig Teil zweier Arten von Geschichte: der sehr kurzen Geschichte der industriellen Lebensform – der modernen Medizin, Technologie und fossilen Brennstoffe (Dünger, Pestizide, Bewässerung) –, die mit unserer wachsenden Zahl und steigenden Lebenserwartung Hand in Hand gegangen ist und sie möglich gemacht hat, und der sehr viel längeren Evolutions- oder Tiefenhistorie unserer Spezies als der Geschichte, durch die wir uns zur dominanten Spezies des Planeten entwickelt haben, die sich überall ausbreitet und mittlerweile die Existenz vieler anderer Lebensformen bedroht. Die Armen sind genauso Teil dieser gemeinsamen Evolutionsgeschichte der Menschheit wie die Reichen. Hinzu kommen Peter Haffs Ausführungen über die Technosphäre, die wir in der Einleitung dieses Buches erörtert haben. Ohne das Verbindungsnetz110werk, das die Technosphäre darstellt, behauptet er, würde die menschliche Gesamtpopulation auf der Erde dramatisch einbrechen. Die »Technosphäre« ist zur Bedingung der Möglichkeit geworden, die es sowohl den Reichen als auch den Armen gestattet, auf diesem Planeten zu leben und als die ihn beherrschende Spezies zu agieren.52
In der politischen Ökonomie des Klimawandels mögen die umstrittenen Pro-Kopf-Emissionszahlen zwar ein sinnvolles und notwendiges Korrektiv sein, aber sie verdecken die weiter ausholende Geschichte der Spezies, an der sowohl die Reichen als auch die Armen beteiligt sind, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Die Bevölkerungszahl ist eindeutig eine Kategorie, welche die kurze Geschichte ungeheuerlicher Modernisierungen und die viel längere Geschichte unseres Verhältnisses als Homo sapiens zu anderen Arten miteinander verknüpft.
Die Klimakrise offenbart das unvermittelte Zusammentreffen – das Enjambement, wenn man so will – der gewöhnlich voneinander getrennten syntaktischen Ordnungen der überlieferten Geschichte und der Tiefenhistorie des Menschengeschlechts, der Gattungsgeschichte und der Geschichte des Erdsystems, durch das die tiefen Verbindungen zu Tage treten, denen sich die Interaktion der planetarischen Prozesse und der Geschichte des biologischen Lebens verdankt. Aus dieser Erkenntnis folgt jedoch nicht, dass die Menschen aufhören werden, auf Gedeih und Verderb unsere nur allzu menschlichen Ziele und Querelen zu verfolgen, die uns gleichzeitig vereinen und entzweien. Will Steffen, Paul Crutzen und John McNeill haben uns auf etwas aufmerksam gemacht, das sie – in Anknüpfung an Polanyi – die Zeit 111der »großen Beschleunigung« der menschlichen Geschichte zwischen etwa 1945 und 2015 nennen, als auf dem ganzen Globus die Bevölkerungszahlen, die realen Bruttoinlandsprodukte, Direktinvestitionen im Ausland, das Aufstauen von Flüssen, der Wasserverbrauch, die Düngermenge, die Stadtbevölkerung, der Papierkonsum, der Kraftfahrzeugverkehr, die Zahl der Telefone, der internationale Tourismus und McDonalds-Restaurants (Ja!) allesamt dramatisch, auf exponentielle Weise zuzunehmen begannen.53 Diese Zeit, geben sie zu verstehen, könnte ein ernstzunehmender Kandidat für die Beantwortung der Frage sein, wann das Anthropozän begonnen hat. Das Anthropozän mag durchaus für eine Vielzahl von Umweltproblemen stehen, mit denen wir heute als Kollektiv konfrontiert sind, aber als Historiker der menschlichen Angelegenheiten komme ich nicht umhin festzustellen, dass diese Zeit der vermeintlichen großen Beschleunigung auch eine Zeit der großen Dekolonialisierung in Ländern gewesen ist, die von den europäischen Imperialmächten beherrscht worden waren, in den folgenden Jahrzehnten Modernisierungsschritte in Angriff nahmen (zum Beispiel das Aufstauen von Flüssen) und sich im Zuge der Globalisierung in den letzten 20 Jahren auch auf einen gewissen Demokratisierungsgrad und ein bestimmtes Konsumniveau zubewegt haben. Ich kann die Tatsache nicht außer Acht lassen, dass »die große Beschleunigung« mit der Produktion und Konsumtion von Gebrauchsgütern – wie etwa Kühlschränken und Waschmaschinen – in westlichen Haushalten einherging, die als »emanzipatorisch« für Frauen angepriesen wurden.54 Und ich kann auch nicht den Stolz unter den Teppich kehren, mit dem heute noch die gewöhnlichsten und ärmsten indischen Bürgerinnen und Bürger ein Smartphone oder dessen preiswertes Surrogat ihr Eigen nennen.55 Global gesehen, war der Sprung ins Anthropozän auch die Geschichte von langersehnter sozialer Gerechtigkeit, zumindest im Konsumbereich.
Diese Gerechtigkeit unter den Menschen hat jedoch ihren 112Preis. Der wachsende menschliche Konsum hatte zur Folge, dass der Mensch sich die Biosphäre nahezu vollständig angeeignet hat. Jan Zalasiewicz führt einige ernüchternde statistische Daten aus den Forschungsergebnissen von Vaclav Smil an:
Smil bezieht seinen Maßstab aus dem objektivsten Kriterium von allen: aus unserem kollektiven Gewicht. Rein von unserer Körpermasse her […] nehmen wir mittlerweile etwa ein Drittel der Körpermasse aller Landwirbeltiere auf der Erde ein. Nach demselben Maßstab umfasst der überwiegende Teil der anderen zwei Drittel das, was wir nach wie vor essen: Kühe, Schweine, Schafe und dergleichen. Etwas unter fünf Prozent, möglicherweise auch nur drei Prozent bestehen inzwischen aus wirklich wilden Tieren – Geparden, Elefanten, Antilopen und Ähnliches. […] Zu einem früheren Zeitpunkt in diesem Quartär [den letzten zwei Millionen Jahren] […] sind Menschen bloß eine von etwa 350 großen […] Wirbeltierarten gewesen.
»In Anbetracht des jähen Rückgangs der Zahl der wilden Wirbeltiere könnte man auf den Gedanken kommen, dass die Wirbeltierbiomasse als ganze abgenommen hat«, schreibt Zalasiewicz. »Aber nein«, fährt er fort, »die Menschen sind sehr gut darin geworden, zunächst das Pflanzenwachstum zu vergrößern, indem sie wie von Zauberhand der Luft Stickstoff und dem Boden Phosphor entzogen, und dieses zusätzliche Wachstum dann zu einem kurzen Zwischenhalt bei unseren Nutztieren und von dort zu uns weiterzuleiten. […] Die Biomasse aller Wirbeltiere hat sich um einen Faktor erhöht, der sich einer Größenordnung nähert, die über jedem ›natürlichen‹ Niveau liegt (atemberaubend, oder? …).«56 Smil beschließt sein gründlich recherchiertes Buch Harvesting the Biosphere mit folgenden warnenden Worten: »Wenn Milliarden Arme in Niedriglohnländern auch nur die Hälfte der derzeit in den wohlhabenden Volkswirtschaften pro Kopf erzielten Erntemengen einforderten, würde ein zu geringer Anteil der Primärproduktion auf der Erde in mehr oder weniger natürlichem Zustand belassen und es würde nur sehr wenig für andere Säugetierarten, als wir es sind, übrigbleiben.«57
113Dies wirft eine Frage auf, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Frage aufweist, die Europäer sich oftmals gestellt haben, als sie anderen Völkern mit Gewalt oder mit anderen Mitteln das Land wegnahmen: Mit welchem Recht oder auf welcher Grundlage maßen wir uns den so gut wie alleinigen Anspruch an, uns die Biosphäre des Planeten für menschliche Bedürfnisse zu eigen zu machen? In seinem Buch über »Ethik in einer sich erwärmenden Welt« stellt John Broome sich diese Frage. In einem Abschnitt mit dem Titel »What Is Ultimately Good?« bestätigt Broome, dass der Klimawandel diese Frage aufwirft: »insbesondere die Frage, ob die Natur als solche – Arten, Ökosysteme, Wildnis, Landschaften – einen Wert besitzt«. Er beschließt, dass diese Frage für sein Buch eine Nummer »zu groß« sei, offeriert uns dann aber trotzdem folgende Überlegungen zum Wert der Natur: »Natur ist zweifellos wertvoll, weil sie gut für die Menschen ist. Sie stellt materielle Güter und Dienstleistungen bereit. Der Fluss liefert uns sauberes Wasser und nimmt unser Abwasser mit sich fort. Wilde Pflanzen versorgen uns mit vielen unserer Arzneien. […] Auch emotional tut die Natur den Menschen gut. Doch die entscheidende Frage, die der Klimawandel aufwirft, lautet, ob die Natur als solche einen Wert besitzt. […] Für dieses Buch ist diese Frage zu groß. Ich werde mich auf das Wohl der Menschen konzentrieren.«58
Aber ist »das Wohl der Menschen« ein über jeden Zweifel erhabenes Gut? Sind wir besonders? Auch Archer befasst sich am Anfang seines Buches The Long Thaw mit dieser Frage. Die Naturwissenschaft, meint Archer, lässt die Menschen bescheiden werden, denn menschliche Besonderheit hält ihr nicht stand. Vielmehr gibt sie uns zu verstehen, dass wir »biologisch« nicht »›besonders‹« seien: »Wir stammen von Affen ab und deren Herkunft ist noch bescheidener.« Geologische Belege, schreibt er weiter, »verraten uns, dass die Welt viel älter ist als wir, und es gibt keinen Beweis, dass sie speziell für uns erschaffen wurde. […] 114All dies lässt einen sehr bescheiden werden.«59 Doch immerhin versetzt uns die knifflige Frage der vermeintlichen Besonderheit des Menschen in eine Vergangenheit, die viel weiter zurückliegt als die des Kapitals, und in Gefilde, die wir nie durchstreifen mussten, als wir über die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten unter der Herrschaft des Kapitals nachgedacht haben.
Der Gedanke, dass Menschen besonders sind, hat natürlich eine lange Geschichte. Diesbezüglich sollte man vielleicht von Anthropozentrismen im Plural sprechen. So gibt es zum Beispiel eine lange Denktradition – von Religionen, die lange nachdem die Menschen die ersten urbanen Zivilisationszentren gegründet und die Idee eines transzendenten Gottes hervorgebracht hatten, entstanden, bis zu den modernen Sozialwissenschaften –, die Menschen und den natürlichen Teil der Welt einander gegenüberstellt. Wie mir scheint, stehen solche späteren Religionen in einem scharfen Gegensatz zu den sehr viel älteren Religionen der Jäger und Sammler (dabei denke ich an die australischen Ureinwohner und ihre Geschichten), die den Menschen häufig als Teil der Tierwelt betrachteten (als ob wir Teil des Fernsehprogramms von Animal Planet wären und es uns nicht bloß in diesem blöden Kasten von außen anschauen würden). In diesen alten Religionen waren die Menschen nicht zwangsläufig besonders. Man erinnere sich an Émile Durkheims Position in Bezug auf den Totemismus. Indem er den »Platz des Menschen« innerhalb des totemistischen Glaubenssystems verortete, machte Durkheim klar, dass der Totemismus auf einen Doppelbegriff vom Menschen bzw. auf die »doppelte Natur« des Menschen verwies, wie er es nannte: »[E]s existieren zwei Wesen in ihm: ein Mensch und ein Tier.« Und weiter: »Man muß sich also davor hüten, im Totemismus eine Art von Tierkult zu sehen. […] Ihre [Menschen und ihre Totems] Beziehungen sind eher die Beziehungen zweier Wesen, die im wesentlichen auf dem gleichen Niveau stehen und gleichwertig sind.«60
115Bereits die Idee eines transzendenten Gottes setzt den Menschen in ein besonderes Verhältnis zum Schöpfer und seiner Schöpfung, der Welt. Dieser Aspekt verdient eine gesonderte und längere Erörterung, aber als ein vorläufiges, vollkommen nach dem Zufallsprinzip ausgewähltes, willkürliches Beispiel – willkürlich, weil ich auch Beispiele aus anderen religiösen Traditionen, einschließlich des Hinduismus hätte auswählen können – dafür können folgende Ausführungen von Fazlur Rahman gelten. Zur Erklärung des Ausdrucks qadar – der sowohl »Macht als auch Zumessung, Maß« bedeutet –, der im Koran in enger Verbindung mit einem anderen Wort verwendet wird, amr, was »Befehl« bedeutet, um das Wesen Gottes zum Ausdruck zu bringen, führt Rahman Folgendes über die Vermitteltheit von Gottes Verhältnis zum Menschen durch die Natur an:
Der allmächtige, entschlossene und gnädige Gott […] findet für alles das rechte ›Maß‹, gewährt allem die richtige Reichweite nach seinen Möglichkeiten, seine Verhaltensregeln, kurz seinen Charakter. Auf der einen Seite gewährleistet diese Beimessung die natürliche Ordnung, auf der anderen bringt sie die ganz grundsätzliche, unüberbrückbare Differenz zwischen dem Wesen Gottes und dem Wesen des Menschen zum Ausdruck: Die Beimessung durch den Schöpfer setzt eine Unendlichkeit voraus, an der ein bemessenes Geschöpf […] buchstäblich keinen Anteil haben kann.
Deshalb »missachtet die Natur die Befehle (amr) Gottes nicht, sie kann sie gar nicht missachten und keine Naturgesetze verletzen«.61 Auch wenn daraus ganz eindeutig folgt, dass der Mensch nicht Gott spielen darf, heißt das nicht, wie Rahman klarstellt, dass »der Mensch jene Gesetze nicht entdecken und zum Wohle der Menschheit anwenden kann«.62 Gott ist gütig, weil er die Welt mit Lebensmitteln für uns ausgestattet hat!63 Auf ähnliche Weise zitieren Umweltschützer schon lange einen Vers aus der Genesis, in dem »sprach Gott: […] Sie [die Menschen] sollen walten […] über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf 116der Erde kriechen.« Und er fordert sie auf: »Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie.«64
Die Literatur über den Klimawandel kleidet also eine ältere Debatte über Anthropozentrismus und sogenannten Nicht-Anthropozentrismus in ein neues Gewand, die an Umweltethik interessierte Philosoph:innen und Gelehrte lange auf Trab gehalten hat: Hat das Nichtmenschliche um seiner selbst willen einen Wert für uns oder weil es gut für uns ist?65 Beim Nicht-Anthropozentrismus könnte es sich allerdings um eine Schimäre handeln, denn wie Feng Han in einem anderen Zusammenhang unterstreicht, »gehen menschliche Werte immer von einem menschlichen (bzw. anthropozentrischen) Blickwinkel aus«.66 Wo umweltbewusste Philosoph:innen in den 1980er Jahren zwischen »schwachen« und »starken« Versionen von Anthropozentrismus unterschieden, traten sie für die schwächeren Versionen ein. Starker Anthropozentrismus hing mit einer unreflektierten, instinktiven Nutzung oder Ausbeutung der Natur ausschließlich nach menschlichen Präferenzen zusammen; schwacher Anthropozentrismus galt als eine Einstellung, die man durch rationales Nachdenken darüber erreicht, warum das Nichtmenschliche wichtig für das menschliche Gedeihen ist.67
Lovelocks Arbeiten zum Klimawandel führen jedoch zu einer radikal anderen, sich sozusagen auf der anderen Seite der Sollbruchstelle befindenden Einstellung. Er verpackt sie in einen markigen Vorschlag, der mehr oder weniger als Motto seines Buches The Vanishing Face of Gaia fungieren könnte: »die Gesundheit der Erde bedenken, ohne die Einschränkung, dass das Wohl der Menschheit an erster Stelle steht.«68 Er hebt hervor: »In meinen Augen ist die Gesundheit der Erde vorrangig, denn unser Überleben ist ohne Ausnahme auf einen gesunden Planeten angewiesen.«69 Was heißt es in Anbetracht ihres unausweichlichen Anthropozentrismus für Menschen, »die Erde [als] vorrangig« zu betrachten oder über die Implikationen von Archers Äußerung 117nachzudenken, dass die Welt nicht »speziell für uns erschaffen« wurde? Dieser Frage werde ich im folgenden abschließenden Abschnitt dieses Kapitels nachgehen, um sie dann in den anschließenden Teilen weiterzuverfolgen.
Alle Sollbruchstellen, die ich hier erörtert habe, machen sich an dem Unterschied zwischen menschlicher Zeit und den tieferen, längeren Zeitrhythmen der geobiologischen Prozesse fest, die zum Ablauf der Geschichte des Erdsystems beitragen. Die Frage, ob wir diesen Unterschied so stehenlassen oder versuchen, ihn auf die Zeitlichkeit menschlicher Institutionen und ihrer Geschichte herunterzubrechen, bildet den Kernpunkt der Debatte, in der dieses Buch verortet ist. In seinem Buch Living in the End Times hat Slavoj Žižek die Argumente kritisiert, die ich zu Beginn der Arbeit an diesem Projekt vorgebracht habe. Einige seiner Kommentare betreffen Aspekte der »wahren« Beschaffenheit von Hegels Dialektik und ich werde sie hier nicht erörtern. Er hat aber auch das Verhältnis von anthropogenem Klimawandel und »kapitalistischer Produktionsweise« angesprochen, was mir hier erlaubt, meinen letzten Schritt in Angriff zu nehmen. Auf meine Ausführungen, dass unsere Existenz als Spezies »natürliche Parameter« habe, die relativ unabhängig von unserer Entscheidung für Kapitalismus oder Sozialismus seien, und dass wir deshalb die Tiefenhistorie der Spezies und die viel kürzere Geschichte des Kapitals zusammendenken müssten, hat Žižek entgegnet:
Natürlich sind die natürlichen Parameter unserer Umwelt ›von Kapitalismus oder Sozialismus unabhängig‹. Unabhängig von der ökonomischen Entwicklung, vom politischen System usw. lauert in ihnen eine potenzielle Bedrohung für uns alle. Dass ihre Stabilität durch die Dynamik des globalen Kapitalismus in Gefahr geraten ist, hat jedoch trotzdem schwerwiegen118dere Auswirkungen, als Chakrabarty zugibt: Wir müssen sozusagen bekennen, dass das Ganze von einem seiner Teile in Schach gehalten wird und dass das Schicksal des Ganzen (des Lebens auf der Erde) davon abhängt, was in etwas vor sich geht, das einmal einer seiner Teile gewesen ist (die sozioökonomische Produktionsweise einer der auf der Erde vertretenen Arten).
Aus dieser Prämisse schließt er Folgendes:
[Außerdem] müssen [wir] das Paradox akzeptieren, dass […] der zentrale Kampfplatz das Partikulare ist: Das universelle Problem (des Überlebens der menschlichen Spezies) lässt sich nur lösen, wenn vorher der partikulare tote Punkt der kapitalistischen Produktionsweise überwunden wird. […] Der Schlüssel zur ökologischen Krise liegt nicht in der Ökologie selbst.70
Žižeks Vorschlag im Hinblick auf die Rolle der kapitalistischen Produktionsweise im Drama des Klimawandels geht weit über das hinaus, was ich in diesem Kapitel vorgeschlagen habe. Es besteht kein Zweifel, dass die auf die weiträumige Verfügbarkeit von preiswerter Energie aus fossilen Brennstoffen angewiesene kapitalistische bzw. industrielle Zivilisation eine naheliegende und wirkmächtige Ursache der Klimakrise ist. Darin bin ich mit den meisten Gelehrten einig. Doch für Žižek sitzt nur der Kapitalismus am Ruder: Er ist der »Teil«, der mittlerweile über »das Ganze« bestimmt.
Ursula Heise hat scharfzüngig unterstrichen, warum Žižeks Dialektik im Umgang mit der Erderwärmungskrise schlicht und einfach nicht weiterhilft. Die Erwärmung des Planeten, schreibt sie, »wird nicht morgen aufhören: Selbst wenn sich in einigen der den Planeten beherrschenden Nationen ein kollektiver Wille bilden sollte, ein alternatives Wirtschaftssystem zu entwickeln, würde das Umsteigen auf ein solches System mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Jahrzehnte (noch wahrscheinlicher ein Jahrhundert oder länger) dauern – bestimmt zu lang, um sich entscheidend auf die derzeitige Klimakrise auszuwirken. Žižeks Unterstellung, dass die Überwindung des Kapitalismus eine Vorbe119dingung für die praktische Inangriffnahme der Klimakrise ist, verwehrt uns ganz einfach die Möglichkeit, mit ihr fertigzuwerden.«71
Davon abgesehen, weist Žižeks Auffassung selbst ein noch größeres Problem auf: Wenn man sagt, dass die Geschichte und Logik einer partikularen menschlichen Institution in die viel weiter ausholenden Prozesse des Erdsystems und der Evolutionsgeschichte (aus denen die Leben mehrerer Arten, zu denen auch unsere gehört, hervorstechen) verwickelt sind, bedeutet das nicht, dass die menschliche Geschichte die treibende Kraft hinter diesen großformatigen Prozessen ist. Diese Prozesse verlaufen nach räumlichen und zeitlichen Maßstäben, die viel größer sind als die kapitalistischen – daher die Sollbruchstellen, die wir erörtert haben. Wie Stager und Archer zeigen, werden die langfristigen Prozesse des Erdsystems, zum Beispiel sein Millionen Jahre währender Kohlenstoffkreislauf, unabhängig davon, wie viel »überschüssiges« CO₂ wir heute ausstoßen, es höchstwahrscheinlich eines Tages »entsorgen«, ob mit Menschen oder ohne.72 Aus diesem Grund scheint es logisch folgerichtiger zu sein, diese langfristigen Erdsystemprozesse als Ko-Akteure im Drama der globalen Erwärmung zu betrachten. Das legt auch die Tatsache nahe, dass das Problem des anthropogenen Klimawandels im Unterschied zu den Problemen der Wohlstandsakkumulation und Einkommensungleichheit oder zu Globalisierungsfragen sich innerhalb des gewöhnlichen Untersuchungsrahmens von Kapitallogiken nicht vorhersagen ließ. Normalerweise gehört es nicht zu den politisch-ökonomischen Untersuchungs- und Analysemethoden, 800 000 Jahre alte Eiskern-Proben auszugraben oder mit Hilfe eines Satelliten die Veränderungen der Durchschnittstemperatur auf der Oberfläche des Planeten zu beobachten. Der Klimawandel ist ein von Klimaforscher:innen definiertes und entwickeltes Problem, deren Forschungsmethoden, Analysestrategien und Fähigkeiten sich von denen unterscheiden, über die die politische Ökonomie verfügt.
120Sobald wir den Prozessen, die Teil der Tiefenhistorie der »Erde« und des Lebens sind, in der gegenwärtigen Krise die Rolle von sowohl nach einem menschlichen als auch nach einem unmenschlichen Maßstab ablaufenden Ko-Akteuren zugestehen, wird die Voraussicht eines Satzes deutlich, den Gayatri Chakravorty Spivak vor einiger Zeit geschrieben hat: »Da er Teil eines anderen Systems ist, gehört der Planet einer Spezies an, die von Alterität zeugt; trotzdem bewohnen wir ihn.«73 Spivak war da etwas auf der Spur. Ihre Formulierung macht einen Schritt hin zur Erwägung der Implikationen, welche die planetarischen Untersuchungen für den Menschen haben, aus denen die Erforschung des Klimawandels sich speist und auf die sie sich stützt.
Diese Forschungen tragen dazu bei, dass wir Ansätze eines Begriffs des Planetarischen entwickeln können, der mit den vorhandenen Begriffen des Globalen verwandt ist, sich aber von ihnen unterscheidet. Denn selbst wenn die derzeitige Erwärmungsphase der Erdatmosphäre tatsächlich anthropogen ist, handelt es sich um einen Zufall; für die Erforschung der planetarischen Erwärmung als solcher spielen Menschen eigentlich keine Rolle. Eine solche Wissenschaft ist noch nicht einmal spezifisch für diesen Planeten; sie ist Teil der sogenannten planetarischen Wissenschaft und kein Produkt irdischer Fantasie. Ein Lehrbuch über planetarische Erwärmung, das an vielen Geophysik-Fachbereichen im Unterricht verwendet wird, trägt einfach den Titel Principles of Planetary Climate.74 Die derzeitige Erwärmung bei uns ist ein Beispielsfall der planetarischen Erwärmung, die mit unterschiedlichen Auswirkungen sowohl auf diesem als auch auf anderen Planeten stattfindet, ob mit Menschen oder ohne. Dass die derzeitige Erwärmung der Erde menschengemacht ist, hat sich zufällig so ergeben.
Wissenschaftlich geht das Problem des Klimawandels also aus etwas hervor, das man vergleichende planetarische Untersuchungen nennen kann, und es bringt einen bestimmten Grad von in121terplanetarischer Forschung und interplanetarischem Denken mit sich. Die Fantasie, die hier am Werk ist, ist nicht menschenzentriert. Aus ihr spricht eine wachsende Divergenz innerhalb unseres Bewusstseins zwischen dem Globalen – als einer ausschließlich menschlichen Geschichte – und dem Planetarischen, aus dessen Perspektive Menschen nebensächlich sind.75 In der Klimakrise geht es darum, dass man sich völlig schockiert der Andersheit des Planeten bewusst wird. »Da er Teil eines anderen Systems ist«, um Spivaks Worte zu wiederholen, »gehört der Planet einer Spezies an, die von Alterität zeugt.« Und »trotzdem«, sagt sie, »bewohnen wir ihn.« Wenn es ein politisches Gesamtpaket in Sachen Klimawandel geben soll, muss es bei dieser Perspektive ansetzen. Die Erkenntnis, dass die Menschen – alle Menschen, ob reich oder arm – erst spät zum Leben des Planeten dazugestoßen sind und eher als Gäste auf der Durchreise denn als gastgebende Besitzer auf ihm verweilen, muss ein integraler Bestandteil der Perspektive sein, aus der wir unsere nur allzu menschliche, aber berechtigte Suche nach Gerechtigkeit in Bezug auf Fragen im Zusammenhang mit den ungeheuerlichen Auswirkungen des anthropogenen Klimawandels anstrengen.