Ein maßgeblicher Teil des Diskurses über den Klimawandel, so viel kann man sagen, versteht sich selbst als Fortsetzung der Kritik an den Ungerechtigkeiten der Globalisierung und lässt sich deshalb ganz gut mit Schmitts Schema von Nehmen im Sinne der Landnahme → Teilen im Sinne von Verteilung → Weiden im Sinne produktiver Arbeit vereinbaren, das wir im letzten Kapitel erörtert haben. Dabei handelt es sich um die Literatur über Probleme der »Klimagerechtigkeit«. In einer wichtigen Hinsicht müssen wir das Schmitt'sche Schema aber modifizieren: Angesichts sich erwärmender Ozeane und steigender Meeresspiegel, zunehmender Dürren und Superstürme sowie direkt oder indirekt auf den Klimawandel zurückgehender wachsender Flüchtlingszahlen wird heute nicht bloß um Verteilung oder Gerechtigkeit gekämpft, sondern auch um Landnahme bzw. -aneignung, und mit diesem Thema sind direkt Fachrichtungen wie Security Studies und Internationale Beziehungen angesprochen, die sich mit grundlegenden Fragen politischer Souveränität befassen. Zur Veranschaulichung dieses Punkts könnte ich viele Beispiele anführen, ich möchte aber lediglich Phillip Muller zitieren, der gerade Botschafter der Marshallinseln bei den Vereinten Nationen war, als er im Jahr 2009 am neu gegründeten Center for Climate Change and Law der Columbia University einen Vortrag hielt:

 

Der Meeresspiegel steigt und in einigen Jahrzehnten wird Land, niemand weiß, welche der 29 Korallenatolle und fünf Inseln, die sich zwischen Hawaii und Australien befinden, unter Wasser liegen. Wenn dies geschieht, 166werden sich viele neue rechtliche Fragen stellen. Ist ein Land unter Wasser noch ein Staat? Hat es noch einen Sitz bei den Vereinten Nationen? Was wird aus seiner Ausschließlichen Wirtschaftszone und aus den Fischereirechten, auf denen seine Existenzgrundlage zu weiten Teilen beruht? Welche Länder werden sein heimatloses Volk aufnehmen und welche Rechte werden diese Menschen haben, wenn sie dort eintreffen? Haben sie irgendwelche Regressansprüche gegenüber den Staaten, deren Treibhausgasemissionen diese Misere verursacht haben?1

 

In diesem Zitat bringen die Auswirkungen des Klimawandels alle Fragen zur Sprache, die für Schmitts Schema charakteristisch waren: Souveränitäts- und Gerechtigkeitsfragen (Verteilung), Fragen produktiver Arbeit (Fischereirechte) und Aneignungsfragen (Landverlust, Ausschließliche Wirtschaftszonen, Flüchtlinge, die woanders stranden). Das Gerechtigkeitsproblem wird hier in einer politischen Sprache formuliert, die Teil der Geschichte der Globalisierung ist: ob nämlich die unter den Auswirkungen des Klimawandels leidenden Nationen und Völker »irgendwelche Regressansprüche«, wie der Botschafter es ausgedrückt hat, »gegenüber den Staaten« haben, »deren Treibhausgasemissionen« Ursache ihrer Misere sind. Durch die Gerechtigkeitsfrage rückt das Thema »ungleiche Entwicklung« ins Zentrum des Klimaproblems. Dabei mag es sich um ein anthropozentrisches Anliegen handeln, es ist aber direkt mit den Debatten über kapitalistische Entwicklung und Weltmärkte verknüpft.

Die Entwicklungsländer haben aber noch ein anderes Anliegen, auf das sich ihre Klagen über die unfairen Auswirkungen des Klimawandels stützen und das ich im Hinblick auf den Streit über den Zusammenhang von Klima und globalem Kapital für entscheidend halte. Dabei handelt es sich um den weitverbreiteten Wunsch nach Wachstum, Modernisierung, Entwicklung, wie auch immer man es nennen möchte, in den weniger entwickelten Ländern der Welt. Die Frage der Entwicklung – ja das Recht auf Entwicklung – stand im Zentrum der sogenannten Klimagerechtigkeitsdebatte, die 1991 – ein Jahr nachdem der erste Bericht 167des IPCC erschienen war – von den bereits erwähnten indischen Umweltaktivist:innen Anil Agarwal und Sunita Narain angestoßen wurde. Meines Wissens haben sie als Erste vorgeschlagen, dass die nationalen Emissionen von Treibhausgas (THG) auf Pro-Kopf-Basis berechnet werden sollten. Agarwal und Narain widersprachen der pauschalen Verwendung des Wortes Mensch – womit sie unmittelbar auf einen Bericht des World Resources Institute (WRI) über die »globale Umwelt« zielten – und protestierten gegen das, was sie als scheinheiliges Eine-Welt-Denken des Westens betrachteten.2 In Agarwals und Narains Augen war all dies »ein hervorragendes Beispiel von Öko-Kolonialismus«, dessen »Hauptabsicht«, wie sie argwöhnten, im Grunde genommen darin bestände, »die gegenwärtig vorherrschende weltweite Ungleichheit in Bezug auf die Ausbeutung der Umwelt und ihrer Ressourcen [dadurch] fort[zu]setzen«, dass »Entwicklungsländer […] für die weltweite Klimaerwärmung« verantwortlich gemacht werden, obwohl »[d]ie Akkumulation dieser Gase [THGs] in der Erdatmosphäre […] überwiegend auf das maßlose Konsumverhalten der entwickelten Länder, vor allem der Vereinigten Staaten, zurückzuführen« sei.3

Für Agarwal und Narain sah es so aus, als würde der Klimawandel ein grausames und unfaires »Geschichtlichkeitsregime« einläuten, das Indien und China die Zukunft zu verwehren drohte, nach der sie nach eigener Einschätzung seit ihrer Unabhängigkeit in den späten 1940er Jahren und noch energischer seit den 1980er Jahren gestrebt hatten, nämlich eine ungehinderte, von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg inspirierte Aussicht auf Modernisierung.4

 

Viele Entwicklungsländer befürchten, daß das geplante Klimaabkommen [Rio 1992] ihre Entwicklungsbestrebungen erheblich behindern wird: die Entwicklungsländer würden sowohl im Bereich der Energiegewinnung – vor allem durch Kohle – als auch im Bereich der Tierhaltung und des Reisanbaus empfindlich getroffen werden. […] Arme Entwicklungsländer 168werden [vom Westen] in den Brennpunkt gerückt, ihr geringfügiger Verbrauch an Ressourcen wird argwöhnisch betrachtet, während die Hysterie über ihren möglichen zukünftigen Konsumzuwachs aufgeschaukelt wird. […] [D]er Traum jedes Chinesen, einen Kühlschrank zu besitzen, [wird] als Fluch für die Welt bezeichnet.5

 

Den unter dem Schlagwort »Klimagerechtigkeit« bekannt gewordenen Streit könnte man also eigentlich auch als Aushandlungsstrategie für ein längeres, auf Entwicklung bedachtes historisches Zeitregime für Länder wie Indien und China betrachten (was ihr Klimagerechtigkeitsargument nicht entkräftet).

Man kann keine politische Debatte über den Klimawandel führen, ohne den Einfluss von Fragen der »Entwicklung« auf die subalterne Modernisierungsgeschichte zu berücksichtigen. Nehmen wir zum Beispiel die einfache Frage des indischen Markts für Klimaanlagen. Am 12. Oktober 2016 trafen sich Unterhändler aus 170 Nationen in Kigali, Ruanda, und vereinbarten die stufenweise Einstellung der Nutzung von Wärme absorbierenden Fluorkohlenwasserstoffen (FKWs), die für die Herstellung der billigsten Klimaanlagen gebraucht wurden, die aufstrebende, oftmals am unteren Ende der sozialen Stufenleiter stehende Familien in Ländern wie Indien gerade angefangen hatten zu kaufen. Die Klimaanlagen halfen ihnen, mit immer heißeren Sommern fertigzuwerden. Was die Wärmeabsorption anbelangt, ist FKW 1000 Mal wirksamer als Kohlenstoffdioxid.6

In der New York Times hat der Ökonom Michael Greenstone berichtet, dass 87 Prozent der US-Haushalte über eine Klimaanlage verfügen, in Indien liege die Zahl dagegen bei fünf Prozent (bzw. 6-9 Prozent laut einiger anderer Quellen). Derzeit steige die Durchschnittstemperatur in Delhi an fünf oder sechs Tagen im Jahr auf über 35 ‌°C; bis zum Ende des Jahrhunderts werde erwartet, dass die Zahl solcher Tage sich auf 75 erhöhe. Die Auswirkungen jedes zusätzlichen Tages über 35 ‌°C auf die Sterblichkeitsrate »sind in Indien 25-mal so hoch wie in den Vereinigten 169Staaten, wo die Nutzung von Klimaanlagen die Zahl der hitzebezogenen Todesfälle zwischen 1960 und 2004 um 80 Prozent reduziert hat«.7 In einem anderen Artikel in der New York Times haben Ellen Barry und Carol Davenport über die Behauptung von Wissenschaftlern berichtet, »dass eine sprunghaft ansteigende Nutzung von FKW-betriebenen Klimaanlagen allein im kommenden Jahrhundert zur Erwärmung der Atmosphäre um fast ein ganzes Grad Fahrenheit beitragen würde – in einer Umwelt, in der eine Erwärmung um gerade einmal drei Grad für ein Umkippen des Planeten in eine unumkehrbare Zukunft steigender Meeresspiegel, stärkerer Stürme und Überschwemmungen, extremer Dürre, Lebensmittelknappheit und anderer verheerender Auswirkungen ausreichen könnte«. Genau solch ein »sprunghaftes Ansteigen« erfolge nun aber gerade in Indien, wo demselben Bericht zufolge »der Kauf eines ersten – nicht eines zweiten oder dritten – Geräts das Wachstum ankurbelt«. »Jedes Mal wenn die Löhne im öffentlichen Dienst steigen«, geben Barry und Davenport einen indischen Beamten wieder, »gehen die Verkaufszahlen von Klimaanlagen sprunghaft in die Höhe«, sogar unter den städtischen Arbeiterfamilien.8

Barrys und Davonsports Bericht fängt etwas von dem ein, was wir in Anlehnung an Ranajit Guha »leise Stimmen« der Geschichte der Gegenwart nennen können: die Stimmen derjenigen, die mit der sich erwärmenden Welt fertigwerden müssen und gleichzeitig explizit soziale Mobilität und Modernisierung anstreben.9 Zudem darf man das Thema des indischen Bevölkerungswachstums, vor allem in den Städten, nicht aus den Augen verlieren. Global gesehen wird angenommen, dass 50 Prozent des Gesamtzuwachses an Menschen zwischen heute und 2100 aus acht Ländern stammen werden: Zwei von ihnen sind Indien und Pakistan (die anderen liegen alle in Afrika: Nigeria, Tansania, Demokratische Republik Kongo, Niger, Uganda und Äthiopien).10 Während Aspirationen und Geschlechtergerechtigkeit in Bezug 170auf bestimmte Aspekte der Bevölkerungsfrage mit der weiter reichenden Aufgabe in Einklang gebracht werden können, die Bevölkerungszahl durch Entwicklung – indem der Zugang von Frauen zu Bildung, Arbeitsplätzen und Verhütung gewährleistet wird – auf demokratische Weise zu verringern, bleibt die rasante Entstehung von Megastädten – eine Welt, die Mike Davis zutreffend »Planet aus Slums« getauft hat – weiterhin ein Problem.11 Insgesamt stieg die Bevölkerungszahl in Indien zwischen 2001 und 2011 um etwa 17 oder 18 Prozent. Die Stadt Bengaluru vergrößerte sich »um satte 47 Prozent, ihre Dichte nahm von 2985 Menschen pro Quadratkilometer im Jahr 1991 auf 4378 im Jahr 2010 zu. Delhi wuchs zwischen 2001 und 2011 um 21 Prozent«.12

Von daher ist es nicht überraschend, wenn man liest, dass »jedes Mal, wenn eine weitere Arbeiterfamilie mit ihrer ersten Klimaanlange nach Hause kommt, eine Welle der Begeisterung durch die Lane 12, Block C in Kamalpur [Delhi] geht. Dadurch, dass man sie ein paar Stunden am Tag gewöhnlich zur Abkühlung des Raumes anmachen kann, in dem die Familie schläft, wandelt sich das Leben in diesem stickigen Betonlabyrinth, in dem die Temperatur schon im Mai die 47-Grad-Marke erreicht.« »Man wacht völlig erfrischt auf«, sagt die Hausfrau Kaushilya Devi. Ihr Mann hat im letzten Mai ein Gerät gekauft. »Ich würde nicht behaupten, dass wir zur Mittelschicht gehören«, fügt sie hinzu, »aber wir kommen ihr näher.« Der Bankdirektor S. ‌S. Pathak ist dankbar, dass die Klimaanlage seine Kinder in die Lage versetzt hat, für ihre Eingangstests zum Medizinstudium zu lernen – so könnten sie sich »noch spätabends zum Lernen hinsetzen, ohne einzunicken oder von krankheitsübertragenden Mücken zerstochen zu werden«. Eine andere Befragte, Sandhya Chauhan, und ihre Familie »leben in zwei muffigen, fensterlosen Zimmern im Untergeschoss, in denen es in den Sommernächten so drückend wird, dass sechs schweißgebadeten Erwachsenen 171nichts anderes übrigbleibt, als sich bis zum Morgen Luft zuzufächern und sich unruhig hin und her zu wälzen«:

 

Aber so schlimm wie diesen Mai [2016] war es noch nie. Die Temperatur stieg so hoch, dass Mrs. Chauhans Freundinnen schon mutmaßten, die Erde würde mit der Sonne kollidieren. […] Nachdem ein Arzt Mrs. Chauhan gewarnt hatte, die Hitze würde die Gesundheit ihres ältesten Sohnes in Mitleidenschaft ziehen, kaufte ihr Mann auf Kredit eine Klimaanlage. […] Dieser Kauf hat ihr Bild von sich selbst verändert. […] ›Durch Bildung lernen Menschen, auf sich Acht zu geben‹, sagte sie. ›Seit wir uns an die Klimaanlage gewöhnt haben, gibt es kein Zurück mehr.‹13

 

Diese geschlechtsspezifischen, subalternen und aufstrebenden Stimmen machen deutlich, dass unser Verständnis von ganz gewöhnlichem menschlichen Gedeihen und sogar von Demokratie in einer wärmer werdenden Welt sich darauf stützt, dass allen Menschen genügend preiswerte Energie zur Verfügung steht. Arjun Appadurais aufschlussreiche Worte über solche alltäglichen Ansprüche sind eine Wiederholung wert:

 

Das Streben nach einem guten Leben ist Teil einer Art von Gedankengebäude […], das es verortet auf einer umfassenderen Landkarte lokaler Vorstellungen und Überzeugungen über […] Leben und Tod, das Wesen weltlicher Besitztümer, die größere Bedeutung materieller Güter im Vergleich zu sozialen Beziehungen, die relativ trügerische Hoffnung auf gesellschaftliche Beständigkeit, den Wert von Krieg und Frieden […] – lokale Vorstellungen über Ehe, Arbeit, Freizeit, Komfort, Unbescholtenheit, Freundschaft, Gesundheit und Tugend.14

 

Doch stelle man sich die Zukunft vor, mit der Kaushilya Devi und Sandhya Chauhan konfrontiert sind, wenn die Nationen beschließen, auf Alternativen zu FKW umzusteigen. Die Ersatzmöglichkeiten, sagt der Leiter des Instituts für Air Conditioning, Heating and Refrigeration, Stephen Yurek, sind »leichter entzündlich und giftiger«, weshalb baulich verbesserte und teurere Klimaanlagengeräte und besser ausgebildete Installateure benötigt werden. Verständlicherweise hat Indien um einen langsamen Übergang gebeten: um einen Aufschub des FKW-Ausstiegs 172bis 2031 und um eine stufenweise Verringerung von FKW auf 15 Prozent des Pegels von 2029 bis 2050 unter der Voraussetzung, dass die entwickelten Länder, deren Expert:innen meinen, es sei entscheidend, FKW zu verbieten, bevor der Klimaanlagen-Markt boomt, Unterstützungsleistungen bereitstellen würden. In den 1990er Jahren besaßen in China lediglich fünf Prozent der Stadtbewohner eine Klimaanlage; binnen zehn Jahren ist diese Zahl auf 100 Prozent gestiegen.15 Greenstone nimmt zur offenkundigen Ironie der Situation Stellung: »Eben die Technologie, die helfen kann, die Menschen vor dem Klimawandel zu schützen, erhöht dessen Tempo.« Doch fürs Erste »ist Indien stark auf seine derzeitigen Einwohner:innen konzentriert, die sich Risiken gegenübersehen, die in wohlhabenden Ländern wie den Vereinigten Staaten schlicht und einfach nicht existieren«.16 Wer immer in den kommenden Jahrzehnten indischer Premierminister sein wird, braucht die Zustimmung der Kaushilya Devis und Sandhya Chauhans des Landes, um Indiens internationale Verpflichtungen im Hinblick auf FKW zu erfüllen.

Wie lassen sich diese tatsächlich bestehenden, Legislaturperioden und politische Institutionen überdauernden, allgemein verbreiteten Ansprüche mit dem in Einklang bringen, was akademische Stimmen aus der Erdsystemwissenschaft und aus dem Spektrum, das unter der Rubrik »Posthumanismus« zusammengefasst wird, uns über weltweite Vernetzung, verteilte Handlungsmacht, die Rolle planetarischer Prozesse, das Nichtmenschliche und so weiter erzählen? Der Botschafter der Marshallinseln, den ich oben zitiert habe, mag gut und gerne über das Recht der Inselbewohner:innen sprechen, in ihren Ausschließlichen Wirtschaftszonen Thunfische aus dem Meer zu fischen, doch bedenke man die 173Rolle der Thunfische! Infolge sich ändernder Wassertemperaturen könnten die Thunfische nämlich beschließen, sich in andere, für ihre Lebensweise und ihr Reproduktionssystem günstigere Gewässer zu begeben.

Eine nicht-anthropozentrische Weltsicht, wie wir sie im letzten Kapitel erörtert haben, ist ein fester Bestandteil der Erdsystemwissenschaft, und deshalb kann die Frage der Handlungsmacht von Nichtmenschlichem oder Nichtlebendigem unabhängig davon, ob wir von »Kapitalismus im Lebensnetz« oder von »Kapitalozän« sprechen, nur schwerlich oder gar nicht außer Acht gelassen werden, wenn wir Überlegungen zum Klimawandel anstellen. Es ist keineswegs überraschend, dass die planetarische Klimakrise Stellungnahmen von Autor:innen heraufbeschworen hat, die im weitesten Sinne unter dem Label Posthumanismus publizieren: unter anderem Bruno Latour, Donna Haraway, Anna T. Sing, Jane Bennett und Rosi Braidotti. Geontologien von Elizabeth Povinelli, In welcher Welt leben? von Déborah Danowski und Eduardo Viveiros de Castro, Facing the Planetary des Politikwissenschaftlers William Connolly und Michael Northcotts A Political Theology of Climate Change sind Versuche, eine neue politische Grammatik zu entwickeln, die menschliche und nichtmenschliche Handlungsmacht kombiniert.17 Der epistemologische Reiz eines solchen Schritts hin zu einer posthumanen Beschreibung der Welt – und der Wunsch, ein entsprechendes Politikverständnis zu schaffen (man denke etwa an Latours Idee eines »Parlaments der Dinge«) – kommt sehr gut in Jane Bennetts Buch Lebhafte Materie zum Ausdruck, in dem sie die Unterscheidung von Natur und Kultur als Quelle weniger einer falschen als vielmehr einer »dünnen« Beschreibung der Welt bezeichnet. Wie ihr Buch unter kreativer Verwendung dieses von Clifford Geertz geprägten Gegensatzes zwischen dichter und dünner Beschreibung nahelegt, stellen die Posthuman Studies das dringend benötigte Korrektiv einer »dichten« Beschreibung bereit: »Demokra174tietheorien, die von einer Welt aktiver Subjekte und passiver Objekte ausgehen, beginnen nun, da die Wechselwirkungen zwischen menschlichen, viralen, tierischen und technischen Körpern zunehmend an Intensität gewinnen, als eher dünne Beschreibungen zu erscheinen.«18

Selbst wenn wir zugestehen, dass Auffassungen, die Handlungsmacht als etwas betrachten, das sich auf Menschen und Nichtmenschen verteilt, uns möglicherweise bessere Beschreibungen davon liefern, wie der Planet und das Leben auf ihm tatsächlich funktionieren, bliebe eine entscheidende Frage bestehen: Warum halten moderne Menschen wider besseres Wissen weiter in hohem Maße an der Unterscheidung von Natur und Kultur, das heißt dem, was Bennett eine »dünne Beschreibung« der Realität nennt, fest? Was ist für den Wunsch, modern zu sein, oder für den Wunsch nach sogenannter Entwicklung – oder zumindest nach den Annehmlichkeiten der Modernisierung – vieler, wenn nicht der meisten Menschen auf der ganzen Welt verantwortlich? Worin besteht der Zusammenhang zwischen den Modernisierungsprojekten, die in der Dritten Welt von antikolonialen Modernisierern in ehemals kolonisierten oder »neuen« Nationen in den 1950er und 1960er Jahren in Asien, Afrika und im Pazifikraum auf den Weg gebracht wurden, dem Wunsch nach kapitalistischem Wachstum und Fortschritt in bevölkerungsreichen Nationen wie Indien und China und der heutigen Klimakrise?

In ihrer bisherigen Form vermittelt uns die humanwissenschaftliche Debatte über den Klimawandel – auch wenn die Vernünftigkeit der Position der »Klimagerechtigkeit« eingeräumt wird (was meistens der Fall ist) – keinen Einblick in die Geschichte dieser Wünsche in der Dritten Welt, wir erfahren nichts darüber, warum, wie und aufgrund welcher Art von Geistes- und Sozialgeschichte Entwicklung und Fortschritt in Indien, China, im postkolonialen Ägypten, in Indonesien oder Papua-Neuguinea zu 175derart hochgeschätzten Begriffen wurden. Und es geht nicht nur um die Wünsche. Technische Naturbeherrschung wurde weit über die Grenzen des sogenannten Westens hinaus als Ausdruck von Männlichkeit wahrgenommen. So bejubelte sogar in meiner eigenen wirtschaftlich rückständigen Geschichte der kolonialen, bengalisch-hinduistischen Mittelschicht der talentierte junge, in späteren Jahren sehr bekannte Dichter Premendra Mitra (1904-1988), berauscht vom scheinbar triumphalen Erfolg der Arbeit »abendländischer Humanität« – Arendts animal laborans –, die in seinen Augen den Höhepunkt der Geschichte menschlicher Arbeit insgesamt darstellte (man beachte die Verwendung des Wortes lazily, also »faul« oder »träge« in seinem Gedicht), die Verwüstung der Erde durch den Menschen, indem er auf durch und durch maskuline Weise ein Bild von der Erde entwarf, dem zufolge sie selbst auf diese Weise verwüstet werden wollte:

 

The earth begs for the thrust of the plough

The ocean for the helm.

Metals, imprisoned in the palace of the Deep,

Pine away for [the touch of] man.

The boisterous river wants to fall into chains,

Into bondage to the bridge.

Not time, alas, to gaze

Lazily on the beauty of the world.19

 

Marxistische Kritiker:innen, die die Wurzeln der globalen Erwärmung in der Geschichte des globalen Kapitalismus ausfindig gemacht haben, möchten das Anthropozän umbenennen und es als Kapitalozän oder jedenfalls so bezeichnen, dass auf seine soziale Genese angespielt wird. Sie verlieren jedoch kein Wort über die Frage, wie bzw. warum Visionen einer moderneren Zukunft die Fantasie der Mittelschichten und anderer Klassen in Nationen in Beschlag nehmen konnten, die früher Kolonien von europäischen Mächten gewesen waren. Wo in der marxistischen Literatur über das Kapitalozän überhaupt die Handlungsmacht von 176konkreten Menschen vorkommt – das heißt Handlungsmacht, die über das hinausgeht, was der abstrakten Logik des Kapitals zugeschrieben werden kann –, kommt sie Industriekapitänen und Eliten in Vorstandsetagen oder Regierungen zu, die ökonomische Entscheidungen treffen, und nicht den Eliten, mittleren oder subalternen Klassen in Asien und Afrika.20 In seinem Hauptvortrag auf der Millenniums-Konferenz von 2015 hat Bruno Latour die Bereitschaft der Menschheit, diesen epistemologischen »Preis« (die Unterscheidung von Natur und Kultur) zu zahlen, durch Verweis auf seine praktischen »Vorteile« erklärt: »Natürlich lohnt es sich in vielen Situationen, diesen Preis zu zahlen. Diejenigen, die Teile ausfindig machen, Zusammenhänge herstellen, Mechanismen konstruieren, Elemente mit Hilfe von Kausalbeziehungen verknüpfen und ein maßstabgetreues Modell der Gesamtkonfiguration entwerfen, machen große Fortschritte. Der Vorteil eines solchen Verfahrens steht außer Frage.«21

***

 

Die Trennung von Natur und Kultur bzw. das, was auf eine ontologische Abtrennung des Menschen vom Nichtmenschlichen hinausläuft, führt, wie Latour in seinem Klassiker Wir sind nie modern gewesen darlegt, zu bestimmten »Reinigungs«projekten. Ohne die mit ihnen einhergehenden, der »Natur« angeblich im Reinzustand verschiedene Entitäten abgewinnenden sowohl geistigen als auch praktischen Prozesse sind Moderne und kapitalistische Produktionsweise in der Tat nicht denkbar. Das meint Jane Bennett, wenn sie vom Arbeiten mit einer »dünnen Beschreibung« der Natur spricht. Man denke etwa an ein so elementares Gut wie »Land«. Beim Verkauf eines Stückes Land wird es als abstraktes Stück verkauft, als zweidimensionale Gestalt auf einer Landkarte, auf der zum Beispiel alle es bewohnenden Lebensformen fehlen, außer vielleicht sie sind von direktem Geldwert für Men177schen. Oder man denke an Metalle und Mineralien. In der Natur kommen sie nur selten in reiner Form vor. Deshalb ist es kein Wunder, dass Erdölförderanlagen über »Raffinerien« verfügen – schon der Name sagt alles. Zalasiewicz und seine Kollegen schreiben, dass reine oder legierte Metalle

 

auf der prähumanen Erde selten waren, auf der Gold und (seltener) Kupfer und Eisen in natürlicher Form in verwertbaren Mengen vorkamen. Erst seit dem Holozän […] haben Menschen Metalle durch das Schmelzen ihrer Verbindungen isoliert, angefangen mit Blei, Silber und Zinn (auch Kupfer und Eisen mussten in den meisten Fällen aus Erzverbindungen gewonnen werden). In einem Innovationsschub vom späten 18. Jahrhundert bis Mitte des 20 Jahrhunderts wurden die meisten Metalle isoliert, darunter auch einige, bei denen bis dahin die Existenz einer nativen Form nicht bekannt gewesen war, wie Magnesium, Kalzium, Natrium, Vanadium und Molybdän, sowie einige, die nur selten und dann in winzigen Mengen auftreten, wie Aluminium, Titan und Zink.22

 

Zu den neuartigen Metalllegierungen gehören Bronze, Messing, Weißmetall und Eisen-Kohle-Legierungen, die »häufig mit Chrom, Molybdän und anderen Metallen« versetzt werden. Und eine derartige Erzeugung von Reinheit hat auch zur starken Vermehrung der von Latour so genannten »Hybride« geführt. Mittlerweile haben die Menschen »ein breites Spektrum an synthetischen Mineralien, […] neuartige Granatformen […] [und] kristalline Materialien« zur Verwendung in Lasergeräten hergestellt, zum Beispiel das »industrielle Schleifmittel« Bornitrid (Borazon). Borkabid ist ein weiteres Hybridmetall dieser Art, das in Panzern und kugelsicheren Westen Verwendung findet, »während Wolframkarbid für die Kugeln in Kugelschreibern benutzt wird«. Die Inorganic Crystal Structure Database, schreiben Zalasiewicz und seine Kollegen, listet »mehr als 180 ‌000 verschiedene, von Menschen hergestellte Arten von ›synthetischen‹ mineralischen Verbindungen« auf.23 Hinzufügen könnte man dieser Liste noch »neuartige menschengemachte Mineralien« (die zuerst »menschenvermittelte Mineralien« hießen) häufig in Verbindung mit dem 178Bergbau (gewonnen »durch Verwitterung von Mineralasche, Kristallbildung in Grubenentwässerungssystemen oder Niederschläge auf Stollenwänden sowie Korrosionsprodukte im Zusammenhang mit archäologischen Artefakten«) und synthetische mineralische Verbindungen wie »in Massenproduktion hergestellte, überall einsetzbare Baumaterialien wie Portlandzement« (als Grundlage für Beton) und »Produkte aus gebranntem Ton wie Porzellan und Ziegelsteine«. Nicht ganz so oft vertreten, aber ebenfalls weitverbreitet sind »technische Kristalle, darunter diejenigen, die für Halbleiterbausteine, Magnete, Leuchtstoffe und andere elektronische Anwendungen verwendet werden«.24 Latour hat völlig recht: Das Reinigungsprojekt geht Hand in Hand mit der starken Vermehrung von Hybriden. Dieser Prozess, behauptet Latour, unterlaufe letztendlich die Entgegensetzung von Natur und Gesellschaft bzw. Natur und Kultur als solche, durch die das Projekt einer »Ausdünnung« der Natur bzw. der Hervorbringung von Entitäten in »reiner« Form erst möglich wird.

All dies zugestanden, sollte man jedoch noch folgenden wichtigen Punkt bedenken: Wenn es beim Modernisierungs- oder Entwicklungswunsch der breiten nichtwestlichen Mittelschichten nur um Nützlichkeit, praktische Vorteile, Gier oder Profit ginge, würde es sich schlicht und einfach um einen dümmlichen, moralisch nicht vertretbaren Wunsch handeln. Dann müsste man nur im Brustton moralischer Überzeugung den Aphorismus wiederholen, der Gandhi zugeschrieben wird, dass nämlich die Welt genug habe, um jedermanns Bedürfnisse zu befriedigen, aber niemals genug für jedermanns Gier, und damit wäre die Modernisierungskritik erledigt. Wenn das alles zum Thema Entwicklung und Modernisierung wäre, hätten Denker:innen wie Amartya Sen (und Martha Nussbaum sowie andere) nicht den berühmten »Befähigungsansatz« für dieses Problem entwickeln müssen bzw. »Entwicklung« nicht als »Freiheit« beschreiben können.25 Man muss die ethischen Aspekte eines solchen Wunsches verstehen, 179wenn man die Untiefen der Zwickmühle ausloten will, in der sich die Menschen heute befinden.

Dies ist die Stelle, an der meiner Meinung nach die Geschichte der antikolonialen Dritte-Welt-Modernisierer Berücksichtigung finden sollte. Latours Beschäftigung mit dem Anthropozän stützte sich zum Beispiel auf seine frühere Kritik an dem, was er einprägsam als Verfassung bzw. »Konstitution der Moderne« bezeichnet hat. Dank der absoluten Trennung von Natur und Gesellschaft als einer Version der Entgegensetzung von Natur und Kultur, die sie (etwa seit dem 17. Jahrhundert) vornahm, erlaubte diese eigentümliche Konstitution die Vermehrung einer großen Zahl von Hybriden (von Dingen, die weder rein natürlich noch rein gesellschaftlich sind), während sie die eigentliche Übersetzungsarbeit zwischen den beiden Polen, denen Hybride ihre Existenz verdanken, ablehnte und darauf bestand, dass Hybride bloß eine Mischung – eine Vermittlung – zweier getrennter reiner Formen seien.26 Wie unschwer zu erkennen ist, zielte seine Kritik eindeutig auf eine von ihm als »Westen«, »Abendland« oder »westliche Gesellschaft« bezeichnete Entität und deren arrogante und schematische Trennung von Natur und Gesellschaft, die ihr durch die Erfindung der Themen Moderne und Modernisierung zur Herrschaft über das, was sich außerhalb von ihr befand, aber auch über ihre eigene Bevölkerung verhalf.

In einigen kryptischen Bemerkungen deutet Latour an, dass dieser Westen – als Erfinder und zugleich Erfindung der Moderne – durchaus eine Geschichte hat. Was wir vor uns haben, sind indes nur einige sehr kurze, brillante und anregende Formulierungen, wie etwa die Behauptung, dass ihre eigenen Widersprüche auf der Konstitution der Moderne lasten. Auch fällt es nicht schwer, die Geschichte der Konstitution der Moderne mit groben Rahmendaten zu versehen, wie sie in Latours Narrativ deutlich werden: Ab der Zeit der Boyle-Hobbes-Kontroverse (wie Steven Shapin und Simon Schaffer sie schildern) im 17. Jahrhun180dert bis in die Gegenwart hat die Moderne so viele Hybride – aus Natur und Kultur – hervorgebracht, dass ihre eigene, auf der Aufrechterhaltung dieser Unterscheidung beruhende Konstitution kurz vor dem Zusammenbruch steht. Der Klimawandel bestätigt das Ausmaß dieser Krise. Natürlich verfügt die moderne Konstitution sowohl in den Kolonien als auch in Europa über Untertanen. An ihnen sieht man, dass die menschliche Geschichte viel, viel älter ist als diese Konstitution. Außerdem ist abgesehen vom Aspekt der Größenordnung nichts je wirklich modern gewesen, vor allem nicht diejenigen, die sich lauthals zu Modernen erklären. Latours Projekt verzichtet nicht nur auf jede Art von Eurozentrismus, sondern auch auf den Anspruch, dass jene Konstitution der Moderne beschreibt, wie die Welt tatsächlich in den konkreten, miteinander verwobenen Netzwerken funktioniert, die er in seinem Opus magnum Existenzweisen sichtbar zu machen versucht.27

Latours Projekt bietet in vielen Hinsichten eine profunde Kritik der Welt, die durch die Konstitution der Moderne möglich wurde. Er kritisiert die den Kern dieser Konstitution bildende Entgegensetzung von Natur und Gesellschaft und versucht so, eine neue Weltordnung einzuführen: ein Parlament der Dinge (auf das The Pasteurization of France anspielt, das in Wir sind nie modern gewesen weiter ausgearbeitet und in Das Parlament der Dinge ausführlich dargelegt wird).28 Als Latour begann, sich mit dem Anthropozän und dem Klimawandel zu beschäftigen, erweiterte er – zumindest in den ersten Entwürfen seiner Edinburgher Gifford-Vorlesungen, die er großzügigerweise öffentlich zugänglich machte und Freund:innen und Kolleg:innen zur Verfügung stellte – sein Panorama um James Lovelocks Gaia-Hypothese, die er geschickt auf die Frage der Religion hinlenkte. Dies war völlig legitim – schließlich ist Gaia ursprünglich eine religiöse Gestalt gewesen. Latour inszenierte einen Krieg zwischen dem Volk der Gaia, das nicht der Konstitution der Moderne entsprechend le181ben wollte, und denjenigen (dem Volk der Wissenschaft), die das wollten. Indem er seine eigene Arbeit mit Humes Arbeiten zur »Naturreligion« verwob, reichten seine Überlegungen bis in die »frühe Neuzeit« zurück. Doch mit der imaginären, »wissenschaftlich« lebenden Menschenpopulation griff er auf viele Themen zurück, die Latour-Leser:innen vertraut sind. Das Projekt einer Kritik an der Konstitution der Moderne setzt sich für eine gleichere und substanziell – und nicht bloß formal – demokratische Welt ein.29

Ich stimme Philippe Descolas Einschätzung, dass Latours Argumentation »im großen und ganzen sehr überzeugend« sei, voll und ganz zu.30 Doch wo bleiben die antikolonialen, spätmodernen und sich spät modernisierenden asiatischen und afrikanischen Führer – die Nehrus, Nassers, Sukarnos, Nyerers, Senghors und Frantz Fanons – in seiner Geschichte? In Wir sind nie modern gewesen und anderen Schriften stützt Latours Argumentation sich ausschließlich auf die Konfrontation zwischen uns »abendländischen Modernen« bzw. den »Modernisten, […] Abendländer[n], Weißen (welchen Spitznamen auch immer man ihnen geben will)« auf der einen Seite und den indigenen Völkern Amerikas auf der anderen, für die besonders die von Philippe Descola ethnographisch erfassten Achuar-Indianer stehen, die an der Grenze zwischen Ecuador und Peru leben.31 Sollen wir daraus schließen, dass die antikolonialen Führer, die gegenüber dem Westen »aufholen« möchten – ein Wunsch, der die indische und chinesische Politik nach wie vor beseelt (man denke nur an Deng Xiaopings Kampagne der »vier Modernisierungen«) –, bloß blasse, unorginelle Abziehbilder ihrer Vorläufer im Westen waren – dass sie für mimetische, historisch zur Wiederholung der westlichen Torheit verdammte Wünsche aus zweiter Hand eintraten –, sodass die Kritik an den europäischen Modernisierern ihre Fälle gleich mit erledigt? Mit den Debatten über die Moderne, die postkoloniale Kritiker:innen von Anthony Appiah bis Homi Bhabha 182nicht wieder losgelassen haben, setzt Latour sich nicht auseinander. Ihn beschäftigt eher die Frage, warum das Modernisierungsprojekt dem Untergang geweiht ist. In seiner sechsten Edinburgher Vorlesung über Gaia führt er aus: »Man kann weiter darüber streiten, ob ›wir nie modern gewesen sind‹ oder doch, aber wer würde heute noch bestreiten, dass ›wir‹ nie in der Lage sein werden, die Erde zu modernisieren, weil uns (nach ›globalen Hektaren‹ berechnet) die fünf Planeten fehlen, die nötig wären, um unser nicht enden wollendes Grenzland auf die gleiche Entwicklungsstufe zu bringen wie Nordamerika?«32 Man könnte also so argumentieren, dass es zwar stimmen mag, dass bis heute viele den Wunsch verspüren, modern zu sein, es aber ökologisch nahezu unmöglich zu sein scheint, dass wir jemals ein Stadium erreichen, in dem jeder Mensch zu gleichen Teilen von den Modernisierungsgewinnen profitieren wird. Unabhängig davon, ob wir je modern gewesen sind oder nicht, werden wir in dieser Hinsicht vielleicht nie modern sein, jedenfalls nicht alle von uns!

So weit, so gut. Doch werden wir in den Debatten über Klimapolitik keinen Deut vorankommen, wenn wir nicht verstehen, warum die Unterscheidung von Natur und Kultur – die Latour, Bennett, Descola und andere zu Recht für epistemologisch fragwürdig halten – in der Fantasie der Kolonisierten eine neuartige und originelle Ausdrucksform angenommen hat. Zu genau dieser Frage kann die postkoloniale Kritik meines Erachtens einen ganz eigenständigen Diskussionsbeitrag leisten.

Erst wenn wir diesen Traum der Kolonisierten verstehen – denen gesagt wurde, ihre Selbstbestimmung müsse warten, bis sie »modern« genug seien, um sie zu verdienen –, können wir die Klage verstehen, die in jeder Kolonie laut wurde, eine berühmte Stimme aber im Schlussabsatz des ersten Abschnitts von Aimé Césaires »Rede über den Kolonialismus« fand, dass nämlich die europäische Kolonialherrschaft auf ein Versprechen hinauslief, das absichtlich nicht erfüllt wurde: »Der letzte Beweis dafür ist, 183dass es gegenwärtig die Eingeborenen Afrikas oder Asiens sind, die Schulen verlangen, und dass es das kolonisatorische Europa ist, das sie ihnen verweigert; dass es der afrikanische Mensch ist, der Häfen und Straßen haben möchte, und dass es das kolonisatorische Europa ist, das damit geizt; dass es der Kolonisierte ist, der vorankommen möchte, und dass es der Kolonisator ist, der ihn zurückhält.«33 Wie Césaire hervorhebt, waren alle gegen den Kolonialismus gerichteten Nationalismen programmatisch auf Modernisierung, das heißt auf das Projekt eingeschworen, die Nation modern zu machen. Nehru, Nasser, Mao, Ho Chi Minh, Julius Nyerere, Sukarno, Leopold Senghor, Aimé Césaire waren allesamt radikale Modernisierer, Pädagogen gegenüber ihrer jeweiligen Bevölkerung und idealistische Visionäre im Hinblick auf etwas, das sich als energiefressende menschliche Zukunftsvorstellung erweisen sollte. Im nationalen Kontext waren diese Männer Giganten, die sich durch unterschiedliche Modelle ökonomischer Entwicklung von amerikanischer bis zu sowjetischer Prägung inspirieren ließen. Sie verkörperten die Wünsche der Bewohner dieser Welt, die im Kielwasser des Aufstiegs der europäischen Nationen zur Weltherrschaft nichts anderes wollten, als modern zu sein.34 Haben sie in der kritischen Haltung, wie sie Latours pointiert polemisches und profundes Werk prägt, schon Berücksichtigung gefunden? Ich glaube nicht.

Modernisierung und die Ethik der Unterscheidung
von Natur und Kultur

Ich möchte anhand einiger Äußerungen von Nehru beispielhaft zeigen, wie vergeistigt und idealistisch dieser leidenschaftliche Wunsch der Dritten Welt nach energieaufwändiger, sich überwiegend aus fossilen Brennstoffen speisender Modernisierung gewesen ist. Dies war drei bis vier Jahrzehnte bevor die Konsum184ströme der Globalisierung über die Welt hinweggefegt sind, und bis zu den neuen sozialen Bewegungen – einschließlich der zweiten Welle der Frauenbewegung und der Umweltschutzbewegungen – in den 1970er Jahren waren es noch etwa 15 Jahre hin. Von Beginn seiner Amtszeit (1947) als erster indischer Premierminister erkannte Nehru, dass das Grundproblem, das in einem Land angegangen werden musste, das unter britischer Herrschaft noch bis 1943 mehrere große Hungersnöte erlebt hatte, in der Verfügbarkeit von Getreide bestand.35 Für den Anbau von mehr Nahrungsmitteln war Bewässerung unverzichtbar, und zentral für die Bewässerung war die Energiefrage. Dies machte die Gletscher des Himalaya und alle sich aus ihnen nach Indien ergießenden Flüsse in Nehrus Augen zu einer Art von »stehender Reserve«. An erster Stelle stand so seines Erachtens das Aufstauen der Flüsse, um aus ihnen Wasser für die Bewässerung und Elektrizität zu gewinnen. Auf einer öffentlichen Versammlung in Kalkutta sprach Nehru 1949 über

 

die großen Pläne, die vor uns liegen: […] In zwei bis drei Jahren werden wir die Projekte in den Flusstälern des Damodar und des Mahanadi sowie die Bhakra-Talsperre und weitere geplante Staudämme im ganzen Land, von Süden nach Norden, zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Dies wird in unzähligen Gebieten für Bewässerung sorgen. Durch die Fertigstellung von Kanälen werden wir mehr Nahrungsmittel und außerdem Elektrizität produzieren. Auf diese Weise werden wir unser Nahrungsmittelproblem in fünf bis sieben Jahren gelöst haben. Wir planen aber auch Sofortmaßnahmen zur Lösung des Nahrungsmittelproblems. […] Wir hoffen auf extensive und erfolgreiche Landwirtschaft in der Wüste Thar, sobald sie Kanalwasser erhält. […] So soll es sein.36

 

Es ist faszinierend, wie häufig der Himalaya, in dem heute viele Gletscher zurückgehen, in Nehrus Reden vorkommt. Er tritt auf zwei Abstraktionsebenen in Erscheinung: als politische und topographische Landkarte in seinem Büro als Premierminister und außerdem in seiner Fantasie. Nehru mochte Berge im romantischen Sinne, aber der Premierminister in ihm schob alle Gefühle 185dieser Art beiseite – »Ich persönlich mag den Himalaya; ich mag Berge und so weiter« –, um Raum für einen eher rohstofforientierten Blick auf ihre Hänge zu schaffen: »Wenn ich eine Karte von Indien betrachte und mir das Himalaya-Gebirge ansehe […], kommt mir die sich dort ballende ungeheure Kraft in den Sinn, die nicht genutzt wird, aber genutzt werden könnte, und die tatsächlich ganz Indien mit äußerster Geschwindigkeit verwandeln könnte, wenn man sie richtig verwendet.« Als »Energiequelle« machten die Berge einen höchst »erstaunlichen« Eindruck, möglicherweise sei jenes »Himalaya-Gebirge mit seinen Flüssen, Mineralien und anderen Ressourcen« »die größte Quelle […] der Welt«. Deshalb mussten alle Flüsse, die seinen Hängen entsprangen, um des nationalen Fortschritts willen »erschlossen« werden. Aus diesem Grund maß Nehru »der Entwicklung dieser großen Pläne für die Flusstäler, Staudämme, Wasserspeicher, Wasser- und Wärmekraft und so weiter, die einen schlicht und einfach vorwärtsbringt, wenn sie erst einmal entfacht ist«, auch »größere Wichtigkeit« bei – größere Wichtigkeit als das, wozu seine romantischen Gefühle ihn drängten.37

Diese utilitaristische, aber idealistische Abstraktion von den Hügeln obsiegte – zumindest in seiner Eigenschaft als Premierminister – auch über den Wissenschaftler in ihm, der in seinen zwei wichtigsten Büchern – den teilweise von H. ‌G. Wells inspirierten Weltgeschichtlichen Betrachtungen und einem Text, der immer noch im Unterricht zum Thema nationalistische Fantasien gelesen wird, nämlich sein Klassiker Entdeckung Indiens – stets ein romantisches Verhältnis sowohl zur »Weltgeschichte« als auch zur indischen Geschichte an den Tag gelegt hatte.38 »Sehen Sie sich die Karte von Asien und von Indien an. Sie starrt mich in meinem Zimmer und in meinem Büro an, und wenn immer ich sie betrachte, kommen mir alle möglichen Bilder in den Sinn«, sagte er in einer Rede vor dem Central Board of Irrigation im Dezember 1948. Was für Bilder? Wie er selbst schilderte, zeigten 186die ersten Bilder, die ihm einfielen, nicht industriellen Fortschritt, sondern ein sehr viel sanfteres Bild »unserer lang vergangenen Geschichte, der allmählichen Entwicklung des Menschen von den frühesten Stadien an, von großen Karawanenstraßen, von den ersten Anfängen der Kultur, Zivilisation und Landwirtschaft und der Frühzeit, als möglicherweise die ersten Kanäle und Bewässerungsanlagen gebaut wurden, und von allem, was ihnen entspringt«. Doch »dann«, sagte er, womit er eine wichtige Zäsur in seinem Denken markierte, »denke ich an die Zukunft.« An eine – in gewissem Sinne an das, was Koselleck über die Neuzeit*, die Zeit der Moderne, gesagt hat, erinnernde – Zukunft, die ihren Erwartungshorizont nicht aus dem Raum historischer Erfahrung bezieht, sondern von woanders her, aus einer Uchronie (wie Derrida gesagt hat).39 Wenn er an die Zukunft denke, sagte Nehru, sei seine Aufmerksamkeit »auf das riesige Bergmassiv gerichtet, das Himalaya genannt wird und unsere nordöstliche Grenze bewacht«. »Sehen Sie es sich an, denken Sie an es«, ermahnte Nehru seine Zuhörer, »ich kenne keinen anderen Ort auf der Welt, in dem so viel gewaltige Kraft steckt wie im Himalaya und in dem Wasser, das von ihm aus in die Flüsse gelangt. Wie sollen wir es nutzen?«40

Auf dieses Motiv kommt Nehru immer wieder zurück. »Wenn ich eine Karte von Indien betrachte – und das mache ich sehr oft –, sie starrt mir in meinem Büro direkt ins Gesicht«, sagte er in seiner Ansprache zur Eröffnung der 23. Jahrestagung, auf der am 17. November 1952 in Neu-Delhi das Silberjubiläum des Central Board of Irrigation and Power gefeiert wurde, »denke ich oft nicht nur daran, dass diese große Bergkette Indiens Grenze ist, […] dass sie sich wie eine Schildwache erhebt und in der Vergangenheit unsere Kultur und unser Denken in so vielen Hinsichten inspiriert hat, sondern auch daran, dass diese mächtige Bergkette unterschwellig eine gewaltige Energiequelle ist. Die Energie fließt durch die großen Flüsse, die aus jenen Bergen 187kommen, das indische Flachland bewässern und im Meer münden, dann nimmt sie die Gestalt von Mineralien an und so weiter.« Und dann kommt sein utopisches Bravourstück: »Deshalb scheint hier in meinen Augen ein gewaltiges Energiereservoir zu liegen, dessen Verwendungsmöglichkeiten grenzenlos wären, wenn wir es nur in vollem Umfang nutzen könnten.«41

***

Für eine solche Sichtweise kam Wissenschaft und Technik zwangsläufig zentrale Bedeutung zu. In einer Rede auf einer Konferenz des produzierenden Gewerbes sagte Nehru im Dezember 1947 (das heißt vier Monate nach der Unabhängigkeit) in Delhi: »Zum Gewinnen des letzten Kriegs haben viele Dinge beigetragen, meiner Meinung nach gab es aber letztlich zwei Gründe: die erstaunliche Kapazität der amerikanischen Industrie und die wissenschaftliche Forschung.«42 Genauso wie die berühmten Staudämme bezeichnete er auch die indischen Forschungslabore als »moderne Tempel« Indiens: »ich betrachte sie [die Forschungslabore] als Tempel der Wissenschaft, deren Bau im Dienst unseres Mutterlandes steht. […] Dienst an der Wissenschaft ist wahrer Dienst an Indien – nein, sogar an der ganzen Welt; Wissenschaft kennt keine Grenzen.«43 Ein Jahr später bekräftigte er am 5. Dezember 1948 in einer Ansprache auf der 19. Jahrestagung des Central Bord of Irrigation in Neu-Delhi diesen Glauben an die Wissenschaft:

 

In der Vergangenheit gab es eine Zeit […], in der man einigermaßen zutreffend hätte sagen können, dass die weltweiten Ressourcen tatsächlich nicht ausreichen würden, um den Lebensstandard der Weltbevölkerung im gewünschten Maße zu erhöhen. Mittlerweile dürfte meiner Vermutung nach noch den Minderbemitteltsten klar geworden sein, dass wir durch die richtige Nutzung der weltweiten Ressourcen der Gegenwart ungeachtet der weiteren Entwicklung, ja sogar ungeachtet der übrigen Welt, wenn Sie so wollen, den Lebensstandard in Indien erhöhen können. Dies lässt 188sich mit Papier und Bleistift zeigen. […] Wir müssen dieses riesige Potenzial in Tatsachen verwandeln.44

 

Wir würden Menschen wie Nehru, Mao, Nasser oder Nyerere falsch einschätzen, wenn wir sie für Pragmatiker hielten, die einem einfachen und naiven Glauben an technokratische Lösungen für das Problem der Energie- oder Wasserversorgung Ausdruck gäben. Nehru betrachtete die Aufgabe, die Nation »voranzubringen«, als nichts weniger denn als eine geistige Mission, die von Seiten des Technokraten sowohl Idealismus als auch Glauben erforderte – einen Glauben allerdings, der weit über Fragen technischer Effizienz hinausging. Um im Volk Energien für die Erschaffung einer Nation freizusetzen, verlangte Nehrus Vision einen Glauben sowohl an die Menschen seines Landes als auch an das Modernisierungsprojekt. Es gibt einige vielsagende Anekdoten, die Nehru selbst erzählt hat. Als er im Dezember 1958 vor dem Board of Irrigation and Power eine Rede hielt, erinnerte er sich, dass er »vor vier oder fünf Jahren« bei der Damodar Valley Corporation gewesen sei, wo »ein enthusiastischer junger Ingenieur mir erklärte, was sie dort machten«. Nehru war froh, dass das »Interesse« dieses Mannes »geweckt« worden war, und bemerkte, dass dort noch »einige Hundert Männer und Frauen [herum]liefen, die Körbe mit Erdreich trugen«. Das kommentierte er folgendermaßen:

 

Ich fragte den Ingenieur: ›Haben Sie diesen Menschen erklärt, warum sie dies tun?‹ Er entgegnete: ›Nein‹. Ich sagte: ›Dann haben sie ihre Arbeit überhaupt nicht verstanden. Ihre Arbeit besteht darin, dem einfachen Arbeiter zu erklären, welche Rolle im Plan er innehat.‹ […] Später sprach ich die vielen Hundert Menschen an, die Erdreich von einem Ort zum anderen trugen. Ich sagte: ›Was tun Sie da?‹ Sie sagten: ›Wir bringen diesen Korb Erdreich von hier nach dort.‹ Sie kannten nicht einmal den unmittelbaren Nutzen ihrer Arbeit als Teil eines großen Plans. […] [Doch] dies sind die Menschen, die am Ende profitieren werden, wenn der Plan erfüllt ist. Es ist die Aufgabe des für die Damodar Valley Corporation arbeitenden Personals, dafür zu sorgen, dass die Menschen in der ganzen Gegend, im Dorf und an anderen Orten wissen, was sie tun.45

189Letztendlich ging es beim Glauben um den Glauben an das Modernisierungsprojekt und um den Glauben daran, es den Angehörigen der Nation anvertrauen zu können. Das ganze Gerede, dass Staudämme und Labore »Tempel« seien, zielte auf die Schaffung einer säkularen Modernisierungsreligion ab. »Niemand kann etwas Schönes bauen oder entwerfen, wenn er keinen Glauben besitzt. Sehen Sie sich die prächtigen Kathedralen in Europa an […], sie verkörpern den Glauben ihrer Erbauer«, sagte Nehru 1948 vor besagtem Bewässerungsausschuss. Aber »heute leben wir in einem anderen Zeitalter. […] Auch [unsere] öffentlichen Bauwerke sollen fein und schön sein, weil dieser Glaube besteht. Deshalb möchte ich, dass Sie in diesem Glauben arbeiten, und Sie werden feststellen, dass Ihnen das, wenn Sie im Glauben und in diesem Geist arbeiten, als solches Freude bereiten wird.«46 Es ist kein Zufall, dass so viele der Reden, die ich hier zitiere, vor Ingenieuren gehalten wurden, die in der Bewässerungs- und Energiewirtschaft arbeiteten. »Wenn ich im Namen ihres Ausschusses die Wörter ›Bewässerung‹ und ›Energie‹ lese, ist das eine Labsal für meine Seele«, merkte Nehru 1952 in einer Ansprache vor dieser Gruppe an. Aus diesem Grund, erklärte er in derselben Rede, sei das Thema Bewässerung oder Elektrizität in seinen Augen auch niemals »trocken oder langweilig«, sondern »ein aufregendes, zum Abenteuer einladendes Motiv menschlichen Fortschritts«.47 »Nicht nur an die Ingenieure in den oberen oder den mittleren, sondern auch der unteren Etagen« gerichtet, schrieb er außerdem: »Ich möchte, dass Sie den Arbeitern vor Ort etwas von der aufregenden Herangehensweise an dieses Problem übermitteln. Ihnen soll klar werden, dass auch sie mit Lebendmaterial arbeiten, auch wenn es sich um Stein oder Stahl handelt, und dass dadurch neues Leben entsteht. Machen Sie sie zu Partnern in dem Abenteuer, zu dem sie aufbrechen, […] [und] weitere Erfolge werden sich einstellen. […] Auch Arbeiter und Ingenieure werden Fortschritte ma190chen und vorankommen, sie werden zu besseren Männern und Frauen.«48

Natürlich klingt diese vergeistigte, ethische und idealistische Seite des Entwicklungsdiskurses heute leer – zumindest würden politische Führer in der Dritten Welt sie in einer Zeit wachsender Arbeitslosigkeit und intelligenter Maschinen nicht guten Glaubens im Munde führen. Der momentane indische Premierminister Narendra Modi hat im Jahr 2011, als er noch Chief Minister des Bundesstaates Gujarat war, ein Buch über den Klimawandel geschrieben.49 Die Rhetorik des Buches, das Modis »grüne Autobiographie« genannt worden ist – was zutrifft, weil alle guten politischen Maßnahmen im Bundesstaat Gujarat in dem Buch so dargestellt werden, als gingen sie auf die Reaktion ein und derselben Person auf das zurück, was sie um sich herum wahrnahm –, klingt deutlich anders als die von Nehru.50 Wissenschaft und Technik stehen hier nicht für eine durchschlagende, utopische und revolutionäre Transformation von Körper und Geist. Die Botschaft des ganzen Buches ist Harmonie – zwei aufeinander folgende Kapitel haben Überschriften wie »Small is beautiful« und »Big is also beautiful«.51 Die größte Harmonie besteht natürlich zwischen den alten hinduistischen Schriften – den Veden – und der modernen Klimaforschung, deren wesentliche Bestandteile die alten Schriften alle bereits vorausgesehen hätten. »Meine Sichtweise des Komplementärverhältnisses von Mensch und Natur«, schreibt Modi, »nahm ihre endgültige Gestalt an, als ich mich während meiner College-Zeit mit der Prithvi-Sukta und dem Atharvaveda befasst habe. Die 63 Suktas (Hymnen), die vor Tausenden von Jahren verfasst wurden, enthalten ein ganzes Wissensspektrum, das heute bei Diskussionen über globale Erwärmung, Umweltschäden auf der Erde und den sich daraus ergebenden Klimawandel auf verschiedene wissenschaftliche, akademische und analytische Banner geschrieben wird.«52 Eine größere Entfernung von Nehrus Zeit und Wesensart ist tatsächlich kaum vorstellbar.

191Doch waren die politischen Führer aus Nehrus Generation – alles Modernisierer – wirklich bloß Beispielfälle von Naipauls »Mimic Men«, die ohne jegliche Originalität mehr oder weniger im Schatten der europäischen Modernisierer standen? Ein solches Urteil würde das Problem der »Originalität« missverstehen, das der antikoloniale Nationalismus aufwirft – Partha Chatterjees eindringliche Analyse dieser Art von Nationalismus ist an dieser Stelle lehrreich –, und würde Homi Bhabhas höchst aufschlussreiche Durcharbeitung der Kategorien Mimikry und Ambivalenz im kolonialen Diskurs vollständig ignorieren.53 Man würde reden, als habe es nie eine postkoloniale Kritik gegeben oder als habe diese über unsere Zeit nichts zu sagen.

Latour hält die »Provinzialierung der Moderne« für eine europäische Aufgabe: Da Europa die Moderne aufgebracht und auf der ganzen Welt verbreitet habe, hätten die europäischen Intellektuellen jetzt die Aufgabe, sie zu »provinzialisieren«, sie an ihren eigentlichen Platz zurückzuversetzen.54 Doch wie ich in Provincializing Europe dargelegt habe, ist Europa nicht der einzige Urheber der Moderne gewesen; auch Intellektuelle aus der Dritten Welt, die sich das, was sie als universelle Seite bestimmter europäischer Ideen ansahen, zu Herzen nahmen, waren daran beteiligt. Das globale Projekt der Moderne wurde in den Händen antikolonialer Modernisierer zu einem zweiten, originären Leben erweckt.

Der antikoloniale Modernisierungswunsch war keine einfache Wiederholung der europäischen Modernisierungsschritte. Wie viele andere Nationalisten seiner Generation hat Nehru die Frage mimetischer Nachahmung, der bloßen Nachäffung des Westens sogar oft – und selbstbewusst – angesprochen. In einer Ansprache vor dem indischen Ingenieursverband sagte er am 28. Dezember 1962, keine zwei Jahre bevor er starb, in Neu-Delhi: »Wir müssen an unseren Wurzeln festhalten, aber gleichzeitig ist genauso klar, dass kein Land auf dieser Welt heute auf irgendeine 192Weise erfolgreich sein kann, ohne das Wesen der neuen Welt zu verstehen – der neuen wissenschaftlichen, technischen usw. Welt.« Darin bestand das Dilemma, vor dem jeder sich gegen den Kolonialismus wendende, nationalistische Modernisierer stand. Noch einmal Nehru zum selben Problem:

 

Man wird feststellen, dass sich in den letzten etwa 200 Jahren große Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern der Welt aufgetan haben; in den asiatischen und europäischen Ländern ist das deshalb so, weil in Europa die sogenannte Industrielle Revolution stattgefunden hat und fortwährend weiter stattfindet, die das Leben der Menschen und das Leben von Gruppen und Gesellschaften verändert. Und diesen Menschen nicht nur einen gewissen Grad an Wohlstand bringt […], [sondern] die verschiedenen Nationen [auch] stärker macht. […] Wir müssen einen Weg finden, der beides kombiniert – eine Synthese aus dem, was wir am Alten für wertvoll halten, und dem, was wir am Neuen für wertvoll halten. Mit dem Versuch einer bloßen Nachahmung anderer Länder ist es nicht getan.55

 

Das Selbstbild eines Mimikry betreibenden Mannes sähe anders aus.

Die (je nachdem, wie man zählt) dritt- oder viertgrößte Treibhausgasemissionsquelle Indien ist den Auswirkungen des Klimawandels besonders schutzlos ausgeliefert. Doch trotzdem bestimmt nicht der »Planet« der planetarischen Erderwärmung die indische Politik, sondern der »Globus« der Globalisierung – eine klassenübergreifende, ganz neue Zielstrebigkeit, die demokratische Politik, postkoloniale Entwicklung und die Liberalisierung von Ökonomie und Medien in jüngerer Zeit hervorgebracht haben. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Klimaproblem zu einem von der Allgemeinheit diskutierten Thema wurde, haben Sozialwissenschaftler:innen diese neuartige Zielstrebigkeit als Zeichen fortschreitender Demokratisierung auf der Welt, als einen Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit unter den Menschen begrüßt.56 Die Geschichte dieser Auffassung dürfte auf die säkulare, in der antikolonialen Modernisierungsdynamik des 20. Jahrhunderts verkörperten Fürsorgeethik zurückgehen, die für das Wohlergehen 193der Mitbürger:innen sorgen soll. Man braucht sich nur anzuhören, was Nehru im oben zitierten Passus voller Lob über die Industrialisierung gesagt hat: »[Sie] bringt […] Menschen […] einen gewissen Grad an Wohlstand.« In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde ebendiese Kunst (oder »Wissenschaft«, wie viele Ökonomen damals glaubten und immer noch glauben!), die Fürsorgeethik auszuweiten und in staatliche Hände zu legen, Gegenstand der Ökonomie, insbesondere der Wohlfahrtsökonomie. In der Einleitung zur dritten Auflage seines Buches The Economics of Welfare von 1929 schrieb zum Beispiel A. ‌C. Pigou:

 

Die komplizierten Analysen, die Ökonomen sich durchzuführen bemühen, sind keine reine Gymnastik. Sie sind Instrumente zur Verbesserung des menschlichen Lebens. Die Not und das Elend um uns herum, der ungerechtfertigte Luxus einiger reicher Familien, die fürchterliche Ungewissheit, die das Leben vieler armer Familien überschattet – alle diese Übel sind zu offensichtlich, um ignoriert werden zu können. Durch die Erkenntnisse, nach denen unsere Wissenschaft strebt, lassen sie sich möglicherweise lindern. Licht am Ende des Tunnels! Nach ihm zu suchen, ist die Aufgabe, es zu finden, vielleicht der Lohn, den die ›triste Wissenschaft der politischen Ökonomie‹ denjenigen bietet, die sich diesem Fach stellen.57

 

Denn ob wir den Blick auf die marktbasierte Vorstellung von »Humankapital« des Ökonomen Theodore Schultz richten, die er im Februar 1959 in seiner Sidney A. and Julia Teller Lecture an der University of Chicago propagierte – in der er gleich zu Beginn versicherte, dass »unsere politischen und rechtlichen Institutionen entwickelt worden sind, um den Menschen von Zwängen zu befreien«, und dass die Abscheu vor Sklaverei uns allen gemeinsam sei –, oder auf Amartya Sens späteren Gedanken einer »Entwicklung als Freiheit«, die in der Befähigung einer Person wurzele, »ihre eigenen Ziele zu verfolgen«, haben wir es mit einer Familie von Vorstellungen zu tun, die auf europäische Diskussionen über die Moderne als Freiheit zurückgehen, welche von anti194kolonialen Führern wie Tagore, Gandhi, Nehru, Fanon, Nyerere und anderen für ihre eigenen Zwecke aufgegriffen und wiederbelebt worden sind.58 Wirtschaftswachstum und Wohlstandsverteilung schienen die beste Grundlage für eine solche Fürsorgeethik zu sein, als diese Ethik auf so große und so unpersönliche Gemeinschaften wie die Nation ausgeweitet werden musste. Heute verstehen wir die Sandhya Chauhans und Kaushilya Devis – bzw. die Legitimität ihrer Stimmen – nicht, wenn wir uns nicht den Wunsch nach Modernisierung und menschlichem Gedeihen in Erinnerung rufen, der vom antikolonialen Nationalismus genährt und verbreitet wurde.

Ein reibungsloser Wechsel vom Festhalten an einer von Menschen dominierten Lebensordnung dahin, eine Spezies von vielen zu sein, ist Menschen nicht immer möglich. Es mag zwar bestimmte Lebensbereiche geben – zum Beispiel die reproduktiven Rechte von Frauen –, in denen die Sprache der Freiheit sich sauber in das einfügt, was ökologisch wünschenswert zu sein scheint, aber das kann man nicht bei allen Aspekten des menschlichen Lebens voraussetzen, wie die Geschichte der Klimaanlage in Indien vor Augen führt. Nach meinem Eindruck reicht die Zwickmühle für politische Denker:innen tiefer. Die Erkenntnisse der Verfechter des Kapitalozäns und der Posthumanist:innen sind wichtig und müssen berücksichtigt werden, wir müssen aber über die Geschichte von der »Erbsünde« der Unterscheidung von Kapital und Arbeit sowie Natur und Kultur hinausgelangen, wenn wir das menschliche Festhalten an »dünnen Beschreibungen« der Natur und folglich an der Modernisierung verstehen wollen. Man kann zwar die These vertreten, dass es wichtig ist, ein politisches System einzuführen, das das Nichtmenschliche unabhängig da195von ernst nimmt, ob Menschen im Namen des Nichtmenschlichen sprechen dürfen, aber das Gespräch wird nicht besonders weit führen, wenn der Wunsch, modern zu sein, der im 20. Jahrhundert von antikolonialen Ideologien zum Ausdruck gebracht wurde und in so vielen Teilen der Welt die postkolonialen und postimperialen Politikformationen geprägt hat, nicht in die Verhandlungen aufgenommen wird. Angefacht wurden solche Wünsche durch eine global-imperiale, immer größer werdende Welt des Reisens, der Kontaktaufnahme und kosmopolitischer Gespräche, die ihrerseits nur durch die ausgiebige Nutzung von aus fossilen Brennstoffen gewonnener Energie möglich waren. Denn wo würden schließlich trotz all ihrer Kritik an der industriellen Zivilisation ein Tagore oder ein Gandhi gelandet sein, wenn es keine Eisenbahn, keine Dampfer und keine Druckereien gegeben hätte – alles Erscheinungsformen, zu ihrer Zeit wie zu unserer, der anhaltenden Macht von »König Kohle« und seiner Erben?